Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der württembergische Theologe Christoph Blumhardt (1842–1919) war ein inspirierender Prediger, Pazifist und Politiker. Als Kurhausbesitzer in Bad Boll predigte er die Reich-Gottes-Botschaft; als einer der ersten deutschen Theologen trat er der sozialdemokratischen Partei bei und wurde württembergischer Landtagsabgeordneter. Während seines gesamten Lebens bezeichnete er den Krieg als Sünde, besonders auch während des Ersten Weltkriegs. Sein Engagement für eine andere Form der Mission, die Freiheitsbewegungen seiner Zeit und die Stärkung der internationalen Beziehungen ist ebenso wie seine Spiritualität nach wie vor aktuell. Zum ersten Mal wird sein Lebenswerk mit einer umfassenden Biografie gewürdigt. Bisher nicht zugängliche Dokumente aus dem Familienarchiv bilden dafür die Grundlage. [Christoph Blumhardt: Preacher, Politician, Pacifist. A Biography] The Württembergian theologian Cristoph Blumhardt (1842-1919) has been an inspiring preacher, pacifist and politician to this day. As owner of the health resort of Bad Boll he preached the message about God's Kingdom; he was one of the first German theologians to join the Social-Democratic Party and became Württembergian Member of the Parliament. Throughout his entire life he referred to war as a sin, especially during the First World War. His spirituality as well as his engagement for the liberation movements in his day, for another way of mission and also for strengthening the international relations are still relevant until today. For the first time his lifework will be honored by a comprehensive biography. The basis of this biography are documents from the family archive that had been inaccessible until now.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 444
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
JÖRG HÜBNER
Christoph Blumhardt
Prediger, Politiker, Pazifist
Eine Biographie
Mit Vorworten von Landesbischof Dr. h. c. Frank O. July und Oberkirchenrat Prof. Dr. Ulrich Heckel sowie mit einem Nachwort von Prof. Dr. Jürgen Kampmann
Jörg Hübner, Dr., Jahrgang 1962, studierte Evangelische Theologie und Philosophie. Er ist Direktor der Evangelischen Akademie Bad Boll und apl. Professor für Systematische Theologie/Sozialethik an der Ruhr-Universität Bochum.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Cover: Fruehbeetgrafik, Thomas Puschmann, Leipzig
Coverbild: © Archiv der Evangelischen Akademie Bad Boll
Satz: Formenorm, Friederike Arndt, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
ISBN 978-3-374-06213-3
www.eva-leipzig.de
Meiner neunjährigen Tochter Anthea gewidmet: Die lebendige Hoffnung und das politische Engagement Blumhardts sollen in der jüngeren Generation Beachtung finden!
Mit Hochachtung und Bewunderung blicken wir im 21. Jahrhundert auf prägende Theologinnen und Theologen des 20. Jahrhunderts zurück. Im Rückblick wird uns bewusst, welche bleibenden Fragen diese Frauen und Männer auch in politisch verwirrenden Zeiten stellten, welche theologischen Herausforderungen bis heute noch nicht bewältigt sind und mit welcher Leidenschaft sie zugleich Theologie und gesellschaftliches Engagement miteinander verbinden konnten.
Im Jahr 2019 gehört bei der Erinnerung an diese prägenden Theologinnen und Theologen Karl Barth hinzu, der vor 50 Jahren starb und der 1919 den berühmten Tambacher Vortrag hielt, in dem er einen Ausweg nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs aufzuzeigen versuchte. Karl Barth vereinte eine tiefsinnige christologische Konzentration mit einem gesellschaftspolitischen Engagement – und er hielt dies auch zur Zeit der Nazi-Diktatur durch. Neben Karl Barth stand Dietrich Bonhoeffer für solch eine Verbindung ein; auch für ihn galt, dass sich eine christologisch orientierte Mystik verband mit einem Bekenntnis zum Menschen, zur Menschenwürde sowie zu einer menschengerechten Gemeinschaft in Politik, Kirche und Wirtschaft. Christus im Herzen – die Menschheit im Blick: Sowohl Karl Barth als auch Dietrich Bonhoeffer werden von dieser zusammengehörigen Zweipoligkeit bestimmt – ohne Wenn und Aber.
Hinter beiden Theologen steht jedoch ein anderer Theologe, der im gleichen Maße unsere Bewunderung verdient hat: Christoph Blumhardt nämlich. Ohne sein Lebenswerk, ohne seine Theologie und ohne seine Hoffnung auf das kommende Reich Gottes wäre die theologisch-politische Leidenschaft eines Karl Barth oder eines Dietrich Bonhoeffer nicht möglich gewesen. Deswegen steht es uns in Kirche und Theologie gut an, Blumhardts Lebenswerk 100 Jahre nach seinem Tod am 2. August 1919 zu erinnern und zu würdigen.
Was für Dietrich Bonhoeffer gilt, das lässt sich nämlich auch für Christoph Blumhardt sagen: Je näher uns das konkrete Leben und Wirken dieses Theologen vor Augen tritt, desto intensiver wird uns die bleibende Aktualität und lebendige Frische seines theologisch-politischen Denkens bewusst. Dietrich Bonhoeffer und Christoph Blumhardt verbindet vieles: die alles bestimmende und durch nichts gebrochene Christusbezogenheit, die sich daraus ergebende und durch nichts zu erschütternde Hoffnung auf eine andere, neue Zeit Gottes, das unabhängig bleibende politische Engagement, das Bekenntnis zu einer sich einigenden Menschheit, die zum Teil beißende Kritik am Nationalismus ihrer Zeit, das Engagement für die Würde eines jeden Menschen oder der internationale, globale Blick auf die Welt. Der auferstandene Christus ist für Dietrich Bonhoeffer und Christoph Blumhardt nicht ein persönlicher Seelentrost, sondern der den Kosmos verändernde Herr der Welt. Beide waren davon überzeugt, dass von diesem kosmischen Ereignis seiner Auferstehung eine Kraft ausgeht, die sich durch nichts aus der Welt bringen lässt.
Die Erinnerung an Christoph Blumhardt ist in der Vergangenheit eher selten lebendig gewesen – das ist schade. Die vorliegende Biographie will dies ändern. Wesentlich für diese Biographie ist die Auswertung der Archivalien der Familie Blumhardt, die sich durch das Bestreben von Jörg Hübner nun im Besitz der Evangelischen Akademie Bad Boll befinden. Seine Biographie zeigt, dass Blumhardts Theologie durchgängig christologisch und politisch zugleich zu verstehen ist. Eindrucksvoll ist sein durch alle Jahre seines Lebens bleibendes Friedenszeugnis – auch in der Zeit des Ersten Weltkrieges, als fast alle Vertreter der Kirche auch in Württemberg sich dem kaiserlich geprägten Heldentum verschrieben hatten. Blumhardts Zeugnis für die Menschenrechtsbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert, sein zustimmendes Einstehen für die Sozialdemokratie in einer Zeit, als deren Politik von den größten Teilen der Kirche als Gegensatz zum Christusbekenntnis verstanden wurde, sowie seine scharfe Kritik am Nationalismus in einer Reichskirche lassen uns heute demütig werden. Blumhardts Kritik an der Kirche seiner Zeit lässt sich auf diesem Hintergrund sehr gut verstehen und einordnen.
Die Erinnerung an Christoph Blumhardt und sein Lebenszeugnis ist also in unserer Zeit mit seinen enormen Transformationen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik von bleibender Bedeutung – gerade auch für uns als Kirche. Es ist zu wünschen, dass Blumhardts theologisch-politisches und pazifistisches Erbe in unserer Mitte wieder besser angeeignet wird. Ich hoffe und wünsche, dass die Biographie dazu einen Beitrag leisten kann.
Christoph Blumhardt d. J. und seine Bedeutung für die Evangelische Akademie Bad Boll
Vor nun 100 Jahren ist Christoph Blumhardt am 2. August 1919 gestorben. Im Kurhaus Bad Boll hat er seit 1869 an der Seite seines Vaters gewirkt und nach dessen Tod 1880 selbst die Leitung übernommen. Das Familienarchiv der Familie Christoph Blumhardt, in dem seine Andachten und Vorträge weitgehend erhalten sind, befindet sich seit gut zwei Jahren in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Zwischen Kurhaus und Akademie sind es nur wenige Schritte. Beide Gebäude stehen für den Raum, der für das Leben des jüngeren Blumhardt entscheidend war. Der eine Pol war eine spezifische Reich-Gottes-Hoffnung, die über die von seinem Vater geprägten Impulse hinausführte, der andere die Sozialdemokratie seiner Zeit, für die er sich zeitweise öffentlich engagierte und von 1901 bis 1906 auch als Abgeordneter in den württembergischen Landtag einzog.
Zwischen Welten, die sich nicht wie selbstverständlich berühren, soll auch die Evangelische Akademie Bad Boll vermitteln. Sie wurde erst lange nach der Lebenszeit Blumhardts 1945 gegründet und ist die älteste der Evangelischen Akademien, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland neu entstanden. Ihr Auftrag ist es, den Dialog zwischen Kirche und Gesellschaft zu gestalten: Dafür steht die Brücke im Logo der Akademie.
