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Feuerland — ewige Heimat der Sturmvögel, Seelöwen und Pinguine, Eiland der Onas, die den weißen Eindringlingen mit unversöhnlichem Hass gegenüberstehen, Insel des Grauens, der stündlichen Gefahr, Pampa des Todes, über der die Faust des Teufels liegt, die keinen mehr aus den Krallen lässt, den sie gepackt. Es hat einmal eine Zeit gegeben, die ein Fußfassen der Zivilisation auf Feuerland für unmöglich hielt, und vielleicht wäre die Insel ein weißer Fleck auf der Landkarte geblieben, wenn Jolson Porter nicht gewesen wäre, der mit einer Handvoll entschlossener Männer die Republik El Paramo und damit einen neuen souveränen Staat erstehen ließ. Die Verfolgung eines gefährlichen Verbrechers verschlägt Conny Cöll ins Reich dieses tollkühnen Mannes, dessen ungewöhnliches Leben einmal eine ganze Welt aufhorchen ließ. Die Geschichte Feuerlands ist spannend wie ein Abenteuerroman, sie ist es wert, erzählt zu werden ... Aufgrund des Alters des Textes kann es sein, dass im Inhalt Begriffe verwendet werden, die heute nicht mehr gebräuchlich bzw. nicht mehr politisch korrekt sind.
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Seitenzahl: 294
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von Konrad Kölbl
Stan Lodge
Die Faust des Teufels
Der Gouverneur
Über die Pampa
Dichter Nebel lag über Chinatown, fraß sich in schmutzige Dächer, legte sich einer riesigen Giftwolke gleich auf fahlgelbe Hauswände, auf mit Morast bedeckte Straßen, die wie ausgestorben in der frühen Morgenstunde dieses schicksalhaften Tages lagen.
Chinatown –
Schrecken verbreitete dieses Wort unter den Bewohnern von San Franzisko, und die brave Bürgerlichkeit der Riesenstadt am Golden Gate hatte bereits einen unsichtbaren Gürtel um das Chinesenviertel, das gleich hinter der Barbarenküste begann, gelegt. Chinatown bedeutete Opium, Menschenschmuggel, Laster und Verbrechertum. Der Arm des Gesetzes war nicht stark genug, die Unterwelt von Barbary Coast aufzuspüren, die versteckten Spielkneipen, in denen nicht nur mit Karten und rollenden Kugeln gespielt wurde, sondern mit Menschenleben, mit Menschenschicksalen. Frisko hatte es nicht verdient mit Chinatown bestraft zu werden, aber diese mächtig aufstrebende Stadt lag am Tor zum Ewigen Westen, der für die Union erschlossen und kolonisiert werden musste. Man hatte Arbeitskräfte gebraucht, um die Weststrecke der Union Pacific Railway zu bauen. Man hatte Chinesen ins Land gerufen und damit die Gefahr, die an den Grundfesten Friskos zerrte. Chinesen vermehren sich wie Kaninchen. Wo einer dieser gelbhäutigen „Söhne des Reichesder Mitte“ auftauchte, folgen bald Scharen nach. Die Regierung erließ eine Einwanderungssperre, doch diese Maßnahme erwies sich im Effekt als beinahe nutzlos. Tausende und Abertausende der schlitzäugigen Zopfträger wurden durch unterirdische Kanäle nach Frisko geschleust, die Mittelsmänner und Rädelsführer mussten in Chinatown sitzen. Sie sorgten für Nachschub, so eifrig, als sollte Frisko eine Stadt der gelben Rasse werden. Chinatown wuchs zusehends, die Straßen des Viertels waren gesäumt von typisch chinesischen Hausbauten, auf denen man kein englisches Wort mehr lesen konnte. Langgestreckte Schilder, Fahnen und bemalte Bretter zierten die schmutzigen Fassaden mit den Hieroglyphen des fernen Asiens, aus denen kein Yankee einen Sinn herauszulesen vermochte. Wie sollte das enden? Der ständigen illegalen Einwanderung musste ein gewaltsamer Riegel vorgeschoben werden, und obgleich die Behörden taten, was in ihrer Macht stand, wuchs Chinatown unaufhaltsam an, wie eine Sturmflut, die alles zu überschwemmen droht.
Der „China-Kai“ war ein Ort des Grauens. Tag für Tag wurden Leichen Ertrunkener an Land gezogen. Opfer der Opiumsucht? Oder aus welchen Gründen sonst in die nasse Tiefe gestoßen? Es gelang nicht, Licht in das geheimnisvolle Dunkel zu bringen. Es waren nicht nur Chinesen, die im übelriechenden Brackwasser der „Gelben City“ ihr frühes Ende fanden. Wie kamen Neger, Indianer, ja sogar Weiße in die Pesthöhle der schlitzäugigen Unterwelt? Alle Razzien, gründlichen Durchsuchungen, Leibesvisitationen führten zu keinem Ergebnis. Die Gelben schwiegen und grinsten ihr breites asiatisches, undurchschaubares „Nicht-Verstehen“. Sie spielten die Gekränkten, die ewig Verfolgten, die natürlich so unschuldig wie neugeborene Hunde waren. „StanLodge“, sagten sie mit höflichem Achselzucken, „Stan Lodge weiß alles.“
„Wer ist Stan Lodge?“, wurde gefragt.
„Wir nicht wissen – nur Stan Lodge wissen –“
„Unsinn! Verdammt –“
„Stan Lodge großer Mann … Stan Lodge kluger Mann …“
„Ein Weißer?“
„Nur ein Weißer, großer, kluger Mann … bestimmt ein Weißer! Wir nichts wissen.“
„Wo lebt Stan Lodge?“
„Überall … nirgendwo …“
„Verdammt –“
„Er bezahlen gute Dollars für gute Dienste. Chinamänner arm … Chinamänner brauchen viele Dollars –“
„Wie sieht er aus?“
„Wir nichts wissen –“
Es war überall das Gleiche. Ein Heer von Polizisten war ständig unterwegs. Kriminalisten durchforschten die Gassen, die Häuser. Es roch nach Opium – aber es wurde keines gefunden. Das Fieber des Glücksspiels lag in der Luft – aber nicht eine einzige Spelunke wurde entdeckt.
