Conny Cöll - Norton II. Kaiser von Amerika - Konrad Kölbl - E-Book

Conny Cöll - Norton II. Kaiser von Amerika E-Book

Konrad Kölbl

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Beschreibung

Die turbulente Handlung dieses Westernromans entführt uns in eine Welt, die wie das Produkt einer überschäumenden Fantasie wirkt ... doch Joshua A. Norton, Kaiser von Amerika und Protektor von Mexiko von eigenen Gnaden hat tatsächlich gelebt! Und San Franzisko – die große Stadt am Golden Gate ging damals bereitwilligst auf die Hirngespinste dieses wohl einmaligen Sonderlings ein. Aber in dieser Stadt werden Verbrechen verübt – und Norton II. ist der Auslöser für Conny Cöll und Neff Cilimm sich darum zu kümmern. Das Phänomen rankt sich in geheimnisvoller Weise um die verbrecherische Gestalt des Bettlerkönigs von Frisko. Man glaubt sich in jene Epoche zurückversetzt, lebt mit den wunderlichsten Gestalten, atmet echtes Milieu, erlebt Existenzen, die in unseren nüchternen Tagen einfach undenkbar wären. Sie sind aber in aller Lebensechtheit der pulsierenden Vitalität der großen Stadt an der pazifischen Küste entnommen! Aufgrund des Alters des Textes kann es sein, dass im Inhalt Begriffe verwendet werden, die heute nicht mehr gebräuchlich bzw. nicht mehr politisch korrekt sind.

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Norton II. – Kaiser von Amerika

von Konrad Kölbl

Inhalt

1. Unglaublich – aber wahr!

2. Eine Stadt horcht auf

3. Geheimnisvolle Vorgänge

4. Alarm

5. Überall war Nacht

1. Unglaublich – aber wahr!

Es war eine verrückte, jedoch großartige Epoche, jene Zeit, als Joshua A. Norton, knapp dreißig Jahre alt, in San Franzisko ankam. Vierzigtausend Dollar betrug sein Vermögen, als er die aufblühende Stadt am Golden Gate betrat. Mit Fleiß und glücklicher Hand gelang es ihm später, diese stattliche Summe zu versechsfachen. Als er sich dann aber mit Spekulationen in Reis versuchte, verließ ihn die Göttin des Profits. Er verlor, was er in jahrelanger Arbeit geschaffen hatte, und eines schönen Tages befand sich nur noch ein einziges Centstück in seiner Tasche, das ihn daran gemahnte, wie unberechenbar doch das Glück sein konnte. Ein kleines Centstück nur war ihm von seinem Reichtum geblieben. Ein Märchen? Nein, ein alltäglicher Fall im Land des ewigen Frühlings und des Goldrauschs, in der Stadt der sieben Hügel. Vielen ist’s so ergangen, die da glaubten, mit leichten Geschäften schnell und mühelos reich zu werden. Die einen rafften sich auf und begannen wieder von vorn, andere warfen ihr Leben von sich wie einen ausgedienten Regenschirm. Doch von einem weiß die Historie zu berichten, dass er weder das eine noch das andere tat …, eben dieser Joshua A. Norton.