Deshalb trifft es sich gut, dass sich nicht nur Christoph Blumhardts Nachlass nun in der Evangelischen Akademie befindet, sondern auch der Akademiedirektor Prof. Dr. Jörg Hübner die neu zur Verfügung stehenden Quellen intensiv ausgewertet und eine neue Blumhardt-Biographie vorgelegt hat. Denn mit der Erinnerung an Christoph Blumhardt soll nicht etwa nur Bad Boller Lokalkolorit gepflegt werden, sondern die Gedanken, die er in den theologischen Diskurs und die sozialethische wie sozialpolitische Debatte seiner Zeit eingebracht hat, sind auch nach einem Jahrhundert Impulse, die im Profil der Arbeit der Evangelischen Akademie Beachtung verdienen und Resonanz erzielen können.
100 Jahre sind seit Blumhardts Tod vergangen. Von seinem Lebenswerk sind wir getrennt durch ein Jahrhundert mit einem weiteren Weltkrieg, zwei gesellschaftspolitischen Ideologien und zwei totalitären Diktaturen in Deutschland. Der Ost-West-Gegensatz bestimmte die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Karl Barth und die Dialektische Theologie, der Kirchenkampf und die Bekennende Kirche (auch mit ihren internen Auseinandersetzungen) haben das kirchliche Leben bis weit in die Nachkriegszeit geprägt. Diese theologischen Gegensätze sind heute Gegenstand der neueren Kirchengeschichte. Mit der Wende 1989/1990 ist die Mauer gefallen, sind die politischen Blöcke auseinandergebrochen. Die Welt ist seitdem wieder vielschichtiger und unübersichtlicher geworden.
Damit stehen wir in mancherlei Hinsicht vor ähnlichen Herausforderungen wie zu Blumhardts Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg. Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht, plumpe Parallelisierungen verbieten sich. Dennoch lassen sich nicht wenige bemerkenswerte Analogien beobachten. Wie die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert die Lebensverhältnisse tiefgreifend veränderte, so bringt auch die Digitalisierung gegenwärtig enorme Umwälzungen in die Arbeitswelt und die Gesellschaft: neue Möglichkeiten, aber auch Verunsicherungen, Abstiegsbefürchtungen und Zukunftsängste. Profitierte die Gründerzeit von den Reparationsleistungen Frankreichs und erhoffte sie eine große ökonomische Rendite aus dem Kolonialismus, so hat auch in den letzten Jahrzehnten die Globalisierung der Wirtschaft enorm zur Steigerung des Lebensstandards beigetragen, während zugleich auch die Kehrseiten sozialer und ökologischer Probleme stärker ins Bewusstsein getreten sind. Andrerseits ist der Sozialstaat seit Blumhardts Zeit in einem Maß ausgeweitet worden, dass sich bei aller tatsächlich bestehenden Not angesichts des demographischen Wandels die neue soziale Frage aufdrängt, wie künftige Generationen die daraus erwachsenen Verpflichtungen erarbeiten können. Wie vor dem Ersten Weltkrieg ist seit dem Mauerfall die Machtverteilung zwischen den Staaten wieder komplizierter und die europäische Ordnung brüchiger geworden. Nach der Wende hat Deutschland seine Sonderrolle in der Nachkriegszeit hinter sich lassen müssen und ist nun in der Weltpolitik wieder stärker gefragt und gefordert. Und wie im deutschen Kaiserreich die Parteienlandschaft sozial und konfessionell gegliedert war, hat die große Integrationskraft der Volksparteien in den Jahren der »Bonner Republik« heute wieder nachgelassen und ist die Aufsplitterung der Gesellschaft in unterschiedliche Milieus weiter vorangeschritten. Der Islam stellt heute vor neue Herausforderungen, die für Blumhardt noch nicht am Horizont zu ahnen waren. Positionen werden derzeit wieder deutlich ideologischer vertreten und Richtungskämpfe schärfer ausgetragen, Populismus und Nationalismus haben zugenommen. Die wirtschaftliche Dynamik hat zwar sehr vielen Menschen Wohlstand gebracht, aber es wachsen auch Gefühle von Ohnmacht und Sorgen vor sozialem Abstieg, vor Verlust religiöser Identität, vor Abhandenkommen ethischer Maßstäbe, vor einem Auseinanderbrechen der Gesellschaft.
Auch die Kirchen sind diesen Entwicklungen unterworfen. Hatten sie im 19. Jahrhundert unter der Entkirchlichung der Arbeiterschaft besonders in den Industriestädten zu leiden, bestimmen heute demographischer Wandel, Säkularisierungstendenzen und eine häufige Neigung zu Patchwork-Religiosität ihre Lage. Wie vor dem Ersten Weltkrieg geben in den evangelischen Kirchen ein »Kulturprotestantismus neuen Stils« und an den Universitäten weithin eine liberale Theologie den Ton an. In Württemberg ist die Spannung zwischen einem (neu)pietistischen und einem linksliberalen Flügel so ausgeprägt wie in keiner anderen Landeskirche in Deutschland. Herausfordernd sind die Fragen, was Kirche und Gesellschaft zusammenhält, Halt gibt in bewegten Zeiten, Orientierung ermöglicht bei schwierigen Entscheidungen. Zeitgemäßheit und Schriftgebundenheit sind die beiden Pole, um die hier viele Diskussionen kreisen.
In einer solchen Situation gewinnt die Beschäftigung mit Christoph Blumhardt in mehrfacher Hinsicht an Reiz. Der zeitliche Abstand eines Jahrhunderts erleichtert eine differenziertere Wahrnehmung seines Weges, seiner Prägung, seiner Zeitbedingtheit, aber auch seiner unverwechselbaren Persönlichkeit. Umgekehrt sensibilisiert die zeitliche Distanz für die Einsicht, dass nicht nur Christoph Blumhardt ein Kind seiner Zeit war, sondern dass auch wir heute oft weitaus mehr von Traditionen, Konventionen und einem je zeitgenössischen Mainstream des Denkens beeinflusst sind, als uns gegenwärtig bewusst sein mag.
Umso attraktiver erscheint es, Blumhardts Werdegang nachzuverfolgen in der Spannbreite von pietistischer Prägung und politischer Parteinahme, in seiner zunehmenden Distanz zur Kirche und der wachsenden Kritik am Kulturprotestantismus, in seiner neuen Wertschätzung der Leibhaftigkeit des Menschen und aller Kreatur sowie einem kritischen Internationalismus, der gegen imperialistische und nationalistische Tendenzen angekämpft hat. In diesen Umbrüchen ist es interessant, nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu fragen, wo er Altes zurücklässt, welche Motive er beibehält und welche Themen er neu aufgreift.
Es wäre aber zu einfach, nur »Abkehr vom Pietismus« und »Hinwendung zur Sozialdemokratie« zu thematisieren. Es gilt auch wahrzunehmen, dass er aus der politischen Arbeit der zerstrittenen Sozialdemokratie seiner Zeit wieder ausgeschieden ist und sich bei aller Friedenssehnsucht doch nicht der internationalen Friedensbewegung angeschlossen hat. Die unterschiedlichen Lebensphasen lassen eine wache und rege Persönlichkeit erkennen, die ringt und sucht, offen ist für Wandlungen und Wendungen, ein Gespür für Fragen und Nöte der Menschen zeigt, aber auch an Grenzen stößt. So fällt auf, dass Blumhardt bei allem sozialdemokratischen Engagement einen großbürgerlichen Lebensstil pflegte und für sich wie für seine Familie gehobene Standards beanspruchte. Undurchschaubar blieb am Ende auch das Beziehungsgeflecht zu seiner schließlich getrennt von ihm lebenden Ehefrau im Kontrast zu der Zusammenarbeit mit Anna von Sprewitz.
Unnachahmlich ist die biblische Färbung seiner Wortwahl, die fremd, teilweise auch befremdlich wirkt, wie er ohne Umschweife vom Reich Gottes auf Erden und der Vollendung der Schöpfung redet, dass bald der Heiland naht, die Zeit der großen Gnaden für alle Kreatur. Aber man kann sich fragen, ob das letztlich ziemlich redundant wiederkehrende Spektrum seiner Reich-Gottes-Verkündigung mit den zugehörigen Schlagworten so vielleicht doch nur in der Sonderwelt des Kurhauses mit seinen gut betuchten, zahlenden Kunden – modern gesprochen in einer »Milieugemeinde auf Zeit« – möglich war. Zugleich fällt auf, wie sehr seine Ausdrucksweise nicht nur von biblischer Sprache durchtränkt ist, sondern auch zeitgenössische politische Motive anklingen lässt bei der Rede von Reich, Volk und den Völkern, von Kampf, Streit und Sieg – und wie er sich einer religiös aufgeladenen Vorwärts-, Fortschritts- und Vollendungs-Rhetorik bedient. Nicht nur deshalb bleibt kritisch zu fragen, inwieweit er biblische Aussagen bisweilen auch kurzgeschlossen übertragen hat, wie sich die Bedeutung einzelner Begriffe bei ihm gewandelt und verändert, ja auch ins Gegenteil verkehrt hat. Manche Ausdrucksweise mag auf uns heute recht eigenartig wirken, aber sie provoziert umso energischer die Frage: Was hat er eigentlich sagen wollen? Wie würden wir es selbst ausdrücken? Mit welchen Worten können wir heute vom Reich Gottes anschaulich, hoffnunggebend sprechen?