Gestern war ein mit Tausend Chinesen besetztes Schiff im Hafen beschlagnahmt worden. Keine lebende Seele hatte das Deck verlassen dürfen, und heute sollte das Schiff wieder samt seiner gelbhäutigen Fracht aufs Meer zurückgetrieben werden. Schändliche Entdeckung am frühen Morgen: Der Schoner, der wie zum Hohn auf den Namen „Tausend Jungfrauen“ getauft war, war leer. Die Chinesen waren von unbekannten Barken während der Nachtstunden an Land gesetzt worden, die Wachmannschaft, von den Hafenbehörden eingesetzt, wurde ermordet aufgefunden, darunter auch der Kapitän, der von weißer Hautfarbe war. Von den Chinesen aber konnte keine Spur entdeckt werden. Wie Regenwasser nach einem stürmischen Gewitter schienen sie in des Wortes wahrster Bedeutung in den Erdboden versickert zu sein. Sie waren tatsächlich die Ratten in diesem bunt gewürfelten Gemeinwesen, die plötzlich auftraten und bei Gefahr in Sekundenschnelle verschwanden, irgendwohin, und – bildlich gesprochen – nicht einmal mehr die Spitzen ihrer langen Schwänze waren zu sehen.
Das war eine bittere Lehre für Frisko; das nächste Mal würde man klüger vorgehen. Noch schärfere Maßnahmen wurden beschlossen, von denen man sich erhoffte, nun endlich mit dem gelben Problem fertig zu werden.
Und wie stand es um das Problem Stan Lodge?
Wohin man auch kam, wen man auch fragte, überall tauchte dieser Name auf. Wer war Stan Lodge? Ein Gangster? Oder der König von Chinatown? Der geheime Kopf, der das Ganze befehligte? Aber das war kaum anzunehmen. Ein Weißer konnte mit Chinesen wohl Geschäfte machen, aber niemals ihr Chef, ihr Beherrscher werden. Von Li-to-sung hatte man bis jetzt noch am meisten über Stan Lodge erfahren, obgleich seine Aussage nicht freiwillig erfolgt war. Ein paar resolute Detektive hatten mit Gewalt nachgeholfen. Das war zwar ein Übergriff, doch immer nur nach Bestimmungen und Gesetz gehandelt, hätte geheißen, das geheimnisvolle Inkognito dieses Namens niemals zu lüften.
„Wer ist Stan Lodge, zum Teufel … Wir machen ernst, du hast nicht mehr lange zu leben, Li-to-sung …“
„Ich weiß nicht …“
„Heraus mit der Sprache, du Ganove! Auf einen Chinesen mehr oder weniger im stinkigen Kaiwasser kommt es nicht an. Wer ist Stan Lodge?!"
„Ich weiß nicht … wirklich nicht.“
Eine große Faust hatte Li-to-sung am Kragen gepackt, hochgerissen, ihn bedenklich nah gegen die Brüstung gedrückt, hinter der das Grauen lag.
„Rede, verdammter Zopf!“
„Stan Lodge sein Weißer …“
„Das wissen wir.“
„Er … er …“
„Weiter, verdammt!“
„Er Gangster – großer Gangster – organisieren Bande, unterhalten Bordelle, Opiumhöhlen.–“
„Wo?“
„Alles noch im Entstehen. Heute hier – morgen dort. Wo Gefahr, das alles schnell verschwinden. Menschen und Tische – Pfeifen und Würfel. Stan Lodge zahlen gute Dollar–.“
„Wofür?“
„Für gute Arbeit.“
„Welche Arbeit?“
„Kleine Geschäfte in der City – Opiumpäckchen und so …“
„Also ein Opiumschmuggler. Und wozu die Morde?“
„Das alles sein Feinde von Stan Lodge, die nicht dichthalten – oder … oder …“
„Oder?“
„Oder wenn nicht mehr gebraucht werden … wenn gefährlich werden –“
„Und er findet immer wieder Dumme, dieser Bursche, wie?“
„Nicht alle dumm. Chinamann muss schweigen können – Schweigen sein Gold …“
Hätte Li-to-sung geschwiegen, hätte er vielleicht ein hohes Alter erreicht. So aber hatte man ihn kurze Zeit später aus dem gleichen Wasser gezogen, in das hineingestoßen zu werden er durch Geschwätzigkeit vermeiden wollte.
Stan Lodge schien mächtige und zahlreiche Freunde zu haben. Er verstand zu bestrafen und hatte offensichtlich an allen Ecken und Enden seine Spitzel. Einmal aber musste auch er einen Fehler machen, auch der klügste Bursche war gegen Dummheiten oder verhängnisvolle Gedankenlosigkeiten nicht gefeit. Einmal musste sich auch Stan Lodge eine Blöße geben, und dann war sein Schicksal besiegelt.
Der Nebel war dichter geworden. Der Hafen verschwand vor den Blicken des riesig gewachsenen Mannes, der gelangweilt an der Kaibrüstung lehnte, als wüsste er nichts von der großen Gefahr, die allein schon die bloße Nähe von Chinatown ausströmte. Er spuckte ins Wasser und betrachtete sinnend die Kreise, die sich in der schmutzigen Brühe bildeten, durch die darüberwogenden, weißen Nebelschleier. Wohl ein Matrose? Seine Langeweile war nur gespielt, seine Augen wanderten unablässig in die Umgebung. Hier … genau hier, an dieser Stelle hatte man gestern Abend zwei Neger aus den Fluten gezogen. Das Wasser stand still, mit seiner verhängnisvollen breiigen Tiefe. Vielleicht hatte der Mann Glück und der grausige Vorgang wiederholte sich heute wieder. Eine naive Vorstellung, aber der riesenhaft gewachsene Boy hatte mitunter seltsame Anwandlungen, er schwor auf den sprichwörtlichen Zufall, dass ihm das, was er sich wünschte zu sehen, wiederbegegnen würde, und er hätte sich auch tatsächlich nicht gewundert, wenn es plötzlich Wirklichkeit geworden wäre. Die über zwei Meter hohe Gestalt mit dem kraftvoll gewölbten Rücken eines jungen Büffels wollte sich gerade in Bewegung setzen; nahezu einhundertfünfzig Kilo lebendigen Gewichts dehnten und reckten sich. Der Brustkasten begann sich zu weiten, als habe er fünf Atmosphären Luft geschluckt. Die Nähte der blauen Matrosenjacke platzten ihm unter den Achseln und seine stahlharten Muskeln spielten geschmeidig unter dem dünnen Leinenstoff.
„Stinklangweilige Gegend“, gähnte er, „und dabei hat mir Blondy eine Menge Abwechslung versprochen. Ich werde so hungrig bei diesem Herwarten, verdammt …“
Plötzlich waren zwei Schatten im Nebel aufgetaucht, wurden größer: Vor dem einsamen Mann an der Brüstung machten sie halt.
„Was hast du hier zu spionieren, Yankee?“, zischte eine Stimme.
