In jedem Augenblick ein Wir - Jennifer Wiley - E-Book
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In jedem Augenblick ein Wir E-Book

Jennifer Wiley

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Beschreibung

Zwei gebrochene Herzen – ein Plan, der alles verändern könnte … In Jennifer Wileys »In jedem Augenblick ein Wir«, dem zweiten New-Adult-Roman an der Lullaby University, müssen sich die Studierenden Lou Simson und Jasper Branson den Schatten ihrer Vergangenheit stellen – und treffen dafür eine besondere Abmachung. Perfektionistin Lou tut alles, um ihre düsteren Erinnerungen an eine frühere Beziehung in Schach zu halten. Am besten gelingt ihr das, wenn sie beschäftigt ist und zum Beispiel bis spät in die Nacht für ihr Umweltmanagement-Studium an der LBU arbeitet. Bei einem ihrer nächtlichen Arbeits-Marathons trifft sie in der Küche des Wohnheims auf Jasper, der nach dem Tod seiner ersten großen Liebe wie ausgewechselt ist. War er früher immer gut drauf, ist er nun nur noch ein Schatten seiner selbst. Aus ein paar Albernheiten, die beiden guttun, entsteht ein Plan: Lou hilft Jasper bei den Prüfungsvorbereitungen, dafür zeigt er ihr, wie man ab und zu mal loslässt und das Leben genießt – so, wie er es früher immer getan hat. Beim Tanzen im Regen, Hang Gliding und Campen im Modoc National Forest kommen die beiden einander näher. Doch beide sind sich unsicher, wie viel ihr gebrochenes Herz ertragen kann … Das Liebesroman-Duett »Lullaby University« spielt an einem kleinen renommierten College in der Nähe eines wunderschönen Nationalparks in Kalifornien. Wie auch in Band 1 der zweibändigen New-Adult-Reihe, »In jedem Atemzug nur Du«, erzählt Jennifer Wiley eine emotionale und berührende Liebesgeschichte voller atemberaubender Naturschönheit. 

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Jennifer Wiley

In jedem Augenblick ein Wir

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Perfektionistin Lou tut alles, um ihre düsteren Erinnerungen an eine frühere Beziehung in Schach zu halten. Am besten gelingt ihr das, wenn sie beschäftigt ist und zum Beispiel bis spät in die Nacht für ihr Umweltmanagement-Studium an der Lullaby University arbeitet. Bei einem ihrer nächtlichen Arbeitsmarathons trifft sie in der Küche des Wohnheims auf Jasper, der nach dem Tod seiner ersten großen Liebe wie ausgewechselt ist. War er früher immer gut drauf, ist er nun nur noch ein Schatten seiner selbst.

Aus ein paar Albernheiten, die beiden guttun, entsteht ein Plan: Lou hilft Jasper bei den Prüfungsvorbereitungen, dafür zeigt er ihr, wie man ab und zu mal loslässt und das Leben genießt – so, wie er es früher immer getan hat. Beim Tanzen im Regen, Hang Gliding und Campen im Modoc National Forest kommen die beiden einander näher. Doch beide sind sich unsicher, wie viel ihr gebrochenes Herz ertragen kann …

Inhaltsübersicht

Liste sensibler Inhalte / Content Notes - Hinweis

Widmung

Playlist

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Danksagung

Liste sensibler Inhalte / Content Notes

Bei manchen Menschen lösen bestimmte Themen ungewollte Reaktionen aus. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine Liste mit sensiblen Inhalten.

Für Niklas. Weil du mich so sein lässt, wie ich bin.

Playlist

Charlotte OC – Where It Stays

Joshua Radin – No Envy No Fear

Mariah McManus – Secrets

Kate York – Still On Top

Brendan James – Through Our Hands

Rosi Golan – Come Around

Garrison Starr – Sit With Me Tonight

Amy Stroup – Sabotage

Butterfly Boucher – Love Will Make Me Stay

Mariah McManus – Say It Again

Brendan James – Bring My Love Home

Victoria Banks – When You Can Fly

Over the Rhine – Lookin’ Forward

Ryan Peters – We Live, We Love, We Grow

Prolog

Noch nie habe ich mich so sehr wie Cinderella gefühlt. Weiße, sternenförmige Lampions hängen von der Decke in den Raum hinein und tauchen den Festsaal der Lullaby University in ein warmes Licht. Sanfte Klänge einer Akustikgitarre verstärken die elegante Atmosphäre ebenso wie die Kellner in weißen Anzügen, die Champagnerflöten an die Gäste in festlicher Abendgarderobe verteilen. Mittendrin bin ich, in meinem hellblauen Kleid aus Tüll, dessen Oberteil ich in fünf Nachtschichten und in mühevoller Handarbeit mit Pailletten bestickt habe. Meine blonden, schulterlangen Haare sind zu einem vornehmen Knoten geformt, und ich bin bei dem Mann untergehakt, der für meine Zukunft eine entscheidende Rolle spielen könnte. Immerhin handelt es sich bei dem älteren Herrn zu meiner Rechten um einen der einflussreichsten Modeunternehmer Kaliforniens.

»Also, Ms Simson, Ihre Freundin Hazel hat mir nahegelegt, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Sie interessieren sich für Mode?«

»Sie fasziniert mich schon seit meiner Kindheit«, erwidere ich und betrete mit Mr Shan einen Nebensaal, in dem es etwas ruhiger zugeht – weniger Menschen, keine Hintergrundmusik. Dafür finden sich hier eine Fotoausstellung und Hunderte von Spiegelfliesen, die an der Decke angebracht wurden und sich im sanften Luftzug der geöffneten Seitentür bewegen.

»Was genau fasziniert Sie daran?«

»Dass jedes Detail, jede Entscheidung etwas aussagt«, erwidere ich träumerisch. »Mode ermöglicht, in unterschiedliche Versionen seines Selbst zu schlüpfen und diese nach außen zu tragen. Das gefällt mir.«

»Und wer möchten Sie sein? Welche Version?«

»Die Version, die ihre zwei größten Leidenschaften ausleben kann: Mode und Umweltschutz.«

Mr Shan nimmt einen Schluck aus seiner Champagnerflöte, dann lächelt er zustimmend. »Und was sind dabei Ihre Ziele?«

»Für heute Abend: meine Uni zu repräsentieren, Kontakte zu knüpfen und dem Dekan dabei zu helfen, unser Spendenziel zu erreichen. Für die nächsten zwei Jahre: den bestmöglichen Abschluss zu schaffen.«

»Beides verständlich«, wirft Mr Shan ein.

»Aber wenn es um mein Lebensziel geht – das, wofür ich brenne –, dann möchte ich irgendwann ein nachhaltiges Modelabel gründen.« Mein Herzschlag beschleunigt sich. Es auszusprechen macht mich immer ein wenig nervös, denn es bedeutet, jemandem meinen größten Wunsch anzuvertrauen und mich damit verletzlich zu machen.

»Das ist sehr ambitioniert von Ihnen.«

»Ich weiß«, erwidere ich und versuche, mich von diesen Worten nicht verunsichern zu lassen, obwohl eine Stimme in meinem Kopf fragt, ob ambitioniert nur eine freundliche Version von unerreichbar ist.

»Ich mag Leute, die hochgesteckte Ziele haben.« In Mr Shans Stimme liegt keinerlei Spott. »Ich war früher genau wie Sie. Voller Visionen und Tatendrang.«

Ich richte mich ein wenig auf. »Dann wissen Sie ja, wie es ist, groß zu träumen, egal, was andere davon halten.« Meine Mundwinkel zucken. Nur mit Mühe und Not schaffe ich es, mein Lächeln aufrechtzuerhalten. Es ist schwer, an seinen Visionen festzuhalten, wenn es Leute gibt, die einen deswegen immer nur müde belächelt haben. Mein Gedankenkarussell droht sich in Bewegung zu setzen. Hin zu dem einen Moment, in dem ich mich nicht für ein Modedesign-Studium beworben habe, weil es mir ausgeredet wurde. Hin zu den weiteren verhängnisvollen Entscheidungen, die ich für diese eine Person getroffen habe.