Die Sperrigkeit Blumhardts hat einen Mehrwert, sie bietet eine Reibungsfläche für die Profilierung unserer eigenen Gedanken. Spannend ist seine Verbindung von Frömmigkeit und Weite, Hören und Handeln, Stillsein und Kämpfen. Beeindruckend und mitreißend wirken die Unerschrockenheit und Unverzagtheit, Zuversicht und Hoffnung, die religiös ausstrahlen und weltlich Orientierung bieten. Er trifft den Geist der Zeit in der Sehnsucht nach Erneuerung, Zukunftsorientierung, Vorwärtsdrängen. Reich Gottes und erwartete Allversöhnung eröffnen ihm einen weltweiten Horizont, in dem er jeden Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes ansieht, die Nächstenliebe in Menschheitsliebe transformiert und – damals noch unerhört – sogar sagen kann, dass auch Franzosen Menschen sind.
Bemerkenswert ist zu jener Zeit schon sein Mitleid für die ganze Schöpfung, für alle Kreatur. Er stärkt den Sinn für das Gute, für Barmherzigkeit, Güte und Gnade. Das Motiv des Friedens verwendet er als religiösen Heilsbegriff, der angesichts der Gefallenen über das irdische Leben hinausführt und Trost spendet, aber nicht bei der Vertröstung steckenbleibt, sondern soziale Folgen im Engagement für den Frieden hat im Alltag, in der Praxis des Lebens, in der kirchlichen Arbeit.
Nach dem Ausscheiden aus der alltäglichen Leitung des Kurhauses hat Blumhardt seine Predigttätigkeit nicht aufgegeben, sondern dort auch weiterhin in unterschiedlicher Intensität wahrgenommen. Religion ist nichts Neutrales, Außenwahrnehmung und Äquidistanz reichen nicht aus. Gefragt ist eine authentische Überzeugung, die geistige Beheimatung ermöglicht und aus der religiösen Verwurzelung Kraft schöpft, die Lebensorientierung vermittelt und mit Hoffnung erfüllt. Hier verrät Blumhardt ein feines Gespür für den Gattungsunterschied, dass Predigten allgemeiner reden, weil sie stärker auf die Haltung und innerste Motivation der Hörerschaft zielen, während eine politische Rede praktische Probleme ansprechen und konkrete Lösungen bieten muss. Dieser Unterschied scheint Blumhardt bewusst geworden zu sein bei seinem Wechsel von der Kirche in die Politik, aber auch bei seinem Ausscheiden aus dem Landtag und dem Entschluss, nicht für den Reichstag in Berlin zu kandidieren. Am Ende bleibt die Frage nach der Quelle, dem Ruhepol seines Lebens: Stillsein zu Gott und Hören.
So lohnt sich die Beschäftigung mit Christoph Blumhardt für den Dialog zwischen Kirche und Gesellschaft auch heute. Es ist spannend, sich mit seinen Fragen und Antworten auseinanderzusetzen. Es wirkt anregend, sich an seinen Texten zu reiben. Für die Evangelische Akademie, aber auch darüber hinaus bleibt es eine Herausforderung, die Brücke zwischen diesen Welten zu schlagen, seine Anstöße in unsere Zeit zu übersetzen und heute neu fruchtbar zu machen.
Cover
Titel
Über den Autor
Impressum
Einleitung
Die Welt überwinden! (1842 bis 1888)
Biographische Stationen
Theologische Wegmarken
Weltchristentum und »Evangelium des Lebens« (Frühjahr 1888 bis 1893)
Biographische Stationen
Theologische Wegmarken
»Werde ein wahrer Mensch« (1894 bis Juni 1898)
Biographische Stationen
Theologische Wegmarken
Menschheitsliebe ist das Losungswort! (Juli 1898 bis September 1903)
Biographische Stationen
Theologische Wegmarken
Vorwärts zum Zukunftsstaat! (September 1903 bis März 1913)
Biographische Stationen
Theologische Wegmarken
Die Welt des Krieges überwinden! (März 1913 bis August 1919)
Biographische Stationen
Theologische Wegmarken
Epilog
Nachwort (Jürgen Kampmann)
Anhang
Zeittafel
Ausgewählte, bisher unveröffentlichte Briefe oder Andachten
Literaturliste
Namens- und Ortsregister
Sachregister
Bildnachweise
Endnoten
Weitere Bücher
Wer als interessierter Christ oder Theologe das Stichwort »Bad Boll« hört, denkt zugleich an zwei weitere Stichworte: Evangelische Akademie – und dann vor allem an die beiden Blumhardts. Das Leben des »älteren Blumhardt«, das Wirken des Möttlinger Pfarrers und späteren Kurhausbesitzers Johann Christoph Blumhardt, der Bad Boll in den 1850er bis 1880er Jahren zu einem Seelsorgezentrum mit überregionaler Ausstrahlungskraft gemacht hatte, ist weitgehend erschlossen und erforscht worden, zuletzt durch die grundlegenden Arbeiten von Dieter Ising. Anders sieht es mit dem »jungen Blumhardt«, mit Johann Christoph Blumhardts Sohn Christoph Blumhardt aus. Dies liegt auch an der Quellenlage: Die Archivalien waren nur teilweise zugänglich. Große Teile des Nachlasses und Archivs befanden sich im Besitz der Familie und waren im Dachgeschoss eines Wohnhauses aus Blumhardts Zeiten untergebracht. Christoph Blumhardts jüngste Tochter Gottliebin Blumhardt hatte das Archivmaterial intensiv bearbeitet, gesammelt, geordnet, Handschriften erkannt, Archivmaterial aus anderen Orten in Kopien hinzugefügt und Dokumente abgeschrieben. Ihr Lebenswerk ist beachtlich. Sie hat auf diese Weise den Nachlass sowie das gesamte Archivmaterial vor dem Verfall bewahrt.
Seit 2016 befindet sich dieser Nachlass nun im Archiv der Evangelischen Akademie Bad Boll. Das äußerst umfangreiche Archivmaterial bietet geradezu einen Schatz an Zeugnissen einer hinter uns liegenden Zeit, wobei schon nach einer kurzen Zeit des Vertiefens in Originalnachschriften leicht erkennbar wird: Die in Blumhardts Zeugnissen verarbeitete Zeit ist unserer Zeit mit ihren massiven Herausforderungen gar nicht so unähnlich, und seine Antworten können anregend auf uns wirken.
Dieser Eindruck stellt sich allerdings erst ein, wenn das Archivmaterial gleichsam »ohne Brille« wahrgenommen wird. Die »Brille«, mit der bis heute auf den Sohn Christoph Blumhardt geschaut wird, ist gleichsam eine Brille mit dreifach geschliffenen Gläsern:
Zunächst einmal wird der unbefangene Zugang zu Christoph Blumhardt dadurch verstellt, dass sofort nach seinem Tod vor nun 100 Jahren am 2. August 1919 in der öffentlichen Wahrnehmung die Zurücknahme von Blumhardts Engagement für die Sozialdemokratie im Vordergrund stand. Es dominierte in der beginnenden Weimarer Republik, also in einer Phase, in der sich die Sozialdemokratie gerade 1919 selbst zu zerlegen drohte, in der breiten Öffentlichkeit eine kritische Wahrnehmung der sozialdemokratischen Position. Dass Christoph Blumhardt nur in einer Phase seines Wirkens offen dieser Partei gegenüberstand, um sich dann von ihr zurückzuziehen, wurde direkt nach seinem Tod zum Anlass genommen, seine damalige Position zurechtzurücken, ihn für seinen vermeintlichen Fehltritt zu entschuldigen und die »Stille« der letzten Jahre als Ausdruck seiner wahren Position zu verstehen. Die Zeitungsberichte, die direkt nach seinem Tod im deutschsprachigen Raum erschienen sind, sprechen in dieser Hinsicht geradezu Bände.
Zweitens hatte sich nach Blumhardts Tod ein Kreis von Blumhardt-Freunden gebildet, zu denen insbesondere Eugen Jäckh gehörte. Er vermittelte in seinem biographisch gehaltenen Buch, das 1950 veröffentlicht wurde, der Nachwelt Christoph Blumhardt als einen im Herzen durch und durch kirchlich ausgerichteten Theologen. Dieses Blumhardt-Bild passte in die restaurativ-konservativen Tendenzen der 1950er Jahre hinein. Blumhardts politische Äußerungen vor 1898 sowie seine scharfe Kritik am Krieg nach 1914 werden in diesem Zusammenhang fast vollkommen ausgeblendet bzw. bis in die Unkenntlichkeit hinein zurückgenommen. So entstand ein sehr verzerrtes Bild von Blumhardts Wirken sowie seiner Theologie. Schon Leonhard Ragaz, der Christoph Blumhardt äußerst nahestand, schimpfte in seinen Briefen an Karl Barth in einer heftigen Art und Weise über diese »Boller« sowie insbesondere über Eugen Jäckh.
