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Chronos, die personifizierte Zeit, ist ein Rätsel, nicht nur für Physiker. Von Newton bis Hamlet, von Einstein bis Dalí ist sie der Protagonist so faszinierender wie schwindelerregender Spekulationen. Können wir das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit jemals zum Stillstand bringen? Lässt sich der Zeitpfeil umdrehen? Hat die Zeit tatsächlich eine eigene Existenz oder ist sie nur eine riesige Illusion? Der Physiker und Schriftsteller Guido Tonelli erzählt in einem spektakulären Buch die lange Geschichte der Zeit, ihre rasende Geburt und bizarre Entwicklung. Die Zeit ist ein hervorragendes Instrument, um in unserer Umwelt zu überleben, aber sie macht uns einen Strich durch die Rechnung, sobald wir versuchen zu verstehen, wie die Welt außerhalb unseres kleinen Planeten funktioniert. Dort weicht der regelmäßige Rhythmus unserer Zeit Turbulenzen, chaotischen Phänomenen und ungeheuren Katastrophen. Wir stoßen auf Sonnensysteme, die durch Supernova-Explosionen zerfallen sind, und auf Galaxien, die von aktiven galaktischen Kernen verwüstet wurden. Diese fernen Welten sind eine Herausforderung für unsere Vorstellungskraft, ebenso wie die Elementarteilchen mit ihren flüchtigen Existenzen und ewigen Leben. Wenn die Entfernungen so groß sind oder wir das unendlich Kleine betrachten, verliert das Konzept der Chronologie jede Konsistenz. Tonellis Reise zu den Anfängen und Grenzen der Zeit zwingt uns, alle Gewissheiten aufzugeben und nicht nur auf die Vernunft, sondern ebenso auf die Phantasie zu hören.
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Guido Tonelli
CHRONOS
EINE PHYSIKALISCHE REISE ZU DEN URSPRÜNGEN DER ZEIT
Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann
C.H.BECK
Chronos, die personifizierte Zeit, ist ein Rätsel, nicht nur für Physiker. Von Newton bis Hamlet, von Einstein bis Dalí ist sie der Protagonist so faszinierender wie schwindelerregender Spekulationen. Können wir das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit jemals zum Stillstand bringen? Lässt sich der Zeitpfeil umdrehen? Hat die Zeit tatsächlich eine eigene Existenz oder ist sie nur eine riesige Illusion? Der Physiker und Schriftsteller Guido Tonelli erzählt in einem spektakulären Buch die lange Geschichte der Zeit, ihre rasende Geburt und bizarre Entwicklung.
«Diesem Buch gelingt ein Paradox: Wir lesen es atemlos bis zur letzten Seite, weil wir nun vieles verstehen, was wir eigentlich nicht verstehen können.»
Kathrin Meier-Rust, Neue Zürcher Zeitung, über «Genesis».
Guido Tonelli ist experimenteller Physiker am CERN in Genf, Professor an der Universität Pisa und ein italienischer Bestsellerautor von erzählenden Sachbüchern. Er war in leitender Stellung 2012 an der Entdeckung des Higgs-Bosons beteiligt. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: «Genesis. Die Geschichte des Universums in sieben Tagen» (2020).
