Ardgirvan, eine kleine Stadt an der Westküste Schottlands. Dort leben zwei Brüder, Gary und Lee Irvine: Gary ist einer von Schottlands miesesten Amateurgolfern, Lee einer der untalentiertesten Kleinganoven, bei dem gerade ein folgenschwerer Drogendeal schiefgelaufen ist. Garys Frau Pauline ist in eine Affäre mit dem lokalen Teppichboden-Baron und selbstgemachten Millionär Findlay Masterson verstrickt, der seine Frau nur nicht verlässt, weil er eine ruinöse Scheidung befürchtet. Derweil fürchtet Lee um sein Leben, denn Ardgirvans berüchtigste Verbrecherdynastie, die Campbells, wollen ihr Geld aus dem Drogendeal zurück. Dann wird Gary von einem Golfball am Kopf getroffen und fällt in ein Koma. Als er erwacht, leidet er an einer speziellen Form des Tourette-Syndroms, genannt Klüver- Bucy-Syndrom, das sich unter anderem darin äußert, dass er andauernd öffentlich masturbieren muss. Dafür kann er plötzlich begnadet Golf spielen. Er qualifiziert sich für die Open, wo er sich mit den weltbesten Golfern messen kann, darunter sein großes Vorbild Calvin Linklater. Parallel hat Masterson einen Plan geschmiedet, wie er sich einen teuren Scheidungskrieg vom Hals halten kann. Alles deutet auf einen großen Showdown bei den Open Championships hin.
John Niven, geboren 1966 in Schottland, spielte in den 80er-Jahren Gitarre bei der Indieband The Wishing Stones und arbeitete nach dem Studium als A&R-Manager einer Plattenfirma, bevor er sich 2002 dem Schreiben zuwandte. 2006 erschien sein erstes Buch »Music from Big Pink«. 2008 landete er mit dem Roman »Kill Your Friends« einen internationalen Bestseller, der auch fürs Kino verfilmt wurde. Es folgten zahlreiche weitere Romane, darunter Kultklassiker wie »Coma« oder »Gott bewahre«. Neben Romanen schreibt John Niven Drehbücher. Er wohnt in der Nähe von London.
John Niven
COMA
Roman
Aus dem schottischen Englisch von Stephan Glietsch und Alexander Wagner
btb
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Die Originalausgabe THE AMATEURS erschien 2009 bei William Heinemann, London
Genehmigte Ausgabe April 2024
Copyright © 2009 by John Niven
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: © Shutterstock / PeopleImages.com – Yuri A; samui; HappyAprilBoy
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-32049-2V001
www.btb-verlag.de
Inhaltsverzeichnis
Teil Eins
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Teil Zwei
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Teil Drei
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Teil Vier
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Epilog
Danksagung des Autors
Für meinen Vater, John Jeffrey Niven, und meinen Sohn, Robin John Niven. Zwei Golfer, die sich nie begegnet sind.
»Hier in Schottland war Golf nicht ein Beiwerk des Lebens, es war das Leben selbst, gespielt aus der Mitte des Seins.«
John Updike, »Farrells Caddie«
»Angesichts der nicht zu unterbietenden Würdelosigkeit meiner Tränen, beeilte er sich mich aufzumuntern: ›Ach komm schon, es ist doch nur ein Spiel.‹< Mit gesenkter Stimme, damit die Kinder nichts hörten, antwortete ich: ›Leck mich!‹«
Teil Eins
»Sie träumen in der Zeit des Werbens,
doch erwachen sie in der Ehe.«
1
SOWEIT GARY IRVINE SICH ERINNERN KONNTE, HATTE NOCH KEINER seiner Geburtstage erniedrigender begonnen.
Schmerzhafter schon: beispielsweise sein zwölfter, als seine Eltern ihm den Wunsch nach einem Skateboard nicht erfüllen konnten. Stattdessen hatte sein Vater ihm eines gebaut. Er beklebte eine kurze Planke mit Gummireifenprofil und schraubte die Räder eines alten Rollschuhs auf die Rückseite des Bretts. Ohne die geringste Steuerungsmöglichkeit war Gary die Castleglen-Brücke heruntergebrettert, geradewegs in eine Bushaltestelle, und hatte dabei seine Schneidezähne verloren.
Da waren haarsträubendere Geburtstage gewesen: sein achtzehnter, als er vom Gekreische seiner Mum erwacht war, nachdem sie ihn bewusstlos unten im Hausflur gefunden hatte. Seinen schwankenden Weg von der Haustür bis dorthin markierte eine Spur aus erkaltetem Erbrochenem, und auf seiner Stirn prangte ein krakelig aufgemalter Schwanz mit Eiern, der unmissverständlich deutlich machte, dass er nun das gesetzliche Mindestalter für den Konsum von Alkohol erreicht hatte.
Und es hatte Geburtstage mit mehr Streitereien gegeben: etwa letztes Jahr, als Pauline ihm Egoismus nachsagte, weil er ihre Pläne für einen gemeinsamen Einkaufsbummel in Glasgow sabotiert hatte, um Golf spielen zu können.
Aber der heutige war definitiv der erniedrigendste. Und so war es dazu gekommen:
Pauline hatte früh an diesem Morgen los gemusst, da sie an einer Schule in der Nähe von Cumnock eine Show für ein paar Erstklässler veranstaltete. Obwohl er Geburtstag hatte, war Gary wie üblich vor ihr aufgestanden, um ihr das Frühstück zu bereiten.
Um sechs Uhr dreißig schlüpfte er aus der warmen Geborgenheit des Bettes, und sein Golftraum (ein unter einem leuchtend blauen Himmel schnurgerade dahinfliegender Ball) verpuffte, bevor er sich gähnend und streckend die Treppe herunterquälte. Es war die zweite Aprilwoche, und die Frühlingssonne dämmerte bereits die Westküste Schottlands herauf, malte kraftlose, viereckige Lichtflecken an die Wände.
Als er die Küchentür öffnete, sah er Bens leblosen Körper zusammengesunken in der Ecke liegen – die Schnauze tief in einem Sportschuh vergraben, als trüge er eine Sauerstoffmaske -, und einen kurzen Augenblick lang gab sich Gary der immer wieder erquickenden Vorstellung hin, das Monster wäre über Nacht endlich krepiert. Doch als er sich über ihn beugte, um es zu überprüfen, sah er, dass sich die Flanke des Hundes rhythmisch hob und senkte. Seine hochbetagten, ramponierten Lungen leerten und füllten sich. Bens Hinterbeine zitterten und zuckten, während er seinen Träumen (schrecklichen Ben-Träumen: Flüsse aus menschlichem Blut, Scheißhaufen, groß wie Städte) in die Morgendämmerung nachjagte.
Ben witterte ihn und wälzte sich herum. Obwohl er noch nicht richtig wach war, verzerrte er bereits sein Gesicht zu einer gehässig knurrenden Begrüßung: seine instinktive Reaktion auf die Gegenwart eines jeden Menschen – außer Pauline. Während er sich ein letztes Mal streckte, bevor er vollständig wach war, verschärfte sich sein Knurren, um binnen kürzester Zeit jenen Level bodenlosen Hasses zu erreichen, der ausschließlich Gary, dem Schänder seines Frauchens, vorbehalten war, ehe es schließlich in einer Reihe kurzer, bissiger Kläffer kulminierte.
»Och bitte, halt’s Maul, Ben.«
Ben hörte auf zu bellen. Selbstverständlich nicht aus einem plötzlichen Gehorsamsimpuls heraus, sondern schlicht, um sich voll und ganz darauf zu konzentrieren, Gary zu fixieren; seine Lefzen hochgezogen, das schwarze und pinkfarbene Zahnfleisch und die karamellfarbenen Zähne zu einem drohenden Fletschen entblößt. Schweigend starrten Gary und Ben einander in die Augen, in denen jeder das entdeckte, was auch der andere sah.
Gary sah einen siebzehn Jahre alten Mischling, das Ergebnis der Vereinigung eines Corgis mit einem Border Collie; jener unheiligen Allianz, in deren Schmelztiegel Bens einzigartige »Persönlichkeit« geformt worden war. Das Fell war überwiegend schwarz, mit weißen und hellbraunen Flecken, insbesondere im Gesicht, das halb weiß und halb schwarz war. (Die Farben suggerierten fälschlicherweise ein Yin und Yang der Seele, eine helle und eine dunkle Seite, dabei war da gar kein Yin: Bens Seele war durch und durch Yang.)