Schließlich sind durch Gottliebin Blumhardt Zusammenfassungen der Nachschriften von Blumhardts Ansprachen und Reden erstellt worden. Jedoch zeichnen sich diese maschinenschriftlichen Zusammenfassungen durch enorme Auslassungen aus; diese sehr fragmentarischen, teilweise äußerst entstellenden oder sogar ins Original eingreifenden Abschriften fanden vollständig Eingang in einer von Johannes Harder herausgegebenen, dreibändigen Ausgabe von Blumhardts Werken, die in den 1970er Jahren veröffentlicht wurde. Warum und mit welcher Absicht Gottliebin Blumhardt so handelte, wäre einer eigenen Forschungsarbeit wert. Auch hier gilt: Christoph Blumhardt wurde lediglich durch die »Brille« seiner Tochter wahrgenommen und gelesen.
Die vorliegende Biographie orientiert sich ausschließlich am nun zugänglichen, äußerst umfangreichen Archivmaterial aus dem Familienarchiv Blumhardt und verfolgt den Anspruch, Christoph Blumhardt möglichst unverstellt, vollständig und umfassend auf seinen biographischen Stationen, aber auch in seiner Theologie darzustellen. Die Schreibung der enthaltenen Originalzitate wurde dabei an die neue Rechtschreibung angepasst. Nicht nur die sozialdemokratische Phase steht im Fokus der Aufmerksamkeit, sondern der gesamte Lebensweg Blumhardts. Nach weiterem Archivmaterial, das gewiss vorhanden ist und höchstwahrscheinlich z. B. in Nachlässen seiner Schweizer Freunde zu finden wäre, wurde im Rahmen dieses Projektes nicht gefahndet. Dazu war das mehr als zwei große Schränke umfassende Material schon ausreichend genug.
Zum ersten Mal dürfte damit eine fundierte Biographie des faszinierenden Predigers, Pazifisten und Politikers Christoph Blumhardt vorliegen. In Zeiten umfassender Transformationen und Herausforderungen unserer gesamten Gesellschaft könnte heutzutage von Blumhardts Theologie eine Ausstrahlungskraft ausgehen, die sich auf Kirche und Theologie, Politik und Wirtschaftspolitik anregend auswirkt.
Sehr bedanke ich mich bei den Nachfahren der Familie Blumhardt dafür, dass sie das Archivmaterial zur Verfügung stellten. Armin Roether, der Archivar der Evangelischen Akademie Bad Boll, unterstützte mich in mehrfacher Hinsicht engagiert in den Vorbereitungen zur Erstellung des Manuskripts. Er sowie Irmela Berger-Beyer und Prof. Dr. Jürgen Kampmann haben das Korrekturlesen übernommen, wofür ich ihnen sehr danke. Elisabeth Schönhuth stellte mir bereitwillig Fotomaterial zur Verfügung. Aus vielen Gesprächen mit Interessierten habe ich Anregungen mitgenommen: Christian Buchholz, Oberkirchenrat Prof. Dr. Ulrich Heckel, Prof. Dr. Traugott Jähnichen und Prof. Dr. Jürgen Kampmann haben bei mir durch ihre inhaltlichen Impulse immer wieder neue Resonanzen ausgelöst. Der Evangelischen Landeskirche in Württemberg danke ich für die finanzielle Unterstützung – auch dafür, dass sie die Biographie zu besonderen Anlässen verschenken wird.
(1842 bis 1888)
Jesus ist Sieger! Geburt in kämpferischen Zeiten
Christoph Blumhardt wurde am 1. Juni 1842 in Möttlingen geboren, einer kleinen Gemeinde im Nordschwarzwald. Sein Vater Johann Christoph Blumhardt war in Möttlingen Gemeindepfarrer – aber kein gewöhnlicher Gemeindepfarrer, sondern ein Pfarrer mit umfassender historischer, literarischer, politischer und theologischer Bildung. Durch seine Beziehungen zur Basler Mission verfügte er über reiche internationale Kontakte. Zugleich gehörte er kirchensoziologisch betrachtet zur pietistischen Tradition Württembergs. Die Rolle des Vaters für den Werdegang Christoph Blumhardts ist kaum zu überschätzen – in Fortführung wie auch später in bewusster Abgrenzung vom Vater.
Noch etwas ist in Bezug auf die Rolle seines Vaters hinsichtlich seines Geburtsjahrs entscheidend: Seine Geburt fiel 1842 in ein Jahr, in dem sich im Pfarrhaus in Möttlingen etwas ereignen sollte, was für die Familie Blumhardt, aber auch für den württembergischen Pietismus als Narrativ von größter Bedeutung werden sollte: »Jesus ist Sieger!«
Was war geschehen? Der Vater Johann Christoph Blumhardt hatte Ende des Jahres 1843, als Christoph Blumhardt gerade einmal 18 Monate alt war, die psychisch schwer erkrankte junge Frau Gottliebin Dittus, die aus einem ärmlichen Haushalt stammte, endlich geheilt. Nach einem zwei Jahre dauernden Kampf, den Johann Christoph Blumhardt in Gebet und Fürbitte intensiv geführt und begleitet hatte, wurde die Frau vom »Geist der Besessenheit« befreit. Diese Heilung führte Johann Christoph Blumhardt zu der Überzeugung »Jesus ist Sieger!«. Um dieses Heilungsereignis in Möttlingen, das kirchengeschichtlich von größter Bedeutung ist, rankte sich bald eine Vielzahl von Legenden, Fragen, Untersuchungen und Berichten. Verbunden mit dem Leitspruch »Jesus ist Sieger« wurde es zu einem gewaltigen Narrativ in der württembergischen Kirchengeschichte – und darüber hinaus.
Von Möttlingen ging nach diesem Heilungswunder eine Erweckungsbewegung aus, die Tausende in den Bann zog, die Gemeinde Möttlingen bis an den Rand ihrer Möglichkeiten brachte und auch für die Familie zu einer echten Herausforderung wurde. Die gesamte Familie wurde in die Organisation der Gottesdienste, der unzähligen Besuche, der Seelsorge und der Heilungsversuche intensiv eingebunden. Dies betrifft auch den jungen Christoph Blumhardt. Das Heilungswunder sollte Christoph Blumhardt gerade in der ersten Phase seines Wirkens stetig begleiten: Die Jahre wurden in dieser Zeit von ihm so gezählt, dass sie den Abstand vom Möttlinger Heilungswunder angaben. Die Erweckung der Gemeinde in Möttlingen sowie die Hoffnung auf die Ausgießung des Heiligen Geistes verstand Christoph Blumhardt als das Aufscheinen einer neuen Zeit. Nach 1888 gab Christoph Blumhardt die Zählung der Jahre mit dem Verweis auf das Heilungswunder auf.
Interessant und bedeutsam zugleich ist es nun, wie Christoph Blumhardt 1887 – und damit noch in der gleichen Phase seines Wirkens vor dem entscheidenden Umschwung seines Denkens und seiner Orientierung im Jahr 1888 – dieses Heilungswunder beschreibt und zusammenfasst:
»In den Weihnachtstagen des Jahres 1843 nun kam es zu den letzten entscheidenden Vorgängen mit der Schwester Gottliebin, mit welchen ein Abschluss wenigstens vorläufig geschehen sollte. Mehrere Tage währte das Ringen fort, und unser seliger Vater hatte den Befehl Gottes empfunden, nicht mehr zu ruhen, bis die Gottliebin ganz frei sei. So hielt er denn auch Tag und Nacht aus, in aller Stille darauf bestehend, dass auch das Letzte weichen müsse und namentlich die leiblichen Verzerrungen und Besitzungen aufhören müssen. Es folgte Sieg auf Sieg; aber es schien, als ob es kein Ende nehmen wollte. Mehrere Personen, Männer des Ortes, waren anwesend, zuletzt aber meist nur noch außer unserem seligen Vater der Bruder Hans-Jörg sowie Katharina, die Schwester. Letztere wurde ganz am Schluss in Mitleidenschaft gezogen, indem die Hauptmacht der Finsternis auf sie zu wirken begann, während sie die Gottliebin verließ. Katharina wurde einige Stunden wie rasend, doch bei vollem Bewusstsein. Nochmals kostete es einen heißen Kampf und viel Geduld und Glauben, bis auch sie frei wurde von dieser Macht unter dem weithin dringenden Schrei ›Jesus ist Sieger!‹. Damit war ein fast zweijähriger Kampf beendet, und es erfolgte jene Erweckung der Gemeinde Möttlingen, in welcher Alt und Jung, Männer und Weiber von einem alle Sünden offenbarenden Bußgeist ergriffen wurden und durch Vergebung der Sünden zu einem neuen Wandel sich berufen sahen.«1
An der Darstellung des Möttlinger Heilungsnarrativs aus der Sicht des Sohnes ist Zweifaches interessant und bedeutsam:
Anders als im Narrativ seines Vaters wird der Blick nicht nur auf die junge Gottliebin fixiert, sondern werden auch ihre beiden Geschwister Hans-Jörg und Katharina in die Betrachtung mit einbezogen. Zusammen mit den drei jungen Leuten wuchs Christoph Blumhardt in Möttlingen und dann auch in Bad Boll auf, da Gottliebin, Hans-Jörg und Katharina Dittus nach dem Heilungswunder Teil des Pfarrhauses wurden und alltägliche Dienste in der Pflege von Kranken oder in der Bewirtschaftung übernahmen. Dass Jesus Sieger ist, es zur endzeitlichen Ausgießung des Heiligen Geistes kommt und damit das Reich Gottes in die Gemeinschaften der Welt einbricht, band Christoph Blumhardt an diese drei Dittus-Geschwister und ihr Schicksal. Das macht erklärlich, warum nicht nur der Tod der Gottliebin im Januar 1872, sondern schon intensiver auch der Tod ihrer Schwester Katharina im Januar 1887 und dann in größter Tiefe der Tod des Bruders Hans-Jörg im März 1888 Christoph Blumhardt aus der Bahn warfen – deutlich mehr als der seines Vaters und dann auch später seiner Mutter. Der Tod von Hans-Jörg Dittus im März 1888 sollte also bei Christoph Blumhardt sehr grundsätzliche Fragen auslösen: Was behindert das Kommen des Reiches Gottes? Der Tod des Bruders Hans-Jörg im März 1888 markiert den entscheidenden Einschnitt in Christoph Blumhardts Biographie.