Es war ein Chinese, aber nicht von kleinem Wuchs, denn es gibt Ausnahmen, besonders unter jenen, die im Hochland des riesigen „Reiches der Mitte“ geboren werden. Der gelbhäutige Bursche, der so unvermittelt vor dem Matrosen auftauchte, schien ein Prachtexemplar seiner Gattung zu sein, ein ausgesprochener Schlägertyp mit platter Nase im starkknochigen Gesicht und breiten Schultern, auf denen ein stiernackiger Schädel saß. „He“, schrie er, und der Matrose konnte durch die Nebelschwaden hindurch deutlich die drohend tückischen Augen des brutalen Gesellen erkennen, „Was du hier zu spionieren hast, will ich wissen!“
„Ich suche meine Mutter, Langzopf –“
Langzopf? Das war eine Beleidigung.
„Hol noch einmal tief Luft, du Seewanze. Gleich wirst du schwimmen …“
„Aber nicht doch, Chink“[1], ich bin ausgesprochen wasserscheu.“ Der Matrose grinste. Na also. Blondy schien doch wieder einmal recht zu behalten, am Strand gab es tatsächlich Abwechslung für einen ausgeruhten Boy. Neben dem Chinesen stand ein Neger, der seinem Komplizen an Körpergröße und gewalttätigem Aussehen kaum nachstand. „Und das ist wohl der schwarze Kralbewohner, der dir helfen soll?“, lachte der Blaue, „Wen hat mir denn da der gute Stan Lodge auf den Pelz gesetzt – eine gelbe und eine schwarze Laus … …“
Wütendes Schnauben und grimmiges Knurren. Die Zähne des Negers schlugen krachend aufeinander – ein zorniger Seelöwe, der drohend sein Gebiss klappern ließ.
„Stan Lodge …, ah …, …“, grunzte der Chinese, „ein Spion, Mike – einer von der Polente. Hinweg mit ihm!“
Die Faust des Chinesen sprang nach vorn, mit der Kraft eines stählernen Kolbens. Der Matrose sah den Hieb nicht kommen – der Nebel war Schuld an dieser Nachlässigkeit – und krachend landete der gewaltige Stoß an seiner Schulter. Über diesen Angriff kam der Chinese indessen nicht mehr hinaus: Der Hufschlag eines Pferdes musste ihn getroffen haben, denn seine Füße verließen plötzlich die Erde und zappelten in der Luft. Mit rumpelndem Getöse rammte sein breiter Rücken die starke Holzbrüstung, die ächzend in ihren Grundfesten erbebte und den aufprallenden Körper federnd zurückwarf. Indessen war der Neger nicht müßig gewesen. Er stürzte sich auf den Matrosen, mit einer Vehemenz und Gewalt, die imstande gewesen wäre, einen Baumstamm zu knicken. Aber der Riese im blauen Leinenrock stand wie ein Fels. Eine wahre Gigantenfaust prallte gegen den dunkelhäutigen Sohn des schwarzen Erdteils und stoppte seinen wilden Schwung, genau in dem Moment, als die ächzende Brüstung den Chinesen zurückwarf. Krachend schlug der feiste Körper des Negers, von der Faust des Matrosen zielsicher gelenkt, gegen den seinen. Mit einem erstickten Aufschrei umkrallte der Chinese das lebende Rammgeschoss, und beide Körper, durch die Wucht des Aufpralls eng ineinander verkrampft, brachen wie ein urweltlicher, erratischer Block gegen die hölzerne Schutzwandung …
Ein gellender Aufschrei – die Brüstung zersplitterte. Verzweifelte Hände wirbelten jählings in die Höhe, griffen ins Leere, verschwanden im Nebel, im Nichts. Deutlich klang das Aufklatschen der in die Tiefe fallenden Körper im öligen Wasser ans Ohr des Matrosen, der diesem rasanten Schauspiel mit einiger Verblüffung gefolgt war.
„Elendes Zeug“, schimpfte er auf die Brüstung, „hält aber schon gar nichts aus.“ Und dann verklärte sich seine Miene. „Blondy“, flüsterte er, „das war der Anfang. Aber du hast deinem Kameraden Ben Silver eine tolle Nacht versprochen. Dieser Stan Lodge ist okay, er scheint eine brauchbare Horde Boys zusammengetrommelt zu haben …“ Der Riese beugte sich über das geborstene Geländer.
„Sie werden bald wieder an die Oberfläche kommen. Ich werde sie erwarten …“ Liebevoll betrachtete er seine gewaltigen Fäuste: „Glaubʻ nicht, dass das schon alle gewesen sind, die mir was zeigen wollten … Wenn nur der Nebel nicht wäre, der verdammte Nebel … …“
– – –
„Schwarzer, … hierher …“
Widerwillig gehorchte der Wolf. Das mächtige Tier hatte seinen Herrn eine volle Stunde durch die Straßen und Gassen dieser unheimlichen, großen Stadt geführt. Seinen Herrn? Der Ausdruck mochte nicht ganz stimmen. Schwarzwolf hatte keinen Herrn, sondern einen Kameraden, einen Kampfgefährten, der ihn ergänzte, wenn sein tierischer Instinkt versagte. Natürlich war der Mensch mit ganz anderen Gaben ausgestattet als der Wolf. Schwarzwolfs Stärke lag in der Fährtensuche. Vor einer Stunde hatte Conny Cöll die untrügbare Nase des Tieres auf eine frische Spur gesetzt: Ein Mann war ermordet worden. Ein Chinese, der vor kurzer Zeit noch Opium in seinen Gewändern verborgen hatte, wie der Westmann unschwer feststellen konnte. Die Polizei stand ratlos. Es waren keine Spuren vorhanden, keine Anhaltspunkte, keine Augenzeugen; kein sichtbares Indiz – außer dem Toten – lag für die Aufklärung vor. Aber dem bewährten Vierbeiner war es mühelos gelungen, die wie Gift schmeckende Witterung, die der Leiche anhaftete, aufzunehmen. Sie hing überall, am Boden, an dem erstarrten Körper, in der Luft. Freilich, die Nasen der Menschen taugten nichts; in diesem Punkt hatte Conny Cöll die Gedanken seines treuen Vierbeiners erraten können.
„Du bist der Beste, Schwarzer“, flüsterte er, „zuerst du … und dann ich.“ Er klopfte zärtlich an seine beiden Waffentaschen, die ihm tief und schwer von den Hüften baumelten, „du wirst die Burschen finden, die das getan haben …“
Der Wolf stieß ein zufriedenes Brummen aus, er schien verstanden zu haben. Jetzt war er an der Reihe. Ihm fiel es nicht schwer, der Witterung nachzuspüren, und dann aber … dann …
Er wedelte freudig mit der buschigen Rute. Er liebte das Abenteuer noch mehr als das Fressen, und das wollte allerhand besagen, denn Schwarzwolf war kein Kostverächter. Sein Appetit war zu allen Tageszeiten beachtlich. Trotzdem – immer zuerst die Arbeit.