Einführung
Erster Teil: Der Zauber der Kreisel
1: Die Sehnsucht, die Zeit zu beherrschen
Wenn der Zauber zerbricht
Die Lebenszeit
Gefäße und Gräber: Die Geburt von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft
2: Unsere Zeit
Der Zeitsinn
Als Chronos noch frei und wild umherstreifte
Die Zeit in einen Käfig sperren
Der Siegeszug des Chronos
Zweiter Teil: Wo die Zeit stehenbleibt
3: Das seltsame Paar
Die sich verflüssigende und zersplitternde Zeit
Die weichen Uhren
Eine fantastische Präzision
Mit der Relativität Geld verdienen
Große Philosophen und Rotkäppchen
4: Die lange Geschichte der Zeit
Der Anbeginn der Zeit
Das Ende der Zeit
Die Zeit in der Welt der kosmischen Entfernungen
Wunderbare Illusionen und fantastische Schimären
Wenn die Energie von drei Sonnen leicht auf den Wellen der Raumzeit dahinsurft
5: Wenn die Zeit stehenbleibt
Die Uhren der Pariser Kommune
Höllenorte, an denen die Zeit sich auflöst
Das spektakuläre Ende von Beteigeuze
Die Meister des Schreckens
Die Physik der Punkte ohne Zeit
Dritter Teil: Zwischen ephemeren Existenzen und ewigen Lebensdauern
6: Leben als Teilchen
Eine Welt voller Extravaganzen
Explosionsartig zunehmende Massen und sich maßlos ausdehnende Zeiten
Kosmische Superbeschleuniger
Das kleine weiß-rote Ziegelhaus
7: Die Zeit des unendlich Kleinen
Eine Handvoll Auserwählter
Im unfasslichen Reich des Ephemeren
Das halsbrecherische Leben der Myonen
Schönheit, Charme und Scham der Quarks
8: Eine ganz spezielle Beziehung
Das Leben der Dioskuren
Kairos am Schopf packen
Die Zeit anhand der Energie messen
Die Streifzüge der Boten, die Schutzbefohlenen des Hermes
Das perfekte Paar
9: Kann man den Zeitpfeil umdrehen?
Eine Gleichung offenbart eine Welt, von der niemand etwas ahnte
Der heilige Gral der Symmetrie
Das Geheimnis eines Gedichts oder eines guten Weines
Entropie und Unumkehrbarkeit der Zeit
10: Der Traum, Chronos zu töten
Die uralte Sehnsucht, die Zeit anzuhalten
Die Mörder der Zeit
Nosferatu
Epilog: Die kurze Zeit
Danksagung
Meinen tapferen Kindern Diego und Giulia
«O Zeit, du Verzehrerin der Dinge …»
Leonardo da Vinci, Codex Arundel
ALICE: «Wie lange ist für immer?» WEISSER HASE: «Manchmal nur für eine Sekunde.»
Lewis Carroll, Alice im Wunderland
«Forever is composed of nows.»
Emily Dickinson, Poems
«The time is gone, the song is over Thought I’d something more to say.»
Roger Waters, Time
Emilio Folegnani arbeitete in den Walton-Höhlen in den Apuanischen Alpen, in denen der berühmteste weiße Marmor der Welt gebrochen wird. Der stämmige Mann mit den Schwielen an den riesigen Händen war Steinhauer, ein heute ausgestorbener Beruf: Mit Holzhammer und Meißel richtete er frisch aus der Wand gebrochene Steinblöcke zu.
Wie alle seines Berufs wirkte Emilio unbeirrbar, hart wie der Rohmarmor, den er aus dem Berg zog, und redete wenig. Meistens sagte er nur einzelne Wörter oder ab und zu einen kurzen Satz. Seine Arbeit war gefährlich: Er hantierte mit Dynamitstangen und riskierte wie alle in den Steinbrüchen sein Leben, wenn die gewaltigen Felsbrocken herumgewuchtet wurden. Menschen seines Schlags konnte eigentlich nichts erschüttern.
Im Frühjahr 1961, ein Jahr vor seinem Tod, redete er – was selten vorkam – mehr als fünf Minuten am Stück. Er schilderte, was er am 15. Februar dieses Jahres gegen halb neun Uhr morgens erlebt hatte.
In den Wochen, in denen strengster Winter herrschte, ruhten die Arbeiten in den Gruben: Zu viel Schnee und Eis bedeckten die Hochlagen. Aber in dieser Zeit legte kein Arbeiter die Hände in den Schoß. Jeder hatte ein kleines Ackerstück vorzubereiten, um Kartoffeln, Kohl oder Tierfutter anzubauen.