1 Ältere Aufnahme des Kurhauses Bad Boll
Zweitens zeigt dieser Rückblick aus dem Jahr 1887, dass Christoph Blumhardt nicht auf den Akt der Heilung der Gottliebin schaut, sondern insbesondere den befreiten Zustand nach der Heilung in den Blick nahm. Er lernte im freien Zusammenleben mit den drei Geschwistern, diesen Zustand als Inbegriff einer neuen Lebens-Zeit zu verstehen. Das freie Leben, das wahrhaftige Leben, das irdisch erfüllende Leben wurde für Christoph Blumhardt zum Inbegriff einer neuen Zeit und einer neuen Gesellschaft.
Diese Variation des Möttlinger Heilungsnarrativs sollte später zum Nukleus werden, aus dem heraus sich eine gegenüber dem Vater andere, politisch gefärbte Reich-Gottes-Hoffnung entwickelte. Nicht die Seelsorge steht mehr im Zentrum seiner Theologie, sondern die neue Zeit inmitten der Gemeinschaft, der Inbegriff des Lebens und schließlich auch der Kampf gegen Missstände, die das Kommen des Reiches Gottes behindern sollten.
Anstrengender Schulunterricht (1859 bis 1862)
1852 kaufte der Vater Johann Christoph Blumhardt das Kurhaus in Bad Boll, um diesen Ort zu einem Seelsorgezentrum auszubauen und über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt zu machen. Der 10-jährige Christoph Blumhardt wuchs in Bad Boll auf und wurde zunächst von Hauslehrern unterrichtet, dann jedoch von seinem Vater zusammen mit seinem Bruder Theophil zum Besuch der Schule in Stuttgart und anschließend zum Seminar in Bad Urach (1861 und 1862) geschickt.
Aus dieser Zeit liegen nur sehr wenige Dokumente vor. Die in geringer Zahl vorhandenen Briefe an seine Eltern lassen jedoch erahnen, dass sowohl Christoph Blumhardt als auch seine Lehrer mit den Schulleistungen nur selten zufrieden waren. Der Schulunterricht wurde von Christoph Blumhardt als freudlos und furchtbar anstrengend empfunden. Hinzu kam vor allem, dass Christoph sich fortwährend mit seinen eifrigen und umtriebigen Eltern verglich: »Beim Lesen Eurer Zeilen musste ich unwillkürlich weinen, da ich fühlte, wie wenig ich euch entspreche.«2
2 Von links nach rechts: Theophil, Christoph und Carl Blumhardt, 1856
Insbesondere das Erlernen des Lateinischen und Griechischen bereitete dem jungen Christoph Blumhardt ziemlich viel Mühe, so dass er in den Briefen an seine Eltern darauf immer wieder zurückkam. Mit seinem Lehrer im Seminar war vereinbart worden, dass er ihm immer wieder Übungsaufgaben stellen sollte, die dann sogleich korrigiert wurden. Auch der Vater sandte ihm solche Aufgaben zu, um Christoph Blumhardt und seine Fähigkeiten zu verbessern.
Mit der Hilfe seiner Lehrer im Seminar Bad Urach sowie nach intensiven Studien gelang es ihm schließlich zusammen mit seinem Bruder Theophil, die Schulzeit erfolgreich im Sommer 1862 abzuschließen. Eine außerordentlich anstrengende und wenig erfüllende Schulzeit ging damit zu Ende. Dass sie auf Christoph Blumhardt und seinen Werdegang maßgeblichen Einfluss ausgeübt habe, kann stark bezweifelt werden. Allenfalls das intensive Studium der griechischen Sprache führte dazu, dass Christoph Blumhardt später immer wieder auf den Urtext der griechischen Bibel zurückgriff und die Luther-Übersetzung in Frage stellte.
Mühsames Theologiestudium (1862 bis 1866)
Nach dem Besuch des Seminars in Bad Urach wäre eigentlich der Weg ins Tübinger Stift vorgezeichnet gewesen, jedoch kam Christoph Blumhardt zusammen mit seinem Bruder Theophil im Herbst 1862 als »Stadtstudent« nach Tübingen, um dort das Theologiestudium aufzunehmen. Beide Brüder traten gegen den Willen seines Vaters in die Studentenverbindung »Normannia« ein.
Christoph Blumhardt hat offensichtlich das Studium als wenig ergiebig erfahren, wobei zwei Gesichtspunkte eine Rolle spielten: Auf der einen Seite setzte sich das fort, was schon auch für die Schulzeit galt: Er verglich sich fortwährend mit seinem Vater und meinte, dass er ihm gegenüber nur »klein« dastehe. »Manchmal sind es trübe Gedanken, die mich überfallen, wenn ich mir euch im Geist vergegenwärtige, wie ihr fort wirket und schaffet. Der Kontrast zwischen mir und euch tritt mir da so vor die Seele, dass mir allemal bange wird um meine Zukunft.«3 Auf der anderen Seite fand er keine Freude an der theologisch-reflexiven Auseinandersetzung mit dem Stoff der Theologie, mit Büchern, Ansichten und dogmatischen Lehren. »Ich möchte oft alles über den Haufen werfen und durchgehen in ein schöneres Land, wo ich glücklich leben könnte. Wenn ich nur eins wüsste auf dieser Welt, ich glaube, ich würde es tun. Aber es muss eben jeder seine Plage haben, und ich habe auch mein Teil zu tragen und ergebe mich eben drein.«4 Auch im späteren Rückblick auf seine Auseinandersetzung mit der wissenschaftlich aufgestellten Theologie erinnert sich Christoph Blumhardt überhaupt nicht positiv an sein Studium. Und dennoch darf der Einfluss von zwei Lehrern auf Christoph Blumhardt nicht unterschätzt werden, da sich deren Auswirkungen auch im späteren Leben stetig bemerkbar machen:
Der liberale Theologe Carl Heinrich Weizsäcker (1822 bis 1899), der im Wesentlichen Neues Testament lehrte und die historisch-kritische Erforschung der Bibel in Tübingen etablieren half, scheint die beiden Brüder erheblich beeinflusst zu haben: Zeit seines Lebens verwendet Christoph Blumhardt außergewöhnliche Bibelübersetzungen, die sich erheblich von der Lutherübersetzung unterscheiden und sich dadurch erklären lassen, dass er die Bibelübersetzung von Weizsäckers zurate zog, die ab 1899 auch in der sogenannten »Textbibel« aufging.
Neben Carl Heinrich von Weizsäcker lässt sich besonders ein Einfluss des Lehrers Johann Tobias Beck (1804 bis 1874) ausmachen, der zur Zeit des Studiums von Christoph Blumhardt Systematische Theologie lehrte und im Jahr 1862 einen »Leitfaden der christlichen Glaubenslehre für Kirche, Schule und Haus« herausgegeben hatte.5 Der zentrale Begriff von Becks Theologie ist die »Königsherrschaft der Himmel«, die in die Welt eintritt, hier durch Christus initiiert wie eine selbstwachsende Saat wächst und in einer neuen Welt zur Vollendung kommt. Durch die »Organisationstätigkeit« des Gott zugeordneten Jesus Christus kommt es zu einer »allmähliche(n) Genesis neuer Menschen, einer neuen Geschichte und endlich einer neuen Welt«.6 Dadurch erhält auch das »körperliche Naturleben« seine eigentliche Qualität zurück; der »unheilbare Krankheitsstoff« wird in diesem Prozess ausgeschieden und eine »Verklärungszeit der ganzen Natur« setzt ein.7 Das »Vollendungsziel« nennt Tobias Beck eine »neue Weltorganisation«, die zunächst durch »auserwählte Menschen« vorbereitet wird, bevor sie sich im Ganzen der Welt generalisiert. Das Ziel ist mit einem Bezug zu Hegel, Schelling und Oetinger die Allversöhnung der gesamten Welt: Mit Christus hat das Reich Gottes in der Welt angefangen. Nun kommt es zur »Reichsvollendung«, zur »Welt-Vollendung«, in der mit Christus alles untertan, alles Feindliche überwunden und alles Nichtgöttliche aufgehoben wird. Alles Ungerechte unter den Menschen wird ausgestoßen, so dass es zu einer Erneuerung der gereinigten Welt kommt.