Der Weg führte zum Barbarenstrand, über die Grenze des Chinesenviertels, durch enge Gassen und Häuserschluchten. Conny Cöll musste mehrmals sein kurzes Pfeifen ausstoßen, da er wegen des dichten Nebels kaum folgen konnte. Schwarzwolf verlangsamte seinen Lauf, er kannte den leisen, vertrauten Ton dieser Pfeife. Ja, auch die Beine des Menschen waren nicht berühmt, sie konnten es mit Wolfsläufen nicht aufnehmen, sie waren zu schwach und ermüdeten bald. Schwarzwolf dagegen konnte stundenlang im gleichbleibenden Trab dahinspuren, ohne Anzeichen von Schwäche und Ermattung zu zeigen. So vieles war beim Menschen nicht vollkommen – zum Beispiel auch die Lungen nicht. Sie begannen schon nach kurzer Zeit zu kochen und waren ohne Kraft und Ausdauer. Als Schwarzwolf das Pfeifen hörte, stoppte er seinen schnellen Lauf und blickte zurück. Dies Geräusch war so fein erklungen, dass Menschenohren es nicht wahrgenommen hätten. Wolfslauscher waren unvergleichlich besser; also war auch in dieser Beziehung der Mensch ein recht unvollkommenes Wesen. Schwarzwolf vermochte dieses beinahe lautlose Pfeifen eine Meile weit zu hören, und so unglaublich es anmutet, Conny Cöll hatte dies Hundert Mal erfahren müssen.
„Nicht so schnell, Schwarzer, wer soll sich bei diesem Nebel zurechtfinden!“
Nebel? Ein unbekannter Begriff für Schwarzwolf.
Warum der Kamerad nur so langsam vorwärtskam? Schwarzwolf hatte bis heute immer das vortreffliche Auge des Menschen bewundert, das so viel weiter sah als das seine. Warum versagte es heute? Es war doch nicht Nacht.
Beißender Gestank lag in der Luft, dazwischen ein süßlicher, ihm unbekannter Geruch, der seine Sinne erregte. Die Witterung aber, die er nun schon seit einer Stunde verfolgte, war immer stärker geworden. Sie endete an einem Haus, das nur einen kleinen, schmalen Eingang hatte. Hier war auch der süßliche Geruch am stärksten. – –
– – –
Ben Silver schritt langsam die Uferbrüstung entlang. Seine Augen starrten angestrengt ins Leere –– Nebel überall. Das anbrandende Meer, obgleich im Dunst verborgen, lag mit dumpfem Brausen in der Luft. Irgendwo mussten die beiden klatschnassen Gestalten doch wieder an Land kommen, dachte er. Er erreichte die Brücke, deren Steinstufen nach unten führten. Vielleicht …?
Er wartete lang und geduldig, aber nichts rührte sich auf der Treppe. Das Glockenspiel der mächtigen St. Patricks– – Kathedrale schlug die vierte Nachmittagsstunde. Die Straße war wie ausgestorben, kein Mensch war dem „Kleinen Benjamin“ begegnet, seit er das Vergnügen hatte, seine Fäuste zu beschäftigen.
Da – –
Ein Schatten tauchte auf, nicht über die Steinstufen … von der Straße her.
„Freund“, hörte er eine Stimme sagen.
„Freund“, rief Ben Silver mechanisch zurück.
Der Fremde kam näher. Ein Yankee.
„Verdammt“, knirschte er, „Ich dachte …“
„Was hast du gedacht, Bruderherz?“ Ben Silver fasste den verwirrten Mann, der sich offensichtlich in der Person geirrt hatte, beim Aufschlag seiner Lederweste: „Suchst du den Chinamann und den Neger, he?“
„Lass los, verdammt!“
„Knabe“, lächelte der Riese mitleidig, „du bist genau an der richtigen Adresse. Deine beiden Kumpane haben inzwischen ein Bad genommen. Die Hitze, Herzensbruder, die Hitze …“
„Ein Bad?“ Der Mann bäumte sich unter den Fäusten des Riesen auf, ein Baby, gemessen an der Kraft Ben Silvers. „Ein Bad? Ich weiß nichts davon “
Die Fäuste des
„Kleinen Benjamin“ packten stärker zu.
„Hör zu, Boy“, brummte er wie ein angriffslustiger Grizzly, „du wirst der nächste sein, der schwimmen geht, es sei denn, du gibst der Wahrheit die Ehre.“
„Ich weiß von nichts!“
„So sagen am Anfang alle; alle Dummköpfe nämlich –“
„Lass los – aahh … ich ersticke!“
„Wo finde ich deinen Auftraggeber? Du weißt schon, wen ich meine …“
„Ich weiß von nichts!“
„Stan Lodge …“
„Noch nie gehört von ihm. Loslassen … Je - sus … loslassen!“
„Du wirst schwimmen, Boy, wenn du nicht Farbe bekennst! Wo finde ich Stan Lodge? Ich will ihm mal die Hand schütteln, hörst du, Herzensbruder – nur ein wenig Shakehands spielen will ich … sonst nichts –“
Während dieser Worte wurde die Gestalt, die als klägliches Bündel in der Faust des Riesen hing, jämmerlich hin und her geschüttelt. „Raue Zustände machen raue Sitten notwendig“, fuhr der Kleine Benjamin“ fort, und er hielt den verzweifelt strampelnden Gesellen über die steile Uferbrüstung. Seine Gegenwehr erstarrte, Entsetzen hatte ihn ergriffen über dem grausigen Abgrund, obgleich er wegen des herrschenden Nebels am Barbarenstrand die schmutzige Tiefe nicht sehen konnte. Er wagte kein Glied seines Körpers mehr zu bewegen.
„Stan Lodge …“, wiederholte Ben Silver so ruhig, als würde er eben sein Taschentuch über dem brodelnden Abgrund ausschütteln. Was bedeutete schon ein Zentnergewicht in seinen Gigantenfäusten? „Stan Lodge“, …sagte er noch einmal. Er musste den Aufenthalt des gesuchten Gangsterführers erfahren. Rücksicht mit Verbrechern zu haben, war die gleiche verbohrte Dummheit wie der idiotische Glaube, mit wirren Gebeten und wundertätigen Mixturen einen Schwerkranken zu heilen.
„Eins …“, zählte der Riese jetzt.
„Ich weiß von nichts …“
„Zwei …“
„Halt! Halt! Nicht loslassen – ich will sagen, was ich weiß! Nicht loslassen!“
Ben Silver dachte jedoch nicht daran, den über dem Abgrund hängenden Mann wieder ans sichere Ufer zurückzustellen. Zuerst das Geständnis, dann die Rettung.
