9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Lügen, Intrigen, Machtkämpfe – und eine Liebe gegen alle Widerstände: Willkommen an der Cliffworth Academy in Wales! »Between Lies and Love« ist der erste New-Adult-Roman von Jennifer Wileys Dark-Academia-Duett »Cliffworth Academy«. Die Chance auf ein Stipendium, das ihre Träume erfüllen könnte: 14 College-Absolvent*innen haben einen der begehrten Plätze im Sommerprogramm der Cliffworth Academy ergattert, wunderschön gelegen in einem altehrwürdigen Gebäude aus dem 16. Jahrhundert an der Küste von Wales. Unter ihnen sind auch die ehrgeizige Vada McGowen und die schüchterne Macy Moore, die sich trotz aller Unterschiede zueinander hingezogen fühlen. Doch schon am ersten Tag werden sie in zwei Gruppen eingeteilt und erfahren, dass nur eine Gruppe am Ende des Programms mit Stipendien für die renommierte Cliffworth University belohnt wird. Ein erbitterter Konkurrenzkampf entbrennt, der mit immer dunkleren Methoden geführt wird. Vada und Macy stehen sich plötzlich als Feindinnen gegenüber – und können ihre Gefühle füreinander doch nicht leugnen. Hat ihre Liebe eine Chance gegen Lügen, Intrigen und skrupellose Machtspiele? Die Dark-Academia-Romance von Jennifer Wiley begeistert mit einem atemraubenden Setting und einer queeren Liebe, die sich gegen Geheimnisse und düstere Machenschaften behaupten muss. Lust auf mehr? Entdecke auch die zweite Romance des Duetts: »Cliffworth Academy – Between Shadows and Light«.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 465
Jennifer Wiley
Between Lies and Love
Roman
Knaur eBooks
Die ehrgeizige Vada und die schüchterne Macy sind ihrem Traum vom Stipendium zum Greifen nahe: Sie dürfen mit zwölf anderen jungen Menschen am Auswahlverfahren der altehrwürdigen Cliffworth Academy teilnehmen, wunderschön gelegen an der Küste von Wales. Als sie sich am ersten Tag kennenlernen, fühlen sie sich sofort zueinander hingezogen. Doch dann erfahren sie, dass sie in verschiedene Gruppen eingeteilt wurden, die gegeneinander um das Stipendium kämpfen.
Ein Konkurrenzkampf entbrennt zwischen den Gruppen, der mit immer dunkleren Methoden geführt wird. Vada und Macy stehen sich ungewollt als Feindinnen gegenüber und verschaffen sich trotzdem Momente, in denen sie sich näherkommen. Doch ihre heimlichen Gefühle füreinander könnten sie alles kosten …
Der queere, mitreißende Auftakt des romantischen Dark-Academia-Duetts von Jennifer Wiley.
Triggerwarnung – Hinweis
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Danksagung
Liste sensibler Inhalte / Content Notes
Leseprobe »Cliffworth Academy«
Bei manchen Menschen lösen bestimmte Themen ungewollte Reaktionen aus. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine Liste mit sensiblen Inhalten.
Für alle, die nie damit aufhören, an ihren größten Traum zu glauben.
Meinen haltet ihr gerade in den Händen.
Vada
Zweifel sind hartnäckig und kennen keine Gnade. Sie greifen nach mir, lassen mich nicht mehr los, und ich kann sie ebenso wenig abschütteln wie die Gedanken an sie. Immer wieder sie und ihre blauen Augen und dieses Gefühl von Geborgenheit, das sie in mir auslöst und bei dem ich mir trotzdem nicht sicher bin, ob es Bestand haben wird.
Salziger Wind peitscht mir ins Gesicht. Normalerweise fegt er meinen Kopf frei, aber heute funktioniert es nicht. Ich stehe an den Klippen, auf denen die Cliffworth Academy erbaut wurde, und fühle mich vom Abgrund angezogen. Unter mir tost das Meer. Die Wellen brechen sich immer und immer wieder an den steinigen Felsen. Mein Herz wird dasselbe Schicksal ereilen, wenn ich mit meinen Zweifeln recht behalte und das, was ich die letzten Wochen gefühlt habe, in Wahrheit reine Illusion gewesen war. Hier, an dem Ort, an dem sie und ich so viele Stunden verbracht haben, an dem ich mich ihr geöffnet und ihr mein Herz geschenkt habe, wiegen diese Zweifel umso schwerer.
Ich weiß plötzlich nicht mehr, ob dieser Ort, der mir eigentlich Licht bringen sollte, nicht doch nur Dunkelheit für mich bereithält.
Vada
Mein Stift wackelt in meiner Hand. Bei jedem Schlagloch muss ich mich regelrecht daran klammern und irgendwie versuchen, meine Notizen nicht zu verschmieren. Vermutlich sollte ich das mit dem Tagebuchschreiben im Bus lassen, aber mein Kopf ist so voll, mein Innerstes so aufgewühlt, dass ich ohne dieses Ventil wahrscheinlich überlaufen würde.
Als mir der Stift beim nächsten Schlagloch aus der Hand fällt, entfährt mir ein Seufzen. Keine Chance, meinen Tagebucheintrag zu beenden. Ich klappe notgedrungen das in Leder gebundene Buch zu und sehe aus dem Fenster, vor dem sich bereits die Küste von Nordwales erstreckt – sattgrüne Wiesen, raue Klippen, dahinter tiefblaues Meer, das vom Wind aufgeschäumt wird. Der National Express folgt der engen Straße. Ich sitze direkt hinter dem Busfahrer, der über den Radiomoderator schimpft, weil er die Fußballleistung von Swansea City schlechtgeredet hat. Gedämpft vernehme ich auch das Gespräch von zwei älteren Fahrgästen, die ein Stück weit hinter mir sitzen. Sie sprechen Walisisch, sodass ich nichts verstehe. Ein Teil von mir wünscht sich, aufmerksamer zuzuhören und vielleicht irgendein Wort aufzuschnappen, aber nach einer vierstündigen Reise, während derer ich von Cardiff aus zweimal umsteigen musste, habe ich dann doch keine Motivation mehr und will einfach nur noch ankommen.
Es ist unwirklich, dass ich mich vor wenigen Stunden erst von meiner Mum verabschiedet habe. Sicher ist sie selbst bereits unterwegs. Nach Nordirland, um endlich mal wieder Thomas zu besuchen. Um ihm zu sagen, dass ich nun in Nordwales bin. Zu gerne hätte ich es ihm selbst erzählt, aber dank gestrichener Telefonate und eingeschränkter Besuchskontakte hatte ich nicht den Hauch einer Chance. Die Zusage für die Cliffworth Academy kam vor zwei Monaten, fünf Tage zuvor habe ich Thomas das letzte Mal gesprochen.
In meinem Magen breitet sich ein flaues Gefühl aus. Dass Mum nun allein in unsere Heimat Belfast fährt und ich sie nicht begleiten und unterstützen kann, belastet mich sehr. Ich hoffe, sie kommt klar. Ob ich so ganz ohne sie klarkomme, weiß ich allerdings noch nicht. Schon jetzt spüre ich den Druck, den die kommenden sechs Wochen an der Akademie mit sich bringen werden.
»Der nächste Halt ist deiner«, lässt mich der Fahrer wissen. Tatsächlich ist die Haltestelle, nach der ich mich beim Einsteigen erkundigt hatte, nun angeschrieben. Kurz darauf stoppen wir. Ich hieve meinen rostroten Koffer von der Gepäckablage und steige aus.
Der weiße Bus fährt sofort davon, und ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren. Laut Google Maps sind es rund fünfundzwanzig Minuten Fußweg von der Haltestelle aus. Ich halte mich nach links, Richtung Küste, und befinde mich schließlich auf einer in die Jahre gekommenen Straße, die sicher nicht oft befahren wird. Um mich herum erstrecken sich wilde, knöchelhoch gewachsene Wiesen, und in der Ferne erspähe ich eine Schafherde, aber keine Menschen weit und breit. Den Koffer ziehe ich hinter mir her, auch wenn die schlechten Straßenverhältnisse es mir nicht leicht machen. Immer wieder bleibt ein Rad am rissigen Asphalt hängen. Doch das alles nehme ich in Kauf. Die Landschaft wird etwas rauer, und immer mehr Felsen und Klippen prägen das Küstenpanorama. Dann taucht endlich das Ziel meiner Reise hierher auf: Mauern aus dem sechzehnten Jahrhundert, die auf einer dieser Klippen thronen, als würden ihnen das Land und der Ozean darunter gehören. Große, turmartige Gebäude, die in den wolkenbedeckten Himmel ragen, so alt und ehrwürdig wie ihr Ruf. Endlich erhebt sich die Cliffworth University vor mir in scheinbar greifbarer Nähe, auch wenn mich noch immer einige Meter von ihr trennen. Einige Meter und die Frage, ob ich dort überhaupt aufgenommen werde, denn ohne Stipendium werde ich mir ein Studium dort niemals leisten können.