Diese Vorstellung der Allversöhnung, die Hoffnung auf eine Überwindung des Todes im leiblichen Leben, die Unterordnung der Person Jesu Christi unter das universale Handeln Gottes, der Ausgangspunkt bei einzelnen Menschen, aber eben auch die universale Weite des Denkens – das alles sind Merkmale, die für Blumhardts Theologie und gesellschaftspolitisches Engagement später bestimmend sein werden. Auch wenn sich vergleichbare Überzeugungen im schwäbischen Pietismus bei mehreren Vertretern nachweisen lassen, so ist doch die Verbindung von Hegel, Schelling und Oetinger bei Johann Tobias Beck einmalig.
All diese Merkmale finden sich nachher bei Christoph Blumhardt wieder. Er war sich dessen nicht bewusst und hätte es immer von sich gewiesen: Aber Christoph Blumhardt kann nicht anders als ein Schüler Becks bezeichnet werden. Sein theologischer Lehrer in Tübingen hat dazu beigetragen, dass das Möttlinger Heilungsnarrativ endgültig von seiner individuellen Ebene auf eine kosmologische Ebene emporgehoben wurde. Die Allversöhnung, die Versöhnung der gesamten Kreatur, die Erneuerung der gesamten Welt und der endgültige Sieg über alles Lebenszerstörende war auch das Ziel, das Christoph Blumhardt zeit seines Lebens vor Augen stand und sein Wirken auch in der Politik antrieb.
Das mühsame Studium hatte sich auf diese Weise doch gelohnt. Christoph Blumhardt schloss im Sommer 1866 sein Studium mit einem »schlechten Examen« ab, wie er später im Rückblick betont.
»Stationierung« in Spöck, Gernsbach und Dürnau (1866 bis 1869)
Christoph Blumhardt war nach seinem Examen als Vikar zunächst in der durch die Erweckungsbewegung geprägten Ortschaft Spöck bei Karlsruhe »stationiert« (August bis November 1866), bevor er nach Gernsbach im Nordschwarzwald berufen wurde (Dezember 1866 bis März 1867) und schließlich nach Dürnau, dem Nachbarort von Boll, kam (April 1867 bis Juni 1869). Zwischenzeitlich nahm er auch Vertretungsdienste in der Gemeinde Hohenstaufen bei Göppingen (August bis September 1867) wahr. In allen Gemeinden hatte Christoph Blumhardt Vakanzen wahrzunehmen oder erkrankte Pfarrer zu entlasten.
Er setzte sich mit den verschiedenen Gemeindetraditionen kritisch auseinander und lernte vor allem, frei zu predigen: »Wenn ein Geistlicher nichts aus dem Stegreif tüchtig und wahr und lebendig predigen kann, hat er die Stufen nur halb erstiegen.«8 Vor allem aber versuchte Christoph Blumhardt, sich am Vorbild seines Vaters abzuarbeiten – und erneut begegnen uns eine Vielzahl von Anmerkungen in den Briefen, wie »klein« und »wenig« er sich empfand: »Es liegt eine Gewalt in allem, was Papa redet. Umso kleiner kommen mir alle anderen vor, namentlich ich selbst. Es ist blutwenig, was unsereins bieten kann.«9 Oder: »Ich muss mich immer wieder mit Papa vergleichen und überhaupt jeden Geistlichen an Papa messen. Was sind wir alle doch für armselige Dinger!«10 Christoph Blumhardt war in dieser Situation »unzufrieden« mit seinem Beruf: »So geht mir’s. Es ist meine größte Anfechtung, und noch zieht mich’s oft mit höllischer Gewalt auf andere Bahnen. Das ist’s, was mich nur in seltenen Stunden innerlich glücklich und zufrieden werden lässt. Oft wenn ich viel, ja sehr viel getan habe, muss ich abends des Friedens entbehren, und es kommen mir Tränen in die Augen, wenn ich allein bin.«11 Neben diesen sich in fast allen Briefen äußernden Selbstzweifeln an seiner Rolle als angehender Pfarrer begleitete er die ökonomischen Veränderungen im Kurhaus mit Interesse und sprach vom »Heidentum in der Wirtschafterei«: Menschen könnten es nicht lassen, Geschäfte nur deswegen zu betreiben, weil sie »geldbringend« seien. Die kritische Betrachtung einer einseitig am Kapital orientierten Wirtschaftsweise setzte nicht erst in der sozialdemokratischen Phase (1898 bis 1903) ein, sondern begann sich schon sehr früh zu entfalten.
3 Von links nach rechts: Carl, Nathanael, Theophil und Christoph Blumhardt im Frühjahr 1870
Endlich glücklich! Heirat mit Emilie Bräuninger (1870)
Im Januar 1870 verlobte sich Christoph Blumhardt, der mit konsistorialer Genehmigung ab dem Sommer 1869 als »Pfarrergehilfe« seines Vaters im Kurhaus tätig war, mit Emilie Bräuninger, Tochter des Pächters Gottlob Bräuninger vom königlichen Hofgut Einsiedel in Kirchentellinsfurt bei Tübingen. Zur ersten Begegnung mit Christoph Blumhardt kam es, als Emilie Bräuninger als »Haustochter« 1868 im Kurhaus ein »Haushaltsjahr« absolvierte, um den Geist des Zusammenlebens in Bad Boll kennen zu lernen. Christoph Blumhardts Bruder Nathanael war zudem 1869 als Praktikant im Rahmen seines landwirtschaftlichen Studiums auf dem Hofgut tätig; dieser heiratete später Emilies jüngere Schwester Christiane. Die Eltern von Emilie waren von der Hahn’schen Frömmigkeitsbewegung geprägt worden, woraus sich auch geistliche Anknüpfungspunkte für die Familie Blumhardt ergaben: »Diese innige Gemeinschaft wird auch Dir einmal Dein Hiersein verschönern. Sonstwo ist man der Meinung, man könne nur gut und glücklicher hausen, wenn man anderen nicht viel zu fragen habe und alles machen könne, wie man selbst es für gut finde. Uns geht’s anders; gerade das, dass wir alles miteinander tun und jedes vom anderen weiß, dass es im Gebet des anderen Sache nicht vergisst, macht uns so glücklich, dass ich oft meine, es sei niemand so glücklich wie wir trotz der vielen Bedrängnis und Anfechtung, die auch nicht ausbleibt.«12 Schon im Mai 1870 fand die Hochzeit in Bad Boll statt, wobei es wohl zu Unstimmigkeiten zwischen Christoph Blumhardt und seinem Schwiegervater Gottlob Bräuninger kam, da Blumhardt nach der Meinung seines Schwiegervaters zu viele Gäste zur Hochzeit eingeladen hatte. Christoph Blumhardt verteidigt sich in einem Brief an seine Braut, indem er auf die Reich-Gottes-Arbeit sowie erneut auf seinen Vater verwies:
»Kommet alle und tretet in Gemeinschaft mit uns und helfet mit im Bauen des Reiches Gottes! … Der teure Papa, der mit allem die Sache des Herrn fördern will, würde davonlaufen, wenn wir’s anders wollten, wenn wir’s nur auf weltliches Vergnügen absähen.«13 Christoph Blumhardt verstand seine Ehe mit Emilie als eine Vereinigung, die »höheren Zwecken« dient: Sie sollte sich über das »Gewöhnliche« erheben und »göttlich Ewiges« fortsetzen. Auch wenn Christoph Blumhardt auf den »höheren Zweck« seiner Ehe verweist, lassen die Briefe zwischen ihm und Emilie erahnen, dass beide sehr glücklich waren.