Auch Emilio hielt sich auf dem Land, in Lo Scasso, auf, einem winzigen, stark abschüssigen Gut, das er in Jahren mühseliger Arbeit der Natur abgerungen hatte. Er hatte einen Hang gerodet, Steine abgesammelt und kleine urbare Terrassen angelegt. Als er mit Umgraben beschäftigt war, wurde plötzlich das Morgenlicht schwächer und verfinsterte sich schlagartig. «Das ist das Ende der Welt», dachte er, während ihm Tränen die Wangen hinabrannen. Er fiel auf die Knie, faltete die Hände und begann zu beten. Als er später die Begebenheit erzählte, spiegelten sich immer noch Angst und Aufregung in seinen Augen. Nach einer kurzen Zeitspanne, einer gefühlten Ewigkeit, erhellte wieder die Sonne die Erde, worauf alles zu neuem Leben erwachte.
Mein Großvater Emilio war zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben Zeuge einer totalen Sonnenfinsternis geworden. In Ankündigungen in den Zeitungen und im Fernsehen war ausführlich über sie berichtet worden, aber die Nachricht war offenbar nicht bis in sein Dreihundert-Seelen-Dorf Equi, inmitten der Apuanischen Alpen, vorgedrungen. Vielleicht hatte sie auch nur ihn nicht erreicht.
Wenn heute für irgendeine Weltregion eine Sonnenfinsternis angekündigt wird, löst dies große Erwartungen und Aufregung aus. Das Schauspiel wird aus jeder Perspektive aufgenommen, wobei dessen spektakulärer Aspekt jede mögliche Besorgnis überdeckt. So war es aber nicht immer. Das Zeugnis meines Großvaters macht deutlich, mit welcher Angst unsere Vorfahren darauf reagierten, wenn der regelmäßige Wechsel von Tag und Nacht oder die Aufeinanderfolge der Jahreszeiten plötzlich aus dem Rhythmus geriet.
Überbleibsel dieser Urangst verspüren wir noch heute. Wenn unerwartete Ereignisse den regelmäßigen Ablauf dieser wunderbaren Naturerscheinungen stören, meinen wir die Zeit aus den Fugen geraten zu sehen und befürchten, die ganze Welt könne in tausend Scherben zerspringen.
Dies geschieht jedes Mal, wenn über eine Gemeinschaft ein kleines oder großes Unglück hereinbricht. Wenn eine Explosion oder ein Erdbeben eine Stadt zerstört, bringt dies den Zeitsinn ihrer Bewohner, der ihr bisheriges Alltagsleben geregelt hat, aus dem Takt. Die Schilderungen Überlebender gleichen sich allesamt. Die Augenblicke der Angst verwandeln jede Sekunde in einen ewig langen Zeitraum, an den sie sich in allen Einzelheiten noch genau erinnern. Das Trauma unterteilt das Leben Tausender für immer in ein «Vorher» und ein «Nachher». Eine jähe Trennlinie liegt zwischen den beiden Phasen in der Existenz von Menschen, die nicht mehr dieselben sind. Die Katastrophe hat sie schlagartig verändert. Etwas ist unrettbar zerborsten, und die Zeit scheint einen ungeordneten und chaotischen Verlauf zu nehmen. Die ungewisse Zukunft macht ihnen Angst, und die nicht mehr vergehende Vergangenheit gönnt ihnen keinen Frieden: Die traumatische Erfahrung, die sich den Menschen in der Panik ins Gedächtnis gebrannt hat, kehrt immer und immer wieder zurück.
In Zeiten der Pandemie zieht diese Erfahrung die ganze Welt in Mitleidenschaft. Wenn wir unser Leben von vor wenigen Monaten betrachten, scheinen Jahre vergangen. Die in den schlimmsten Tagen erlebte Angst, die wir überwunden glaubten, kehrte mit jedem erneuten Anstieg der Ansteckungsraten unverändert zurück. Besorgt fragten wir uns, was die Zukunft bringt, und blickten auf vieles zurück, das sich verändert hat und wohl nie wieder so werden wird, wie es war.
«Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram, dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam!» Als Hamlet diese Verse spricht, zeichnet sich bereits klar der Gang der Ereignisse ab, der die übrige Tragödie bestimmt. Gerade ist die schlimmste Heimsuchung geschehen, die eines Gespenstes, das in die Welt der Sterblichen eingebrochen ist. Der verstorbene Vater ist Hamlet erschienen, hat ihm die Wahrheit gesagt und von ihm Gerechtigkeit verlangt: Er ist von seinem Bruder Claudius heimtückisch ermordet worden.
Ein schreckliches Verbrechen hat die gewohnte Ordnung auf den Kopf gestellt. Das Gift, das dem König ins Ohr geträufelt wurde, hat die legitime Nachfolge vereitelt und den geregelten Generationenwechsel außer Kraft gesetzt, sodass jetzt alles wie Unkraut auf einem Misthaufen verrottet. Nun obliegt es dem widerstrebenden Hamlet, die Zeit in ihre Angeln zurück zu heben und der Wahrheit wieder Geltung zu verschaffen.
Kein anderer verstand es besser als William Shakespeare (1564–1616), die bedrückende und verstörende Atmosphäre von Epochen heraufzubeschwören, in denen der geordnete Zeitablauf aus den Fugen gerät. In Dänemark hat der Brudermord, dieser Gewaltakt gegen das eigene Fleisch und Blut, das Urvertrauen zwischen den Menschen erschüttert. Diese Art Verbrechen – Kains Untat als Inbegriff von allem, zu dem Menschen fähig sind – zersprengt den regelmäßigen Rhythmus, der die kosmische Ordnung regiert. Eine Plage kommt über die Welt. Anarchie und Chaos erschüttern die Gesellschaft in all ihren Gliedern und nisten sich tief in der menschlichen Seele ein. Die Zeit, vergiftet vom vergossenen Blut, durchtränkt die Geister und wird für alle zur tödlichen Gefahr. Um zu überleben, flüchtet Hamlet sich in den Wahn und nutzt die Erzählung als Ausweg: Als die Schauspieltruppe den Mord an seinem Vater auf die Bühne – Inbegriff dichterischer Fiktion – bringt, kommt die Wahrheit für alle ans Licht. Ein unübertreffliches Bild für die Kraft der Kunst, die Welt zu erlösen.
Vierhundert Jahre danach, in einem Zeitalter, in dem offenbar auch für uns die Zeit aus den Fugen geraten ist, setzen wir uns nun mit einem Rätsel auseinander, das die Menschheit seit Jahrtausenden beschäftigt. Was ist die Zeit? Können wir ihr unaufhaltsames Voranschreiten jemals zum Stillstand bringen? Lässt sich der Zeitpfeil umdrehen? Hat die Zeit wirklich eine eigene Existenz oder ist sie nur eine riesige Illusion?
Um in den Kern der Frage vorzustoßen, müssen wir nachvollziehen, wie der Zeitsinn entstanden ist und wann die Unterteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bei unseren fernen Vorfahren erstmals aufgetaucht ist. Dabei gilt es vor allem zu untersuchen, was die Zeit für die materiellen Objekte um uns herum darstellt.
Die moderne Wissenschaft ermöglicht es uns, die entlegensten Bereiche des Universums zu erkunden. Wenn wir Phänomene untersuchen, die sich auf subnuklearer Skala abspielen, zeigt sich die Zeit mit ganz anderen als den uns gewohnten Eigenschaften. Das Gleiche geschieht, wenn wir die riesigen Objekte, die den Kosmos in großen Entfernungen bevölkern, die Galaxien oder Galaxienhaufen, betrachten. In diesen beiden so weit auseinander liegenden Welten verbiegt, zerfließt und zersplittert dieser so harmonische und konstante Ablauf der Zeit, der uns seit Jahrtausenden fasziniert. Raum und Zeit erscheinen uns wie ein unauflösliches Paar; nicht wie ein abstraktes Konzept, sondern eine materielle Substanz, die das gesamte Universum durchdringt, vibriert, schwingt und sich verformt.