Ben war klein oder, besser gesagt, kurz: Er sah aus wie ein normaler Collie, dem man unterhalb der Knie die Beine abgesägt hatte. Seine Augen, ehemals kohlrabenschwarze Teiche, waren von Rissen und Fissuren milchiger Katarakte durchzogen. In diesen Augen erblickte Gary nun das Gesicht eines Schotten, der an eben diesem Morgen dreiunddreißig Jahre alt geworden war. Er hatte einen dichten, jungenhaften Schopf rotbraunen Haares und rostfarbene Flecken in seinem Stoppelbart (in der Schule hatten sie ihn eine »Halbkarotte« genannt). Garys Augen waren blau und klar, die Augen eines Mannes, der jeden Morgen seine fünf Kilometer lief und nur selten Alkohol trank. Er besaß ein jugendliches Äußeres, obwohl er letztens, in den Vertiefungen neben seinen Nasenlöchern und in der Falte unter den Tränensäcken, vereinzelte Poren entdeckt hatte, die große Mengen wächsernen Eiters enthielten; ein posthumes Vermächtnis seines Großvaters, der zu seinen besten Zeiten ein Golfer mit Handicap zwei gewesen war und diesen Sommer bereits dreizehn Jahre unter der Erde lag.
Mensch und Bestie verharrten noch einen kurzen Augenblick Auge in Auge – beide schienen damit zu rechnen, dass jede Sekunde neue Kämpfe ausbrechen würden -, bevor Gary die Hintertür öffnete und den Hund mit viel Mühe in den Garten bugsierte. Ben kam natürlich gar nicht bis zum Rasen, sondern pinkelte fröhlich drei Fuß von der Tür entfernt auf die Terrasse, sein hechelndes Gesicht in den Urindampf getaucht.
Es folgte das Ritual: Paulines Porridge.
Der Haferbrei war das Produkt intensiver Arbeit und großer Erfindungsgabe. Er wurde mit Milch gemacht und ganz genau dreieinhalb Minuten in der Mikrowelle erhitzt. Diese Zeitspanne garantierte die exakt richtige Konsistenz des Haferschleims und war das Ergebnis ausgiebiger Forschungs- und Entwicklungsarbeit, zu der Gary sich bemüßigt gesehen hatte, nachdem Pauline zu Beginn ihrer Ehe zahlreiche Schüsseln mit zu flüssigem oder zu festem Haferbrei keines Blickes gewürdigt hatte.
Gary stand in Boxershorts und einem uralten Stone-Roses-T-Shirt in der langsam wärmer werdenden Küche, lauschte dem Summen der Mikrowelle und dem Rumpeln des Teekessels. Vor einem Jahr hätte er an dieser Stelle noch im Garten gestanden. Der Ausbau von Küche und Esszimmer – Paulines Projekt – war gerade erst beendet worden. Lange nach Plan und weit über Budget.
Sie waren vor fünf Jahren in die kleine Neubausiedlung gezogen, die sein Bruder als »Tal des Büchsenfleischs« bezeichnet hatte. Es war ein Spottname der Einheimischen, der darauf abzielte, dass die Deppen, die sich so ein Haus gekauft hatten, von Fleisch in Dosen leben mussten, um die Raten abstottern zu können.
Das Haus war brandneu. Ihre Streitereien waren die ersten gewesen, die innerhalb dieser Wände stattfanden; ihr Sex der erste, den der grau melierte Teppichboden aushalten musste. (Wann war das zum letzten Mal passiert?)
Die Mikrowelle klingelte. Er nahm die blubbernde Schüssel heraus und fügte Bananenscheiben, Blaubeeren und kleingeschnittene Erdbeeren dazu. Während die Früchte in dem grauen Treibsand versanken, gab er einen Spritzer Ahornsirup hinein. Nicht mehr als einen Spritzer. Pauline wollte bloß einen Nachhall von Süße. Was sie – ausdrücklich – nicht wollte, war, fett zu werden. Ein Großteil ihrer Lektüre und der verbissene Blick, mit dem sie die Ausgaben von Babe! oder Hot! oder den Frauenteil des Daily Standard – »Schottlands freundlichste Tageszeitung für die ganze Familie!« – durchleuchtete, diente ausschließlich der Vermeidung von Fettleibigkeit.
Während er den Porridge vorbereitete, ließ er Paulines Tee ziehen; auch das unter Verwendung eines ausgeklügelten Verfahrens. Die Verweildauer des Teebeutels in der Tasse betrug mindestens drei und höchstens fünf Minuten. Danach wurde er sorgfältig wieder herausgenommen, wobei er keinesfalls gegen die Tassenwand gepresst werden durfte, da es sonst zu einer »Quetschung« des Tees kommen konnte.
Gary Irvine führte diese Aufgaben mit der Beflissenheit und Gewissenhaftigkeit eines Mannes aus, der inständig auf baldigen Vollzug des ehelichen Geschlechtsverkehrs hoffte.
Bevor er das Tablett nach oben brachte, ging er in den Garten, um Ben reinzuholen. Bis zum hinteren Teil des Gartens waren es von der Küchentür aus etwas mehr als vierzig Meter. Von seinem Standort ein Half Shot mit dem Sand Wedge (möglicherweise wäre ein Pitch and Run mit dem Eisen sieben auch die bessere Wahl: Es war ein Percentage Shot, ein Schlag mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit). Da der Hund nahezu völlig taub war, machte sich Gary gar nicht erst die Mühe, nach Ben zu rufen, obwohl er argwöhnte, dass das Tier in Wahrheit bloß selektiv hörte: Das Rascheln einer Keksverpackung oder eine Styroporschale mit Fleisch, die auf dem Küchentresen quietschte, lockte das Mistvieh noch aus einem Kilometer Entfernung an. Aber wenn Ben Aktivitäten nachging, die ihm Freude bereiteten – fressen, schlafen, den delikaten Geruchsregenbogen im Anus eines anderen Hundes erforschen -, konnte man seinen Namen aus einem Meter Entfernung brüllen, und er hörte keinen Mucks.
Das Gras unter Garys nackten Füßen war kalt, als er sich in den beiden Nachbargärten umblickte. In beiden lag leuchtend buntes Kinderspielzeug herum: Trecker, Dreiräder und große Wasserpistolen aus gelbem, pink- und orangefarbenem Plastik, die heutzutage eher wie Panzerfäuste aussahen. In ihrem Garten gab es kein Spielzeug.
Dieses Jahr, das hatte sie ihm versprochen.
Er näherte sich dem Hund von hinten und entdeckte, dass Ben sich tatsächlich gerade mit einer seiner Lieblingsbeschäftigungen vergnügte: Der schwarze Klumpen eines saftigen Scheißhaufens, auf dem er gerade herumkaute, fiel ihm aus dem Mund, als sich das Viech herumdrehte, um Gary zu begrüßen.
»O Gott!«, würgte Gary. »Oh du … du Tier!« Er rannte zurück zum Haus, während Ben im breitesten Hundeschottisch hinter ihm her kläffte: »Hey, was is’n dein Problem, Sackgesicht? Kein Bock auf’n leckres Stück Frühstückskacke? Nee? Na, dann verpiss dich doch!«
Pauline saß bereits an ihrem Frisiertisch. In ein beiges Handtuch gewickelt, war sie mit Glätteisen und Haarbürste beschäftigt. Sie hatte schon geduscht. Ihr nach hinten gestrichenes Haar hatte die Farbe von Milchschokolade und verlieh ihr ein geschmeidiges, otterartiges Aussehen. Als er das Tablett neben ihr absetzte und sich vorbeugte, um ihr die Wange zu küssen, roch er Apfel, Vanille, Teebaum, Brombeere, Ginseng, Limone und was die Öle, Cremes, Conditioner und Gels, für die Pauline ein kleines Vermögen ausgab, sonst noch an Düften verströmten. (»Um Himmels willen«, hatte seine Mutter einmal gesagt, während sie die Reihen von Tuben, Dosen und Flakons in ihrem Badezimmer unheilvoll musterte, »das sieht ja aus hier, als wollte das Mädel’ne verdammte Drogerie bei euch aufmachen!«) Während er auf die schweren, straff in das Handtuch gewickelten Brüste seiner Frau herabstarrte, bemerkte Gary, dass die Erektion zurückkehrte, die ihn in der Nacht geweckt hatte.
»Happy Birthday«, gurrte Pauline, erwiderte sein Küsschen und gab ihm einen violetten Umschlag. In ihrer mädchenhaften Schrift (der kleine Ballon über dem »i« seines Nachnamens) hatte sie darauf seinen vollen Name geschrieben, und Gary erinnerte sich vage an den Kitzel, den er verspürt hatte, als er ihre Handschrift vor fünfzehn Jahren auf einer Karte zum Valentinstag zum ersten Mal gesehen hatte. Auch an den Kitzel, den er empfunden hatte, als er sie zum ersten Mal sah: Arm in Arm kam sie mit zwei Freundinnen aus dem Schulgebäude. Pauline Shaw. Die Maikönigin. Gerade mal vierzehn Jahre alt, diente sie Garys Mitschülern in der fünften Klasse bereits als Vorlage für äußerst kreative Selbstbefriedigungspraktiken.