Der »Babelsturm« der Deutschen: Ablehnung des Nationalismus und der Kriegstreiberei (1870/1871)
Schon früh lassen sich entscheidende politische Kommentare bei Christoph Blumhardt nachweisen: Als 1866 der preußische König Wilhelm I. den Norddeutschen Bund gründete und nach 1867 auch die Aufnahme der süddeutschen Länder in den Bund anstand, beschrieb dies Christoph Blumhardt als »Ärmlichkeit unserer Zeit«: »Die Deutschen bauen sich einen Babelsturm zu ihrer Vereinigung, denken nur an sich und ihren Ruhm. […] Alles ist nicht göttlich, sondern menschlich. Und ich habe, wenn Deutschland so einig wird, ein böses Gewissen.«14
Diese kritische Sicht auf den entstehenden Nationalismus vertiefte sich dann entscheidend im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871, den Christoph Blumhardt zeit seines Lebens immer wieder als Ausdruck einer fehlgeleiteten Politik begreiflich zu machen sucht. Schon direkt zu Beginn des Krieges, der dann die Gründung des deutschen Kaiserreichs einleiten sollte, schrieb Christoph Blumhardt an seinen Bruder Theophil: »Die Gottlosigkeit, unter den gegebenen Verhältnissen einen Krieg zu führen, ist groß, und man sieht, wie weit es die Zivilisation gebracht hat. Der Krieg liegt in der Eifersucht nicht der Könige, sondern der Nationen. Mit großer Energie wird unser Heer kriegsfertig gemacht.«15 Erst recht erschüttern Christoph Blumhardt die Berichte seines Bruders, der als Feldgeistlicher eingezogen wurde und seinen Dienst in einem Lazarett wahrnehmen musste: »Es ist doch etwas Entsetzliches, wie leichthin die Menschenleben geopfert werden.«16 Am Tag der Deutschen Reichsgründung nannte er Theophil Blumhardts Schilderungen vom »Gemetzel« der Schlachten »schaudererregend«17; vom Nationalstolz findet sich bei Christoph Blumhardt am Tag der Ausrufung des Kaiserreiches im Spiegelsaal von Versailles keine Spur – im Gegenteil: Der entstehende Nationalismus im Kaiserreich ruft nur Abscheu hervor: »Es ist ein Elend, dass man bei uns so raisonniert und damit den borniertesten Nationalistenhass pflanzt, den es nur geben kann. Im Herzen hat man die christliche Liebe nicht. Am Ende werden die Franzosen noch unsere Richter.«18
Im Laufe des weiteren Lebens spielt der Bezug zum Deutsch-Französischen Krieg immer wieder eine entscheidende Rolle bei Christoph Blumhardt. Er wird für ihn gleichsam zur »Ursünde« einer fehlgeleiteten Politik. Zeit seines Lebens setzte er sich nicht nur scharf mit der zunehmenden Militarisierung in Deutschland auseinander, sondern auch mit einem entstehenden Nationalismus im deutschen Kaiserreich. Im Zusammenhang mit der Hoffnung auf eine Allversöhnung, auf eine Welt-Vollendung musste Christoph Blumhardt das kosmologisch gewendete Narrativ »Jesus ist Sieger!« so verstehen, dass eine nationalistische Politik, die auf die Macht des Militärs setzt, der fortschreitenden Allversöhnung massiv entgegensteht. Mehr noch: Gerade weil Jesus Christus der Sieger dieser erneuerten Welt erst noch werden muss, ist eine nationalistische Politik genau das Gegenteil dieses Prozesses. Hier, also in der Kombination aus dem Bad Boller Narrativ und der Hoffnung auf eine Allversöhnung des gesamten Kosmos in der Zeit eines aufkeimenden Nationalismus, liegt die Wurzel für Blumhardts politisches Engagement – und es sollte in allen Facetten ausgerichtet sein auf das Kommen eines umfassenden Friedensreiches.
Aufforderung zu neuem Aufrichten: Tod der Gottliebin Dittus (1872)
Das Schicksal der Gottliebin Dittus, die Christoph Blumhardt in seinen Briefen liebevoll stetig »Mamo« nannte, begleitete er auch schon während der Studienzeit in Tübingen stetig. Ihre beginnende Krebserkrankung verstand Christoph Blumhardt als Anzeichen dafür, dass es in der Bad Boller Gemeinschaft noch nicht zum Besten bestellt war: Die Bedingungen für das Kommen des Reiches Gottes, für die Erneuerung der Welt, für die Allversöhnung bestanden, so Christoph Blumhardt, noch nicht: »Wo eben der Teufel, fein oder grob, nach Bad Boll sich einschleicht, da trifft er sie (sc. Gottliebin Dittus) als Hüterin, und es tut nicht gut, bis er wieder draußen ist.«19 Ihren Tod am 26. Januar 1872 verstand er deshalb als »Gericht«, aber auch als Aufforderung zu »neuem Aufrichten« in Bad Boll.20
Mit einer gewissen Distanz begleitete er die tiefe Betroffenheit seines Vaters, der in seinen Predigten und Andachten des Frühjahres 1872 den Tod der Gottliebin Dittus theologisch stetig zu verarbeiten sucht: »Letzten Sonntag hat er wieder die Geschichte der seligen Mamo in der Kirche durchgenommen und so ausführlich wie noch nie. Es tritt immer mehr die Hoffnung bei ihm hervor, dass bald etwas geschehe, was den Kampf und den Tod der Mamo rechtfertige. Sonst ist er überzeugt, dass der Tod notwendig war zu seiner eigenen Selbstständigkeit.«21 Auch hier ist der Unterschied zwischen Christoph Blumhardt und seinem Vater mit Händen zu greifen: Während der Vater den Tod der Gottliebin Dittus persönlich und seelsorgerisch deutet, fokussiert sich der Sohn auf die bestehende Bad Boller Gemeinschaft und ihren Beitrag zum kosmologischen Sieg. Von Gottliebin Dittus berichtet er in diesem Zusammenhang nur in der dritten Person; das Vorgehen des Königlichen Konsistoriums gegenüber seinem Vater, der durch die stetige Thematisierung des Todesfalls die kritische Aufmerksamkeit der württembergischen Kirchenleitung auf sich zog, wird lediglich von Christoph Blumhardt berichtet. Es stellt sich sogar der Eindruck ein, dass auch dem Sohn die theologischen Deutungsversuche dieses Todes in einer Vielzahl von Andachten und Predigten »auf die Nerven« ging. Von einem weitreichenden Einschnitt in Christoph Blumhardts Leben durch den Tod der Gottliebin Dittus kann nach den vorliegenden Dokumenten also unter keinen Umständen gesprochen werden. Möglicherweise hängt dies auch damit zusammen, dass kurz nach dem Tod der Gottliebin Dittus am 6. März 1872 Blumhardts ältestes Kind Dorothea geboren wurde.
4 Von links nach rechts: Doris Blumhardt-Köllner, Gottliebin Dittus, Christoph Blumhardt
Bad Boll: Ein Bündel familiärer Verflechtungen
Die Bad Boller Gemeinschaft wurde im Wesentlichen durch vier miteinander vielfältig verwobene Familien gebildet: Neben Christoph Blumhardt lebte sein Bruder Nathanael Blumhardt (1846 bis 1921) in Bad Boll; er leitete den Hof und war mit Christiane geb. Bräuninger, einer Schwester von Emilie Blumhardt, verheiratet. Auch Maria Blumhardt (1840 bis 1923), das älteste Kind der Eltern Johann Christoph und Doris Blumhardt, lebte in Bad Boll: Sie war verheiratet mit Emil Brodersen (1836 bis 1895), dem jüngeren Bruder von Heinrich Theodor Brodersen (1829 bis 1912), der nach seiner Gesundung in Bad Boll Gottliebin Dittus (1815 bis 1872) geheiratet hatte.
5 Maria Brodersen-Blumhardt, Schwester von Christoph Blumhardt, verheiratet mit Emil Brodersen
6 Straße vom Haus Brodersen ins Bad
Schließlich lebte auch zeitweilig Christoph Blumhardts älterer Bruder Carl (1841 bis 1892) in Bad Boll; dieser hatte Ida Wagner, die Schwester von Eleonore Vopelius, einer späteren Förderin von Bad Boll, geheiratet. Christoph Blumhardts älteste Tochter Dorothea heiratete später wiederum Paul Theofil Emil Brodersen (1859 bis 1938), ein Kind aus der Ehe von Gottliebin Dittus mit ihrem Mann Heinrich Theodor Brodersen. Elisabeth Blumhardt (1877 bis 1962), eine weitere Tochter von Christoph und Emilie Blumhardt, heiratete wiederum Eduard Vopelius (1870 bis 1953), das einzige Kind von Eleonore Vopelius, die nach dem Tod ihres Mannes nach Bad Boll gekommen war.
Schon diese wenigen Hinweise, die sich vielfach erweitern ließen, zeigen, dass die Bad Boller Hausgemeinschaft, die zusammen mit den Dienstangestellten zeitweise aus mehr als 130 Erwachsenen und 30 Kindern bestand, fundamental von drei bis vier Familien bestimmt wurde: vornehmlich von den Familien Blumhardt, Brodersen und Dittus, dann aber auch von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Familie Vopelius (Wagner). Dies entspricht der pietistischen Tradition, miteinander zusammenhängende Lebensgemeinschaften aufzubauen; zugleich erklärt sich daraus die ökonomische Überlebensfähigkeit einer solchen Einrichtung wie die des Kurhauses von Bad Boll, da alle Familienmitglieder zum großen Teil unentgeltlich zum Funktionieren des lokalen Gemeinwesens beitrugen.
Inspektor im Kurhaus (1869 bis 1880)
Mit der Genehmigung des Konsistoriums wurde Christoph Blumhardt nach seinem Vikariat als Inspektor im Kurhaus Bad Boll eingesetzt, um den Vater z. B. als Mitglied der Landessynode in Zeiten seiner Abwesenheit zu unterstützen. Zeitweise nahm Christoph Blumhardt gleichzeitig Aufgaben als Pfarrverweser wahr: in Dürnau (November 1870 bis März 1871) und in Gruibingen (April bis Mai 1871) jeweils nach dem Tod der dortigen Pfarrer.