»Ich würde mich freuen, noch ein wenig mehr über Sie zu erfahren«, fährt Mr Shan fort und holt mich damit zurück ins Hier und Jetzt. »Wieso führen Sie mich nicht durch diese Fotoausstellung und erzählen mir ein wenig von Ihrem Engagement an der Lullaby University?«

»Sehr gerne.«

Gemeinsam gehen wir zur Bildergalerie. Fotos über Fotos reihen sich aneinander, perfekt ausgeleuchtet und festlich in Szene gesetzt, und doch spiegeln sie gerade einmal einen Bruchteil aller Forschungsgebiete und Stipendienprogramme der LBU wider. Es ist nur ein Versuch unseres Dekans Mr Peterson, mit den Unternehmern ins Gespräch zu kommen und unsere Arbeit vorzustellen.

Aus dem Augenwinkel entdecke ich meinen Mitbewohner Jasper mit zwei Frauen vor einem Foto des Forschungslabors. Auf seinen Lippen tanzt wie immer ein charmantes, beinahe freches Grinsen, das durch seinen eher lässigen Look betont wird. Seine blonden Haare, die er sonst meistens in einem Man Bun trägt, sind heute offen und mit ein wenig Gel nach hinten gekämmt. Das Hemd seines dunkelgrauen Anzugs ist ein paar Knöpfe weit geöffnet und lässt erahnen, dass Jaspers gesamter Oberkörper tätowiert ist. Die beiden Frauen hängen an seinen Lippen und kichern wie Schulmädchen, aber ich kenne es nicht anders. Jasper hat durch dieses einnehmende Lächeln, die coolen Sprüche und eine große Portion Intelligenz und Charisma immer diese Wirkung auf Frauen. Nicht ohne Grund ist er unser Rekordhalter in Sachen Spenden-Akquise. Das war er schon, als ich zum Red-Stipendienprogramm dazugestoßen bin. Jasper war zu dem Zeitpunkt selbst erst ein Jahr bei Red und hatte mit seinen Leistungen und seinem Charme trotzdem bereits alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

»Verzeihen Sie mir, wenn das jetzt forsch ist«, sagt Mr Shan, und ich löse meinen Blick von Jasper. Ich konzentriere mich wieder auf meinen Gesprächspartner und meine Aufgabe. »Sie haben das Studium, sind Stipendiatin bei Red, entwerfen Ihre eigene Mode und arbeiten – wenn ich das richtig gehört habe – auch noch als Tutorin? Das klingt sehr zeitaufwendig. Und Sie sind ja erst einundzwanzig, haben Sie gesagt? Wie schaffen Sie das alles?«

»Mit etwas zu wenig Schlaf«, erwidere ich mit einem Grinsen, obwohl sich mein Magen dabei zusammenkrampft. Weil es eigentlich nichts ist, worauf ich stolz bin. Dass ich die Nächte durchmache, kaum schlafe, einfach nur funktioniere, ist nicht gesund. Und doch bin das einfach ich, seit ich das erste Mal vor eineinhalb Jahren an die LBU gekommen bin. Also lächle ich weiter und lenke das Gespräch bewusst in Richtung der neusten Umweltforschungen.

Die Zeit vergeht, irgendwann wird es im Nebensaal voller. Immer mehr Menschen gesellen sich zu uns, sehen sich die Fotos an und stellen mir Fragen. Jemand vom Festkomitee verteilt weitere Champagner- und Saftflöten. Ich nehme ein Glas Orangensaft.

»Auf unsere wundervolle Gastgeberin«, wendet sich Mr Kennedy, Vorstand eines großen Umweltschutzzentrums in Washington, mir zu.

»Ich bitte Sie«, sage ich höflich und winke ab. »Mr Peterson hat diesen Abend doch ausgerichtet.«

Plötzlich legt jemand seinen Arm um mich. »Nur keine falsche Bescheidenheit, Lou. Als Leiterin des Festkomitees solltest du dieses Kompliment wirklich annehmen.«

Jasper. Er steht da, grinst mich und die anderen Unternehmer an und hat noch immer den rechten Arm um mich gelegt. Das macht er oft, mich einfach so umarmen. Es ist keine große Sache, und doch ist es alles, weil ich es liebe und hasse, wenn er das tut. Weil es mich jedes Mal, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, aus der Reserve lockt. Mit seiner Art kann mein Mitbewohner das wie kein anderer. Mich kurz aus der Fassung bringen.

»Im Festkomitee sind Sie also auch noch?«, fragt Mr Shan sichtlich beeindruckt. »Sie müssen so etwas wie Superwoman sein.«

»Die einzig wahre, wenn Sie mich fragen«, sagt Jasper gut gelaunt. Aus seiner Hosentasche blitzt bereits ein Scheck, den er wohl von einer der Frauen bekommen hat und gleich an Mr Peterson weiterreichen wird. Wieder einmal der Erste von uns, der Erfolg hat.

»Während ich morgens noch versuche, mir Kaffee einzuflößen und meinen Kopf in Gang zu bekommen, hat sie schon Cookies gebacken, ein neues Kleid entworfen, eine To-do-Liste erstellt und ihren Lernplan bearbeitet.«

»Es kann nicht jeder so ein Morgenmuffel sein wie du«, spiele ich das Spiel mit. Allein deswegen, weil es die Herrschaften um uns herum zu amüsieren scheint.

»Ich muss ihr recht geben«, erklärt er den umstehenden Gästen. »Ich bin morgens wirklich zu nichts zu gebrauchen. Wenn es irgendwie ginge, würde ich mir den Kaffee intravenös legen lassen.«

»Wenn ich mir deinen Kaffeekonsum so ansehe, besteht aktuell kaum ein Unterschied zum intravenösen Zugang. So oft, wie du innerhalb einer halben Stunde Nachschub brauchst, ist das reine Fließbandarbeit.«

»Erwischt«, lacht Jasper. Er versprüht dabei so viel Charme, dass er die anderen sofort mit diesem Lachen ansteckt. Wichtige Leute von sich überzeugen konnte er schon immer gut. »Wie Lou könnte ich nie sein. So viele Extraaufgaben, kreative Energie, Nachtschichten …«

»Aber langweilen wir die Herrschaften mal nicht länger damit«, werfe ich ein. »Ich denke, wir sollten mehr über die Uni reden und weniger über meine Gewohnheiten.«

»Wieso?«, fragt Mr Shan vergnügt. »Ich finde Sie immer faszinierender, Ms Simson.«

Jasper beugt sich zu mir herab. Es sind nur Sekunden. Sekunden, in denen er meinem Gesicht plötzlich sehr nah ist, auf seinen Lippen ein schelmisches Grinsen. »Ich auch«, flüstert er mir ins Ohr. Ich erwidere nichts, schlucke. Er zieht mich nur auf, meint das nicht so. Trotzdem lösen allein diese zwei Worte ein sanftes Flattern in meinem Magen aus. Nicht nur, weil es Jasper ist und Jasper irgendwie immer etwas auslöst. Sondern auch, weil ich nicht weiß, wie ich mit so viel Lob und Aufmerksamkeit umgehen soll, obwohl in meinem Kopf so viel Schwärze steckt. Schwärze, von der keiner der Anwesenden etwas ahnt. Nicht einmal mein Red-Kollege und Mitbewohner, der in diesem Moment den Arm von mir nimmt und mich etwas fröstelnd zurücklässt.

»Nun denn, meine Herren«, sagt er und nickt den anderen zu. »Sie sind bei Lou in besten Händen. Ich denke, ich werde mich im Hauptsaal mal wieder unters Volk mischen.«

Die Herren nicken, Jasper zwinkert mir ein letztes Mal zu. Dann schlendert er zurück zu den sanften Gitarrenklängen, unseren anderen Mitbewohnern und Red-Stipendiaten sowie dem Dekan, dem er nun sicher den Scheck überreichen wird.