Mein Blick wandert zu den drei abseits gelegenen Gebäuden vor den Türmen der Universität, die trotz geringerer Größe nicht weniger anmutig auf den Klippen sitzen und über eine Steinmauer mit Torbogen ragen. Das muss sie sein, die Cliffworth Academy. Dort wird das Auswahlverfahren für die Stipendien stattfinden. Es ist der Ort, an dem meine Träume beginnen – oder enden werden.
Dunkelblaue Fahnen mit dem goldenen Wappen der Akademie wehen im Wind und heißen mich willkommen, und ich stelle mir vor, wie sie meinen Namen rufen: Vada, Vada, Vada. Ein tosender Beifall dafür, es überhaupt an die Cliffworth Academy geschafft zu haben.
Ich überwinde die letzten Meter auf Kopfsteinpflaster, das sich durch meine dünnen Schuhsohlen drückt, und mache vor dem Torbogen aus moosbesetztem Stein halt, der in den Innenhof der Akademie führt. Stimmengewirr dringt an mein Ohr. Ich bin offenbar nicht die Erste, und das ist eine Tatsache, die Übelkeit in mir aufkommen lässt. Weil mir allzu deutlich bewusst wird, dass ich hier niemanden kenne und noch nie mit fremden Leuten und ohne meine Mum gelebt habe.
Ich nehme all meinen Mut zusammen und trete durch den Torbogen in den Innenhof, der von alten Steinmauern und Wiesen umrahmt wird. Drinnen führen Wege zu den zwei kleineren Gebäuden der Akademie. Das größere liegt zu meiner Rechten und wirft seinen Schatten auf uns. Die Augenpaare aller Anwesenden sind auf mich gerichtet. Als ich auf sie zugehe, gleicht mein Gesicht hoffentlich dem einer Pokerspielerin. Ich richte meinen dünnen Cardigan, unter dem ich eine verspielte Rüschenbluse trage. Gedeckte Farben, wie es von der Akademie gewünscht war.
»Dann waren wir wohl doch nicht die Letzten«, empfängt mich ein Mitbewerber, der mit schnellen Schritten auf mich zukommt. Sein dunkelblaues Polohemd spannt ein wenig an der Brust. Er lächelt breit und mustert mich freundlich. »Wir dachten schon, wir wären vollzählig.«
Eine zweite Person nähert sich, lächelt mich mit dunkelroten Lippen an. Sie passen perfekt zu ihren rotblonden Haaren, die sie zu einem eleganten Knoten hochgesteckt und mit einer dunklen Schmetterlingshaarspange verziert hat.
»Wir sind auch eben erst angekommen«, erklärt sie. »Da hatten sich die anderen schon zusammengetan. Also dachten wir, wir gründen unsere eigene Clique.« Sie streckt mir die Hand entgegen. »Ich bin Charlotte, das ist Grayson.« Sie deutet auf den Jungen mit dem Polohemd, dann zu den anderen drei Leuten, mit denen sie zusammengestanden haben und die mich neugierig anschauen. Die beiden Jungs wirken etwas schüchtern, während das Mädchen mit den Korkenzieherlocken mich unverfroren mustert. »Ruby, Alfie und Amar«, stellt Charlotte sie vor. Ich schüttle ihre Hände und versuche, mir die Namen zu merken. Alfie ist der blasse Junge, der gerade seine Brille zurechtschiebt, Amar hingegen hat olivfarbene Haut, füllige Wangen und schwarze Haare, die er in die Stirn gestylt hat. Er nimmt mir sofort den Koffer ab und stellt ihn zu den anderen Gepäckstücken, die an der Mauer neben dem Torbogen aufgereiht sind.
»Danke, echt nett von dir.«
»Klar, kein Ding.« Amars Lächeln zittert ein wenig, sicher vor Aufregung. In diesem Moment finde ich es mehr als sympathisch, dass es ihm genauso geht wie mir, auch wenn ich noch versuche, meine Nervosität zu verbergen.
Verstohlen sehe ich mich um. Hinter der Gepäcksammlung befindet sich das große Akademiegebäude, das mit seinen imposanten, teils efeubesetzten Mauern nahezu märchenhaft aussieht. Einige Meter von mir entfernt befindet sich eine Tür in der Hausfassade, die geschlossen ist.
»Mit dir sind wir vierzehn«, verkündet Ruby, deren Blick aufmerksam umherhuscht, während meiner an einer kleinen Steinmauer im Innenhof hängen bleibt. Darauf sitzt eine einzelne lesende Person, vertieft in ein Buch, als würde sie das geschäftige Treiben um sie herum nichts angehen. Sie hält ihren Blick gesenkt. Ihre Beine sind übereinandergeschlagen, und ihre schwarzen Locken wehen im Wind. Einzelne Strähnen fallen ihr auf die dunkelbraunen Wangen, aber auch daran scheint sie sich nicht zu stören. Sie liest einfach … die vollen Lippen vor Konzentration ein wenig geöffnet.
Ruby tritt näher an mich heran, ihre Korkenzieherlocken kitzeln mich ein wenig, so dicht steht sie neben mir, damit ich sie im Stimmengewirr um uns herum verstehen kann. »Keine Ahnung, wer sie ist. Sie ist ungefähr zehn Minuten vor dir angekommen, hat stumm ihr Gepäck abgestellt und sich auf diese Mauer gesetzt.« Auch die anderen kommen nun näher, um sich an unserem Gespräch zu beteiligen. »Wir haben versucht, sie in Empfang zu nehmen, aber sie hat nur stumm gelächelt und auf ihr Buch gezeigt. Seitdem sitzt sie da und redet mit niemandem.«
»Mit diesem Verhalten wird sie die Akademie nie bestehen«, mutmaßt Grayson. »Kommunikation wird hier großgeschrieben.«
»Woher weißt du das?«, frage ich ihn, kann meinen Blick jedoch nicht von ihr abwenden. Ich bin wie in einen Bann genommen von der Ruhe und Gelassenheit, die sie ausstrahlt und die mir fehlt. Jeder Muskel meines Körpers scheint zu brennen, während meine Beine weich wie Pudding sind. Ich bin kurz davor, durchzudrehen. Im Innern schreie ich vor Aufregung und sehne mich danach, meine Eindrücke in meinem Tagebuch festzuhalten, damit mein Kopf nicht überquillt.
»Mein Bruder ist an der Cliffworth«, beantwortet Grayson meine Frage und holt mich damit zurück ins Hier und Jetzt.
»Dein Bruder ist wirklich an der Uni?«, kommt es ehrfürchtig von Charlotte. »Mit Stipendium?«
»Ja, mit einem Vollstipendium für die gesamte Studienzeit.«
»Wow«, haucht Alfie. »Dann war er zuvor auch an der Akademie?«
»Vor zwei Jahren. Aber er spricht nicht darüber. Ich habe alles versucht, um Informationen aus ihm herauszubekommen, aber keine Chance.«
»Klingt ziemlich mysteriös«, meine ich. »Dein Bruder will doch sicher auch, dass du dieses Sommerprogramm packst. Da wären ein paar Tipps hilfreich gewesen.«
»Weißt du denn, wie viele von uns es wirklich schaffen können?«, will Alfie wissen.
»Ich weiß nur, dass alle Stipendien für das gesamte Jahr hier an der Akademie vergeben werden. Das ist also unsere einzige Chance.«
Vor allem für diejenigen von uns, die sich die Uni sonst nicht leisten können. Wie ich. Rund neuntausend Pfund pro Jahr kostet ein Platz an der Uni, noch mal etwa achttausend Pfund sollten jährlich für die Lebenskosten eingeplant werden, und beides liegt damit weit außerhalb meiner Möglichkeiten. Ich habe also nur diese eine Chance, um meinen Traum zu verwirklichen. Diese Tatsache ist mir Ansporn und erfüllt mich gleichzeitig mit Panik. Der Anblick der gewaltigen Türme der Universität, die neben der Akademie in den Himmel ragen, verstärkt meine Befürchtungen und Hoffnungen nur noch. Kurz blitzt mein Bruder Thomas vor meinem inneren Auge auf. Mit seinen dunklen Augenringen und der knochigen Haut, die ich einfach nicht mit ihm in Verbindung bringen will. Seine ausgemergelte Erscheinung bricht mir jedes Mal das Herz, weil sie mich daran erinnert, was meine Familie verloren hat.
Charlotte und Ruby beginnen eine Unterhaltung über das Gebäude neben uns, das im Stil der Renaissance gehalten ist, und über Fakten zu dessen Erbauung im Jahr 1544, der Nutzung durch einen Gutsherrn und der Umgestaltung in die Akademie. Themen, zu denen ich nichts beitragen kann.