»Oh, danke, Schatz. Um wie viel Uhr musst du in der Schule sein?«, fragte er und bemühte sich, es so lässig wie möglich klingen zu lassen, sprang zurück ins Bett, stopfte sich eine Scheibe Toast in den Mund und riss mit dem Daumen den Umschlag auf.
»Halb neun. Bitte pass mit dem Toast auf. Nicht, dass die Bettwäsche gleich voll Butter ist.« Die neue Bettwäsche von diesem Designerladen in Glasgow, auf den sie so stand.
»’tschuldigung.« Er legte den Toast auf die eselsohrige Ausgabe von Dr. Ted Alabasters Putting: Das geheimnisvolle Spiel, die auf dem Nachttisch lag, und sah auf die Uhr: zwei Minuten nach sieben. Dreißig, vierzig Minuten Fahrt bis Cummock, sie hatte bereits geduscht … mehr als genug Zeit.
Er zog die Karte heraus. Eine Fotografie, schwarz-weiß, aus den Fünfzigern, von einem küssenden Paar auf einer eisernen Brücke in irgendeiner europäischen Stadt. Genau so eine Karte, wie Pauline sie immer auswählte: stilvoll, aber einen Tick zu prätentiös. Drinnen befand sich eine handgeschriebene Botschaft (»Alles Liebe zum Dreiunddreißigsten! Von ganzem Herzen, Pauline xxx«) und sein Geschenk: ein Gutschein über einhundert Pfund bei Oklahoma Dan’s Discount Golf World, dem neuen Mega-Golfshop an der Umgehungsstraße.
»Dafür bekommst du doch was Schönes, oder? Für dein geliebtes Golfen? Ich hab ja keine Ahnung, was du brauchst.«
»Aye, toll, das ist fantastisch. Komm her …« Als sie den Raum durchquerte, streckte er die Arme nach ihr aus. Pauline küsste ihn sittsam auf die Stirn, und noch bevor er ihr das Handtuch herunterreißen konnte, wirbelte sie außer Reichweite, den Flur herunter, in Richtung Badezimmer.
Pfui. Nicht betteln. Runter mit dem Pfötchen.
Er zog sein T-Shirt aus, hob mit einer Hand die Bettdecke und mit der anderen den Gummizug seiner Boxershorts. Heilige Scheiße, sieh sich das einer an. Hart wie das Leben. Plötzlich musste er niesen, und die Schnodderwolke regnete kribbelnd und glitzernd auf seinen fast nackten Körper herab.
Jetzt denk mal einen Augenblick an was anderes.
Er griff nach der Fernbedienung und zappte durch die Kanäle, bis der Bildschirm in einem vertrauten Grün leuchtete und er das wohltuende Geräusch vernahm, das erklingt, wenn Metallschläger einen Hartgummiball mit Kunststoffschale treffen: Golf Network, eine Vorschau auf die nächste Woche beginnenden Masters. Von bewegender, dramatischer Musik unterlegt, fuhr die Kamera über die saftig grünen Fairways und den reichen Baumbestand des Augusta National Golf Club in Georgia (zweifellos der fotogenste Golfplatz der Welt), und eine Stimme mit amerikanischem Akzent sagte: »… wo die besten Spieler der Welt abschlagen werden, um im ersten Major-Turnier des Jahres gegeneinander anzutreten.« Es folgte eine kurze Filmmontage von einigen der ganz Großen des Sports – Brett Spafford, Torsten Lathe, James Honeydew III, Drew Keel -, bevor der Kommentator eine dramatische Pause einlegte, »… darunter auch, nach seinem zehnten Meistertitel strebend …«, trompetete seine Stimme, während das Porträt eines Mannes den Bildschirm füllte.
Eines Mannes? Des Mannes. Des großen Mannes. Des Don.
»… die Nummer eins der Welt … Calvin Linklater.«
Calvin scheißenochmal Linklater.
Es folgte ein Foto von Linklater, wie er letzten Sommer in St. Andrews ein Eisen durch dichtes Rough drischt, gerade im Begriff, die Open zum zweiten Mal in Folge zu gewinnen. Gary war unter den Zuschauern gewesen und einmal war es ihm sogar gelungen, nah genug ans Absperrband heranzukommen, um Linklater »Du schaffst es, Großer!« zuzubrüllen, als dieser vorbeischlenderte. Gary spürte den vertrauten Schauder der Ehrfurcht, der ihn jedes Mal überkam, wenn er seinem großen Helden bei der Arbeit zusah. Denn Linklater war für Gary nicht bloß ein Mann. Er war ein Gott.
Sie waren gleich alt.
Sie hatten beide mit dem Sport angefangen, als sie fünf Jahre alt waren. Ihre Väter hatten es ihnen beigebracht.
Sie spielten beide mit Spaxon-Bällen.
Sie waren beide Golfer. Gary war sogar nach einem Golfer benannt worden: dem großen südafrikanischen Pro Gary Miller. Sein überwältigender Sieg bei den 1974er-Open von Royal Lytham & St. Anne, wo das schwarz gekleidete Energiebündel das Turnier vom ersten Tag an dominierte, hatte seinen Vater haltlos begeistert.
Eigentlich war es ein wenig irreführend, zu behaupten, Gary und Linklater seien beide Golfer. Man könnte genauso gut sagen, Jimi Hendrix und irgendein dahergelaufener Straßenmusikant, der einer verstimmten Akustikgitarre die drei Akkorde von »All Along The Watchtower« abringt, wären beide Musiker. Linklater war eine Golfmaschine. Der jüngste Major-Sieger aller Zeiten. Unbestreitbar der beste Putter in der Geschichte des Sports. Besitzer des geschmeidigsten, makellosesten Schwungs seit Ben Hogan. Eines Schwungs, der ihm im Lauf seiner Karriere über fünfzig Millionen Dollar an Preisgeldern und ein Vielfaches an zusätzlichem Einkommen sowie neun Major-Titel beschert hatte.
Garys Handicap lag bei achtzehn. Er war in der Lage, Sechzig-Zentimeter-Putts routiniert zu versemmeln, und man konnte immer, wirklich immer, mit ihm rechnen, wenn es darum ging, in einer kritischen Situation zu versagen. Hätte er für jedes Mal, wenn er die Worte »Sorry, Partner« sprach, zehn Pence bekommen, er wäre längst reicher als Linklater. Garys Schwung war so fürchterlich, dass sich viele Golfer im Club weigerten hinzusehen, aus Angst sie könnten durch die unzähligen Fehler kontaminiert werden. Dieser Schwung, so sagten sie, beinhalte mehr todtraurige Momente als Zeit der Zärtlichkeit, und er hatte ihm, neben einem Kugelschreiber und einem einzelnen Golfball (jeweils symbolische Auszeichnungen, die vor zwanzig Jahren jedes Juniormitglied des Clubs bekommen hatte, das sich, trotz eines schrecklichen Sturzregens, nicht davon hatte abbringen lassen, um die Juniorenplakette zu spielen), mehr Leid eingebracht, als ein Mensch eigentlich ertragen konnte. Linklater war einer dieser Auserwählten, die bei ihrer Geburt von den Golfgöttern mit Talent überschüttet worden waren. Gary dagegen war einer jener Unzähligen, für deren Folter und Pein die Golfgötter offensichtlich ihre komplette Unsterblichkeit geopfert hatten.
Während er im Bett lag und den Ausführungen des Kommentators zuhörte, wer in Form war und wer nicht, wer sich mit welchen Greens schwertat und so weiter, fiel Gary auf, dass er unbewusst seinen Schwanz massierte und seine Erektion inzwischen qualvolle Ausmaße angenommen hatte. Urplötzlich überkam ihn ein Anflug von Panik. Was, wenn sie …?
Nein. Niemals. Heute war sein Geburtstag! Das würde sie nicht …
Er konnte hören, wie das Gebläse des Föhns vom Brummen der elektrischen Zahnbürste abgelöst wurde – die morgendliche Symphonie von Paulines Gerätschaften – und dachte: Lass es bloß nicht zu spät werden.