Gemeinsam werden wir die Zeit in ihrer langen Geschichte, ihre rasende Geburt und bizarre Entwicklung entdecken. In der Fantasie reisen wir an die Schreckensorte, an denen die Zeit stillsteht, und erkunden verblüfft ihre enge Beziehung zur Energie, eine, die so besonders ist, dass sie aus dem Vakuum ein herrliches materielles Universum hervorbringen konnte.
Die alten Griechen setzten Chronos, die personifizierte Zeit, mit dem Titan Kronos gleich, dem Sohn des Uranos und der Gaia, der die eigenen Kinder fraß, weil ihm prophezeit worden war, dass er von einem von ihnen dereinst entthront würde – so wie vormals er selbst seinen Vater in einem rebellischen Akt entmannt und dessen Platz eingenommen hatte. Da er seine Kinder als Unsterbliche nicht töten konnte, musste er sie verschlingen. Dieses schreckliche Bild spiegelt unsere tiefsten Ängste wider: dass die Zeit nicht nur uns zugrunde richtet und verzehrt, sondern auch unsere gesamte Nachkommenschaft und mit ihr die Werke, von denen wir glaubten, sie hätten ewig Bestand. Allein Zeus entgeht seinem Schicksal: Von seiner Schwestergemahlin Rhea getäuscht, verschlingt Chronos anstelle des Neugeborenen einen in eine Windel gewickelten Stein. Und so erfüllt Zeus die Prophetie, indem er seinen Vater berauscht macht, ihn fesselt und sich an seiner Stelle zum Herrn über die Schöpfung aufschwingt.
Seither kehrt in der Menschheit der Traum, Chronos zu stürzen, immer wieder zurück als die Sehnsucht, die Zeit aufzuhalten, oder die Illusion, sie an ihrem zentralen Platz in der Natur zu entthronen. Aber können wir uns von der Herrschaft des Chronos jemals befreien?
Erster Teil
1
Jacopo ist ein robustes kleines Kerlchen und mein jüngster Enkel. Er versprüht Energie aus allen Poren und ist – ein Riese in Miniaturformat – für seine achtzehn Monate deutlich zu groß. So verspielt und neugierig wie alle Kleinen seines Alters, schnappt er sich alles, was ihm unter die Finger kommt, und hantiert irgendwie damit. Wie viele ziehen auch seine Eltern und Großeltern durch die Läden und kaufen ihm teure bunte Holzspielzeuge. Diese wunderschönen Gegenstände sind mit Bedacht so konstruiert, dass sie die Neugierde der Kinder wecken und sie im Umgang mit den eigenen Händen schulen. Jacopo würdigt sie eines zerstreuten Blickes oder spielt ein paar Minuten lang lustlos an ihnen herum. Dann wendet er sich wieder seiner Hauptbeschäftigung zu.
Ihn ziehen die allereinfachsten Dinge an: Er sammelt Verschlüsse jeder Art, von Sektkorken bis zu Plastikdeckeln auf Milchflaschen. Er begeistert sich für zylindrische Behälter wie Mamas Hautcremedosen, interessiert sich aber auch für kleine Objekte mit unregelmäßigen Formen. Hauptsache, sie lassen sich in Kreisel verwandeln. Bei seinen Versuchen kommt er ihrer Symmetrieachse auf die Spur und probiert mit systematischer Entschlossenheit so lange an ihnen herum, bis es ihm gelingt, sie in die magische Rotation zu versetzen. Dann schaut er sie stauend an, wie sie sich in einem Gleichgewicht stehend um sich selbst drehen, mit Augen, aus denen Stolz auf den eigenen Erfolg spricht. Und dieses Manöver wiederholt er unermüdlich und zielgenau immer und immer wieder. Er ist beruhigt, dass der Zauber sich wiederholt, und zufrieden, dass ihm die Welt gehorcht.