„In der ,Laguneʻ … hat er sein Hauptquartier … in der Opiumhöhle, die man durch den schmalen Eingang im Hinterhaus erreicht … das ist die Wahrheit – so wahr ich Jim Stanly heiße …“
Die Wahrheit? Das konnte sie sein, wenigstens hatte es überzeugend geklungen. Eine Sekunde später hatte der zu Tode Geängstigte wieder festen Grund unter seinen Füßen. Er war starr und bleich und lehnte sich zitternd an die Brüstung, der Schrecken und der Verrat seiner Geheimnisse hatten ihn offensichtlich völlig konsterniert.
„Die ,Laguneʻ“, sagte Ben, „wo finde ich sie?“
„Die vierte Gasse in der Shanghai Street … zur rechten Hand. Jedes Kind kennt die Kneipe. Ich muss verschwinden … kann nicht in Frisko bleiben …Stan Lodge …“
„Nimmʻs nicht so tragisch, Bruderherz“, grinste der Riese, „einmal wird der Tisch für alle abgeräumt. Es ist gar nicht so gut, alt und gebrechlich zu werden. Aber du hast recht, troll dich, solange noch Zeit dazu ist. Stan Lodge soll ein verdammt fixer Bursche sein, habe ich mir sagen lassen …“
Gleich darauf war Ben Silver freudestrahlend im Nebel verschwunden. Nun wusste er, wo er den fieberhaft Gesuchten finden konnte. Blondy würde staunen. Oh, der „Kleine Benjamin“ freute sich schon auf das Gesicht des Freundes, wenn er erfuhr, dass er, die „Nummer Sieben“ der Sinclargruppe, die Pestbeule, bereits mit Stumpf und Stiel ausgebrannt hatte, denn dazu war er felsenfest entschlossen.
Jim Stanly aber –– er hieß in Wirklichkeit Tom Hunter –– wartete kurz, bis die diesigen Schwaden den Riesen verschluckt hatten. Dann wandelte sich seine verängstigte Miene in hohnvolle Schadenfreude.
„Dummkopf“, grunzte er, sich vergnügt die Hände reibend. Tom Hunter war einmal Schauspieler gewesen, er hatte seine Rolle verdammt lebensecht gespielt. „Gleich wird ein Tisch abgeräumt werden, aber nicht der meine … nein, es ist kein Glück, alt und gebrechlich zu werden. Hohlköpfe krepieren meist schon früher – an ihrer verdorrten Birne. Die ,Laguneʻ? Hahaha – gibt es in Frisko. Feines Lokal … voll starker Burschen, die ständig der Übermut kitzelt. Hm …, und die Häuser mit den schmalen Eingängen – dutzendweise! Und nur eins kennt den geheimen Duft des Opiums … Der blöde Kerl braucht die Nase eines Spürhundes, um sie zu finden. Hahaha – der Boss wird feixen …“
– – –
Tiefe Finsternis hatte Conny Cöll aufgenommen, als er durch die schmale Tür des Hauses getreten war. Er verhielt seine Schritte. Es war ganz still – jene atemlose Stille, in der auch nicht der geringste Laut zu hören war. Seine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.
„Schwarzer“, flüsterte er, „du hast deine Sache fein gemacht. Nun bin ich an der Reihe. Bleib an meiner Seite, Braver,– wenn ich Hilfe brauche.“
Langsam, behutsam Schritt vor Schritt setzend, tastete sich Conny Cöll weiter in die gähnende Dunkelheit hinein. Eine schmierige Holzwand führte ihn, Spinnweben blieben an seinen Fingern. Endlich hatte er das Ende des Flures erreicht. Ob das Haus wohl nicht bewohnt war? Von irgendwo, durch eine schmale Ritze, fiel heller Schein herein. Vorsichtig näherte er sein Auge der Bretterwand. Er konnte in einen dürftig beleuchteten Nebenraum sehen, der aber vollständig leer und ausgeräumt war. Schwarzwolf hingegen schnupperte weiter im Dunkeln, und kratzte irgendwo am Ende des Ganges, dann knurrte er verhalten.
„Still, Schwarzer!“ Kaum hörbar erreichten die Worte die steil aufgerichteten Lauscher des Wolfes. Da war eine Tür. Conny Cöll fand die Klinke, drückte sie nach unten, die Tür ließ sich öffnen. Verhaltenes Stimmengewirr drang an sein Ohr, aber es kam nicht aus diesem Raum, er lag gleichfalls verlassen, nicht ein einziges Stück stand darin, die dürftige Lampe erhellte nur schmutzige Dielen …
Geräusche kamen plötzlich vom Eingang des Hauses her. Der Westmann presste sich hart in die Dunkelheit der Bretterwand, seine Rechte lag auf dem Schädel des Wolfes. Das kluge Tier würde nun keinen Laut geben, selbst wenn sich Gestalten dicht an ihm vorbeibewegten. Ein Mann hatte den Gang betreten, einer, dem die Örtlichkeit vertraut war, denn die Schritte kamen fest und gleichmäßig näher.
Die Tür, an der Schwarzwolf gescharrt und deren Klinke Conny bereits niedergedrückt hatte, öffnete sich. Das matte Lampenlicht fiel auf den Eintretenden: Es war ein Chinese, dessen Zopf steif über den leicht gebeugten Rücken starrte. Das Stimmengewirr schwoll wieder an und wurde deutlicher.
„Wir sind am Ziel, Schwarzer“, flüsterte der Westmann noch einmal, „Wir haben das Sumpfloch entdeckt. Gleich werden wir Stan Lodge unsere Visitenkarte überreichen ...“
– – –
Wer Stan Lodge zum ersten Male sah, glaubte, dem Typ eines zwar wohlgepflegten, aber allzu akkuraten und durchaus der Pedanterie verfallenen Spießers gegenüberzustehen. Sein pechschwarzes, streng gescheiteltes Haar war nach hinten gekämmt; eine ölige Pomade gab ihm Glanz und Form. Die hohe Stirn kennzeichnete zweifellos seine Intelligenz, sie wölbte sich hoch und breit nach hinten, auf der leicht gebogenen Nase von einer mit dünnem Goldrand eingefassten Brille gewissermaßen abgefangen und eingedämmt; die Oberlippe darunter zierte ein feines schwarzes Bärtchen, das dieser seltsam pedantisch-intellektuellen Persönlichkeit einen Anflug von Dandytum und unterdrückter halbweltlicher Passion verlieh.