Summend kam Pauline zurück ins Schlafzimmer, ging zur Kommode in der Ecke, zog eine Schublade auf und ließ ihr Handtuch fallen. Wie sie es in solchen Momenten immer taten, formulierten Garys Gedanken etwas in Richtung »Wie habe ich das jetzt wieder gemacht?«
Pauline war hochgewachsen – ein paar Zentimeter größer als Gary – und für jemanden von der Westküste Schottlands ziemlich dunkelhäutig, was auf eine italienische Großmutter mütterlicherseits zurückzuführen war. Ihre Nasenspitze hatte einen leichten Aufwärtsdrall in Form eines kleinen Knubbels, in den Gary vernarrt war, den seine Besitzerin aber als Makel betrachtete. Ihre braunen Augen waren von kleinen, mintgrünen Splittern durchsetzt. Weiter abwärts, auf ihren Brüsten – größer und schwerer als ihr schlanker Körper es erwarten ließ -, thronten zwei schimmernde Mahagoni-Nippel. Sein Blick glitt weiter, über ihren Bauch, der dank zahlloser Stunden im Fitnessstudio – oder im zweiten Schlafzimmer, mit Hometrainer und Gewichten – flach und definiert war, die langen, aufgrund des monatlichen Waxings, stets glatten Beine hinab. Aber es war Paulines Hintern, der allem und jedem die Show stahl. Er stach so markant hervor, dass es fast schon unnatürlich wirkte. »Himmel, Arsch und Zwirn«, hatte Gary im The Annick einmal einen Typen zu einem Kumpel sagen hören, als Pauline auf dem Weg zur Damentoilette an den beiden vorbeischarwenzelte, »da könnte man ja sein Bier drauf abstellen.« Gary war von überaus reinem und bescheidenem Wesen. So etwas wie Eifersucht war ihm vollständig fremd. Dementsprechend verspürte er keinen Groll, sondern bloß milden Stolz, wenn Fremde den Körper seiner Frau begafften und kommentierten.
Er sah ihr zu, wie sie sich ein lichtdurchlässiges, champagnerfarbenes Höschen überstreifte. »Bleibt es dabei, dass du mit deiner Ma zum Lunch gehst?«, fragte Pauline, während sie ihm den Rücken zuwandte.
»Jaja. Wir gehen in den Pepper Pot.«
»Nett.«
»Ähm, Pauline …«, sagte Gary, mit belegter Stimme.
»Mmmmm?«, brummte sie, ohne sich umzudrehen.
»Pauline?«
Sie drehte sich zu ihm um, barbusig, ihre Daumen schnappten aus dem Bund ihres Höschens, als Gary verlegen grinsend auf den leeren Platz neben sich im Bett klopfte.
»Oh«, sagte Pauline.
Oh? Was heißt hier oh?
»Nun versteh doch«, sie angelte einen BH aus der Schublade, »ich hab keine Zeit.«
»Aber … es ist erst halb acht! Es wird dich nicht länger als …«
Sag nicht »ich hab Geburtstag«, sag nicht »ich hab Geburtstag« …
»Es wird nicht lange dauern«, sagte er stattdessen.
»Prima«, antwortete Pauline rundheraus. Sie hatte jetzt ihre funkelnde grüne Strumpfhose an und zog sich das grün funkelnde Tutu über.
»Aber …«
»Hör mal, heute Abend werden wir …«
»Aber … ich hab Geburtstag.«
Während sie mit den Füßen in ihre grünen Filzpuschen schlüpfte und nun von Kopf bis Fuß aussah wie die grüne Fee Tinkerbell, warf Pauline ihm einen Blick zu wie eine enttäuschte Schulleiterin einem unbelehrbaren Missetäter nach einer weiteren Verfehlung. Und erklärte dann: »Ich wusste, dass du das sagen würdest.«
»Alles klar«, erwiderte Gary.
»Oh, hör schon auf zu schmollen. Heute Abend. Versprochen.«
Das Trippeln von Pfoten auf Holzbohlen. Ein tiefes Knurren. Dann schleppte Ben sich ins Schlafzimmer. »Ahhh, hallo mein Junge! Hallo!« Pauline kniete sich hin, um Ben zu begrüßen. »Komm her! Komm her!« Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Nacken, liebkoste ihn und quietschte entzückt auf, als seine Zunge über ihr Gesicht schlabberte.
Gary liebte seine Frau, das tat er wirklich. Aber in diesem Moment, als er da verlassen und seines Geburtstags beraubt im Bett lag, während sich eine schmerzende Erektion gegen seinen Bauch presste und ein krankhaftes Verlangen völlig nutzlos durch seine Venen strömte, konnte er nicht verhehlen, dass er es ein wenig genoss, seiner Frau dabei zuzusehen, wie sie mit einem Hund Zungenküsse austauschte, der gerade einen großen Scheißhaufen gefressen hatte.
»Mist, ich bin spät dran«, sagte Pauline. »Ich seh dich heute Abend. Mach’s gut.« Es folgten ihre Schritte auf der Treppe, Ben, der hinter ihr her polterte, die Haustür, die ins Schloss fiel, ihre Schritte auf dem Kies, das Zuschlagen der Autotür, und sie war verschwunden.
Gary sprang aus dem Bett. Er huschte nackt hinüber ins zweite Schlafzimmer (»home gym« am Arsch) und zog die dritte Schublade des metallenen Aktenschranks auf. Er hatte den Stapel Golfmagazine schon halb durch, als er endlich die zerknitterte Ausgabe von Spank Sluts fand. Zurück ins Bett, jetzt auf Autopilot, durchblättern bis Seite 32: eine Blondine in Reitausrüstung, zurückgelehnt auf einem Heuballen. Die Reiterhose auf den Knien und die Bluse aufgerissen, zerrt sie mit der einen Hand gierig eine enorme Brust zum Mund. Hey ho, let’s go.
Offensichtlich hatte er sich so hineingesteigert, dass es überhaupt keiner Pornographie mehr bedurfte. Bereits nach etwa zwanzig Sekunden kitzelten seine Eier an seinen Lungen und strebten noch weiter gen Norden. Seine Zehen krallten sich ins Laken, als er spürte, wie der Samen – und das war nicht irgendein Sperma, dieses Zeug kam aus seinem tiefsten Inneren, schweres Sediment, ganz unten vom Hodenboden – in die Schaftwurzel gepumpt wurde. Hey ho, let’s g -
Scheiße! Die neue Bettwäsche.
Die Hand um seinen zuckenden Dödel geklammert, als wäre er ein entsicherter nuklearer Sprengsatz, suchte er fieberhaft das Bett nach etwas ab, irgendetwas in Reichweite seines Arms, das sich zum Auffangen missbrauchen ließe. Nichts. Weder ein Taschentuch noch eine Socke oder eine Unterhose. Sein Blick wanderte durch die offene Schlafzimmertür über den Flur ins Badezimmer. Da: der weit geöffnete, willige Schlund der Toilettenschüssel.
Vorsichtig hievte er sich aus dem Bett und schlich Richtung Tür. Schon der Flügelschlag eines Schmetterlings, bis zu zehn Zentimetern von seiner Eichel entfernt, würde ausreichen, und auf der Stelle wäre alles vorbei. Er überquerte den Flur. Zu seiner Rechten führte eine kurze Treppe direkt runter in die kleine Diele und zur Haustür. Als er dort vorbeischlurfte – nackt, den knochenharten Schwanz in der Hand -, hörte er das Scheppern des Briefkastens und blickte in den Hausflur hinunter.
Dort stand der Postbote und schaute durch das seitwärts an der Tür entlanglaufende Glaspaneel die Treppe herauf. Als sich ihre Blicke trafen, blieb Gary wie angewurzelt stehen.
Garys Faust zuckte unwillkürlich.
Der Flügelschlag eines Schmetterlings.
Gary schloss die Augen und erschauerte, als er fühlte, wie die warme Flüssigkeit auf seinen rechten Fuß tropfte.
Wichsend vom Postboten ertappt? Nein, streich das: Ejakulierend vom Postboten ertappt!
Das war definitiv der erniedrigendste Auftakt zu einem Geburtstag, an den sich Gary Irvine erinnern konnte.
2
PAULINE HATTE ES EILIG. MIT üBERHöHTER GESCHWINDIGKEIT fuhr sie erst auf die Umgehungsstraße, die in einem Bogen um das Stadtzentrum von Ardgirvan führte, und dann südwärts, in Richtung der nächstgrößeren Stadt, Kilmarnock. Sie schaltete vom vierten in den dritten Gang zurück, um einen bummelnden Rentner zu überholen. Als sie beim Beschleunigen zum wiederholten Male feststellen musste, dass aus der schwächelnden Maschine des Jeeps nicht mehr herauszuholen war, und dass die Lautstärke beim Durchtreten des Gaspedals unproportional zur Geschwindigkeit zunahm, begann sie den Wagen zu verfluchen: »Jesus, wie ich diese Dreckskiste hasse.«
Pauline war Ardgirvanerin in der ersten Generation. Sie hatte hier das Licht der Welt erblickt, kurz nachdem ihre Eltern Mitte der Siebziger in die Stadt gezogen waren. Im Gegensatz zu Gary, dessen Wurzeln vermutlich bis zum ersten Bauern zurückreichten, der jemals diesen kargen Boden hier bebaut hatte.