Ich will mich gerade an Grayson wenden, um ihn weiter über seinen Bruder und das Leben an der Cliffworth auszufragen, da öffnet sich die Tür in der Hausfassade, und eine Frau mittleren Alters tritt heraus. Ihre Haltung erinnert an die einer Ballerina, ist absolut gerade und ein wenig einschüchternd, was durch ihre strenge Hochsteckfrisur und ihren grauen Blazer betont wird.
»Macy Moore?«, fragt sie mit Blick auf ein Klemmbrett, das sie in den Händen hält. Alle Gespräche verstummen, und suchende Augenpaare schweifen über die Anwesenden.
»Der Bücherwurm«, flüstert Ruby.
Tatsächlich ist das Mädchen auf der Steinmauer aufgestanden, stopft seinen Lesestoff etwas unbeholfen in seine schwarze Umhängetasche, hüpft von der Mauer und geht schließlich auf die Frau zu. Alle Augen sind auf Macy gerichtet, doch sie erwidert keinen der Blicke. Sie sieht einfach zu Boden, ihr schwarzes Haar kämpft immer noch mit einer Windböe.
»Kommen Sie bitte mit«, fordert die Frau mit dem Klemmbrett sie auf.
Macy folgt ihr in das große Akademiegebäude, die Tür schließt sich, und ein paar Sekunden lang könnte man eine Stecknadel fallen hören.
»Was meint ihr, was passiert?«, wispert Charlotte schließlich.
»Ich schätze, das Auswahlverfahren geht schon los«, vermutet Ruby und wirkt zum ersten Mal nicht vollkommen selbstsicher.
Niemand von uns führt die Gespräche von eben fort. Sie sind regelrecht aus unseren Köpfen gefegt. Wir starren auf die Tür. Als sie sich nach rund zehn Minuten wieder öffnet, erwarte ich Macy, doch von ihr ist nichts zu sehen. Stattdessen tritt erneut die Frau mit der Hochsteckfrisur heraus und ruft Dahlia Abba auf. Eine Bewerberin mit schwarzem Hidschab folgt ihr.
Als Nächstes wird ein Junge namens Jacob Murray hereingerufen, dann ein gewisser Ian Gordon. Keiner von ihnen kommt zurück in den Innenhof, jeder Einzelne bleibt im Gebäude. Meine Beine werden immer weicher. Immer intensiver kreisen meine Gedanken um die Frage, was mich gleich erwarten würde.
Und dann vernehme ich: »Vada McGowen.«
Ich schlucke. Grayson nickt mir aufmunternd zu. »Du schaffst das«, formt er lautlos mit den Lippen.
Ich streiche mir meine Haare hinter die Ohren und hoffe, dass mein Pony nicht absteht, wie er es immer dann macht, wenn ich eigentlich einen souveränen Eindruck hinterlassen möchte. Dann folge ich der Frau in das kühle Gebäude, weg von den Gesprächen der anderen, weg von meinem rostroten Koffer, der noch immer neben dem Torbogen steht, und hinein in meine mögliche Zukunft.
Wir durchqueren eine Eingangshalle mit Gemälden, die das Meer und die Klippen zeigen, und betreten dann einen kleinen, quadratischen Raum, der durch kühle Steinmauern besticht, jedoch durch einen Teppichboden etwas Gemütlichkeit bekommt.
»Setzen Sie sich doch«, weist mich die Frau an und zeigt auf zwei dunkelbraune Lederstühle, hinter denen sich ein alter Apothekerschrank samt Lehrbüchern und Lexika befindet.
Ich nehme auf dem rechten Stuhl Platz und ringe mir ein Lächeln ab.
»Vada McGowen also«, wiederholt mein Gegenüber mit einem weiteren Blick auf ihr Klemmbrett. »Ich bin Mrs Walsh.«
Sofort zuckt mein Lächeln vor Nervosität. Melanie Walsh ist die Leiterin der Cliffworth Academy. Sie wird am Ende dieses Sommerprogramms darüber entscheiden, wer das Stipendium an der Uni bekommt. Sie hält alle Fäden in der Hand. Und ich bin von nun an ihre Marionette, die versuchen wird, es ihr recht zu machen und sie zu beeindrucken.
»Es freut mich sehr, hier zu sein«, setze ich an, stolz darauf, dass meine Stimme nicht zittert, obwohl ich das Gefühl habe, gleich umzukippen.
»Bevor Sie die anderen und mich besser kennenlernen und das Programm startet, gibt es noch einige Formalitäten zu klären«, informiert mich Mrs Walsh und greift nach ein paar Unterlagen. »Hier finden Sie die Datenschutzinformationen und Verschwiegenheitserklärungen. Sie verstehen sicher, dass unsere Sommerakademie und dieses Auswahlverfahren diskret behandelt werden müssen, um die Chancengleichheit auch für die zukünftigen Teilnehmenden gewährleisten zu können.«
»Natürlich.«
»Mit der Verschwiegenheitserklärung versichern Sie, dass Sie keinerlei Informationen über die Akademie nach außen tragen werden – weder während Ihres Aufenthalts noch danach.« Sofort kommt mir Graysons Bruder in den Sinn. Hat er deswegen nichts gesagt? Weil er es nicht darf? »Ein Verstoß würde bedeuten, ein möglicherweise erworbenes Stipendium mit sofortiger Wirkung zu verlieren«, erklärt Mrs Walsh und bestätigt damit meine Theorie.
»Ich werde mich daran halten«, erwidere ich.
»Sehr schön. Dann bitte ich Sie hier um eine Unterschrift.« Sie reicht mir einen Füller. Ich überfliege die Dokumente und unterzeichne.
»Dies hier ist eine Datenschutzvereinbarung«, fahrt Mrs Walsh fort und reicht mir weitere Papiere. »In dieser werden Sie darüber informiert, dass wir uns im Zuge dieses Auswahlverfahrens das Recht vorbehalten, videogestützte Auswertungen vorzunehmen.« Ich nehme mir einen Augenblick Zeit, um die Vereinbarung zu überfliegen, ehe ich auch diese unterzeichne. Nichts, was hier steht, könnte mich davon abhalten, meinen Platz an der Akademie anzutreten.
»Kommen wir zu den Teilnahmebedingungen. Für die gesamten sechs Wochen müssen Sie sämtliche elektronischen Geräte abgeben. Keine Handys, keine Tablets, keine Laptops. Auch das dient der Chancengleichheit. Es besteht natürlich jederzeit die Möglichkeit, die Akademie freiwillig zu verlassen – ohne Anspruch auf ein Stipendium an der Cliffworth University, versteht sich.«
»Ich bin bereit, all diese Regeln zu beachten.«
Mrs Walsh nickt zufrieden. »Dann bitte hier noch mal eine Unterschrift. Ihre elektronischen Geräte können Sie nach dem gemeinsamen Abendessen abgeben.«
Erneut nehme ich den Füller und unterzeichne das Dokument, das danach von Mrs Walsh in einen schwarzen Kasten auf dem Apothekerschrank geworfen wird.
»Dann heiße ich Sie an der Cliffworth Academy willkommen, Ms McGowen.«
Sie reicht mir die Hand und besiegelt damit, was ich gar nicht recht fassen kann: dass ich zu den zwei Prozent gehöre, die in das Auswahlverfahren an der Cliffworth Academy aufgenommen werden. Ein Ritterschlag, überhaupt in die letzte Runde zu kommen und wirklich um das Stipendium kämpfen zu können.
Mrs Walsh weist auf eine Tür, durch die ich hindurchgehen soll, bevor sie die nächste Kandidatin hereinruft. Ich höre noch den Vornamen Penelope, dann stehe ich in einem langen düsteren Flur. Der rote Läufer und die Kerzenhalter an den Wänden vermitteln ein bisschen den Eindruck eines Spukschlosses und nicht von der Sommerakademie einer Eliteuni. Mit gedämpften Schritten gehe ich auf den einzigen Ausgang zu. In die schwere Holztür wurde ein filigranes Klee-und-Rosen-Muster eingeschnitzt. Ich lege meine Hand auf die Klinke aus kühlem Messing und öffne die Tür. Sie führt mich in einen großen Saal mit Bogendecke. Zuerst fällt mir die lange Tafel aus Holz auf, die – wie auch der Boden dieses Raumes – von einem roten Läufer geziert wird. Danach wandert mein Blick zu einer Leinwand, die am Ende des Raumes angebracht wurde. In der Nähe haben sich einige meiner Mitbewerber versammelt, offenbar um eines der zahlreichen Gemälde zu inspizieren, die an den Wänden hängen. Ich erkenne sofort das Porträt von Idris Clifford, dem bärtigen Gründer der Cliffworth University. Ich mustere die etwas streng wirkende Mimik, die so gar nicht zu dem Visionär passt, den ich in Idris Clifford sehe. Aber wenn es noch das Originalgemälde ist, kann ich ihm diesen Gesichtsausdruck auch nicht verübeln, immerhin musste er dafür sicher stundenlang posieren.
Schulterzuckend wende ich mich ab, dann erst wird mir bewusst, dass ich beobachtet werde.