Ich sammle mich, nehme wieder die Gespräche auf und versuche den Herrschaften klarzumachen, wie wichtig die Arbeit der Lullaby University für die Umwelt ist. Wie viel Engagement jeder Einzelne hier in diese Mission steckt. Am Ende ist mein Mund ganz trocken vom vielen Reden, doch ich erreiche tatsächlich einige Zusicherungen von Spenden in einer Höhe, die Mr Peterson sicherlich erfreuen wird. Meine Sponsoren gehen direkt los, um die Schecks beim Dekan abzuliefern. Ich atme kurz tief durch und nehme einen letzten Schluck Orangensaft.

Als ich zurück in den Hauptsaal komme, fällt mein Blick auf Jasper, der bei seinem Bruder Lewis und unserer Mitbewohnerin Hazel steht. Irgendetwas scheint da nicht zu stimmen. Sie diskutieren wild gestikulierend, und wenn ich es richtig sehe, schwankt Lewis ein wenig, so als wäre er betrunken.

Jasper tritt vor und baut sich vor seinem Bruder auf. Er sieht wütend aus, fast bedrohlich, dabei kann Jasper sonst keiner Fliege etwas zuleide tun. Niemals würde er sich vergessen – schon gar nicht hier, auf einer derart wichtigen Veranstaltung.

Mit gerafftem Kleid schlage ich meinen Weg zu ihnen ein. Egal, was los ist: Sie werden das woanders klären müssen.

»Ich habe mir meinen Erfolg erarbeitet«, höre ich Jasper beim Näherkommen sagen. »Maggie hatte nichts damit zu tun.« Ich werde nicht schlau aus diesen Worten. Wer ist Maggie?

Lewis schnaubt. »Ich wusste immer, dass du ein Frauenheld bist. Aber deine Professorin? Wirklich?«

Lewis hat die Stimme erhoben, einige Leute werden auf den Streit aufmerksam. Ich versuche, mich an den neugierigen Umstehenden vorbeizuquetschen, um zu Lewis und Jasper zu gelangen.

»Was hast du ihr fürs Stipendium geboten?«, vernehme ich Lewis. Normalerweise spricht er eher leise und zurückhaltend, doch jetzt ist er laut und verbittert.

»Hör auf, ich warne dich!«

»Was, Jasper?«, presst Lewis hervor. »Was hast du gemacht, um dieses Stipendium von ihr zu bekommen?«

Endlich finde ich eine Lücke zwischen den Leuten und dränge mich hindurch. Entschuldige mich, nicke höflich, obwohl alles in mir angespannt ist.

»Hat es sich wenigstens für sie gelohnt?«, zischt Lewis.

Ich will mich gerade einmischen, als Jasper ausholt. Hazel und ich schreien gleichzeitig auf, als Jaspers Faust auf Lewis’ Kiefer prallt. Hazel versucht dazwischenzugehen, wird jedoch von einem der Umstehenden festgehalten. Ich selbst kann mich nicht rühren. Erstarrt sehe ich zu, wie Lewis taumelt. Blutiger Speichel läuft aus seinem Mund. Einige Männer stellen sich nun dazwischen und halten Lewis davon ab, es Jasper heimzuzahlen. Das ganze Szenario ist absurd. Die festliche Akustik-Musik, die sternförmigen Lampions, die Männer in ihren Anzügen, die sich nun mitten in einem Gerangel befinden. Das Getuschel der Kellner, die ihre Handys gezückt haben. Und mittendrin ich in meinem Cinderella-Kleid, deren perfekt geplanter Abend gerade eine ganz bittere Wendung genommen hat.

Es gibt höchstens einen Stipendienplatz bei Red pro Jahr. Es gleicht einem Ritterschlag, für dieses Programm ausgewählt zu werden, denn allein durch dieses Stipendium öffnen sich so viele Türen. Niemals wäre ich auch nur auf die Idee gekommen, jemand könnte auf unlauterem Weg einen Platz ergattern. Schon gar nicht Jasper. Er ist zu gut in dem, was er tut. Außerdem kenne ich ihn, seine Geschichte – oder?

Fassungslos muss ich mit ansehen, wie der Dekan herbeieilt und Jasper und Lewis des Saals verwiesen werden.

Wenn diese Anschuldigung die Runde macht, wäre das eine Katastrophe auf so vielen Ebenen. Für die Uni, für unser Stipendienprogramm, aber vor allem für Jasper.

Kapitel 1

Acht Wochen später

Ein dumpfes Geräusch lässt mich aus dem Schlaf schrecken. Mein Gehirn braucht einige Sekunden, um zu verarbeiten, wo ich mich befinde. Vor mir auf dem Küchentisch liegt noch mein Tablet, dahinter erstreckt sich das Chaos, das ich während meiner nächtlichen Backsession hinterlassen habe. Überall finden sich benutzte Schüsseln, Zutaten, und in einer Dose daneben die fertigen Bananencookies. Das Ergebnis meiner üblichen Zwei-Uhr-Nachts-Routine. Noch immer etwas benommen greife ich nach meinem Tablet und rufe die To-do-Liste auf, an der ich gearbeitet habe.

 

Küche aufräumen

Interview mit Forest.Gardening vorbereiten (Fragen wurden vorab geschickt)

Entwurf des Mantels überarbeiten (auf A-Linie achten!)

Sprachnachricht an Mom und Dad (viel zu lange her)

Tutorenmails durchgehen

 

Ich bin nicht mal fertig geworden, sondern muss vorher eingeschlafen sein. Am Küchentisch. Wieder einmal hat mein Körper irgendwann kapituliert und sich wenigstens das Minimum an Schlaf genommen, das ich zum Überleben benötige. Angesichts meines schmerzenden Nackens wäre das Bett sicherlich die bessere Wahl gewesen.

Es ist noch früh am Morgen. Die Sonne ist bereits aufgegangen und lässt den Reif, der sich auf der Wiese in unserem Garten gebildet hat, sanft glitzern. Es ist erstaunlich, wie kalt die Nächte zurzeit sind, obwohl die Tage langsam wärmer werden und viel Sonne mit sich bringen. Auch jetzt steht sie bereits hinterm Modoc National Forest und blitzt zwischen den majestätischen Kiefernlandschaften hervor. Absolute Idylle, von dem Chaos um mich herum und den dumpfen Lauten aus der ersten Etage einmal abgesehen. Mittlerweile gewöhne ich mich an die Geräusche von Jasper am Boxsack, weil er quasi nichts anderes mehr tut. Aufstehen, Boxen, Uni, Boxen, Essen, Boxen. Man sollte meinen, er wäre von den ausufernden sportlichen Betätigungen müde, aber er macht mir in Sachen Schlaflosigkeit langsam, aber sicher Konkurrenz.

Ich seufze, lasse mein Chaos und meine Liste, die auf akribische Abarbeitung wartet, liegen und gehe hoch in die zweite Etage – vorbei an Jaspers Zimmer, aus dem neben den Fäusten auf dem Sandsack auch leise Rockmusik zu hören ist.

Mein Zimmer im zweiten Stock sieht noch genauso aus wie letzte Nacht, als ich wieder einmal nicht schlafen konnte … oder nicht zulassen konnte, es überhaupt richtig zu versuchen. Mein Kopf war zu laut, die Gedanken zu schwer. Meine türkise Bettdecke liegt zerwühlt und traurig da und schreit mich förmlich an, mal wieder richtig benutzt zu werden. Ich schüttle sie aus und falte sie, damit wenigstens ein Chaos verschwindet. Später kümmere ich mich dann um das in der Küche. Nur das im Kopf wird bleiben, weil es immer da ist.