Der überwiegende Teil der Historiker von Ardgirvan – eine so seltene, wie obskure Zunft – tendierte dazu, die Entwicklung der Stadt in zwei relevante Phasen aufzuteilen: die Zeit vor und jene nach dem Bau der Neustadt. Die ältesten Straßen und Gebäude ließen sich bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückdatieren, als die Stadt noch ein geschäftiger Hafen im Dienste Glasgows war, das rund fünfzig Kilometer die Küste rauf lag. Später, als Glasgow unter den Viktorianern prosperierte, diesen gerissenen Tabakbaronen, Zuckerlords und Gewürzdons, da wuchs und gedieh auch Ardgirvan. Im Stadtzentrum überspannte eine schöne schmiedeeiserne Brücke den namensgebenden Fluss Ardgirvan, und hohe, reich verzierte Gaslaternen warfen orange-gelbe Lichtkegel über die breiten Avenuen und gepflasterten Straßen. Im Hafen wurden große Schiffsladungen voller Kohle und Holz von den örtlichen Minen und Sägewerken verladen und über das Wasser nach Norden, zu den Werften am Clyde, transportiert, wo die großen Schiffe gebaut wurden.
Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gestaltete sich für den Ort zwar durchwegs mühsamer – für wen tat sie das nicht -, aber die Bürger kamen halbwegs zurecht. Nach dem Zweiten Weltkrieg explodierte der soziale Wohnungsbau. Braune Rauputz-Reihenhäuser schossen aus dem Boden, mit winzigen quadratischen Gärten dahinter, in denen die Veteranen Karotten züchteten. Dann, 1966, wurde Ardgirvan zum Standort von Schottlands jüngster Trabantenstadt auserkoren: eines dieser Gussbetonparadiese, entworfen, um die Überbevölkerung in den Großstädten in den Griff zu kriegen. Für den Ausbau des Straßennetzes, der Kreisverkehre und Umgehungsstraßen, fielen Hunderte Morgen Wald und Wiesen den stählernen Ketten der Bagger zum Opfer. Erneut schlug der soziale Wohnungsbau zu, diesmal in Form von Reihenhausblöcken, weiß wie Pfefferminzdragees, die um die ehemaligen Außenbezirke der Stadt herum hochgezogen wurden. Mit staatlichen Geldern wurden Gewerbegebiete erschlossen, um jene Unternehmen zu beherbergen, von denen sich die Stadtväter erhofften, dass sie nun – angezogen von den günstigen Mieten, billigen Arbeitskräften und auf der Welle des ökonomischen Booms der Mittsiebziger reitend – in die Stadt strömen würden. Richtung Glasgow erging die Aufforderung, die armen, in Elendsvierteln zusammengepferchten Arbeitermassen nach Ardgirvan die Küste herunter und einem besseren Leben entgegenzuschicken.
Und die Menschen aus Glasgow kamen tatsächlich. Doch der wirtschaftliche Aufschwung der Mittsiebziger schien nicht gewillt, Ardgirvan seine Aufwartung zu machen, und entschied sich dafür, ausgerechnet diese Party auszulassen. Statt des geschäftigen Klanges prosperierender Unternehmen hallte schon bald das Splittern von Glas, das Knistern der Klebstofftüten und das Zischen von Spraydosen durch die leerstehenden Gebäudekomplexe der Gewerbegebiete. Die Vandalen ließen es sich in ihren neuen Spielplätzen gutgehen. Doch Ende der Siebziger, als die kleine Pauline gerade ihre ersten Schritte machte, geschah etwas völlig Unerwartetes. Gary, zwei Jahre älter als Pauline, konnte sich jedenfalls noch dunkel daran erinnern, seine Ma sagen zu hören, dass es vielleicht mal eine »nette kleine Abwechslung« sei, einen weiblichen Premierminister zu haben.
Allzu lange behielt sie diese Überzeugung nicht bei.
Garys Ma hatte einen verklärten Blick auf die Geschichte der Stadt: Ging es nach ihr, so war Ardgirvan einst eine idyllische Küstengemeinde voller glücklicher Hobbits gewesen, die einander kannten und vertrauten. Ein Ort, an dem man Tür und Fenster offen ließ, wenn man in die Ferien fuhr – vermutlich, so dachte Pauline, damit die Nachbarn vorbeischauen können, um deine blühenden Geldbäumchen zu gießen -, und wo es weder Armut noch Gewalt gab. Nach einer harten Woche in den Minen oder im Holzfällerlager tranken die Männer freitagabends im Pub zwei Bierchen, bevor sie zu ihren treuen Eheweibern und glücklichen Kindern heimkehrten. Kindern, die lachend durch sonnendurchflutete Waldlichtungen sprangen, und deren vereinzelte Apfeldiebstähle die einzigen bekannten Verbrechen in diesem Garten Eden waren.
Doch dann kamen die Leute aus Glasgow.
Und mit ihnen kamen Messer, Schusswaffen, Drogenhandel, Bandenkriege, Prostitution, Kampfhunde, Aids, Glücksspiel, eingeschlagene Schaufenster, Graffiti, Straßenraub, indische Restaurants, Horrorfilme, Treibhausgase, Stromausfälle, die Dreitagewoche, Arbeitslosigkeit und Pädophilie.
Welche Überlebenschance hatten die Hobbits schon gegen diese Wilden?
Auch wenn sie sich aus ganz anderen Quellen speiste, so war Paulines Abneigung gegenüber der Neustadt von Ardgirvan dennoch die einzige Gemeinsamkeit, die sie mit ihrer Schwiegermutter besaß. (Gary dagegen liebte es, in diesem golfverseuchten Streifen Ayrshires zu leben, der sich von Largs im Norden bis nach Ayr im Süden erstreckte.) Pauline, die einst Maikönigin war. Wimpel, Luftschlangen und Girlanden hatten das Haus ihrer Eltern geschmückt. In der Lokalzeitung waren Artikel über sie erschienen. An ihrem großen Tag hatte sie am Kopf eines prachtvollen Umzugs in einer Droschke gethront und majestätisch der Menschenmenge zugewunken, die sie auf ihrer königlichen Kutschfahrt bejubelte und fotografierte. Als dann die Blitzlichter in den Frühlingshimmel prasselten, fühlte sich die vierzehnjährige Pauline für die Dauer dieses einen glorreichen Nachmittags, als befände sie sich im Mittelpunkt des Universums. Ganz genau dort also, wo sie hingehörte. Und vor ihr tat sich eine glitzernde Zukunft auf, wie ein von einem prächtigen Feuerwerk erleuchteter Pfad aus Diamanten.
In letzter Zeit hatte sie sich eher nicht mehr so gefühlt.
In letzter Zeit, wenn sie durch Babe! und Hot! blätterte und diese Frauen sah – Frauen, die weder attraktiver, noch intelligenter oder ehrgeiziger waren als sie, in Klamotten, die mehr kosteten als ihr Auto (ihre dämliche Mistkarre), mit eigens für sie designten Parfüms, sündhaft teuren Handtaschen, ihren Erste-Klasse-Flügen und Silikon-Dekolletés -, da war in Pauline so ein merkwürdiges Gefühl erwacht. Es war nicht direkt Eifersucht oder Habgier. Sondern etwas, das eher in Richtung panischer Schrecken tendierte.
Wie sollte sich all das jemals für sie erfüllen? Hier? In Ardgirvan?
Als sie in die zweispurige Straße einbog, tuckerte ein Umzugslaster an ihr vorbei. Umzugslaster lösten bei Pauline ein gewisses Unwohlsein aus. Zum ersten Mal hatte sie mit zehn Jahren einen gesehen. Er hatte vor ihrem Haus gehalten, und die Männer hatten begonnen, Sachen einzuladen. Aber ihre Familie war gar nicht umgezogen. Pauline weiß noch, dass ihre Mama geweint und versucht hatte, die Männer aufzuhalten. Alles hatte irgendwie mit dem Geschäft ihres Vaters zu tun gehabt. Das war Jahre, bevor Pauline die ganze Geschichte erfuhr. Bevor sie das Wort »bankrott« hörte.
Sie hatte kaum Erinnerungen an den Gary ihrer gemeinsamen Schulzeit. Er war bloß einer dieser älteren Jungs gewesen, deren unsichere Blicke sie umschwirrten, wenn sie den Schulflur entlangging. Zum ersten Mal aufgefallen war er ihr im Annabel’s, der örtlichen Disko. Damals hatte er bereits die Schule verlassen und arbeitete bei Henderson’s. Er hatte den ganzen Abend über nichts getrunken. Er konnte noch fahren. Es war das erste Mal, dass ein Junge sie in seinem eigenen Wagen nach Hause brachte. Einen Wimpernschlag später war sie einunddreißig Jahre alt, besaß keinerlei vermarktbare Fähigkeiten, und war mit einem Mann verheiratet, der in absehbarer Zeit wohl kaum ein sechsstelliges Jahresgehalt mit nach Hause bringen würde. Sie war die Maikönigin gewesen und nun würde sie den Rest ihres Lebens in einem hässlichen kleinen Haus verbringen, Gebrauchtwagen fahren und – wenn alles gutlief – zweimal im Jahr Urlaub machen.