Ich blicke direkt in die stechenden hellblauen Augen von Macy Moore, die etwas abseits auf einem der Plätze am Tisch sitzt. Sie hält erneut ihr Buch in der Hand und mustert mich vorsichtig. Ihre Augen sind so hellblau, dass sie fast weiß wirken, und doch bin ich sicher, einige dunklere blaue Tupfen darin zu erkennen. Selten habe ich so schöne Augen gesehen. Sie haben fast etwas Hypnotisches.
»Hi«, sage ich etwas atemlos und ernte ein zaghaftes Lächeln.
»Hi«, sagt auch sie. Ihre Stimme ist glockenhell, gleichzeitig aber ganz leise.
Macy
Die anderen stehen immer noch in einem Grüppchen zusammen und sehen immer wieder zu mir herüber. Zu der Aussätzigen. Als hätte ich nicht längst durchschaut, was dahintersteckt. Sie möchten die vermeintlich Schwächste verunsichern und ahnen nicht, dass in meiner Ruhe eigentlich Stärke liegt. Sie ist kein Schutzschild, sondern ein Schwert. Weil ich jede und jeden von ihnen genau betrachten und lesen kann. Wie diesen blonden Typen, der sich immer wieder arrogant durchs Haar fährt, als wäre er allen überlegen, obwohl er es eigentlich aus Unsicherheit tut.
Nur eine hat sich dieser Gruppe nicht angeschlossen, sondern steht nun vor mir und sieht mich an. Ihr Hi hat mich überrascht, ich habe es absolut nicht kommen sehen.
Sie deutet mit einem Kopfnicken auf mein Buch. »Was liest du da?«
Ihr haselnussbrauner Pony reicht bis an ihre Augen, was es schwerer macht, sie zu analysieren. Die Augen verraten immerhin das meiste über einen Menschen.
Sie setzt sich neben mich, und allein dafür bekommt sie einen Sympathiepunkt von mir. Weil es leichter wäre, sich einfach dem Grüppchen anzuschließen. Hier zu sitzen, fern der anderen, sich derjenigen zu nähern, die einsam und seltsam wirkt, ist ein mutiger Schritt. Das muss ich anerkennen.
Ich zeige ihr meinen Bucheinband. Kurzgeschichten von Oscar Wilde.
»Scheint gut zu sein, so vertieft, wie du darin bist.«
»Es hilft mir dabei, mich zu fokussieren«, antworte ich und klammere mich an das Buch. »Neue Leute sind nicht so mein Ding.«
»Das habe ich mir gedacht.« Sie mustert mich vorsichtig und streicht dabei ihren Pony aus dem Gesicht. Endlich kann ich ihre Augen sehen: braun und vertrauenerweckend. Ich erkenne keine Geheimnisse darin, keine bösen Absichten. Zumindest erst mal nicht. Manche sind sehr geübt darin, ihre wahren Absichten zu verbergen, und können hervorragend schauspielern. Aber irgendetwas sagt mir, dass ich bei ihr ein gutes Gefühl haben kann.
»Ich bin Vada.«
»Macy«, erwidere ich und nehme ihre Hand, schüttle sie und komme mir ein wenig unbeholfen vor.
»Ist kaum zu überhören, dass du aus Wales kommst.«
»Ja, ich weiß. Meinen Akzent bekomme ich nie ganz weg.«
»Solltest du auch nicht versuchen«, entgegnet Vada zu meiner Freude. »Ich mag ihn.« Ihre Aussage lässt darauf schließen, dass Vada selbst nicht aus Wales kommt, zumal mir ihr Akzent eher irisch vorkommt. Doch ich traue mich nicht, nachzufragen. Schon gar nicht, als eine weitere Person den Saal betritt und sich direkt den anderen anschließt. Die Konstellationen unter ihnen sind ein bisschen andere als die bei der Ankunft im Innenhof.
»Du liest also gerne Oscar Wilde?«
Ich zucke mit den Schultern. »Eigentlich mag ich alle Klassiker. Virginia Woolf, Charles Dickens, Jane Austen. Manchmal lese ich auch gerne Fantasy oder Lyrik. Aber Oscar Wilde mag ich am liebsten. Ich finde es beeindruckend, wie er in so jungen Jahren zu seiner Sexualität stand.« Ich kaue auf meiner Unterlippe, habe das Gefühl, zu viel gesagt zu haben. Aber ihre Augen blitzen kurz auf, werden noch eine Spur wärmer. Es hilft mir, mich zu entspannen, obwohl ich in einem Raum voller Menschen sonst immer gehemmt bin.
»Jane Austen mag ich auch gerne.«
Im Lauf der Zeit ist mir Jane Austen zwar zu trendy geworden, aber Werke wie Stolz und Vorurteil werden immer zu meinen Lieblingsbüchern zählen.
Die schwere Holztür geht erneut auf, und die nächste Mitstreiterin kommt herein. Ihren feuerroten Lippenstift erkenne ich sofort. Ich habe sie eben mit Vada reden sehen, und sie steuert direkt auf uns zu.
»Der erste Schritt ist geschafft.« Sie setzt sich uns gegenüber an den Tisch. Auch wenn sie mir keine Beachtung schenkt, ihr Blick nur einmal zu mir huscht, spanne ich sämtliche Muskeln an. Sie stört das Aufflackern von Vertrautheit, das ich eben noch gespürt habe.
»Nach mir wurde Grayson reingerufen, er sollte also auch gleich zu uns stoßen.«
Ich gebe der Unsicherheit nach, schlage mein Buch auf und lese in einer der Kurzgeschichten, auch wenn ich mit einem Ohr das Gespräch der beiden mitverfolge.
»Ziemlich streng, das mit den Handys, findest du nicht? Ich habe schon überlegt, noch schnell meinen Eltern zu schreiben, damit sie sich keine Sorgen machen, aber ich habe keinen Empfang.«
»Dann wäre das mit der Kommunikation sowieso schwierig geworden«, meint Vada. »Ich habe meine Mum zum Glück schon vorgewarnt, dass ich nicht sicher bin, ob ich mich melden kann.«
Die Rothaarige seufzt schwer. »Dann wohl keine Podcasts für mich, obwohl ich nicht so richtig verstehe, wieso es diese Einschränkung gibt. Ich finde eigentlich nicht, dass durch die Nutzung von Handys Chancenungleichheit entsteht. Nicht, wenn alle eins haben.«
»So sind eben die Spielregeln«, sage ich und bereue es sofort, weil ich dadurch die Blicke auf mich ziehe.
Wieder öffnet sich die Tür, ein breitschultriger Typ kommt herein – sicher dieser Grayson. Er steuert auf uns zu, fährt sich grinsend durch die hellbraunen Haare, die danach trotzdem wie geleckt zur Seite fallen. Der perfekte Seitenscheitel. Schwiegermutters Liebling, könnte man meinen, doch irgendetwas an seinem Lächeln gefällt mir nicht. Ist es zu großspurig?
»Geht das Abenteuer also endlich los«, meint er und lässt sich auf den Stuhl neben der Rothaarigen fallen. »Das werden unglaubliche sechs Wochen, das habe ich im Gefühl.« Grayson sieht zu mir und hebt eine Augenbraue. »Hey, Büchermädchen. Wie heißt du noch mal?«
»Macy«, murmle ich. Ich schwanke zwischen dem Wunsch, mich in eine ruhige Ecke zu verziehen und den Blicken zu entkommen, und dem Wissen, dass ich das nicht die nächsten sechs Wochen so machen kann. Er hat recht, jetzt geht es wirklich los, und ich wusste, worauf ich mich einlassen würde. Meine Chancen auf ein Stipendium sollen nicht kleiner werden, nur weil Gruppenaktivitäten und Small Talk nicht mein Ding sind.
Etwas verstohlen schaue ich zu Vada, die sich gerade erneut ihren Pony aus dem Gesicht streicht. Er fällt ihr jedoch sofort wieder über die Augen. Sie lächelt, als könnte sie das besagte Abenteuer kaum noch abwarten, und das ist ansteckend. Ich schlage mein Buch zu und lege es auf die Tischplatte. Nah genug, damit ich es noch mit den Fingern berühren kann, aber weit genug weg, dass ich nicht sofort wieder danach greife.
»Wie heißt ihr?«, will ich wissen, woraufhin sich die beiden als Grayson und Charlotte vorstellen.
Kurz darauf treten noch zwei weitere Bewerberinnen in den Raum. Ruby, die mich bei meiner Ankunft angesprochen hat, gesellt sich zu uns, die andere geht auf die zweite Gruppe zu. Es ist mir schon fast ein wenig zu voll am Tisch, aber ich bleibe sitzen, ziehe es durch.