Es dauert zehn Minuten, ehe ich mich entschieden habe, nach welchem Kleidungsstück ich mich heute fühle: ein blassrosa Midikleid mit verspielten Ärmeln und Rüschen am Dekolleté, das sich perfekt an meine Kurven schmiegt. Sollte es auch, immerhin habe ich es eigens für mich angefertigt. Dazu eine schwarze Strumpfhose und dunkle Boots. Meine offenen Haare kombiniere ich mit einem dunklen Haarreifen, den ich vor einigen Wochen auf einem Flohmarkt in Juniper ergattert habe. Da meine unzähligen Sommersprossen mit der zunehmenden Sonne allmählich wieder deutlich hervortreten, entscheide ich mich dazu, nur etwas Lipgloss und Wimperntusche aufzutragen, und packe dann meine Tasche für die Uni: Trinkflasche, Lernmaterialien für die Mittagspause, mein Handy und meine Ausweise, mit denen ich auch außerhalb der Vorlesungszeiten Zutritt zum Unigelände habe. Einer der Vorteile, wenn man Stipendiatin ist. Nachts lernen? Kein Problem. Mitten in der Nacht etwas im Forschungslabor nachsehen? Go for it. Genau das Richtige für Köpfe, die sich weigern, zur Ruhe zu kommen.

Ich greife zu dem kleinen Notfall-Nähset auf meinem Schreibtisch, das ich immer dabeihabe, wenn ich das Haus verlasse, und streife dabei den Zeitungsartikel, den ich gestern einem meiner Schützlinge im Tutorenprogramm abgenommen habe. Ich bin mir sicher, er hat den Nachruf einzig zu dem Zweck ausgedruckt, mit den anderen über Jasper zu lästern. Über Jasper, Maggie und diese dämlichen Gerüchte über ihre Beziehung.

San Francisco trauert um Jung-Professorin Maggie Ganes

Neben der Headline ist ein Foto der dreißigjährigen Maggie abgebildet. Ihr Haar ist kupferrot, ihre Nase spitz und schlank, und sie trägt ein leichtes Tages-Make-up, das ihre natürliche Schönheit unterstreicht. Sie war vor meiner Zeit an der LBU angestellt, sodass ich sie nie kennengelernt habe, und doch kann ich nicht aufhören, ihr Foto zu betrachten. Ihre Augen haben etwas Einnehmendes. Vielleicht liegt mein Interesse an ihr aber auch allein an der Verbindung zu Jasper, die ich noch versuche zu greifen. Das ist sie also. Die Frau, die ehemalige Professorin, mit der Jasper wirklich eine Beziehung hatte. Keine lockere Affäre, wie sein Bruder Lewis noch auf der Wintergala dachte und wie die Gerüchte, die seitdem auf dem Campus kursieren, behaupten. Nein, eine richtige Beziehung. Er hat sie geliebt. Dass Jasper Branson wirklich verliebt war und eine Frau so nah an sich herangelassen hat, dass er neun Monate mit ihr zusammen war, muss ich erst einmal verarbeiten. Und nicht nur ich. Das ist wohl auch der Grund, wieso ich das Gefühl habe, Jasper vor acht Wochen verloren zu haben. Als Freund. Als zuverlässigen Mitbewohner. Als den Mann, der es immer wieder schafft, mich aus der Reserve zu locken, nur mit einem frechen Grinsen. Denn seit diese Gerüchte im Umlauf sind, sehe ich dieses Grinsen nicht mehr. Und seitdem Jasper herausgefunden hat, dass Maggie nach ihrer Trennung und ihrem Weggang von der Uni bei einem Unfall ums Leben kam. Seitdem ist alles anders. Er ist anders.

Ich wende meinen Blick von dem Foto ab, nehme endlich den Zeitungsartikel und tue, was ich schon gestern hätte tun sollen, als ich den Studenten damit erwischt habe: Ich zerreiße ihn in klitzekleine Fetzen. Kleiner, noch kleiner, als würde das irgendetwas an dieser beschissenen Situation für Jasper ändern. Aber die Geräusche, die nach wie vor zu mir dringen, bezeugen, dass er noch immer seinen Boxsack bearbeitet. Voller Frust. Voller Trauer. Wobei ich das gar nicht so genau sagen kann, denn er redet ja kaum noch mit mir.

Mein Kopf fühlt sich viel zu voll an, also gehe ich in die Küche, um mich Punkt eins auf der Liste zu widmen: Aufräumen.

Unten am Tisch unseres Wohnhauses sitzen mittlerweile meine Mitbewohner Hazel und Corey, beide mit geröteten, übermüdeten Augen. Hazel hat ihren Kopf auf den Händen abgestützt. Ihre dunklen, brustlangen Haare stehen am Hinterkopf ein wenig ab, und sie trägt noch ihr Oversize-Schlafshirt, in dem sie geradezu versinkt.

»Guten Morgen«, sage ich.

Corey stöhnt leise und fährt sich durch seine Afrolocken, die er auf wenige Millimeter gekürzt trägt. Missmutig sieht er zu mir. »Es ist kein guter Morgen, wenn du eine Stunde vor dem Weckerklingeln aus dem Schlaf gerissen wirst, weil dein Mitbewohner mal wieder zu viel Energie hat.«

Hazel nickt verschlafen, dabei ist sie eigentlich ein Morgenmensch. »Kommt es mir nur so vor, oder wird das Boxen morgens langsam zur Gewohnheit?«

»Schlimmer noch«, murrt Corey und nimmt einen Schluck Kaffee. »Es geht jeden Tag ein wenig früher los.«

Ich schenke ihnen einen mitfühlenden Blick. Mein Körper ist diesen Schlafentzug wenigstens gewöhnt.

»Hier, vielleicht helfen die«, sage ich und schiebe ihnen ein paar der Cookies hin, die ich in dieser Nacht gebacken habe. Corey greift sich gleich mehrere und sieht mich dankbar an. Ich weiß schon, wieso ich immer ganze Wagenladungen davon mache. Jasper und Corey verdrücken sie meistens innerhalb von wenigen Stunden. Hazel holt sich stattdessen erst mal ihre Tabletten aus der Küchenschublade. Jedes Mal beeindruckt es mich aufs Neue, wie viele sie täglich schluckt, ohne auch nur mit Wasser nachzuspülen. Sie leidet an der Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose, die ihre Lunge so geschwächt hat, dass sie eine neue brauchte. Die Tabletten sind unter anderem Immunsuppressiva, die dafür sorgen, dass ihre transplantierte Lunge nicht abgestoßen wird.

Ich beginne, meine benutzten Schüsseln zu spülen, während die anderen beiden versuchen, sich mit Kaffee auf Betriebstemperatur zu bringen. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass Corey ab und zu wegnickt. Hazel wird immerhin munterer und hat angefangen, auf ihrem Handy herumzutippen – vermutlich auf der Suche nach neuen Wanderrouten hier in der Gegend, die sie mit Lewis ausprobieren kann. Die beiden machen an den Wochenenden kaum noch was anderes, jetzt, wo die Temperaturen in Kalifornien endlich steigen und sich der Frühling nähert.

Das Chaos ist schließlich beseitigt, und ich bereite mir ein Müsli mit selbst gemachtem Granola zu, mit dem ich mich zu den anderen an den Tisch setze. Über uns sind noch immer die Schläge auf den Boxsack zu vernehmen. Jasper ist unermüdlich.

Corey seufzt und wirkt betrübter, als ich es von ihm gewohnt bin. Ist es wirklich erst acht Wochen her, dass er und Jasper das letzte Mal zusammen in der Küche saßen und ihre dämlichen Witze gerissen haben, um sich gegenseitig damit zu übertreffen? Es kommt mir vor, als wären Monate vergangen, so sehr hat Jaspers Schwermut auf uns alle abgefärbt.

»Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn«, sagt Corey. Über uns verstummen die Boxschläge, stattdessen hören wir die Rohre der Wasserleitung pfeifen. Jaspers Work-out ist offensichtlich beendet. »Dass er nach der Wintergala-Geschichte erst mal fix und fertig war, konnte ich nachvollziehen. Aber ich dachte, jetzt, wo er und Lewis sich wieder vertragen haben und alle Missverständnisse zwischen ihnen aus der Welt geschafft sind, würde es ihm besser gehen.« Er nimmt erneut einen Schluck Kaffee, was langsam einen Effekt zu haben scheint. Er wirkt zumindest etwas lebendiger, was aber seinen sorgenvollen Gesichtsausdruck nur unterstreicht. »Stattdessen habe ich das Gefühl, es geht ihm von Tag zu Tag schlechter.«

Niemand widerspricht ihm. Wir alle haben diese Entwicklung mitansehen müssen. Wie die Sorgenfalten tiefer wurden und Jasper immer schweigsamer.