Also hatte Pauline Kiddiewinks gegründet: die »Nummer 1 unter North Ayrshires Kinder-Event-Agenturen«, wie ihre Annonce in den Gelben Seiten stolz verkündete. Sie war bei Freunden auf der Party für deren Fünfjährigen eingeladen gewesen und hatte dort zufällig mitbekommen, was die für den Kretin bezahlten, den sie engagiert hatten, um Ballontiere zu knoten und den Kindern Geschichten zu erzählen. In ihren Augen war es sehr viel Geld gewesen. Pauline hatte sich vorgestellt, die Firma aufzubauen, um sich nur noch um die Administration zu kümmern, sobald der Zaster zu fließen begann. Letzteres war bisher leider noch nicht der Fall. Alleinunterhalter für Kinder waren rar gesät, und es schmälerte Paulines Gewinnspanne empfindlich, sie zu bezahlen. Also bestand das Geschäft im Moment bloß aus ihr selbst, ihrem siebzehnjährigen Assistenten Derek, langen Arbeitstagen und viel Fahrerei.
3
AUF DEM WEG IN SEIN BüRO DURCHQUERTE GARY DIE FABRIKHALLE. Viele Tausend Quadratmeter erfüllt von Maschinenlärm: das Rattern der Laufrollen in den Deckenschienen, das schwere Scheppern von Metall auf Beton, das Hämmern der Nietpistolen. Man könnte problemlos ein Holz fünf über die gesamte Länge der Halle schlagen. Hoch genug war sie. Durch die schmutzigen Kunststofffenster des Wellblechdachs im Dunkel, mehr als dreißig Meter über ihm, fiel fahles Sonnenlicht herein. Dazu die Gerüche der Fabrik: Öl, Sprühfarbe und das rauchige Aroma glühenden Metalls. Er blieb innerhalb der gelben Linien und erwiderte die Morgengrüße, die ihm vom Kantinenbereich entgegenschallten, einer Insel aus Resopaltischen und orangefarbenen Plastikstühlen, gedämpft beleuchtet von den roten, weißen und orangefarbenen Lichtern der sie umgebenden Verkaufsautomaten. Einige von den Jungs hier unten kannte er ziemlich gut, mit vielen von ihnen war er zur Schule gegangen. Ohne Abitur könnte er heute genauso gut einer von ihnen sein.
Henderson’s Gabelstaplerwerk war eines der wenigen Unternehmen, die sich in den Siebzigern tatsächlich in Ardgirvan ansiedelten. Die Fabrik hatte die Rezession der frühen achtziger Jahre genauso überstanden wie später die Entlassungswellen aufgrund der Markterosion durch die billigere ausländische Konkurrenz oder wegen neuer technologischer Innovationen wie den Schweißrobotern, an denen Gary gerade vorbeiging, deren stählerne Gliedmaßen mit ruckelnden Bewegungen dem blauen Funkenregen trotzten. Ein paar Tage nach seinem siebzehnten Geburtstag hatte man Gary dort einen Job in der Verwaltung angeboten.
Als er an dem grauen Gewirr von Arbeitsnischen vorbei zu seinem Schreibtisch schritt, nahm die Anzahl der Kollegen, deren morgendliche Begrüßungen und Geburtstagsglückwünsche er erwidern musste (die dicke Sue aus der Buchhaltung, die kleine Marion aus dem Export), noch zu. Vor langer Zeit – etwa ein Jahr nach seinem ersten Arbeitstag – hatte er einen Augenblick lang daran gedacht, zu kündigen. Daran, zur Uni zu gehen, zu studieren – so etwas. Aber Pauline war von dieser Idee nicht gerade angetan gewesen. Drei oder vier Jahre als bettelarmer Student. Was genau sollte das bringen?
Mit einem Seufzer setzte er sich an seinen Schreibtisch und begann, die Aktenstapel umzusortieren: rosafarbene, gelbe und grüne Formulare, Lieferscheine, Zollpapiere, Rechnungen, die mit Auftragsnummern versehen werden mussten. Dieser riesige Berg an Papierkram, der jedes Mal entstand, wenn ein Gabelstapler aus der Fabrikhalle unter ihm rollte und irgendwo in die Welt verfrachtet wurde. Er stupste seine Maus an, und der Bildschirm flackerte auf. Sein Bildschirmschoner war ein Foto des berühmten achtzehnten Lochs in St. Andrews: ein Meer aus grünem Rasen, aus dem der graue Stein der Swilcan-Brücke herausragte. Die Uhr in der Bildschirmecke zeigte dreizehn Minuten nach neun.
Von seinem Büro aus blickte er auf die schartige Backsteinmauer eines alten Lagerhauses, das seit den späten Achtzigern leer stand. Am anderen Ende der Mauer, ziemlich weit unten, verblasst, aber immer noch klar zu erkennen, hatte jemand mit silberner Sprühfarbe ein anderthalb Meter hohes Strichmännchen geschmiert. Genauer gesagt ein »Strichweibchen«, denn die Figur besaß zwei gigantische, unförmige Brüste. Die Nippel – offensichtlich erst nachträglich hinzugefügt, vielleicht hatte der Nachtwächter den »Künstler« überrascht – waren bloß zwei Tupfer. Das beknackte Wirrwarr debiler Kringel in der Schamgegend sollte wohl Haare darstellen. Ein paar derbe Worte neben der Figur in der gleichen silbernen Farbe lieferten die dazugehörige Erklärung:
TITTITUSSI MIT HAARIGER PUSSI
Seit sechzehn Jahren verging kaum ein Tag, an dem sie Gary Irvine nicht zum Lächeln gebracht hätte: die Tatsache, dass ein paar hiesige Jugendliche – Cider oder Pennerglück in den Venen prickelnd und die Synapsen mit Klebstoff oder Haschisch geschmiert – ein derart dringendes Bedürfnis verspürt hatten, ihre Liebe zu Tussen, Titten und buschigen Fötzchen mit dem Rest der Bevölkerung zu teilen, dass sie nicht mehr anders konnten, als sich bei Nacht und Nebel hierher zu schleichen und dieses unsterbliche Meisterwerk zu schaffen. Er musste lächeln, und seine Reaktion erinnerte ihn an einen von Stevies Sprüchen: »Traue niemals einem Mann, dem der Anblick eines schlecht gezeichneten Pimmels mit Eiern kein Lächeln entlockt.«
O ja, Gary lächelte. Manchmal bereitete es ihm allerdings Sorgen, dass dieses Graffiti ihn bereits seit sechzehn Jahren zum Lächeln brachte.
Ein paar Hundert Kilometer weiter südlich fuhr der Lkw die Ausfahrt zur Raststätte Knutsford herauf. Auf einer hölzernen Palette, tief in den Eingeweiden des Fahrzeugs, rollten die glänzenden weißen Spaxons in ihren Kartons zurück.
4
CATHY IRVINE STRICH NERVÖS DIE SERVIETTE AUF DEM TISCH glatt und fragte sich, ob es wohl noch zu früh war, schon wieder für eine Zigarette vor die Türe zu gehen. Scheiß Rauchverbot. Cathy war nie ein besonders politischer Mensch gewesen – nachdem sie sich Braveheart angesehen hatte, bereute sie es einen kurzen Moment, 1978 nicht die schottische Nationalpartei gewählt zu haben -, aber das Rauchverbot hatte sie definitiv radikalisiert. »So hat das bei Hitler auch angefangen«, hatte sie, kurz nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, zu Gary gesagt, und dabei, um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen, mit dem Finger auf den Küchentresen eingestochen.
Sie gab sich alle Mühe, den Eindruck zu erwecken, sie würde über etwas Wichtiges nachdenken, und während sie das tat, begann sie tatsächlich über etwas Wichtiges nachzudenken. Was bei Cathy in der Regel bedeutete, dass sie über ihren ältesten Sohn grübelte. Lee. Dieser Junge. Zweihundert Pfund hatte er sich letzte Woche von ihr geliehen. Dreihundert im Monat davor. Für Kredite, die er zurückzahlen musste. Er hatte versprochen, es ihr bald zurückzugeben, da er einen Job in Aussicht habe. Aber was für einen? Wenn er … sie würde mit Gary darüber reden, abwarten, was er dazu sagt.
Cathy war in Restaurants nicht gerne allein. Es war ihr nicht ganz geheuer. Schon gar nicht in einem Laden wie dem Pepper Pot, Ardgirvans protzigstem Italiener. Okay, Ardgirvans einzigem Italiener. Der Vater der Jungs, dachte Cathy verträumt, ihr Erinnerungsvermögen dank eines halben Glases Hauswein in Sepiatöne getüncht, hätte seine Frau niemals allein in einem Restaurant sitzen lassen.