»Mrs Walsh machte einen freundlichen Eindruck«, sagt Ruby und zupft an einer ihrer Korkenzieherlocken, die sie in einem Dutt trägt. Nur ein paar Locken zieren ihr blasses Gesicht. Dunkle Augenringe zeichnen sich darauf ab, als hätte sie vor Nervosität eine schlaflose Nacht gehabt, aber in ihrem Blick liegt Wachsamkeit. Vielleicht ist es eine ähnliche Wachsamkeit wie bei mir. Vielleicht ist auch sie dabei, herauszufinden, wem sie vertrauen und nahekommen kann und wer Unbehagen in ihr auslöst. Ich bin Menschen gegenüber per se vorsichtig. Nun, da es um meine Zukunft geht, bin ich mir durchaus darüber im Klaren, dass dieses Unbehagen angebracht ist wie nie. Wenn ein Preis winkt, werden Menschen schnell zu Raubtieren, und ich möchte nicht das Zebra sein, das nicht mitkriegt, wie sie sich anschleichen und mich bei lebendigem Leib verspeisen. Ich bin lieber vorbereitet.
Je mehr Leute den Raum betreten, desto mehr nimmt die Geräuschkulisse zu. Man unterhält sich, lernt sich kennen. Ich selbst bin irgendwie dabei und irgendwie auch außen vor, weil ich nur reagiere. Immerhin: Auch wenn ich passiv bin, bin ich anwesend und habe mich nicht in die Ecke mit den Polstermöbeln verkrochen, die mir zurufen, dass sie perfekt wären, um weiter mein Buch zu lesen.
Schließlich betritt Mrs Walsh mit dem letzten Teilnehmer, der schnell auf einen freien Platz huscht, den Saal. Die Gespräche verstummen augenblicklich, was für meinen Kopf eine Wohltat ist.
»Nachdem wir die Formalitäten geklärt haben, können wir sicher alle eine kleine Stärkung gebrauchen«, erhebt sie die Stimme. Dabei deutet sie auf die Tafel, an der nun auch die Letzten Platz nehmen. Wie auf ein Kommando öffnet sich eine weitere Tür, die sich neben dem Pult befindet und zuvor von den anderen Teilnehmenden verdeckt wurde. Eine Frau mit weißem Bob kommt mit einem Servierwagen herein und beginnt, Suppenterrinen, tiefe Teller und Wasserkrüge zu verteilen. Ein himmlischer Duft breitet sich aus.
»Guten Appetit«, wünscht Mrs Walsh, die sich entgegen meiner Annahme nicht zu uns setzt, sondern den Raum mit der anderen Frau verlässt. Wir sind wieder allein, und ich weiß nicht, was ich besser gefunden hätte: ein von ihr geführtes Abendessen, bei dem die Konversation nicht uns überlassen wird, oder unter uns zu sein.
Ich fülle meinen Teller, der daraufhin den vertrauten Geruch von Cawl verströmt. Der Eintopf schmeckt genauso, wie ich ihn kenne und liebe: Kartoffeln, Karotten, Fleisch und Steckrüben. Fast wie zu Hause. Nur dass dort beim Essen genießerische Ruhe herrscht, während die Geräuschkulisse hier nicht abbricht. Kennenlerngespräche und das Klappern von Löffeln sorgen für Unruhe.
Grayson spricht über den Cawl seiner Mutter, den er noch besser findet, obwohl ich das kaum für möglich halte, weil der Cawl auf meinem Suppenteller genau das richtige Verhältnis von Salz und Würze besitzt. Irgendwo am Tisch wird über Rugby geredet und darüber diskutiert, ob die Dragons beim letzten Spiel nun verdient gewonnen haben oder nicht. Ein Gesprächsthema, zu dem ich nicht viel beitragen kann, an dem mein Vater aber jede Menge Freude hätte. Rugby ist so was wie seine Religion.
Charlotte und Ruby sprechen über die Kleidung der anderen, obwohl ich den Eindruck gewinne, dass Ruby eigentlich nicht wirklich Interesse an diesem Thema hat. Während Charlotte durch ein extrovertiertes Äußeres auffällt, ist Rubys Look eher schlicht. Ich sehe nur eine einzelne goldene Kette mit einem Anhänger, der im Kragen ihrer Karobluse verschwindet.
Mein Blick fällt auf Vada neben mir. Sie ist ebenfalls in kein Gespräch verwickelt, sondern hört nur angeregt zu. Offenbar interpretiert sie meinen Blick als Anreiz für eine Unterhaltung, denn kurz darauf lehnt sie sich etwas näher zu mir.
»Was möchtest du an der Cliffworth studieren?«
»Soziologie. Die Erforschung von sozialem Verhalten hat mich schon immer fasziniert. Vor allem, weil ich selbst nicht immer so gut in diesen sozialen Interaktionen bin«, gebe ich zu und wundere mich dabei selbst über meine Offenheit.
Zu meiner Überraschung lächelt Vada. Zwischen ihren Schneidezähnen ist eine Zahnlücke, die ihrem Gesicht sofort Charakter gibt. »Du schlägst dich doch ganz gut.«
Ich sehe mich um, seufze leise. »Findest du?«
»Es geht nicht darum, sofort beste Freunde zu finden. Es ist okay, sich erst mal ranzutasten.« Ich sehe wohl nicht sehr überzeugt aus, denn ihr Lächeln wird noch ein wenig breiter. »Was meinst du, warum ich dich angesprochen habe?«
»Gute Frage«, erwidere ich.
»Weil du mir sympathisch bist.«
»Bin ich das?« Sofort mustere ich sie ein wenig mehr und versuche zu ergründen, ob sie diese Aussage wirklich ernst meint, aber nichts an ihrem Lächeln gibt mir Grund zum Zweifeln.
»Jemanden, der sich so in Bücher vertiefen kann, muss man doch mögen.«
»Du warst mir auch sofort sympathisch«, entgegne ich. Es ist keine dieser Floskeln, um dem anderen das Kompliment zurückzugeben, sondern die reine Wahrheit. Dabei stehe ich Fremden sonst eher skeptisch gegenüber.
»Wusstest du schon immer, dass du an die Cliffworth willst?«, fragt Vada.
Mein Herz flattert nervös, aber ich drücke das Gefühl weg. Es ist nur eine Frage, auf die ich eine Antwort habe. »Seit ungefähr einem Jahr«, antworte ich und schiebe alle Bilder, die in meinem Kopf auftauchen wollen, beiseite. Von verbrannter Asche, von Schuld, von meiner leiblichen Mutter. »Ich kenne jemanden, der hier studiert hat, und so bin ich auf die Idee gekommen, mich zu bewerben.« Ich schlucke bei der Halbwahrheit, versuche, mir nichts anmerken zu lassen. »Und du? Was möchtest du studieren?«
»Jura. Ich will Anwältin für Strafrecht werden.«
»Wieso gerade dieser Bereich?«, fragt Grayson, der unser Gespräch offenbar mitangehört hat. Wäre mir das aufgefallen, hätte ich nicht so viel Privates von mir preisgegeben. Das behagt mir nicht.
»Es ist ein sehr persönlicher Grund«, erwidert Vada. Sie blickt kurz auf ihren Suppenteller, weicht Graysons bohrendem Blick aus. Ich finde es gut, dass sie ihre Grenzen wahrt und es ihm nicht sagt, auch wenn ich mich frage, ob sie es mir vielleicht verraten hätte – fernab von den Ohren anderer. Aber wer wäre am ersten Tag schon so mitteilsam? Ich selbst würde mich nie direkt öffnen können, schon gar nicht bei privaten Themen. Ich würde dann ohnehin schnell bei meiner leiblichen Mutter landen. Bei Theodora Price und den Gründen, wieso ich hier bin …
Unwillkürlich schlucke ich, der Cawl schmeckt sofort ein wenig bitter.
»Ich möchte Leuten helfen«, sagt Vada, die offenbar in Gedanken noch bei ihrem Wunsch ist, Jura zu studieren, während mein Gehirn sich mal wieder verselbstständigt und sich in eine Gedankenspirale nach der anderen gestürzt hat. Typisch.
»Ich auch«, antwortet Grayson und richtet sich ein wenig auf. Er scheint souverän und selbstbewusst, was seine breiten Schultern noch betonen. Damit wirkt er so ziemlich wie das Gegenteil von mir, die eher eingesunken auf ihrem Stuhl sitzt und nun stumm der Konversation lauscht. »Aber ich möchte lieber große Brötchen backen«, redet er weiter. »Mein Bruder und ich wollen später eine eigene Kanzlei gründen, spezialisiert auf Wirtschaftsrecht.«
»Dann willst du auch Jura studieren?«, hakt Vada nach. Begeisterung liegt in ihrer Stimme und in ihren Augen. »Das ist so cool. An meiner Schule gab es kaum jemanden, der sich dafür interessiert hat. Die meisten halten Jura für staubtrocken. Die haben nur die Paragrafen im Kopf.«
»Dabei ist deren Anwendung doch das Spannende.«
»Ganz genau. Echte Menschen, echte Schicksale. Es wäre so toll, einen Einblick in die richtige Fallarbeit zu bekommen. Mit erfahrenen Leuten zusammenzuarbeiten, die wirklich wissen, wovon sie sprechen.«
»Würde mir gefallen, mit dir zusammen den Campus unsicher zu machen«, sagt Grayson und grinst breit. Seine Zähne sind blitzweiß und stehen in Reih und Glied.