Stan Lodge beherrschte die chinesische Sprache ebenso meisterhaft wie die spanische und französische. Er war in der Tat ein Mann von Welt und Bildung, und er hatte Umgangsformen. Mit diesem changierenden Habitus konnte er sich in Friskos vornehmster Gesellschaft genauso gut bewegen wie in der Unterwelt des Verbrecherviertels. Er beherrschte auch den verkrüppelten Jargon der Halbwelt, die Ganovensprache und ihre esoterischen Idiome mit der gleichen Virtuosität und Selbstverständlichkeit, wie das gepflegte Oxford-Englisch. Abgesehen davon wussten nur seine engsten Freunde, dass ihm auch die deutsche und russische Sprache geläufig waren.
Kein Wunder freilich, dass sich seine Pedanterie in den typischen Merkmalen des täglichen Lebens äußerte. Jedes Ding in seiner Umgebung hatte seine Ordnung, auf seinem Schreibtisch war kein Körnchen Staub zu entdecken, und Gnade den verantwortlichen Subalternen, wenn sie es einmal vergessen hatten, das Schreibzeug in die vorgeschriebene geometrische Lage zu bringen.
Stan Lodge sah oft aus wie ein Träumer. In manchen Situationen wölbte sich sein Auge im Glanz schimmernder Romantik. Er litt an Fernweh, irgend etwas zog ihn beständig hinaus in die unnennbare Weite. Aber es war wohl nur ein Defekt seines Gemüts – vielleicht eine feminine Komponente, denn seine Welt war Frisko: die Welt des Gangsterführers, des Opiumkönigs von Chinatown, der den Schmuggel in Rauschgift und Menschenware en gros betrieb.
Und noch etwas war an ihm, was sofort ins Auge fiel. Seine Ruhe, dieser unnatürliche, eisige Automatismus eines scheinbar kalt rechnenden Roboters, dem ein Menschenleben weniger wert war als der Erlös einer einzigen Füllung jener langrohrigen Pfeife, die den Chinesen so viel bedeutete – und nicht nur ihnen. Stan Lodge schien der sprichwörtliche Mann ohne Nerven zu sein, nichts vermochte ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, keine Nachricht über einen geschäftlichen Fehlschlag, und auch nicht der Tod seines besten Mannes. Gestern erst war Hardy Boor, einer seiner fähigsten Mittelsmänner, in einem mörderischen Feuergefecht mit der Friskoer Polizei auf der Strecke geblieben. Mit stoischer Ruhe hatte Stan Lodge diese Hiobsbotschaft zur Kenntnis genommen, mit der gleichen Ruhe sein geliebtes Notizbuch gezückt und ohne mit der Wimper zu zucken, einen Namen aus der säuberlich geführten Kartei seiner Getreuen gestrichen. Hardy Boor war ausgelöscht und vergessen.
Diejenigen, die Stan Lodge näher kannten, nannten ihn ein Genie, und in seiner Domäne war er es zweifelsohne. Er verstand seine Organisation meisterhaft zu tarnen und dem Zugriff der Sicherheitsorgane zu entziehen; die Fäden in seiner Hand liefen weit über den Ozean. Zwei Dinge waren es, die Frisko brauchte und gut bezahlte: Opium, das Kraut des Vergessens, und billige Arbeitskräfte. Zuerst zahlten die Chinesen dafür, dass man sie ins Land der ungeahnten Möglichkeiten schleuste, denn in der Heimat, die von Hungersnöten, Rebellion und Bürgerkrieg geschüttelt wurde, war kaum das nackte Leben zu fristen; und dann bezahlten noch einmal die reichen Farmer der neu erschlossenen Gebiete, die größtenteils ohne Helfer waren.
Stan Lodge konnte mit seinen Erfolgen zufrieden sein. Er wäre vermutlich ein steinreicher Mann geworden, hätte nicht jener 17. Juli – der schwärzeste Tag in seinem bisherigen Dasein – einen jähen Wandel in seiner von dunklen Geheimnissen umgebenen Existenz herbeigeführt. Es begann damit, dass Tom Hunter mit allen Anzeichen des Entsetzens in das nur wenigen Vertrauten zugängliche Büro hineinplatzte, aschfahlen Gesichts, und mit zitternden Händen und vor Erregung zuckenden Augen. Was war geschehen?
Etwas Unglaubliches … Unvorstellbares – –
– – –
Stan Lodge saß da wie ein tadelnder Volksschullehrer, er hatte die Hand zu rügender Geste erhoben und blickte streng durch die Gläser des goldgefassten Kneifers. Tom Hunter, der arme Sünder, stand schlotternd vor ihm.
„Narr“, presste Lodge heraus. Er war ganz ruhig.
Narr: DSas war das vernichtendste Schimpfwort, das über seine Lippen kommen konnte. Es war der Inbegriff seiner zutiefst empfundenen Verachtung. „Oder hast du etwa zu viel Whisky konsumiert? Oder …?“ Stan Lodge erhob sich. „Opium?“
„Chef“, Tom Hunters Stimme war schrill vor Erregung, „ich bin weder betrunken, noch brauche ich das verdammte Gift. Was ich gesagt habe, ist keiner krankhaften Fantasie entsprungen, sondern trostlose Wirklichkeit!“
„Langsam, Hunter.“ Lodge setzte sich, keineswegs bequem, eher steif wie ein dozierender Stratege. „Ich rekonstruiere und bitte um größte Konzentration: Du hast geglaubt, Ho-Lung vor dir zu sehen, wegen der Größe des hünenhaft gewachsenen Fremden. Natürlich hast du dich getäuscht. Wer war der Mann?“
„Ein Matrose.“
„Pah!“ Die dozierende Rechte beschrieb einen exakten Halbkreis. „Matrosen sind durchwegs Kraftmeier und üble Rabauken. Ich bin ein relativ normal gebauter Mann, und trotzdem bin ich sicher, dich eine Minute lang mit ausgestrecktem Arm von mir halten zu können …“
„Meine Beine hingen über dem Abgrund …!“
„Das ist allerdings erstaunlich. Es scheint sich in der Tat um einen ungewöhnlich kräftigen Burschen gehandelt zu haben …“
„Er hat Ho-Lung und Mike über die Brüstung geworfen …“
„Die beiden sind vorzügliche Schwimmer. Ein kühles. Bad wird ihnen nicht geschadet haben.“
„Sie sind ertrunken!“
„Hast du ihre Leichen gesehen?“
„Nein – aber sie müssten schon längst in der ,Laguneʻ aufgetaucht sein … Was sagʻ ich! – Unsinn! Die ,Laguneʻ existiert nicht mehr. Ein Taifun hat sie hinweggefegt …“
„Wann?“
„Vor einer Stunde!“
Stan Lodge wiegte bedenklich den pomadisierten Scheitel. Tom Hunter gefiel ihm nicht mehr. Ein Taifun in Frisko? Lächerlich.