Der Tod hatte ihren Gatten von einem einfachen Gott zu einem Wesen erhöht, das sämtliche Gottheiten der griechischen Mythologie auf sich vereinigte: Er war stattlich wie Apollo, so fröhlich wie Dionysos und weise wie Zeus. Dreizehn Jahre war es jetzt her, dass er von ihr gegangen war, und wie oft musste sie an ihn denken? Es wäre einfacher zu fragen, wie oft sie nicht an ihn denken musste, denn die Erinnerung an ihn hielt den weitaus größten Teil von Cathys Bewusstsein besetzt. Wenn sie morgens aus ihren Träumen erwachte – Träume, in denen sie jung und frisch liiert waren – und ihre Beine ausstreckte, nahm sie die andere Hälfte des Bettes immer noch als verlassen wahr. Jede Nacht, wenn sie einschlief, kommunizierte sie mit ihm, sprach flüsternd zu seinem Geist, berichtete ihm, was den Tag über geschehen war, von ihren winzigen Triumphen und Katastrophen, bildete sich ein, ihn neben sich in der Dunkelheit zu spüren: die allnächtliche Transsubstantiation, während derer sich das Kopfkissen in seinen Körper verwandelte. Auch nach dreizehn Jahren erschien ihr die Möglichkeit, sich einen Liebhaber zu nehmen, noch genauso unvorstellbar wie der Gedanke daran, ein Spaceshuttle zu steuern. Dreizehn Jahre, in denen sie sich immer, wenn sie eine Entscheidung zu treffen hatte – egal, ob es eine von finanzieller Bedeutung war, oder ob es nur darum ging, was sie in den Einkaufswagen packen sollte -, die gleiche Frage stellte: »Was hätte er getan?«
Was er nicht getan hätte, so dachte sie, wäre, sie im beschissenen Pepper Pot alleine sitzen zu lassen. Aber, rief sich Cathy ins Gedächtnis, ihr jüngerer Sohn hatte einen wichtigen Job. Büro. Management. Abitur. Hätte zur Uni gehen können. Hatte den Verstand seines Vaters. Und noch während sie das dachte, gerade als ihr toter Gatte in ihren Gedanken mit dem lebenden Sohn zu einer Person verschmolz, kam er durch die Tür, kamen sie sozusagen beide durch die Tür; der Vater in Gestalt seines Jungen, der schon eine Entschuldigung auf den Lippen hatte, als sie sich erhob, um ihn zu begrüßen. In ihrem Gesicht erstrahlte dieses superglückliche Lächeln, welches Cathy sich nur für ganz besondere Anlässe aufhob.
»Herzlichen Glückwunsch, mein Junge!«, begrüßte sie ihn, küsste ihn auf die Wange und drückte ihm ihr Gesicht in den Nacken, als sie ihn umarmte. Dabei kostete sie den Duft seines Haares mit derselben Leidenschaft aus wie zu der Zeit, als er noch klein gewesen war und nach dem Bad, frisch geschrubbt, auf ihrem Schoß saß, sie ihm aus Struppi an der See vorlas und sein klitzekleiner Mund blitzschnell all die widerspenstigen Vokale lernte, während sie gemeinsam die Strandabenteuer des niedlichen Hundes verfolgten. Vor dreißig Jahren. Für Cathy fühlte es sich an wie gestern Nachmittag.
»Aye, dir auch, Mama.«
Gary hatte das Licht der Welt am Morgen des zwanzigsten Geburtstags seiner Mutter erblickt. Als er jünger war, hatte er sich oft gefragt, was das wohl zu bedeuten haben mochte. Er hatte es schon lange aufgegeben, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, auch wenn Cathy immer noch überzeugt davon war, dieser glückliche Zufall sei ein Zeichen dafür, dass ihn ein großes und ganz besonderes Schicksal erwartete. Und bisher hatten ihr die Ereignisse Recht gegeben, so dachte sie. Für den Irvine-Clan repräsentierte Gary eindeutig einen Fortschritt: Er war das erste Mitglied der Familie, das sein Geld nicht unter freiem Himmel verdiente und sich dabei die Hände blutig schuftete. Er war der Erste, der in einem eigenen Haus wohnte, der Hypotheken abbezahlte, statt Miete zu zahlen, und der Erste, der nicht qualmte wie eine schwelende Torfsode.
»’tschuldige die Verspätung, das Meeting hat ewig gedauert. Du siehst toll aus, Ma.«
Cathy hatte nicht an Schminke gespart und trug eines ihrer besten Kleider. Ihr rotbraunes Haar, Opfer ihrer ständigen Experimente, hatte sie kürzlich mit gelblichen Strähnen versehen lassen. Das Endergebnis ließ sie aussehen, als hätte ihr etwas einen gewaltigen Schrecken eingejagt. »Und? Was hast du von Pauline zum Geburtstag gekriegt?« Wie immer, wenn sie den Namen von Garys Frau aussprach, durchlief Cathy ein besorgtes Zittern. Als würde die bloße Nennung ihres Namens ausreichen, Pauline leibhaftig herbeizubeschwören. Cathy fürchtete ihre Schwiegertochter. Fürchtete, dass sie Garys Familie – also sie und Lee – als unter ihrer Würde betrachten könnte. Unwürdig, eine Rolle in einem solchen Leben zu spielen, wie Pauline es sich erträumte.
»Geschenkgutscheine für diesen neuen Golfladen oben an der Driving Range.«
»Oh, sehr nett«, sagte Cathy und dachte: Gutscheine? Ist es ihr sogar zu viel, mal den Arsch hochzukriegen, um ihrem Mann ein richtiges Geschenk zu kaufen?
Sie vertieften sich in die Speisekarten, und Cathy zog ihre übliche Show ab, indem sie jeden einzelnen Begriff mit ihrer Klingt-das-nicht-lecker-Stimme aussprach, wobei sie bestimmte Worte auf völlig unlogische Weise hervorhob (»mit Pilz-Sahne-Soße«), sämtliche Fremdwörter quälend in die Länge zog (»Paaaanezetta«) und hin und wieder willkürlich »Ooohs« und »Mmmms« einstreute. Die Klingt-das-nicht-lecker-Stimme fand ihre Entsprechung in Cathys Klingt-das-nicht-widerlich-Stimme, von der sie zum letzten Mal ausgiebig Gebrauch gemacht hatte, als Pauline sie damals in diesen Sushi-Schuppen in Glasgow geschleppt hatte. »Sa … saschi-mieh? Rohe Scheiben vom Lachs? Süßsauer eingelegter Ingwer?«, hatte Cathy ungläubig alles rezitiert, was sie auf der Karte fand, als würde sie in Kursivlettern sprechen. Das mit dem Sushi war von Anfang an eine Schnapsidee gewesen. Wie so viele Frauen ihrer Generation »vertrug« auch Cathy keinen Fisch. Irgendwann, da war sich Gary sicher – vermutlich, wenn sie das Dessert auswählten -, würde ihm der Satz »da könnt ich sterben für« zu Ohren kommen. Eine Floskel, die sie und seine Tanten in den letzten Jahren irgendwo aufgeschnappt hatten und von der sie nun, mindestens so inflationär wie unangebracht, Gebrauch machten.
Als sie die Bestellung aufgegeben hatten – Steak und Pommes frites für Gary, Bolognese für Cathy – und an ihrem Wein nippten, fiel Gary der distanzierte, finstere Blick seiner Mutter auf. »Also gut, was ist los, Mum?«
»Gar nichts.«
»Komm schon.«
»Ich … och, ich mach mir bloß Sorgen um deinen Bruder, mach ich mir.« Ein interessanter Aspekt an Cathys Ayrshire-Dialekt war die doppelte Bestätigung: eine, der gerade getroffenen Aussage folgende, zusätzliche Bejahung. Diese Technik hatte auch eine negative Entsprechung: »Hab ich mich nicht für interessiert, nee, hab ich nicht.« Das Satzanhängsel diente dazu, die Aufrichtigkeit des Gesagten zu unterstreichen, auch wenn es in der Regel auf Aussagen folgte, deren Glaubwürdigkeit kein vernünftiger Mensch jemals in Zweifel gezogen hätte, etwa: »Ich mag’s nicht, wenn’s kalt ist, nee, mag ich nicht.«
»Herr im Himmel. Was hat er denn jetzt schon wieder angestellt?«
»Och, gar nichts … ich mach mir bloß Sorgen, was aus dem Jungen mal werden soll. Er hat immer noch keinen Job. Er hat drei kleine Mäuler zu stopfen. Ich könnt’s nicht verkraften, wenn er wieder auf die schiefe Bahn geraten tät. Und am Ende … wieder weggehen müsste.«
»Weggehen« war Cathys Euphemismus für »Gefängnis«. Lee Irvine. Harter Kerl. Durchgeknallter Kerl. Garys älterer Bruder hatte drei Jahre in Saughton gesessen, für die unrühmliche Rolle, die er bei dem vermasselten Raubüberfall auf einen Juwelier in Edinburgh gespielt hatte. Seit man ihn vor sieben Jahren wieder auf freien Fuß gesetzt hatte, machte er erfolgreich einen weiten Bogen um jegliche Form von ehrlicher Arbeit, die ihm ein regelmäßiges Einkommen garantiert hätte. Stattdessen jobbte er mal hier, mal da und verdiente sich sein Geld auf Baustellen, durch den Handel mit Altmetall oder mit Second-Hand-Artikeln fragwürdigen Ursprungs. Gary und Lee vollbrachten das Wunder, innerhalb einer Stadt mit gerade mal 20 000 Einwohnern zwei Leben zu führen, die sich nicht im Geringsten überschnitten. Mal abgesehen davon, dass Lee sich hin und wieder etwas Geld von Gary schnorrte (»Danke, Kleiner«), bekam Gary nicht viel von seinem Bruder mit. Allein die Vorstellung, einen der Pubs aufzusuchen, die Lee besuchte – das Boots, das Cross, oder das Bam -, ließ Gary erschaudern. Er sah zu, nicht allzu viel Zeit darauf zu verwenden, über die Einkommensquellen seines Bruders nachzudenken. Aber es gab einen Aspekt im Leben seines Bruders, um den Gary ihn beneidete. Sicher, Garys Nichte und seine Neffen – Delta, Styx und Amazon – waren fürchterlich verzogene Blagen und hatten keinerlei Benehmen, aber zumindest standen sie ihren Eltern da in nichts nach.