7 Christoph Blumhardt als Inspektor im Kurhaus, vor 1880
Die Aufgaben als Inspektor im Kurhaus waren vielfältig: Im Vordergrund standen zunächst organisatorische Aufgaben im Einsatz der Bediensteten, aber auch die Beantwortung von Briefen, die Gäste oder Freunde des Kurhauses schrieben. In diesem Zusammenhang bemerkte Christoph Blumhardt einmal: »Die Kartenschreiberei ist doch eine herzlose und allzu bequeme Sitte; gut, dass ich’s erfahren habe. Ich werde das Ding meiner Lebtag nicht mitmachen.«22 Gerne übernahm Christoph Blumhardt den Konfirmandenunterricht in Bad Boll mit seinen zeitweise mehr als 30 Kindern, schwerer tat er sich anfangs mit dem Predigtdienst: »Morgen verreist Papa ins Badische; so habe ich zu predigen am Donnerstag. Es ist Angst davor, ich komme mir so schwach vor und meine, jeder andere sei würdiger zu predigen als ich. Der Herr helfe! Denn ich kann für mich selbst nichts, bin zu dumm dazu.«23 Die Seelsorge an den Kranken in Bad Boll nahm im Laufe der Zeit immer mehr Raum ein, wie sich an den Themen in den dokumentierten Briefen sehr gut nachverfolgen lässt. Teilweise musste Christoph Blumhardt sich auch mit schwierigen Kranken auseinandersetzen: Der Fall »Amalie« im Sommer 1877 z. B. beherrschte Christoph Blumhardt über mehrere Monate. Erst nachdem er die Kranke, deren Nachname nicht mehr rekonstruierbar ist, einem Arzt am Bodensee vorgestellt hatte, verbesserte sich das Krankheitsbild der psychisch Erkrankten: »Der Herr sei uns gnädig, dass unser Haus befreit werde von dieser Person. Es ist doch schrecklich, wie die ganze Höllenmacht in einem Menschen stecken kann und wie Barmherzigkeit und Wohltat von solchen missbraucht wird, um der Hölle den Sieg zu verschaffen.«24 In einzelnen Fällen konnte Christoph Blumhardt auch von einem Heilungswunder berichten: »Hier hatten wir von Samstagabend bis gestern gegen Abend einen heißen Kampf. Der kleine Gottlieb (Brodersen) bekam Luftröhrenentzündung der gefährlichsten Art. Der Arzt sah keine Hoffnung mehr. Aber wir hatten einen Heiland. Heute ist jede Gefahr vorüber.«25
Seelsorge, Krankenheilung, Andachtsgestaltung, Gästebetreuung, Organisation des Kurbetriebs – diese Stichworte zeigen, dass Christoph Blumhardt als Inspektor unter der Gesamtleitung des Vaters auch dessen Spuren folgte.
Tod des Vaters und schwierige Nachfolgeregelung (1880 bis 1881)
Plötzlich und gänzlich unerwartet starb der Vater am 26. Februar 1880. Damit trat eine völlig neue Situation für Christoph und Theophil Blumhardt ein: Wer sollte die Aufgabe der Leitung des Kurhauses übernehmen? Wie sollten die Dienste verteilt werden? Wer hatte die Verantwortung für was zu tragen? Wer sollte die Strategie der zukünftigen Entwicklung des Kurhauses verantworten?
Schon die Darstellung am Sterbebett des Vaters lässt die zeitweilig bestehende Rivalität zwischen beiden Brüdern erahnen. »Wir waren zusammen bei ihm; ich saß neben ihm. Und er redete ein schweres Wort. Ich antwortete unter anderen: ›Es wird gesiegt!‹ Da hob er mit letzter Anstrengung seine Hand auf, legte sie mir aufs Haupt und sagte: ›Ich segne dich zum Siegen.‹ Mein Bruder Theophil trat an meine Seite, und wir nahmen uns als gesegnet zum Siegen. Mit diesem Segen ausgerüstet wollen wir Geduld und Glauben halten. So haben wir eine Rüstung des Friedens, eine Rüstung des Gehorsams unter das Maß und eine Rüstung des Segens von unserem Vater, der als Knecht Christi uns und durch uns das ganze Haus und alle Freunde, auch auswärts, gesegnet hat zum Siegen.«26 Christoph und Theophil Blumhardt teilten sich zunächst die Dienste im Kurhaus untereinander auf, wobei Christoph Blumhardt die Sonntagspredigt für sich beanspruchte – Ausdruck seines »hausväterlichen« Verständnisses, wie er meinte. In mehreren Andachten und Briefen wird angedeutet, dass die Frage der Führung und der Leitung des Kurhauses zwischen beiden Brüdern außerordentlich strittig war. Zeitweise scheint Theophil Blumhardt erwogen zu haben »auszuwandern«.
Durch Zufall wurde jedoch Ende 1880 die Pfarrstelle im Dorf Boll frei; im Februar 1881 wurde Theophil Blumhardt dort eingeführt, so dass Christoph Blumhardt glücklich aussprechen kann: »Wir stehen mit der Aufgabe, die unser Haus hat, vor einem bedeutenden Wendepunkt, indem morgen mein Bruder soll eingesegnet werden, für die Gemeinde verpflichtet. An sie gleichsam angebunden, ist uns damit die Aufgabe geworden, das Wort mit Freude zu predigen, das Geheimnis des Evangeliums kund zu machen in einer weiten, ausgedehnteren Weise.«27 Der familiär bedingte Zusammenhang von Gemeinde Boll und Kurhaus Bad Boll bildete fortan die sich vertiefende Basis einer sich ausweitenden Gemeinschaft von Menschen, die auf das Reich Gottes hinarbeiten wollten: »Wir alle sind zusammengebacken, wir können nicht auseinander. Es ist durchaus auch mein Bruder in Boll, es fällt ihm nicht ein, einmal woanders hinzugehen, und meine Kinder später, wenn’s auch hundert werden, sie müssen all da bleiben, das hoffe ich wenigstens.«28 Mit der Übernahme der Pfarrstelle durch seinen Bruder Theophil in Boll war die Frage der Leitung geklärt: Christoph Blumhardt trat 1881 in die Fußstapfen seines Vaters und wurde fortan Kurhausbesitzer.
Seelsorge und Krankenheilung in den ersten Jahren nach 1881
Christoph Blumhardt führte als Kurhausbesitzer nach 1881 zunächst die Tradition seines Vaters fort: Dazu gehörte eine intensive Seelsorge, der heilende Umgang mit Kranken, die Ansage des nahe herbeigekommenen Reiches Gottes in den Andachten sowie die geistliche Versorgung der Gemeinde Bad Boll einschließlich der Konfirmation von jungen Menschen. Das Kurhaus Bad Boll war in dieser Konstellation ein sehr besonderer Ort, der in einer Abgeschiedenheit und auf Grund seiner geistlichen Atmosphäre auf eine gewisse Zielgruppe aus Deutschland wie auch der benachbarten Schweiz eine magische Anziehungskraft ausübte. Zwischen den Jahren 1881 und 1888 kamen jährlich im Durchschnitt mehr als 1.000 Gäste nach Bad Boll, wobei insbesondere zu den Zeiten um Ostern und Pfingsten herum das Kurhaus überbelegt war.
Die Art und Weise, wie Gäste dauerhaft mit der seelsorgerlichen Situation in Bad Boll immer intensiver in Kontakt kamen, lässt sich an einem Beispiel am besten nachvollziehen, wobei dieser Fall lediglich exemplarisch für eine Fülle von ähnlich gelagerten Situationen aufgeführt wird: Anlässlich des Trauergottesdienstes für Marie Kranzbühler am 9. Februar 1885, die Christoph Blumhardt wie auch viele andere Gäste als »Freundin« bezeichnete, fasste er ihr Leben summarisch so zusammen:
»Sie (sc. Marie Kranzbühler) wurde in unser Haus geführt durch ein Knieleiden und betrat zum ersten Mal Bad Boll im Jahre 1870. Sie suchte Heilung und fand sie; ohne Krücken konnte sie wieder in die Heimat zurückkehren; in wunderbar schneller Weise hatte ihr der Heiland geholfen. Diese Erfahrung verband die liebe Entschlafene aufs innigste mit unserem Vater. Fast jährlich brachte sie einige Monate in unserem Hause zu. Mit der Zeit wurde sie kränklich, und im Herbst 1879 – wieder in Bad Boll weilend – hätte sie eine Heimreise nicht mehr wagen mögen. So entschloss sie sich, hier ihre letzte Heimat zu suchen. Es entspannen sich auch bald enge Bande zwischen ihr und den hiesigen Familien, so dass wir sie zu den Unsrigen rechneten. Allerlei Anfechtung und Leibesnot machten ihr auch den Schutz der Gemeinschaft wertvoller. Im Laufe des Winters traten schwere Leibesnöte auf, und oft hatte sie es schwer, sich darein zu schicken. Doch der Herr blieb treu, und selbst in den letzten Tagen durften wir eine merkwürdige Leibeshilfe sehen, welche das drückende Grauen des Todes wegnahm. Der Herr tat Großes und wollte, dass die liebe Entschlafene nicht dem Tode verfiel. Er sah ihr Sehnen nach Erlösung, und mit starker Hand hat er sie herausgerissen. Im Frieden durften wir sie scheiden sehen.«29