„Du solltest zu einem Arzt gehen, hörst du? Die Julihitze bekommt dir nicht. Du solltest schwimmen …“
„Schwimmen?“ Hunter raufte sich die Haare, helle Verzweiflung verzerrte sein erhitztes Gesicht zu einer wilden Grimasse. „Schwimmen? Ich kann dieses verdammte Wort nicht mehr hören. Jetzt nicht mehr …! Der Goliath wollte mich schwimmen lassen, nur eine Lüge hat mich gerettet. Ich habe ihn in die ,Laguneʻ gelockt. Hören Sie, Chef, in die ,Laguneʻ! Die Boys waren voll versammelt. Ihr Stolz …, Ihre Athleten, hahaha – lauter ausgesuchte Faustkämpfer von Gottes Gnaden, die sich auf Ihre Kosten ansehnliche Muskeln an die Knochen trainierten – hahaha …“
„Tom Hunter!“ Stan Lodge rief zur Ordnung. Der Kerl benahm sich hundserbärmlich. Er lästerte die Garde, die Kerntruppe seiner zukünftigen Macht, mit der er einmal in der Öffentlichkeit brillieren wollte. Ein Hobby sozusagen, das sich vielleicht auch hin und wieder ins Geschäft einspannen ließ, man konnte nie wissen.
„Der Taifun hat sie hinweggefegt …!“
Stan Lodge schüttelte wieder den Kopf, sehr missbilligend, schon nahe an ärgerlicher Gereiztheit. Er räusperte sich.
„Zur Sache, Hunter. Du hast ihn also in die ,Laguneʻ gelockt.“
„Er hat nach Stan Lodge gefragt, mit dem er Shakehands spielen wollte. Ich musste meine eigene Haut retten, und – da kam ich auf die Kneipe. In der ,Laguneʻ waren die Boys vom Nachmittagstraining. Als ich über dem Abgrund hing … wie ein Hering zum Trocknen …, ist es mir blitzartig durch den Kopf gegangen. – Ich habe ihm erzählt, dass Sie, Chef, dort zu finden seien. Und dann rannte ich, wie von Tausend Hunden gehetzt, zur Kneipe, um es den Boys anzukündigen. Sie waren begeistert, und einer von ihnen wollte sich zum Spaß als Stan Lodge ausgeben… Es dauerte zwei Stunden, bis der Matrose eintraf, er musste sich mühsam von Haus zu Haus gefragt haben.“ Tom Hunter legte eine sinnende Pause ein. „Ich hatte mich wohlweislich versteckt postiert.“
„Nicht sehr mutig“, entrüstete sich Stan Lodge, ohne eine Miene zu verziehen.
„Chef“, schrie Hunter plötzlich, „Sie werden gleich sehen, wie klug es von mir war – passen Sie auf: Der falsche Stan Lodge erhob sich, den Fremden gebührend zu begrüßen. Red Howard war es, Sie kennen den Boy. Er hat Dynamit in den Fäusten, er ist das As der Mannschaft gewesen … Ich habe gesagt ,gewesenʻ, Chef: Red Howard ist nämlich für weitere Kämpfe nicht mehr zu gebrauchen. Er ist ein Wrack, ein morsches Drahtgestell …, hahaha. Die Garde – die Prachtboys haben gezwitschert wie die Schwalben nach dem Unwetter, vor Vergnügen zuerst und dann vor Entsetzen…“
Der Bleistift Stan Lodges klopfte ungeduldig auf die Schreibtischplatte.
„Zur Sache, Hunter“, rügte er mit erhobener Stimme, „was tat Red Howard?“
Tom Hunter griff sich an die Stirn, als müsse er dahinter die Geschehnisse des Schreckens gewaltsam hervorholen.
„… Zuerst hat der Fremde eine tiefe Verbeugung gemacht. Er sah aus wie ein Gentleman, der Wert darauf legt, vorgestellt zu werden. Er verlangte nach Stan Lodge. Die Boys waren starr vor Staunen. Dann erhob sich Red Howard, steif wie eine Bohnenstange. Er näherte sich mit eingewinkelten Armen dem Riesen, mit tief in den Nacken gezogenem Schädel. Das tut er immer, wenn er einen Gegner angeht. Wir wussten, was die Stunde geschlagen hatte: Red Howard war in Kampfstellung gegangen. ,Ich bin Stan Lodgeʻ, grunzte er. – Chef, ich habe Red schon manchmal grunzen hören. Er grunzte immer,
wenn er auf einen Gegner losging, den er alsbald zermalmen würde. Noch nie aber war er so vergnügt gewesen, noch nie, Chef. Seine Visage…, ich kann Ihnen nicht sagen, wie –“
Beinahe hätte Stan Lodge mit der Faust auf den Tisch geschlagen, aber ein Oberlehrer tat so etwas nicht.
„Weiter!“, quetschte er nur scharf dazwischen, „was hat der Fremde darauf geantwortet?“
„Das freut mich“, hat er gesagt. „Ausgerechnet dich habe ich so dringend gesucht, noch dazu im dichten Nebel. Deine Laufbahn ist beendet, Stan! Komm, der Henker hat bereits die Schlinge für dich bereitgelegt…“
„Das hat er gesagt?“, der Bandenführer hob die Braue über den Kneiferrand, „und was meinte Red Howard dazu?“
Tom Hunter schluckte.
„Nichts“, fuhr er heiser fort, „er kam nicht mehr dazu, etwas zu meinen. Der Riese hatte ihn nämlich am Genick gepackt, hochgehoben, und dann wurde unser lieber Red geschüttelt… geschüttelt – Chef! Auch ich wurde geschüttelt… über dem Abgrund der Frisko-Bai. Aber das, glaube ich, war im Vergleich nur eine zärtliche Liebkosung gewesen. Plötzlich sauste Reds Körper so wuchtig gegen die Theke, dass das Monstrum auseinanderkrachte …“
„Howard?“
„Die Theke! Aber Howard erging es ähnlich. Er war wie ein gefällter Baum unter die Trümmer gesunken, ich glaube, sämtliche Rippen müssen ihm zerbrochen sein…“
Lodge erhob sich nun doch, mit allen Anzeichen der Entrüstung.
„Und die andern?“, zischte er zwischen wütend entblößten Zähnen, „die sind dabeigestanden und haben brave Zuschauer gespielt, wie?“
Tom Hunter winkte kopfschüttelnd ab. Es schien, als sei es ihm peinlich, jetzt noch fortzufahren.