»Er scheint doch alles im Griff zu haben. Er macht das schon, Mum.«
»Aye, was mir Sorgen bereitet, mein Sohn, ist, wie er es macht.«
»Komm schon, hör auf damit. Erzähl mir lieber, wie dein Ausflug nach Glasgow mit Tante Sadie war?«
»Och, sie macht mich noch wahnsinnig, macht sie mich!« Cathy war dankbar für die Ablenkung. Ihr Tonfall hellte sich auf, und ihr Lächeln kehrte zurück. »Die hat doch’nen Sprung in der Schüssel. Sie hat gesagt, sie holt mich um halb neun ab, damit wir nach Glasgow rein nicht in die Rushhour geraten. Hat sie mir fest versichert.«
Wenn seine Mum erst mal im Tratschmodus war, brauchte Gary sich nicht mehr aufs Zuhören zu konzentrieren, sondern konnte auf Auto-Aye schalten und sich überlegen, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte.
»… denn, weißt du, auf der Kingston Bridge ham sie ja neuerdings diese riesige Baustelle. Aber gleich so was von’ner Baustelle.«
»Aye.«
In spätestens einer Stunde bist du hier fertig … dann geht’s ab nach Hause, umziehen.
»Naja, tut ja nix zur Sache. Jedenfalls, ich hock da, trink mein Käffchen und hoff, dass sie bis halb elf endlich auftaucht. Denn falls sie bis dahin nicht auf der Matte steht, sind wir erst zur Mittagszeit dort, und dann müssen wir ja vorm Einkaufen erst mal essen – du weißt ja, was mit deiner Tante Sadie passiert, wenn sie nix im Magen hat …«
»Aye.«
Gegen drei Uhr kannst du auf der Driving Range sein …
»… schließlich taucht sie also auf und, was soll ich sagen, sie ist mit den Nerven völlig am Ende. Ich konnt’s nicht glauben: Sie war zu spät, weil sie um sieben Uhr morgens beschlossen hatte, ihren dämlichen Kühlschrank abzutauen. Du kennst doch diesen Riesenkühlschrank, den die haben?«
»Aye?«
An der Schulterdrehung arbeiten, mit den Schlägern üben, eine halbe Stunde auf den Platz gehen...
»… das ganze Fleisch hat sie drin vergessen, und nu lag’s übern Küchenboden verstreut – nicht für’ne Minute hat sie dran gedacht, mich anzurufen und Bescheid zu geben, dass sie sich verspäten würde, nee, doch nicht unsere Sadie – und sie tat alles mit Zeitungen auslegen, ums ganze Wasser aufzusaugen. Sadie, sag ich zu ihr, wie zur Hölle kommst du darauf, deinen Kühlschrank abzutauen, wenn du weißt, dass wir nach Glasgow fahren? Oje, sagt sie, woher soll ich wissen, dass das so lange dauert! Die tickt doch nicht mehr ganz richtig, oder?«
»Aye.«
Mal eben neun Löcher spielen, bevor Pauline nach Hause kommt...
Garys Gedanken kehrten zu dem Gespräch zurück, und er bemerkte, dass seine Mutter die Geschichte beendet hatte und ihm – so erwartungsvoll, wie sie ihn ansah – scheinbar eine Frage gestellt hatte, die eine über »Aye« oder »Aye?« hinausgehende Antwort erforderte.
»Entschuldige, Mum?«
»Ich sagte: Wie läuft’s zwischen dir und Pauline?«
»Och, prima.«
»Habt ihr nochmal geredet, über …«
»Ein bisschen. Sie sagt, sie will warten, bis ihr Geschäft auf etwas festeren Beinen steht …«
»Ihr Geschäft!«, schnaubte Cathy. »Welches denn? Etwa in der Gegend rumzurennen wie ein aufgebrezeltes Huhn, oder was? Is’ ja nicht so, als würdest du kein gutes Geld verdienen!«
»Es ist wichtig für Pauline, Mum.«
»Aye, aber dir is’ wichtig,’ne Familie zu haben.«
»Aye«, seufzte Gary.
»Oje. Gary, mein Sohn«, sagte Cathy und drückte seine Hand.
Sag es nicht, dachte Gary. Bitte sag es nicht.
»Was der Herrgott einem zugedacht hat, das wird einem auch zuteil«, verkündete Cathy.
Mit diesem Haiku konterte Cathy so ziemlich alles – vom Frust im Job bis zu Enttäuschungen beim Lotto. Gary hielt es für durchaus möglich, dass sie selbst dann darauf zurückgreifen würde, wenn sie eines Tages in einem antiseptischen Wartezimmer voller Ungeduld auf die Ergebnisse seiner Krebsuntersuchung warten sollte.
»Aye«, erwiderte er, rang sich ein Lächeln ab und setzte sich auf, weil ihre dampfenden Teller serviert wurden.
»Na los. Lassen wir’s uns schmecken«, sagte Cathy und entfaltete die Serviette auf ihrem Schoß. »Und dann gönne ich mir einen Nachtisch. Diese Schokoladentorte, da könnt ich sterben für, oh ja, das könnt ich …«
5
SEINEN NAMEN VERDANKTE LEE IRVINE DEM GROSSEN MEXIKANISCHEN Golfer Lee »Supermex« Trevino, in den sein Vater vernarrt war, nachdem dieser 1972 in Muirfield seine zweiten Open gewonnen hatte. Cathy erinnerte sich nur allzu gut an die kalten Nächte, die sie in einem winzigen feuchten Wohnwagen verbracht hatte, während der Wind von East Lothian an den dünnen Wänden rüttelte. Kaum war sie eingeschlafen, da dämmerte es schon wieder und sie musste raus: ihrem Mann dabei zuschauen, wie er den lieben langen Tag Golfspielern zuschaute. Was für ein Urlaub. Trevino war berühmt für seinen Humor auf dem Platz, dafür, dass er selbst unter Druck noch ruhig blieb und Witze riss. Leider glänzte Lee Irvine mit keiner der guten Eigenschaften seines Namensvetters, als er seinerseits versuchte, eine Drucksituation zu meistern.
»Verdammte Kacke!«, brüllte er durch das leere Haus. »Ist das etwa alles?«
Auf allen vieren kniete Lee auf dem Wohnzimmerboden vor dem auseinandergenommenen Sofa, dessen Polster wie die abgetrennten Glieder eines besiegten Monsters um ihn herum lagen. Er hatte das Scheißding komplett durchsucht, sogar mit einem Küchenmesser den Bezug aufgeschnitten, in der Hoffnung, dass ein paar Pfundmünzen irgendwie den Weg dort hinein gefunden hatten. Aber das Aufschlitzen des Sofas hatte ihm lediglich zwei Zehn-Pence-Stücke, einen Zwanziger und eine Kupfermünze eingebracht. Vierundvierzig Pence zusätzlich zu seiner Ausbeute aus dem kleinen Keramiktopf auf der Fensterbank des Schlafzimmers (achtzehn Pence), diversen Hosentaschen (elf Pence) und der untersten Schublade des Nachtschränkchens (Jackpot! Zwei Zwanzig-Pence-Stücke und noch etwas Kupfergeld). Von der Anstrengung schwer atmend, sortierte er mit zitternden Fingern das Geld in seiner Handfläche.
1,22 Pfund.
Das Gesamtvermögen von Lee Irvine, 35.
Für zwei Pints im Bam, selbst zum Preis der Mittags-Happy-Hour, fehlten immer noch zwei Pfund. Als er feststellte, dass das Geld nicht reichte, überkam ihn ein schwindeliges Gefühl von Übelkeit.