»Das wäre nicht schlecht«, erwidert Vada, ehe sie sich wieder einen Löffel Cawl nimmt.
»Stellt euch vor, wie es wäre, täglich so zusammenzusitzen«, mischt sich Charlotte ein, die bereits mit dem Essen fertig ist und ihren Lippenstift nachgezogen hat. »Zusammen essen, lachen, gute Gespräche führen …«
Ich weiß nicht, ob sie mich miteinbezieht oder nur Grayson, Vada, Ruby und sich meint, aber die Vorstellung, ein Teil davon zu sein, verursacht ein unerwartetes positives Kribbeln in meiner Brust. Es macht mir zwar Angst, aber bin ich nicht auch deswegen hier? Um über meinen Schatten zu springen? Mehr über mich herauszufinden? Meine Komfortzone zu verlassen?
Vada
Mittlerweile sind die Teller vor uns leer, und ich fühle mich angenehm satt. Nach der langen Anreise ruft alles in mir nach einem warmen Bett, auch wenn ich vermutlich zu angespannt wäre, um einschlafen zu können. Den unruhigen Blicken der anderen nach zu urteilen, fühlen auch sie, dass nun wohl noch etwas passieren wird. Wird Mrs Walsh eine Rede halten, die Zimmeraufteilung verkünden oder uns eine Einweisung geben? Zunächst kommt allerdings die Frau mit den weißen Haaren zurück und räumt die Tische ab. Auf ihrem Namensschild steht Winifred Bell. Ihr Lächeln ist großmütterlich, und ich versuche, es freundlich zu erwidern, auch wenn meine Mundwinkel zucken in dem Versuch, meine Nervosität zu überspielen.
Neben mir sitzt Macy, eine Hand wieder an ihrem Buch, das aus ihrer Umhängetasche schaut. Sie spielt mit dem Einband. Vielleicht ist es ihre Art, mit Aufregung umzugehen, während ich selbst noch keine richtige Strategie gefunden habe.
Plötzlich ertönt ein lautes Knacken, Charlotte schreckt heftig zusammen und stößt ihr Wasserglas um, das aber zum Glück leer ist. Ein Beamer ist angegangen und wirft nun ein grelles Licht auf die Leinwand vor uns, kurz darauf erscheint das Wappen der Akademie.
»Willkommen an der Cliffworth Academy«, ertönt eine Stimme vom Band, die nach Mrs Walsh klingt. Dann folgt ein Cut. »Ian Gordon«, verkündet die Stimme, und im selben Moment wird das Bild eines jungen Mannes auf die Leinwand geworfen. Er hat dunkelblonde Haare und markante Kieferknochen. Ich drehe mich nach links. Fünf Stühle von mir entfernt sitzt er. Alle Blicke sind nun auf ihn gerichtet, huschen zwischen ihm und der Leinwand hin und her. Er geht erstaunlich cool damit um, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen.
Das Bild auf der Leinwand verändert sich. Es dauert einige Sekunden, ehe wir verstehen, was wir da sehen. Auch Ian braucht einen Moment, bevor er reagiert. Nun wirkt er doch ein wenig angespannt und reibt mit den Handflächen am Stoff seines Ärmels. Vor unseren Augen prangt eine Auflistung seiner akademischen Leistungen. Alles Bestnoten, überall volle Punktzahl, dazu eine Empfehlung eines hochrangigen Politikers. Keine ehrenamtlichen Tätigkeiten.
Kurz bin ich irritiert, dass sie uns derart sensible Daten sehen lassen, doch im selben Moment fallen mir die unterschriebenen Dokumente ein. In den Unterlagen zum Datenschutz stand, dass sie alle Daten im Rahmen des Bewerbungs- und Auswahlverfahrens offen und ohne Einschränkung nutzen dürfen. Nur habe ich bei meiner Unterschrift nicht an so etwas gedacht.
Wieder folgt ein harter Cut. »Hallo, mein Name ist Ian Gordon«, beginnt nun ein Videoclip, in dem ein Ian aus früheren Tagen zu uns spricht. Er steht vor einem alten Gebäude, möglicherweise einer Schule – er trägt jedenfalls eine Schuluniform. Der schwarz-rote Stoff samt Krawatte lässt ihn erwachsener wirken als das braune Hemd, das er heute trägt. »Die erste Frage, die Sie sich sicherlich stellen: Wer ist Ian Gordon, und wieso sollte er die Chance haben, sich an der Cliffworth Academy zu beweisen?«
»Ist das sein Bewerbungsvideo?«, flüstert Ruby.
Niemand antwortet ihr, denn wir alle starren wie gebannt auf die Leinwand, auf der Vergangenheits-Ian von seiner Schullaufbahn erzählt und dabei sein überzeugendstes Zahnpastalächeln präsentiert. Neben mir schluckt Charlotte schwer. Ich sehe kurz zu ihr. Die roten Haare heben sich stark von ihrer Alabasterhaut ab. Sämtliche Farbe ist aus ihrem Gesicht gewichen, während meine regelrecht glühen. Der Leinwand-Ian macht irgendwelche Kung-Fu-Übungen und erklärt, dass er nicht nur etwas im Kopf hat, sondern auch seit Jahren daran arbeitet, eins mit seinem Körper und seinem Geist zu werden. Es ist beeindruckend und ein wenig einschüchternd.
Ian, der zuvor etwas unruhig auf seinem Platz hin und her gerutscht war, lächelt nun wieder. Vielleicht, weil ihm klar ist, dass sein Video einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Kein Wunder, dass er für dieses Programm ausgewählt wurde. Ich hätte ihm mit seiner selbstsicheren, fokussierten Art vermutlich sofort ein Stipendium gegeben, auch wenn seiner Präsentation vielleicht eine persönliche Note fehlt.
Bei diesem Gedanken spüre ich einen Kloß im Hals. Wenn sie die Bewerbungsvideos aller Teilnehmenden zeigen, dann auch mein Video. Das Video, bei dem ich über Thomas gesprochen habe. Das persönlichste Thema, das ich habe und das ich in meiner Bewerbung erwähnen wollte, weil es mein Antrieb ist. Mein Motor. Aber es war ganz sicher nicht geplant, es vor wildfremden Leuten breitzutreten, mit denen ich in den nächsten sechs Wochen meinen Alltag teile.
Ich greife nach meinem Wasserglas, will den Kloß wegspülen, aber es ist leer, und ohnehin wäre ich mit Wasser gegen das Gefühl nicht angekommen.
Auf der Leinwand werden die nächsten Videos abgespielt. Dahlia Abba, die mir mit ihrem Hidschab schon zuvor aufgefallen ist, stellt sich vor. Sie hat eine beeindruckende Liste an Nebenaktivitäten. Auch sie hat den Wunsch, Jura zu studieren, um später im internationalen Recht zu arbeiten. Dann folgt Lennox Duncan. Ein schmächtiger Lockenkopf mit guten Noten und Empfehlungen von sämtlichem Lehrpersonal an seiner Schule. Ein Einzelkind aus einer Künstlerfamilie, das Soziologie studieren möchte. Charlotte ist danach an der Reihe, die sich sichtlich versteift, während sie auf der Leinwand von ihren zahlreichen ehrenamtlichen Tätigkeiten und ihrer Leidenschaft für Psychologie erzählt. Ihr Monolog wird etwas schneller, als sie berichtet, dass sie unbedingt bei Roseline Watkins, einer Professorin an der Cliffworth University und einer Koryphäe im Bereich der Humanpsychologie, studieren möchte. Es ist beeindruckend, wie sie dabei quirlig und ehrgeizig, aber absolut reif rüberkommt. Hätte ich in meinem Video darüber gesprochen, dass es einer meiner größten Träume ist, von dem ehemaligen Landesrichter Franklin Gust unterrichtet zu werden, der an der Cliffworth lehrt, wäre ich wohl eher als Fangirl wahrgenommen worden.
»Vada McGowen«, verkündet die Stimme nun, und meine Gedanken setzen sofort einen Punkt. Stattdessen wird mir übel.
Ich spüre jeden einzelnen Blick auf mir, obwohl ich keinen davon erwidere. Stattdessen starre ich stur auf die Leinwand, wo mein eigenes Gesicht mir nun entgegenlächelt. Meine Haare sind so seidig glatt, wie es sonst kaum der Fall ist. Ich habe sie mit Tonnen von Haarspray gebändigt, um den Frizz und den störrischen Pony in den Griff zu kriegen und wenigstens dieses eine seriöse Bewerbungsbild hinzubekommen. Ich trage einen grauen Blazer, dazu eine weiße Bluse und goldene Ohrringe in Blütenform, die meiner Großmutter gehörten und die ich schon immer geliebt habe. Ein Haarreifen, der den Goldton aufgreift, rundet mein Erscheinungsbild ab.