„Nein, Chef. Die Boys haben sich verdammt gut geschlagen. Als sie gemeinsam auf den Giganten eindrangen, ist es ihnen auch tatsächlich geglückt, ihn gegen die Wand taumeln zu lassen …“ Hunter schloss für einen Moment die Augen. „Dick Bentley war der erste, dessen Schädel zwischen die Mahlsteine kam … Mahlsteine, hahaha! Das waren seine Fäuste, hol's der Teufel. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Dick Bentley sank ächzend zu Boden – und auch Frank Mishut, dessen Kopf der Gegenpol war. Die armen Schädel … Als der Berserker sie gegeneinander schlug, gab es einen dumpfen Knall, wie beim Kegelspiel … Dann begann der eigentliche Kampf, ein ungleicher Kampf gegen einen …“
Hunter stockte erneut.
„Und die Leiche? Ich liebe keine hinterlassenen Spuren.“
„Welche Leichen?“, fragte Tom höchst begriffsstutzig.
„Dumme Frage! Die des Matrosen, natürlich. Wo habt ihr sie hingeschafft?“
Hunter glotzte seinen Chef mit den Augen einer erschreckten Kuh an.
„Kann ich mich setzen, Chef?“ Er schob sich einen Stuhl heran, ließ sich darauf fallen und starrte mit schier abwesenden Blicken vor sich hin. „Ich will es kurz machen. Der Kampf währte keine fünf Minuten, dann war er entschieden, durch k.o. Ihre Boys liegen jetzt noch auf den Brettern … lange über die Zeit. Fred Murphy war der letzte, der ins Traumland hinübersegelte – dann kam die Polente. Beim ersten Ton der Sirenen habe ich mich in Sicherheit gebracht. Die Boys … natürlich – –“
Stan Lodge saß unbeweglich. Nur die scharfen Gläser seines Kneifers spiegelten ein unbekanntes Staunen, über das er selbst betroffen war. Er schüttelte zweifelnd den Kopf. Er hatte sich die „Garde“ aus Hunderten kräftiger Männer ausgesucht, hatte sie fürstlich bezahlt, ausgebildet und sogar auf die Catcher-Matte geschickt, damit ihre Kampfmethoden den letzten Schliff bekamen. Und nun diese Niederlage, dieses Ende! Ein einziger Mann hatte diese „Elite“ wie wild gewordene Kaninchen zusammengeschlagen, ohne selbst auf der Strecke zu bleiben. Wer mochte der Fremde gewesen sein? Ein Matrose? Lächerlich. Ein Matrose mit solch berserkerhaften Kräften hätte längst seinen Weg zum märchenhaften Dollargeschäft gemacht. Und dieser Kraftmensch hatte nach ihm verlangt? Sicher führte er etwas im Schilde, dem man begegnen musste. Auf den Planquadraten der Organisation musste das Gewicht der Vorsicht verstärkt werden.
„Hunter“, sagte Stan Lodge, ohne die geringste Erregung in seiner Stimme, „der Mann ist gefährlich – die ,Jungsʻ sollen ein Ende machen.“
Die „Jungs“. Das waren die Coltmänner des Gangsterkönigs. Stan Lodge war erst ins Opiumgeschäft eingestiegen, als er diese „Sicherheitswache“ seines zweifelhaften Unternehmens auf die Füße gestellt hatte. Sicherheit war für ihn eine Charaktersache; die oberste Parole im Feldzug um das gute Geschäft. Es war nicht nur sein unbestreitbares Talent, es war das Genialische in ihm, etwas Handfestes so auf die Beine zu stellen, dass es niemals – wie so manches Kartenhaus der einschlägigen „Branchen“ – vom ersten Windhauch weggeblasen werden konnte. Sicherheit gegen die Maßnahmen der Oberwelt war für ihn das wesentliche Fundament, auf das sich die Solidität des gefährlichen Unternehmens gründete. Diese Sicherheit stellte eine Gruppe ausgesuchter Coltmänner dar, die Stan Lodge gegen alle Eventualitäten schützen sollten. Die „Garde“ dagegen war für die Öffentlichkeit bestimmt, in der er unter dem Namen Doktor Calherne ein gutbürgerliches, angesehenes Dasein führte, denn auch der friedsamen Geschäftigkeit drohten mitunter Gefahren.
Die „Jungs“, die weder Tod noch Teufel fürchteten, hatte Stan Lodge in den üblen Wildwest-Kneipen Nevadas, Kansasʻ und Arizonas gefunden. Er bot ihnen ein sorgenfreies Leben und Tausend Dollar monatliche Gage. Gage – jawohl, denn sie sollten gelegentlich verwegene Schaustellungen zum besten geben. Jeder dieser Burschen, die er engagierte, war ein erstklassiger Coltmann, der mit seiner Waffe im intimsten Verhältnis war und einen Vogel aus der Luft herunterholen konnte, eine Leistung mit dem Colt, die ans Wunderbare grenzte. Stan Lodge war stolz auf diese Kerle. Täglich verbrauchten sie zentnerweise Blei, um durch dauernde Übung auf der Höhe ihrer rasanten Kunst zu bleiben.
„Die ,Jungsʻ“, wiederholte er noch einmal. „Verständige sofort Henry Logan … Gefahr! Der Fremde ist eine Gefahr für uns alle. Beeile dich, Hunter – jede Minute ist kostbar.“
Mit gemessener Bewegung legte Lodge seinen Bleistift auf den gewohnten Platz, sein Blick schweifte nachdenklich ins Leere, verhangen von leisem, träumerischem Glanz. Sicherheit, dachte er, Sicherheit zuerst – denn es ist erst der Beginn meines großen Plans …
– – –
Henry Logan fuhr in die Höhe. Seine „Jungs“ hoben erstaunt den Blick. Soeben war ein Fremder auf der Schwelle des Gruppenquartiers aufgetaucht. Ein gänzlich Fremder, der nicht zur Mannschaft gehörte.
„Zounds …!“
Henry Logan starrte auf den blondhaarigen Mann, der lautlos wie ein sich anschleichendes Raubtier den Raum betreten hatte.
„Wo willst du hin, Cowboy?“
In der Tat, die Aufmachung des Fremden war ähnlich der eines Kuhhirten auf den Weiden des Mittelwestens. Der schneeweiße Stetson, die Lederjacke, die befranste Reithose, die beiden tiefhängenden Colttaschen mit ihrem silberbeschlagenen Inhalt: Das waren lauter typische Details.
„Zu euch, Boys!“
„Was willst du hier?“
Conny Cöll deutete mit dem Daumen in einer leichten Drehung nach hinten.
„Hm, ich habe die Höhle gesehen, Boys. Die Männer und Frauen im tiefen Opiumrausch …“
„Willst du Pulver?“
„Nein“, lächelte der Westmann, „ich bringe welches.“
„Ein Geschäft?“
„Tja, ein Geschäft. Ich meine allerdings nicht das weiße Pulver, sondern das schwarze …“