Auch wir Erwachsenen fühlen uns von der vollkommenen Regelmäßigkeit periodischer Bewegungen unwiderstehlich angezogen. Obwohl die Naturwissenschaft und zahlreiche Erkundungsmissionen viele Geheimnisse des Mondes gelüftet haben, sind wir bei jedem Erscheinen des Trabanten am schönen Firmament noch immer bezaubert. Wie Jacopo blicken wir entzückt auf diesen wunderbaren Kreisel, der seine Bahnen um uns zieht, und lassen uns von der Wiederkehr seiner Phasen faszinieren.
Dieses Staunen über die Sonne, die ihren Lauf über den Himmel antritt, über die aufscheinenden Sterne in der Dunkelheit oder den Wechsel von Tag und Nacht hallt aus der Frühzeit der Menschheit noch tief in unserer Seele nach.
Die vollkommene Harmonie, in der uns die großen Himmelskörper umkreisen, übt seit Jahrtausenden eine hypnotische Wirkung auf uns aus. Die Mechanismen, die ihre Bewegungen regeln, blieben der Menschheit bis noch vor wenigen Jahrhunderten verborgen. Alles wurde zum göttlichen Wirken erhoben. Jede Kultur richtete einen eigenen Mythos auf und ordnete ein und demselben Gestirn einen Gott unterschiedlichen Namens zu: Ra bei den Ägyptern, Apoll bei den Griechen, Itzamná bei den Maya. Die Gottheit garantierte die Rückkehr des Lichts und den Wechsel der Jahreszeiten. Ihr Wohlwollen entschied über üppige Ernten oder ihre Missgunst über schreckliche Dürren. Das Wohl und Wehe ganzer Gemeinschaften hing von der periodischen Wiederkehr der Regenzeit oder der segensreichen und düngenden Flut eines Stromes ab. Über eine endlos lange Zeit bestand der schrecklichste Alptraum darin, dass die Sonne nicht zurückkehren und die Tage in ein endloses Dunkel stürzen könnten, entsetzlich für alle viehzüchtenden oder Ackerbau treibenden Bevölkerungen. Zur Abwehr dieses Übels wurden prachtvolle Tempel errichtet und gewaltige Zeremonien organisiert. Riten, Opferungen und Akte der Unterwerfung unter die Gottheiten, welche die Stabilität dieser Zyklen aufrechterhalten sollten, gaben dem Leben ganzer Kulturen den Rhythmus vor.
Unser Zeitgefühl, das sich an der regelmäßigen Aufeinanderfolge von Ereignissen orientiert, die sich seit Anbeginn der Menschheit wiederholen, wurzelt in dieser jahrtausendealten Geschichte. Was immer diesen perfekten mechanischen Ablauf bedrohte, gefährdete das Überleben der gesamten Menschheit. Nicht zufällig wurde die Macht in die Hände von Priestern und Astronomen gelegt, den Kundigsten darin, einen Kalender zu erstellen und den Geheimnissen dieser regelmäßigen Abläufe auf die Spur zu kommen. Wer die Gesetze des Vergehens der Zeit durchschaute, beherrschte die Welt. Wer in der Lage war, die sich unmerklich einschleichenden Unregelmäßigkeiten in der Abfolge der Tage und Jahreszeiten zu bereinigen, hatte gewaltige Macht über die Menschen.
Die zyklische Wiederkunft war Harmonie und Versicherung. Mit dem geheimen Wissen, wovon die geregelten Bewegungen der Gestirne abhingen, erkannten und beherrschen die Gelehrten die Abweichungen im Zeitablauf. Sie waren in der Lage, sie durch eine Kalenderreform zu beseitigen und außergewöhnliche Ereignisse wie Eklipsen vorherzusehen: die Nächte, in denen der Mond jäh seinen Glanz verlieren, oder die furchtbaren Tage, wenn sich die Sonne verfinstern und die Welt in Dunkelheit versinken würde.
Daraus speiste sich die okkulte und geheimnisvolle Macht der Eliten: Sie besaßen die Herrschaftsgewalt, weil sie die Gesetze der Zeit durchschauten. Ihnen wurde die Organisation der gesellschaftlichen Hierarchie anvertraut, weil sie Ordnung in die äußere Welt brachten, von der das Leben der gesamten Gemeinschaft abhing.