Als meine Noten auf der Leinwand erscheinen, entspanne ich mich für einen Moment. Ich bin stolz auf meine Leistungen und die Empfehlungsschreiben unseres Schulleiters, ebenso wie auf die Liste meiner ehrenamtlichen Tätigkeiten.
»Zwei Jahre lang wöchentliche Arbeit in einer Suppenküche?«, murmelt Ruby ungläubig an unserem Tisch. »Und dann noch freiwillige Unterstützung im Sozialprogramm einer Jugendhaftanstalt? Sehr ambitioniert.«
Kurz empfinde ich ein Hochgefühl, weil ich offenbar einen genauso professionellen Eindruck hinterlasse wie die anderen, doch dann beginnt mein Vorstellungsvideo, und das Gefühl weicht schlagartig wieder Übelkeit.
»Ich könnte eine Vielzahl an Dingen aufzählen, die mich für die Teilnahme am Auswahlverfahren der Cliffworth Academy qualifizieren, und vielleicht ist es genau das, was Sie hören wollen«, sagt mein Video-Ich. »Immerhin sollte ich jetzt meine Vorzüge herausstellen und Ihnen meine Leistungen präsentieren.«
Der Dreh ist so lange her, dass ich den genauen Wortlaut vergessen habe. Ich mag mein Auftreten in dem Video, bin selbst beeindruckt von meiner entschlossenen Miene. Doch dann folgt der Part, vor dem ich mich fürchte und den ich niemals vergessen könnte. Dazu habe ich ihn viel zu oft geübt.
»Eine Wiederholung dessen, was in meinen Unterlagen steht, ist hier sicher von wenig Interesse. Wenn Sie die richtigen Leute für die Cliffworth Academy auswählen möchten, dann geht es ja vor allem darum, Ihnen einen Eindruck zu vermitteln, mit welchem Menschen Sie zusammenarbeiten würden.«
»Da bin ich ja mal gespannt«, wirft Ian höhnisch ein.
»Was Sie von mir erfahren sollten, sind meine Motivation und die Antwort auf die Frage: Wieso? Wieso will ich das hier? Wieso kämpfe ich um den Platz an der Cliffworth Academy und um ein Stipendium für Ihre Uni – und für keine andere?« Mein Video-Ich hält ein Foto von Thomas in die Kamera. Darauf hat er noch keine dunklen Augenringe. Er wirkt glücklich und jung … eine Version von ihm, an die ich mich kaum noch erinnern kann. Die Erinnerung an meinen glücklichen Bruder ist fast völlig der fahlen Version von heute gewichen. Als ob es einen Vorher- und einen Nachher-Bruder gäbe. Einen Wir-lebten-glücklich-in-Nordirland-Bruder und einen Deine-Familie-ist-nach-Wales-geflüchtet-und-sieht-dich-kaum-noch-Thomas. Einen aus der Zeit, bevor er den Fehler seines Lebens beging, und einen, der sein Leben kaum noch leben kann.
»Das Wieso ist mein Bruder«, fährt mein Video-Ich fort. »Mein Bruder und jeder Jugendliche da draußen, die von der Justiz im Stich gelassen wurden, obwohl sie Besseres verdient hätten. Eine bessere Verteidigung, eine Chance. Jemanden, der ihnen zuhört und sich für sie einsetzt. Mein Bruder hatte so jemanden nicht, als er vor vier Jahren verhaftet wurde. Sein Anwalt hat einfach zugesehen, wie der Prozess und damit die Zukunft meines Bruders den Bach runterging.«
Kaum jemand sieht noch zur Leinwand, alle starren mich an. Und ich hasse es. Hasse es, auf dem Präsentierteller zu sitzen und Thomas’ Geschichte zu erzählen, obwohl es seine Geschichte ist. Obwohl er sie, wenn überhaupt, selbst erzählen sollte.
Es ist ein gutes Video, dessen bin ich mir bewusst. Ich liebe jedes meiner Worte, spüre sie in der Tiefe meines Herzens, aus der sie fließen. Spüre die Leidenschaft für dieses angestrebte Studium mit jeder Faser meines Körpers. Aber gleichzeitig ist da eine unfassbar große Scham. Weil das hier außerhalb meiner Kontrolle ist. Weil alle mich ansehen … so wie früher.
Macy lehnt sich zu mir und ist mir plötzlich ganz nah. Ihr Mund ist direkt an meinem Ohr, und ihr Atem hinterlässt eine zarte Gänsehaut, die mich kurz aus meinem Tunnel holt.
»Zeig es ihnen nicht«, flüstert sie, die Gänsehaut wird stärker. »Zeig ihnen nicht, dass es dir unangenehm ist.«
Ians Lippen sind zu einem süffisanten Lächeln verzogen, als würde ihm gefallen, dass ich betroffen aussehe oder vielleicht sogar blasser geworden bin. Als würde er bereits überlegen, wie er sich das zunutze machen und gegen mich verwenden könnte.
»Okay«, erwidere ich und versuche, mich zu fangen.
Darüber, dass das Video allen gezeigt wurde, hatte ich vielleicht keine Kontrolle, aber ich kann zumindest entscheiden, wie ich darauf reagiere. Ob ich den anderen meine Verletzlichkeit zeige oder nicht. Macy hat recht.
»Ein gutes Wieso, wenn ihr mich fragt«, sage ich im nächsten Moment laut in die Runde, um meine Anspannung zu überspielen.
»Ich fand’s stark«, bekräftigt Charlotte und lächelt mich an.
Macy neben mir nickt zustimmend, ein paar andere tun es ihr gleich.
Auf der Leinwand flackert das nächste Foto auf, Jacob Murray ist dran. Mit mir sind sie durch.
Ich lehne mich zurück und falle dabei regelrecht gegen die harte Lehne meines Stuhls. Ich habe es überstanden, aber ich fühle mich erschlagen. Gleichzeitig bin ich froh, eine gewisse Contenance gewahrt zu haben. Ian scheint niemand zu sein, vor dem man Schwäche zeigen sollte. Schon gar nicht am ersten Tag.
»Danke«, flüstere ich Macy zu. Einige Sekunden sehen wir uns an, ich blicke in ihre hellblauen Augen, die diesen Dank voller Wärme annehmen. Ihre Augen erinnern mich an einen Wintermorgen, wenn der Schnee noch ganz frisch und die ganze Welt still ist – wenn es nur dich und diese weiße Decke aus Ruhe gibt, die dich einhüllt und dir zuflüstert, dass alles gut werden wird.
»Gern geschehen«, sagt sie leise und streicht sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr, ehe sie den Augenkontakt löst. Ein wenig zu abrupt für meinen Geschmack, weil ich die Ruhe gerne noch länger genossen hätte.
Macy
Die Stimmung im Saal ist zum Zerreißen gespannt. Ich konnte mit Spannungen dieser Art noch nie besonders gut umgehen.
Immerhin bestand mein Video hauptsächlich aus belanglosem Gerede über meinen Wunsch, das menschliche Verhalten zu analysieren. Nichts, was Hyänen wie Ian gegen mich verwenden könnten. Denn das hat er vor. Ich habe es in dem Blick gesehen, den er Vada zugeworfen hat. Als wären in seinem Kopf bereits lauter Pläne aufgeploppt, wie er sie wegen ihres Bruders verunsichern oder heruntermachen könnte.
Die Präsentation wird beendet.
»Wozu haben sie das gemacht?«, fragt Charlotte.
»Um uns einzuschüchtern?«, mutmaßt einer, ich glaube sein Name ist Lennox. Der aus der Künstlerfamilie, der auch Soziologie studieren möchte. Seine Stimme gleicht der einer Maus.
Grayson sieht grimmig auf Ians blonden Hinterkopf. »Damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
Die Tür neben dem Pult geht auf, und Mrs Walsh tritt heraus. Ihr Gesicht ist ernst, passend zu der Stimmung im Raum. »Nachdem wir uns alle etwas besser kennengelernt haben, möchte ich Sie nochmals herzlich willkommen heißen an der Cliffworth Academy.« Ihr Blick schweift über die Tische. Sie scannt jedes einzelne Gesicht und kontrolliert, welchen Eindruck ihre kleine Darbietung hinterlassen hat. Ich bemühe mich um einen möglichst neutralen Ausdruck, um mir meine Irritation wegen der Videos nicht anmerken zu lassen. Mit einer kleinen Spur von Stolz stelle ich fest, dass es Vada ebenso tut. Ihre Finger umklammern noch immer die Stuhlkante, und ihre Knöchel treten weiß hervor, aber da ist purer Kampfgeist in ihren braunen Augen.