»Überleg doch mal, was in den letzten Monaten alles passiert ist«, erwidere ich und rühre in meinem Müsli. »Erst prügelt er sich mit seinem Bruder auf einer öffentlichen Veranstaltung, weil der denkt, dass er sich sein Stipendium durch eine Affäre mit einer Professorin erschlafen hat. Ein Gerücht, das sofort die Runde machte, und eine Prügelei, für die Jasper Strafarbeiten und eine Bewährungsprobe vom Dekan aufgebrummt bekommen hat. Und dann erfährt er durch diese Auseinandersetzung auch noch, dass die Frau, mit der er eine Beziehung hatte und die er trotz Trennung offenbar immer noch geliebt hat, bei einem Unfall ums Leben kam. Vor über zwei Jahren … und er wusste nichts davon«, beende ich die Aufzählung der Dramen, die in letzter Zeit über Jasper und dieses Wohnhaus hereingebrochen sind. »Das ist ganz schön viel auf einmal.«

Allein von der Aufzählung wird mir übel. Wie viel kann ein Mensch ertragen, ohne zusammenzubrechen? Vielleicht ist es schon ein Wunder, dass er überhaupt noch aufrecht steht.

»Es ist viel«, sagt Hazel. »Selbst für jemanden wie Jasper.«

»Was ist mit mir?« Jasper landet dank der Stange, die in unserem Wohnhaus – einem ehemaligen Feuerwehrhaus – angebracht ist, leichtfüßig im Wohnraum. Seine blonden, kinnlangen Haare sind nass nach hinten gekämmt, die Wangen noch gerötet vom Sport.

Etwas schuldbewusst sehen wir anderen uns an. Über Jasper zu sprechen, nachdem bereits der gesamte Campus ihn zum Gesprächsstoff Nummer eins macht, wirkt sicher nicht gerade vertrauensfördernd.

»Wir haben uns nur gefragt, seit wann du ohne Kaffee so leistungsfähig bist«, weicht Corey aus. »Das war ein ziemlich langes Work-out. Schon vom Zuhören habe ich Muskelkater bekommen.« Corey grinst Jasper an und wartet darauf, dass er ihm den Ball zurückspielt. Aber Jasper verzieht keine Miene, er ringt sich nicht mal einen zuckenden Mundwinkel ab.

»Keine Sorge, das mit dem Kaffee hole ich schon nach«, sagt er schlicht und geht demonstrativ zum Kaffeeautomaten. Seine Reaktion hinterlässt eine seltsame, beinahe eisige Stimmung, die vor acht Wochen nie so entstanden wäre. Hazel, Corey und ich tauschen etwas hilflose Blicke.

»Also, Jasper«, versucht es Hazel. »Lewis hat mir gesagt, dass ihr morgen vielleicht zusammen joggen geht? Das Wetter soll ja richtig gut werden.«

»Kann sein. Mal sehen.« Er rührt in seinem Kaffee, sieht uns kaum an. Er setzt sich nicht mal zu uns an den Tisch, sondern lehnt sich gegen die Küchenzeile. Seine lockere Haltung könnte dabei fast an früher erinnern, wäre da nicht eine gewisse Teilnahmslosigkeit in seinem Blick, wo vorher Energie und Lebensfreude zu spüren waren. »Ich habe Lewis gesagt, dass ich ihm spontan Bescheid gebe, ob ich dabei bin oder nicht.«

»Verstehe.« Hazel verzieht die Lippen. Vorsichtig sieht sie zu ihm. »Ich dachte nur, es würde dir vielleicht guttun, das Haus zu verlassen.« Jasper hebt eine Augenbraue, Hazel wird sofort ein wenig rot.

»Ich verlasse jeden Tag das Haus. Vorlesungen, schon vergessen?« Er dreht uns den Rücken zu, greift nach dem Toastbrot auf der Arbeitsfläche.

Hazel atmet tief aus, die Spannungen im Raum sind für sie sicher genauso unerträglich wie für mich.

»Es ist alles in Ordnung«, murmelt Jasper. »Ihr müsst euch keine Sorgen machen.«

In Ordnung. Das sagt er inzwischen dauernd. Eine Tatsache, die diese Aussage einiges an Glaubwürdigkeit einbüßen lässt.

»Ich dachte ja auch nur …«, beginnt Hazel und sieht Hilfe suchend zu Corey und mir. »Mir ist nur aufgefallen, dass du viel Zeit in deinem Zimmer verbringst. Das ist alles.«

»Ist ein schönes Zimmer«, murrt Jasper, der dabei ist, Erdnussbutter auf seine Toastscheibe zu schmieren. »Tolle Aussicht auf den Modoc National Forest.« Er nimmt sich den Toast und seinen Kaffee und dreht sich endlich wieder zu uns um.

»Ich wusste immer, dass du in der Tiefe deines Herzens ein richtiger Naturbursche bist«, versucht Corey die Stimmung aufzulockern. »Dir ist schon klar, dass du jetzt keine Ausreden mehr hast und mir mit dem Hochbeet helfen musst, oder? Ich weiß, ich weiß«, wirft Corey ein, als Jasper gerade etwas erwidern möchte, »du sagst immer, du hättest keinen grünen Daumen. Aber ich bin sicher, du irrst dich. In vier oder fünf Wochen sollten die nächtlichen Temperaturen hoffentlich hoch genug sein, um es wieder zu bepflanzen. Lust?«

»Mal sehen.«

»Mangels deiner Alternativen werte ich das einfach mal als Ja. Machen wir uns nichts vor: Lullaby bietet nicht gerade viele Freizeitgestaltungen. Ich schenke dir hier also eine einmalige Erfahrung, um die dich andere beneiden würden.«

»Ins Diner könnten wir auch mal wieder gehen«, schlägt Hazel vor. »Wir alle zusammen …«

Jasper sieht aus, als hätte er Zahnschmerzen. Auch ohne Worte weiß ich sofort, dass er ablehnen wird.

»Zu viele Menschen«, sagt er. »Das muss ich mir momentan nicht geben.« Verständlich, wenn man bedenkt, wie viel Schwachsinn über ihn und Maggie Ganes im Umlauf ist. Im Diner würde er sich der Meute aussetzen.

Hazel zieht den Kopf ein und murmelt ein »Daran habe ich nicht gedacht«.

»Und was, wenn wir mal wieder einen gemütlichen Abend hier im Wohnhaus machen?«, schlage ich vor. »Das haben wir schon viel zu lange nicht mehr gemacht. Ich kann kochen. Und Lewis kommt sicher auch, oder Hazel?«

»Klar, ich frage ihn.«

Jasper mustert mich. Nicht auf diese charmant-lässige Art, wie er es in den letzten eineinhalb Jahren gemacht hat. Eher ein wenig gequält, als würde in ihm ein Kampf wüten: Zusagen oder ablehnen. Sich wieder etwas öffnen, oder weiter die Mauer um sich herum hochziehen. »Weiß noch nicht«, bringt er hervor. »Ich sag euch noch Bescheid, okay?«

Perplex nicke ich. Jasper Branson schlägt ein von mir gekochtes Essen aus? Offensichtlich sollten wir uns doch mehr Sorgen machen, als ich dachte. Der Jasper, den wir alle kennen und lieben, scheint ganz weit weg zu sein.

»Ich bin mal wieder oben«, seufzt er und nimmt seine Kaffeetasse.

Kurz darauf ist er im ersten Stock verschwunden und hinterlässt Stille, Schwere und eine gewisse Ratlosigkeit.

Kapitel 2

Meine Hand verkrampft sich, so schnell schreibe ich, während Mr Sussmann, mein Professor für Umweltmanagement, ein Diagramm erklärt. Das Gekrakel auf meinem Tablet ist unübersichtlich, obwohl ich eigentlich mit Schaubildern, Farbsystemen und Schönschrift lerne. Daher habe ich es mir inzwischen angewöhnt, nach den Vorlesungen noch mal alles abzuschreiben und es dabei so zu gestalten, wie ich es für mein Lernkonzept und meine innere Zufriedenheit benötige.