Wie wir heute wissen, steht hinter all diesen natürlichen Abläufen ein komplexes System aus Himmelskörpern mit den Menschen in seinem Zentrum: Die Erde dreht sich mit rund 1700 km/h um die eigene Achse. Begleitet vom Mond, ihrem großen Satelliten, umkreist sie mit über 100.000 km/h unsere Sonne. Und dieses gesamte System zieht seinerseits eine ungeheuer weite Bahn um Sagittarius-A*, das Schwarze Loch im Zentrum unserer Milchstraße. Dabei benötigt es trotz seiner gewaltigen Geschwindigkeit von 850.000 km/h für einen vollen Umlauf über 200 Millionen Jahre. Unsere Galaxis schließlich rast mit rund zwei Millionen km/h auf eine Zone mit hoher Materiedichte zu, in der sich der Große Attraktor, eine Familie aus Galaxienhaufen, sowie vor allem der Shapley-Superhaufen befindet, eine wahrhaftige Megalopolis aus Galaxien, die rund 600 Millionen Lichtjahre von uns entfernt liegt. Und um alles noch komplizierter zu machen, befindet sich unsere Galaxis in diesem wahnwitzigen Rennen offenbar auf Kollisionskurs mit der großen Andromedagalaxie.
Der regelmäßige Rhythmus unserer Zeit, seine fast vollkommene Periodizität, geht aus dieser verwickelten und komplexen Gesamtheit aus wunderbaren Kreiseln hervor. Auf einer Zeitskala beobachtet, die gegenüber den kosmischen Abläufen verschwindend gering erscheint, wirkt der von uns bewohnte Winkel des Universums friedlich und still. Obwohl der Mensch und seine Vorläufer ihn seit Millionen Jahren besiedeln, reichen die ersten Himmelsbeobachtungen, von denen wir Kenntnis haben, nur einige tausend Jahre zurück, eine sehr kurze Zeitspanne für ein System, das sich seit Milliarden Jahren weiterentwickelt. In unserer Unkenntnis und etwas überheblich meinten wir, die Verhältnisse, die wir in diesem winzigen Stück All beobachten, auf den gesamten Kosmos übertragen zu können. Wir stellten uns vor, der reibungslose und regelmäßige Ablauf der Zeit, der durch die so beruhigende periodische Wiederkehr von Phänomenen gegliedert wird, sei ein Merkmal des gesamten Universums.
Aber so ist es in Wahrheit nicht. Viel häufiger, als wir es uns vorstellen, ereignen sich im Chaos turbulenter Zonen ungeheure Katastrophen, deuten Beobachtungen darauf hin, dass in dunklen Bereichen Supernova-Explosionen ganze Sonnensysteme zersprengen, oder werden Ansammlungen von Sternen von aktiven Galaxienkernen verwüstet. Diese fernen Welten stellen unser Konzept von der Zeit als einem glatten, kontinuierlichen und geregelten Ablauf infrage.
Heute wissen wir, dass auch in unserem Sonnensystem geringfügige Veränderungen genügen würden, um dessen fragile Gleichgewichte zu zerstören. Wäre der Mond deutlich kleiner, hätte die Erde keine stabile Rotationsachse mehr. Unser friedlicher Begleiter stabilisiert die Drehbewegung unserer Erde zu der eines großen Kreisels und begrenzt ihre Schwankungen auf kleine Ausschläge gegenüber ihrer Orbitalebene. Dank dieses entscheidenden Effekts entstanden auf der Erde Klimazonen mit jahreszeitlichen Schwankungen, die in den tropischen und gemäßigten Zonen über sehr lange Zeitskalen beständig blieben. All dies spielte eine entscheidende Rolle dabei, dass sich extrem ausdifferenzierte pflanzliche und tierische Lebensformen entwickelten, deren jeweilige ökologische Nischen dauerhaft Bestand hatten. Wäre der Mond dagegen deutlich größer, würden große Gezeitenkräften an der Erde zerren und ihre Umlaufbahn erheblich stören. In beiden Fällen würde dies unseren Begriff von der Zeit als einem geordneten Zyklus ernsthaft infrage stellen.