»Wie jedes Jahr freue ich mich sehr, so viele junge Menschen für dieses Sommerprogramm begeistern zu können. Dies hier ist ein Ort, an dem Sie wachsen können. Ihnen muss bewusst sein, dass die Cliffworth Academy den Grundstein für Ihren gesamten akademischen Werdegang legen kann. Überzeugen Sie hier, können Sie am Ende dieses Programms sicher mit einem Vollstipendium für die Cliffworth University rechnen. Da Sie nun hier sind, muss ich Ihnen sicher nicht sagen, wie begehrt unsere Studienplätze sind. Immerhin gehören Experten wie Peter Pritchard und Roseline Watkins zu unserem Lehrstuhl, die mit Franklin Gust als leitendem Professor für Rechtswissenschaften unser Lehrangebot auf das höchste Niveau bringen. Nicht ohne Grund konnten wir als Uni elf Member of the Senedd sowie unzählige Landesrichter und Topanwälte hervorbringen. Rund fünfundneunzig Prozent unserer Studierenden knüpfen noch während der Unizeit hervorragende professionelle Kontakte und machen eine steile Karriere, denn wir setzen auf jahrelange Vernetzung auch über die walisischen Grenzen hinaus.«
Diesmal sind die entschlossenen Mienen um mich herum sicher keine Täuschung. Auch ich spüre den Willen, genau das zu schaffen, durch meine Adern fließen. Nicht umsonst zählt die Cliffworth zu den Top drei der walisischen Privatunis. Dort studieren zu können wäre ein Privileg, das die meisten sich ohne das Stipendium sicher nicht leisten könnten. Nicht umsonst ist die Teilnahme an der Akademie so beliebt. Die Bewerbungsquote steigt jedes Jahr, aber immer gibt es nur ein paar ausgewählte Leute, die es überhaupt in die letzte Runde schaffen und sich für das Stipendium beweisen können.
»Jeder von Ihnen hat sich durch hervorragende Noten und besonderes Engagement für dieses Auswahlverfahren qualifiziert, und jeder von Ihnen wäre eine Bereicherung für unsere Studiengänge Jura, Soziologie und Psychologie.« Mrs Walsh blickt in die Runde, zum ersten Mal seit unserer Ankunft wirkt sie nicht vollkommen autoritär, sondern mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Als wäre sie jetzt schon stolz auf ihre Auswahl an Teilnehmenden. Dann räuspert sie sich. »Doch wir wären nicht so erfolgreich, würden wir nicht genau prüfen, wer in unseren Reihen aufgenommen wird. Wir unterrichten nur die Besten, und so verstehen Sie sicher, dass wir in den nächsten Wochen genau hinschauen werden, wen wir für geeignet erachten. Gehen Sie also davon aus, dass wir Sie innerhalb dieser Akademie auf Herz und Nieren testen werden.« Es überrascht kaum, aber es löst Unruhe unter uns Neuankömmlingen aus.
»Am Ende dieser Akademie werden wir sieben Stipendien vergeben«, verkündet Mrs Walsh.
Um seine Chancen auszurechnen, muss man wahrlich kein Mathegenie sein. Vierzehn Leute im Programm, höchstens sieben Plätze. Die Hälfte von uns wird leer ausgehen.
»Sie werden gleich Umschläge bekommen, die Sie bitte erst auf mein Kommando öffnen.«
Kurz darauf geht Mrs Bell herum und verteilt dunkelblaue Umschläge, auf denen das Wappen der Akademie gedruckt ist. Jeder von uns bekommt einen.
»Sie dürfen sie jetzt öffnen.«
Ich löse den Kleber und ziehe eine Karte aus dem Umschlag. Eine dunkelrote Rose ist darauf abgedruckt.
»Ein Kleeblatt«, murmelt Charlotte.
»Habe ich auch«, erwidert Grayson.
Ich scanne die Karten der anderen. Es scheint nur diese beiden Symbole zu geben: die Rose und das Kleeblatt.
»Jeder von Ihnen sollte nun in einer Gruppe sein: alle, die ein Kleeblatt gezogen haben, gehören zu den Clovers. Die mit Rose zu den Roses«, erklärt Mrs Walsh, ehe die Gesprächskulisse zunehmen kann. »Verstehen Sie sich an der Akademie als Bezugspersonen. Sie werden zusammenleben, zusammen lernen und auch gemeinsam Aufgaben bestreiten müssen.«
Vada starrt auf ihre Karte. Ein grünes Kleeblatt, keine Rose. Sie hebt ihren Kopf, unsere Blicke treffen sich. Es sind nur ein paar Herzschläge, nur vier oder fünf Sekunden, aber jeder einzelne davon ist ein kleiner Stich, weil ich tatsächlich enttäuscht bin. Enttäuscht, dass ausgerechnet die Person hier, bei der ich mich instinktiv am wohlsten gefühlt habe, nicht in meiner Gruppe ist. Auch in Vadas Augen sehe ich Enttäuschung aufblitzen – zumindest denke ich das. Zu viele verschiedene Emotionen flackern über unsere Gesichter, weil niemand von uns eine solche Regelung erwartet hatte.
»Nehmen Sie die Einteilung ernst. Denn nur die Gruppe, die am Ende mit ihren Leistungen überzeugen kann, qualifiziert sich für die Stipendien«, sagt sie und lässt damit die Bombe platzen. Ich spüre den Aufprall, höre die Explosion im losbrechenden Stimmengewirr. Zwei Gruppen à sieben Leute, sieben Plätze fürs Stipendium.
Wieder sehe ich zur Karte in Vadas Hand.
Nur eine von uns wird es an die Uni schaffen.
Der Schock sitzt uns allen, aber besonders mir, in den Knochen. Als wir uns für die Cliffworth Academy beworben haben, in all den Bewerbungsrunden und Interviews, waren wir immer Einzelkämpfer. Etwas, was mir gut steht. Ich verlasse mich gerne auf mich selbst, niemals auf Dritte. Dass meine Zukunft nun von anderen Menschen abhängig sein soll, ist für mich noch unbegreiflich, und innerlich bin ich nicht nur frustriert, sondern auch wütend.
»Verdauen Sie das erst einmal und kommen an«, sagt Mrs Walsh, die die umgeschwenkte Stimmung sicherlich ebenso wahrgenommen hat. Der Unmut über die Aufteilung ist allgegenwärtig. »Den restlichen Abend können Sie Ihre Häuser beziehen und sich noch ein wenig näher kennenlernen. Morgen um acht Uhr erhalten Sie hier in der Halle einen Überblick über den Ablauf in den nächsten Wochen. Vorher steht Ihnen ab sechs Uhr ein Frühstücksbüfett zur Verfügung, an dem Sie sich stärken können.« Ihr Lächeln ist viel zu strahlend. »Mrs Bell steht draußen bereit, um Ihre digitalen Geräte einzusammeln und Ihnen die Gegebenheiten in den Gruppenhäusern zu erklären. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
Sie verlässt den Raum, die Gespräche nehmen sofort zu. Spekulationen und Wut über die Aufteilung, erste Eindrücke zur Leiterin. Ich folge den anderen nur stumm nach draußen, denn mein Kopf ist viel zu voll. Ich kann nur immer daran denken, was diese Gruppe, die Roses, für mich bedeutet. Es fühlt sich plötzlich an, als würde ich viel zu enge Schuhe tragen und müsse nun einen Marathon laufen.
Seufzend trete ich nach draußen und hebe meine schwarze Reisetasche. Sie ist viel zu schwer, weil ich trotz der gut sortierten Bibliothek, die es hier geben soll, nicht auf meinen Büchervorrat verzichten wollte.
»Alles okay?« Vada tritt neben mich. »Diesmal wirkst du ein wenig blass.«
Ich nicke etwas unbeholfen. Insgeheim freut es mich, dass sie noch mal auf mich zukommt, aber ich kann es angesichts meiner inneren Anspannung nicht richtig zeigen.
»Wirklich schade, dass wir nicht in derselben Gruppe sind, oder?«
»Ja«, erwidere ich leise. »Finde ich auch.«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Ian seinen Koffer greift. Seine Karte ragt aus seiner Hosentasche und offenbart eine Rose. War ja klar, dass ich ausgerechnet mit ihm in einer Gruppe bin.
Mrs Bell sammelt bereits die ersten Geräte ein. Alle werden von ihr in einer Liste eingetragen und mit Nummer versehen, ehe sie in einen großen, mit Samt ausgekleideten Koffer gelegt werden. Notebooks, Tablets, Handys – die Liste ist lang. An dem Koffer hängt ein Schloss, das schließlich einrastet.
»Komisches Gefühl«, sagt Charlotte, die nun auch neben uns tritt. »So gar nicht erreichbar zu sein.«
Vada lächelt milde. »Vielleicht fällt es gar nicht ins Gewicht, wenn wir ohnehin so viel zu tun haben. Und unterhalten können wir uns auch gegenseitig, es wird schon keine Langeweile aufkommen.«
Plötzlich taucht Ruby hinter Vada auf und legt ihr einen Arm um die Schulter. »Mit wir meinst du doch wohl die Clovers, oder? Nicht die Konkurrenz.« Ich weiche ihrem fast boshaften Blick aus. So viel zu einem entspannten Ankommen hier.