»Wenn wir also von der Planung und Implementierung von Umweltmanagementsystemen sprechen«, sagt Mr Sussmann in seiner beruhigenden Bassstimme, »welche Aspekte gibt es dann zu beachten?«

Meine Hand schnellt nach oben, aber jemand hinter mir ist schneller. »Dokumentation, Schulungen, Beachten der Vorschriften«, leiert derjenige herunter.

Meine Hand bleibt oben, Professor Sussmann nickt in meine Richtung.

»Im Endeffekt ist es egal, welche Art von Management betrieben wird, denn diese Faktoren gehören immer dazu«, erläutere ich. »Dabei kann der Umweltaspekt zunächst ausgeklammert werden.«

»Und wenn wir nun konkret die Umwelt in den Fokus stellen wollen? Welche Schritte kommen dann hinzu?«

»Wir brauchen Umweltziele«, erwidere ich wie aus der Pistole geschossen und ernte damit ein zufriedenes Nicken meines Professors. »Aus denen resultiert ein konkretes Umweltprogramm. Dann erst kommen die Managementsysteme zum Einsatz, und dann muss eine Rückprüfung erfolgen.«

»Ganz recht.« Mr Sussmann öffnet auf seinem Tablet das nächste Schaubild, das hinter ihm auf der weißen Wand erscheint. Über die Dropbox der Veranstaltung ziehe ich es mir auf mein Tablet. Eine Aufstellung von Umweltprogrammen am Beispiel einiger Firmen, mit denen die LBU zusammenarbeitet. Einige besonders detailliert und ausgefeilt, andere offenbar noch ganz am Anfang ihrer Planungen.

»Für Ihre nächste Hausarbeit möchte ich, dass Sie sich diese Programme ansehen, sie auf Effizienz, Auswertbarkeit und Nutzen prüfen und Ideen sammeln, wie die Programme zu optimieren sind.« Ein Stöhnen geht durch die Reihen. Das klingt nach viel Arbeit, aber in meinen Ohren auch spannend. »Keine Sorge«, beschwichtigt Mr Sussmann. »Sie haben natürlich genug Zeit. Stichtag ist Ende März.«

Ich scrolle zu meiner To-do-Liste und setze es auf Punkt fünf, mit dem Brainstorming zu beginnen. Direkt unter die wichtigste Aufgabe des Tages, die ich meinem Stipendium bei Red zu verdanken habe: meinem Interview mit Forest.Gardening, das ich heute Nachmittag zusammen mit Corey führen werde. Forest.Gardening ist ein Gartenmagazin, das über den Forschungsschwerpunkt der LBU sprechen möchte: die Auswirkungen des Tourismus auf den Modoc National Forest. Die LBU betreibt hierzu seit Jahren eine Studie, zu deren Zweck regelmäßig Erd- und Wasserproben genommen und analysiert werden.

Mr Sussmann beendet die Vorlesung, und die Stimmen um mich herum werden lauter. Ich packe meine Sachen, verlasse den Vorlesungssaal und passiere die pflanzenbehangenen Flure, um das Gebäude zu wechseln. Der Campus ist weitläufig und umfasst vier Hauptgebäude, die als Wohnheime und Vorlesungstrakte fungieren. Dazwischen laden Holztische mit Aussicht auf Kiefernfamilien zum Verweilen ein. Der Modoc National Forest ragt hinter den Gebäuden in den Himmel auf, dunkelgrün und wunderschön. Eine tägliche Erinnerung daran, dass sich Umweltschutz lohnt.

Ich steuere auf das Gebäude B zu, in dem sich die Mensa befindet. Dahinter, etwa fünf Minuten Fußweg entfernt, liegen zwei der drei Forschungslabore sowie die Straße, die nach Lullaby und damit zum Ortskern führt. Wobei es wirklich ein kleiner Kern ist. Ein paar Geschäfte, ein Diner, ein Rathaus samt Stadtarchiv. Das war’s.

»Hey, Lou!« Ein paar Leute aus dem Festkomitee sitzen an einem der Holztische und winken mir zu. Ich winke zurück, weiche dabei einigen anderen Leuten aus. Es ist viel los auf dem Campus, alle vierhundert Studierenden der LBU scheinen auf den Beinen zu sein. Es herrscht ein Trubel, den wir in unserem etwas abgelegeneren Wohnhaus von Red oft gar nicht so wahrnehmen.

Ich erreiche die Mensa. Auch hier finden sich mehrere Holztische und Hunderte von Pflanzen, sodass der Raum gemütlicher ist als jede andere Mensa, die ich bisher betreten habe. An der Essensausgabe hole ich mir eine Tomatensuppe mit Croutons und lasse mich an einem der Tische an der Fensterfront nieder, die eine Aussicht auf den Forest bietet.

Während ich meine Suppe löffle, gehe ich meine Notizen aus Umweltmanagement durch und versehe sie mit Farben, Pfeilen und Ausrufezeichen. Eine befriedigende Arbeit, in der ich vollkommen aufgehe, bis irgendwo in der Nähe der Name Maggie Ganes fällt. Die Leute hier kennen seit der Wintergala kein anderes Thema mehr. Was schon lachhaft ist, immerhin habe ich in den eineinhalb Jahren, in denen ich nun bereits an der Lullaby University bin, vorher nie ihren Namen gehört. Weder hinter vorgehaltener Hand noch offiziell von anderen Professoren oder Studierenden. Wie ich mittlerweile weiß, hat sie vor zwei Jahren die LBU verlassen. Von den vier Jahrgängen hier an der Uni kann sie also höchstens die Hälfte überhaupt gekannt haben, zumal sie hauptsächlich für das Stipendienprogramm zuständig war und somit für die meisten hier unwichtig. Immerhin haben nur rund fünfzehn Prozent der vierhundert Studierenden ein Teil- oder Vollstipendium. Die Leute sollten sich also wirklich dringend andere Gesprächsthemen suchen. Die anstehenden Midterms zum Beispiel. Meinetwegen auch das kalifornische Wetter. Ganz egal, was.

»Lou!« Meine Freundin Reese winkt zu mir herüber und lenkt mich zum Glück ab. In der Hand trägt sie ein Tablett mit Obstsalat, Kaffee und einem Schokoriegel. Ihre dunklen Braids schwingen bei jedem Schritt mit, den sie auf mich zugeht.

»Du bist spät dran«, begrüße ich sie, als sich Reese auf den Stuhl mir gegenüber fallen lässt.

Reese zieht eine Grimasse. »Professor Wesley hat wieder einmal überzogen.« Das überrascht mich nicht. Mr Wesley ist der älteste Professor der Uni, quasi ein Relikt aus der Steinzeit, und er lässt sich nicht gerne vorschreiben, wie lange seine Vorlesungen zu dauern haben, und überzieht ständig, weil er langsam und einschläfernd referiert. Ich bin froh, dass ich meine Pflichtfächer bei ihm schon hinter mich gebracht habe.

»Was steht heute bei dir an? Arbeit?«, fragt Reese und deutet auf mein Tablet mit den Notizen. Ihre Finger trommeln gegen die Schale ihres Obstsalats. Am Anfang hat es mich irritiert, aber inzwischen bin ich es gewöhnt, dass Reese ständig in Bewegung ist.