Aber von alldem wussten wir über Jahrtausende nichts. Hätten wir nicht einen Winkel des Universums besiedelt, der von den periodischen, regelmäßig wiederkehrenden Phänomenen gekennzeichnet ist, die uns seit jeher faszinieren, hätten wir diesen gewohnten Zeitbegriff niemals entwickelt. Wir haben uns in der Illusion gewiegt, im Zentrum eines perfekt ausgeklügelten, ewigen und unveränderlichen Weltengetriebes zu leben. Deswegen packt uns die Angst, wann immer dieser Zauber zerbricht.
Als ich das Gemälde zum ersten Mal sah, stockte mir der Atem. Giorgione (1478–1510) ist ein mehr als großartiger Künstler, der uns wenige Werke hinterlassen hat. Von jung auf zählte ich ihn zu meinen Lieblingsmalern und suchte seine Arbeiten in sämtlichen Museen der Welt auf. Ich erinnere mich noch, wie aufgeregt ich war, als ich in der Galleria Palatina in Florenz seine Drei Menschenalter vor mir hatte.
In einem klassischen Kunstgriff präsentiert uns dieses Werk eine Reflexion über die Hinfälligkeit des Menschseins. Ein und dieselbe Person ist als Jugendlicher, als erwachsener Mann und als Greis dargestellt. Mit der vollkommenen Natürlichkeit, mit der diese drei Figuren einträchtig beieinanderstehen, übertünchen sie die Absurdität, dass Momente, die in der Realität um Jahrzehnte auseinanderliegen, in einer Gleichzeitigkeit erscheinen. Links wendet sich der vom Alter gezeichnete Mann, der am Ende seines Lebens steht, aus der Bildebene heraus dem Betrachter zu und schaut ihm mit einem entschlossenen und leidenden Blick direkt in die Augen: «Und du glaubst, das betrifft nicht dich? Bildest du dir ein, du selbst hättest mit dieser Darstellung nichts zu tun?» Das Vanitasmotiv, eine schreckliche Mahnung an die Vergänglichkeit, sollte ein Jahrhundert nach Entstehung dieses Gemäldes für einen anderen Großen der Malerei zur Obsession werden.
Rembrandt van Rijn (1606–1669) hat uns rund ein Dutzend Selbstporträts hinterlassen: dreißig Radierungen, zwölf Zeichnungen und nicht weniger als vierzig Gemälde. Alles Werke, die er selbst ausgeführt und in der eigenen Sammlung behalten hat. Keines gelangte in die Hände der zahlungskräftigen Kunden, die aus ganz Europa Bilder bei ihm in Auftrag gaben. Und so sieht man noch heute, mit welcher Detailversessenheit er das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit zu dokumentieren versuchte. In farbigen Pinselstrichen ausgeführt, sind die erschlaffende Gesichtshaut, die sich auswölbenden Tränensäcke und die überall aufblühenden Äderchen, noch ehe Runzeln grassieren, die sichtbaren Anzeichen für den vorschreitenden Verfall der Lebenskraft. So schenkt uns Rembrandt eine meisterhafte Serie von Selbstporträts, fast in einer Vorwegnahme des heutigen Gesichtsmorphings, mit dem sich binnen Sekunden das glatte Antlitz eines Säuglings zum verfallenen eines Hundertjährigen entstellen lässt.
Das Gefühl für die eigene Vergänglichkeit im irdischen Dasein – wohl die verbreitetste der menschlichen Erfahrungen – fesselte die Künstler zu jeder Epoche und fasziniert sie bis heute, weil es alle an das grundlegendste Kennzeichen des Menschseins gemahnt. Wie es Lorenzo der Prächtige (1449–1492) in einem Sonett besingt: «Jedes Ding ist flüchtig und währet kurz, da Fortuna in der Welt so schlecht beständig; allein der Tod steht still und dauert ewig fort.»