»Bin gerade fertig geworden. Ich dachte, ich nutze die Zeit, um mal wieder ein bisschen an meinen Entwürfen zu feilen. Das kommt in letzter Zeit zu kurz.«

»Dein Modelabel wächst ja nicht von allein«, meint sie und wirft sich schwungvoll eine Traube in den Mund. Dann schnappt sie sich ihre Kopfhörer und setzt sie auf. Ich hingegen schließe meine Notizen und öffne den Entwurf eines Wintermantels: Rot, A-Linie, mit Stehkragen. Mir gefällt die Taillierung nicht, daran muss ich noch arbeiten. Aus Reese’ Kopfhörern dringt leise Rockmusik, und ihre Lippen formen lautlos Texte zwischen den Essenspausen. Dabei tänzeln ihre Finger in der Luft, als würde sie selbst Gitarre spielen, auch wenn sie mir erst neulich verraten hat, dass sie in Sachen Musikinstrumente keinerlei Erfahrungen vorweisen kann. Ich lasse mich von den leisen Melodien und ihrer Energie mitziehen, versuche, mit präzisen Strichen meinen Entwurf zu verbessern und die Passform des Mantels etwas figurbetonter zu gestalten. Immer wieder sehe ich auf, dann treffen sich Reese’ und mein Blick, und wir grinsen uns an.

Als sich Hazel mit Reese angefreundet hat, hätte ich nicht gedacht, in ihr ebenso eine gute Freundin zu finden. Die erste Zeit haben wir kaum miteinander geredet. Erst als Reese herausgefunden hat, dass ich nähe, und ich ihr ein Sweatshirt angefertigt habe, haben wir uns ein paarmal allein getroffen, und sie hat mich mit ihrer Energie für sich eingenommen. Ihr loses Mundwerk bei gleichzeitiger Ernsthaftigkeit, dass sie ständig in Bewegung ist und ich bei ihr das Gefühl habe, mein Ding machen zu können, ohne allein zu sein – all das beflügelt mich. So wie jetzt. Als wir vor ein paar Wochen ausgemacht haben, von nun an mittwochs zusammen zu essen, weil Hazel dann mit Lewis im Forschungslabor ist und sie sonst allein in der Mensa säße, war ich sofort dafür und habe es bisher nicht bereut. Zumal meine Mittagspausen früher oft nur der Arbeit dienten, wenn Jasper mich nicht gerade überredet hat, mit ihm zu essen. Das war vor den Gerüchten, als er die Mensa noch nicht gemieden hat. Meistens saß er dann lässig-locker neben mir und sah mir amüsiert dabei zu, wie ich arbeitete und dabei mein Essen herunterschlang, anstatt es zu genießen. Wie oft hat er mich aufgezogen, weil ich jede meiner Notizen noch mal neu schreibe und verschönere, und dabei grinsend sein Sandwich verzehrt? Ich hätte nie gedacht, dass mir seine Kommentare einmal so fehlen würden. Wobei die entspannten Pausen mit Reese auch nicht zu verachten sind.

Als ich meinen Entwurf speichere und Reese ihre Kopfhörer absetzt, haben wir noch ein paar Minuten, ehe wir zu den nächsten Terminen müssen. Ich leere mein Wasser, Reese streckt sich halbherzig. Obwohl sie so viel Power hat, entdecke ich in ihrem Gesicht eine gewisse Erschöpfung.

»Musst du nachher noch ins Diner?«, erkundige ich mich.

»Leider ja. Momentan schiebe ich fast jeden Nachmittag Schicht.«

»Wird das nicht zu viel neben den ganzen Vorlesungen?«

»Das sagt die Richtige. Du bist doch die Königin der Extra-Arbeit«, zieht sie mich auf, seufzt dann jedoch resigniert. »Aber ja, ehrlich gesagt ist es schon etwas viel. Doch so langsam ist mein Erspartes aufgebraucht.«

»Verstehe«, erwidere ich zähneknirschend. Im Gegensatz zu mir hat Reese kein Stipendium und muss sich das Unileben selbst finanzieren, zumal ihre Mom selbst kaum über die Runden kommt und nichts beisteuern kann. Es ist eine ziemliche Zwickmühle, denn die LBU ist teuer und verlangt viel … aber das zu leisten, wenn man immerzu arbeitet, ist hart. Vor allem im ersten Jahr, wenn man sich noch einfinden muss.

Reese trinkt ihren Kaffee aus. Ihre Finger streichen eine Spur zu nachdenklich über den Rand der Tasse. »Ich dachte, mein Cousin könnte mir mit alten Büchern aushelfen«, sagt sie. Shawn, der selbst auch im Diner arbeitet, ist in Jaspers Jahrgang und somit im dritten Jahr der Uni. Reese’ Mundwinkel zuckt verärgert. »Aber er hat sie schon verkauft. Er hat nicht mal dran gedacht, sie mir zu überlassen.«

»Oh. So ein Mist.«

Reese nickt betrübt. Gerade die Fachliteratur ist unfassbar teuer. Im Stadtarchiv, das gleichzeitig auch die Bibliothek der Uni ist, liegen immer wieder Bücher aus, doch sie sind schnell vergriffen, weil es den meisten Studierenden ohne Stipendium so geht wie Reese.

»Ich kann mal gucken, ob ich noch Bücher von deiner Liste habe.« Als Stipendiatin bekomme ich die Bücher gestellt. Da ich jedoch Umweltmanagement und Reese Umweltwissenschaften studiert, werde ich nicht ihre gesamte Bücherliste abdecken können.

»Wirklich? Das wäre klasse.«

»Klar, mache ich gleich heute.« Ich nehme mein Tablet und ergänze den Punkt auf meiner To-do-Liste. »Ansonsten planen wir auch gerade die Tauschbörse«, fällt mir ein. Ich stecke bereits seit zwei Monaten in der Vorbereitung. Mir schwebt ein Konzept vor wie ein Trödelmarkt, nur dass nichts dort Geld kostet, sondern einfach unter den Studierenden ein neues Zuhause findet. »Da werden sicher auch Bücher angeboten.«

»Das wäre super. Ich habe nämlich langsam keinen Bock mehr darauf, jeden Penny einzeln umzudrehen und Wade ständig nach mehr Extraschichten zu fragen. Er ist ein toller Chef, aber ich fürchte, irgendwann wird er genervt von mir sein.«

»Das kann ich mir bei Wade wirklich nicht vorstellen.« Der Inhaber vom Hopes’ Inn, dem Diner der Stadt, ist so ziemlich der coolste Einwohner von Lullaby. Er ist erst Anfang dreißig und der beste Koch, den ich kenne. Allein das imponiert mir.

Wir beginnen, unsere Sachen einzupacken. Auch wenn mir oft schwerfällt, einen Gang runterzuschalten, die Mittagspausen sind mir dennoch manchmal zu kurz. Es ist so ziemlich die einzige Auszeit des Tages, die ich mittlerweile wirklich genießen kann. Vielleicht auch, weil ich währenddessen zwar dazu neige, kleine Aufgaben abzuarbeiten, diese aber im Vergleich zu den anderen Verpflichtungen des Tages erfrischend und kurzweilig sind. Es ist kein Leerlauf, nur eine kleine Unterbrechung und ein Moment der Ruhe.

»Kommst du mich nachher im Diner besuchen?«, fragt Reese. »Das würde meine Schicht echt aufwerten.«

»Geht nicht. Ich muss zum Tutorenprogramm. Und dann muss ich doch noch zu diesem Interview mit Corey.«

»Stimmt. Die Garten-Fuzzis. Ganz vergessen.«

Wir tragen unsere Tabletts zum Abstellwagen. »Und morgen haben wir diesen geheimnisvollen Termin mit Mr Peterson«, sage ich. Seit er vor drei Tagen um dieses Treffen gebeten hat, frage ich mich, was wohl dahintersteckt. Der Dekan sagt sonst immer direkt, welches Anliegen er hat.

»Hat er euch immer noch nicht gesagt, wieso er euch sprechen will?«, fragt Reese, während wir einigen Leuten ausweichen, um die Mensa zu verlassen.

»Nein, aber wenn er gleich alle von Red zu sich ruft, muss es etwas Wichtiges sein.«

Die Mittagspause der meisten anderen ist noch im vollen Gange. Die Holztische auf dem Außengelände sind jedenfalls noch prall gefüllt mit Kaffee, Cola, Sandwiches und Suppen. In der Ferne entdecke ich Jasper, wie er mit eingezogenen Schultern und gesenktem Kopf das Unigelände überquert.

Reese folgt meinem Blick. »Meinst du, Mr Peterson will noch mal über die Wintergala sprechen?«

»Keine Ahnung«, antworte ich wahrheitsgemäß. So einen Vorfall wie auf der Wintergala gab es vorher noch nie, wer weiß also, wie sauer der Dekan deswegen noch ist. Aber die Strafarbeiten, die Jasper und Lewis von ihm aufgebrummt bekommen haben, haben sie abgesessen und alles getan, was er zur Widergutmachung verlangt hat. Jasper hat eine öffentliche Entschuldigung geschrieben, die beiden Brüder haben sich zur monatlichen Säuberungsaktion im Forest verpflichtet. Eigentlich sollte es reichen, um den Frieden wiederherzustellen.

»Was ist, wenn ihm die bisherigen Strafen nicht reichen, weil der Eklat auf der Gala doch größere Konsequenzen nach sich gezogen hat?«, fragt Reese, die offenbar ähnlichen Gedanken nachgeht wie ich.

Ich runzle die Stirn. »Zum Beispiel?«

Jasper betritt das Gebäude C, wobei ihm jede Menge Augenpaare folgen. Meins auch.

»Vielleicht sind Unternehmen von der Zusammenarbeit zurückgetreten? Oder haben Jaspers Rauswurf aus dem Stipendienprogramm gefordert? Ich weiß, dass ihr viel getan habt, um diesen Spendenabend noch zu retten, aber so viele wichtige Menschen haben die Prügelei mitbekommen. Wenn ich mir allein ansehe, was das Ganze hier auf dem Campus ausgelöst hat …« Reese schaut wütend zu einer Gruppe Studentinnen, die Jasper nachblicken und offenkundig über ihn herziehen. Wir hatten alle gehofft, dass dieses Gerede nur von kurzer Dauer wäre und nach den Winterferien wieder in Vergessenheit geraten würde, aber es hält sich leider noch immer hartnäckig. Vielleicht, weil an der LBU sonst nie wirklich etwas passiert. Lullaby ist die pure Idylle, hier schlägt eigentlich nie jemand über die Stränge.

»Ich hoffe, es geht bei dem Treffen mit Mr Peterson nicht darum. Wir können diesen Stress gerade alle nicht gebrauchen. Am wenigsten Jasper.«

Und ich ehrlicherweise auch nicht. Die letzten Monate waren für mich ein einziger Kampf, an mir, meiner Schlaflosigkeit und meinem ständigen Gedankenkarussell zu arbeiten – mäßig erfolgreich, wie ich feststellen muss. Jaspers Leid zu sehen, mich um ihn und seine Verfassung zu sorgen, macht die Sache nicht gerade leichter. Im Gegenteil, es erschöpft mich zusätzlich.

»Sagst du mir Bescheid, wenn ihr das Gespräch hattet?«

»Klar. Ich schick dir eine Sprachnachricht, sobald wir aus dem Büro kommen.«

»Dann wünsche ich dir viel Erfolg beim Interview nachher. Falls du doch schneller fertig bist und Lust auf eine Cola hast: Du weißt ja, wo du mich findest.«

»Hinter der Theke vom Hopes’ Inn. Dunkelrote Schürze, ein freudestrahlendes Lächeln auf den Lippen?«

»Mach dunkle Augenringe und ein erschöpftes Seufzen draus, das trifft die Realität leider eher.«

»Mal gucken, ob ich’s nachher noch einrichten kann«, sage ich, auch wenn diese Interviews für Red oft so zeitaufwendig und anstrengend sind, dass ich danach meistens erst mal meine sozialen Batterien wieder aufladen muss. Was in einer WG mit drei anderen Menschen ohnehin kaum möglich ist, wenn man nicht gerade nachts die Küche unsicher macht.

Wir verabschieden uns. Reese setzt wieder ihre Kopfhörer auf und tänzelt in Richtung Forschungslabor eins, wo Hazel und sie gleich ihren Kurs in Umweltbiologie haben. Ich hingegen setze mich an einen der Holztische vor Gebäude A, um auf meine Schützlinge aus dem Tutorenprogramm zu warten. Einer nach dem anderen wird kommen, die Köpfe voller Fragen und Unsicherheiten, die mich zumindest für den Moment von meinen eigenen Problemen ablenken. Oder von dem Getuschel über Jasper, das, wenn ich richtig höre, noch immer anhält, auch wenn er seit rund zehn Minuten nicht mehr im Blickfeld der Leute ist. Verdammte Gerüchteküche.

Kapitel 3

Das Büro von Dekan Peterson gleicht einem Dschungel. Überall stehen und hängen Zimmerpflanzen. Eine der Grünlilien hat zehn neue Ableger, die sicher bald von ihm umgetopft und in der Uni verteilt werden. Wenn man ihn mal außerhalb seines Büros sieht, dann eigentlich meistens zur Begutachtung seiner Pflanzenkinder. Doch gerade gilt sein prüfender Blick Jasper, Hazel, Corey und mir. Er sitzt an seinem Schreibtisch aus Nussbaumholz, wir vier davor. Hazel knetet nervös ihre Hände. Da sie erst seit einigen Monaten Stipendiatin ist, hatte sie erst eine Handvoll Treffen mit ihm. Es ist das erste, zu dem wir alle eingeladen wurden.

»Meine Elite«, sagt Mr Peterson erschöpft, lächelt aber dennoch, wie immer, wenn er uns so nennt. Die Uni hat einige Stipendiaten, aber wir von Red, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit und Akquise von Spenden, sind für ihn am wichtigsten. Immerhin wird die LBU größtenteils durch Spenden finanziert.

Sein müdes Lächeln erlischt, dann schüttelt er den Kopf und verschränkt die Arme. »Wo soll ich nur anfangen? Bei den negativen Schlagzeilen nach der desaströsen Wintergala?« Jasper neben mir rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her, doch wir alle vermeiden es, ihn anzusehen. »Oder bei der aktuellen finanziellen Lage? Ich bin ehrlich: Nach der Neuausstattung der Forschungslabore ist der Geldbeutel leer. Auch wenn wir das Spendenziel auf der letzten Gala gerade noch erreichen konnten, sind zwei wichtige Unterstützer abgesprungen, die uns monatliche Beiträge gezahlt haben. Es ist nun umso wichtiger, dass wir uns wieder gut aufstellen.«

Kurz bin ich versucht aufzuatmen, dass es in diesem Gespräch nicht um Jasper geht, aber die Erleichterung will sich nicht richtig einstellen. Die LBU hat Geldsorgen?

»Was sollen wir tun?«, frage ich. Sicher sind wir hier, weil der Dekan bereits Pläne für uns hat.

»Die Vorbereitungen auf unsere Sommergala laufen, die ersten Einladungen wurden bereits ausgesprochen«, sagt Mr Peterson. »Es gibt viele große Unternehmen, die sich hinsichtlich der Klimakrise positionieren wollen, und wir sind bereits dran, diese Interessenten auf Herz und Nieren zu prüfen.« Immerhin ebbt das Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Uni nicht ab. Das macht Hoffnung. »Es wird vermutlich so sein, dass die Spendengala diesen Sommer größer ausfällt als sonst, und ich möchte, dass Sie sich dort besonders engagieren. Wir brauchen einen Plan, wie wir die Spendensumme dieses Jahr in die Höhe schrauben können, und dafür bitte ich Sie, gemeinsam Ideen zu entwickeln und ein Konzept zu erarbeiten.«

Wir vier nicken synchron, das Lächeln von Dekan Peterson wird direkt ein wenig aufrichtiger.

»Sehr schön. Dann sehen wir uns, wenn Sie mir die Ideen präsentieren.«

Er greift nach seiner Kaffeetasse und wendet sich seinem Rechner zu. Sein Zeichen, dass wir gehen können. Es folgen Stühlerücken und betretenes Schweigen. Wir sind gerade an der Tür, als er noch mal die Stimme erhebt.

»Ms Simson«, spricht er mich an, während die anderen bereits das Büro verlassen. »Ich habe heute Morgen den Entwurf Ihres Interviews mit respite