Anfänglich befiel ihn tiefe Resignation. Dann aber suchte er die Abgeschiedenheit der Wälder auf, um in der Einsamkeit neue Kraft zu sammeln. Er begann mit den Bäumen zu reden, mit den Vögeln zu jubilieren, obwohl er keinen Grund zu lauter Freude hatte. Er sprach mit sich selbst. Zuweilen schrie er seine Fragen in das schattige Dickicht und gab sich selber Antwort. Der Lebensmut kam langsam zurück, doch die Form war verzerrt. Eines strahlenden Morgens sah er ein unwirklich helles Licht zwischen zwei mächtigen Hickorystämmen leuchten. Er liebte das warme, stark duftende Holz des Waldes, und im Anblick der rauen, hartborkigen Stämme stiegen sie herauf … George Washingtons Wohnsitz Mount Vernon war aus Holz gebaut, und der große Lincoln wurde in einer primitiven, aus Eichenstämmen zusammengefügten Blockhütte geboren. George Washington – Lincoln …, welch große Namen! Er schrie sie jeden Tag laut in den Urwald hinein, und immer kam die Antwort zurück … die gleichen Worte – – George Washington … Lincoln …! Sie entboten ihm also ihren Gruß. Folglich war er größer als die beiden. Vielleicht so mächtig wie Andy Jackson, der Abgott der Farmer und Arbeiter, den das Volk „Old Hickory“ nannte, der ruhmreiche Feldherr, der zum Symbol der ganzen Nation geworden war; „Uncle Sam“ – wer kannte diesen Namen nicht? Und die Gestalt, die ihn verkörperte? Den alten, weißhaarigen Mann mit Kinnbart und einem Zylinder, der mit den Streifen und Sternen des Banners geziert war. Andy Jackson … „Uncle Sam“ … „Old Hickory“! Ganz rote Wangen bekam Joshua A. Norton, wenn er diesen Namen aussprach. Immer wenn er Hickorybäume sah, musste er ihn in die Einsamkeit des Waldes schreien. Eine innere Stimme trieb ihn dazu, denn dieser größte Sohn der Nation lag unter sechs Hickorybäumen begraben, die so knorrig und wetterfest waren, wie jener, der unter ihren Wurzeln der Auferstehung entgegenschlummerte.

Washington … Lincoln … Jackson – – sie waren die Größten. Aber da war noch einer – und dieser lebte noch –, der war noch größer: Er – Joshua A. Norton! Die geheimnisvolle Gestalt, die inmitten strahlenden Lichts plötzlich zu ihm getreten war, hatte es ihm offenbart. Hehre Worte waren es, die ihm die Erscheinung entgegenrief, und als das Licht endlich erlosch, fand er zwischen den beiden Hickorystämmen eine alte Truhe. Eine blaue Armeeuniform mit matt blinkenden Messingknöpfen und goldenen Litzen lag darin, sorgfältig zusammengelegt, als müsste sie die Zeiten überdauern. Ein schwerer Biberfellhut lag daneben, der ihm vorzüglich zu Gesicht stand. Er zog seine abgetragene Kleidung aus, schlüpfte in die Uniform. Ganz zuunterst in der Truhe befand sich ein Degen, dessen Griff einer Königskrone ähnelte. Lederstiefel, deren Schäfte bis unter die Knie reichten und ein breiter Gürtel mit einem leeren Patronenhalfter vervollständigten das Bild. Ein wahrhaft königliches Bild! Mit der bunten Kleidung und dem Würde verleihenden Säbel wuchs auch das Selbstbewusstsein Joshua A. Nortons, ja, es steigerte sich ins Krankhafte, ins Fantastische, und schließlich gewann eine fixe Idee in seinem wirren Hirn die Oberhand. Ganz besessen war er von ihr. Der Geist Washingtons … Lincolns  … und „Uncle Sams“ verzauberte ihn. Sie waren Fürsten ihres Volkes, zugegeben. Aber sie lebten nicht mehr, doch der Geist war unvergänglich, die Seele ohne Anfang und ohne Ende. Und wenn die Materie zerfiel, musste sich eben das Unsterbliche eine neue Hülle suchen.

Mit weit aufgerissenen Augen stand Joshua A. Norton da. Er spürte den Geist dieser ungekrönten Fürsten in sich, sie waren ihm erschienen, so glaubte er felsenfest, alle drei zusammen, ihre verklärende Glorie um seine zerschlagene Existenz zu legen. Das Biberfell auf seinem fieberheißen Schädel drückte wie eine schwere Krone aus purem Gold, sie machte erhaben. Und dieses Gefühl verließ ihn nicht mehr. Einem siegreichen General gleich durchschritt er die Wälder. Ehrfürchtig vor der gestrengen Erscheinung bewirteten ihn die einsamen Farmer. Respektvoll wurde er sogar von Rinderhirten und Ranchhelfern behandelt. Wo immer auch die drahtige Gestalt des Mannes in der Fantasieuniform der Armee – zu Andy Jacksons Zeiten war sie einmal in Gebrauch gewesen – auftauchte, wurde er von den Menschen bestaunt, von den Ernsten wie von den Fröhlichen, von den Klugen und Einfältigen, von Jung und Alt. Vielleicht war’s ein ehemaliger Offizier der ruhmreichen Armee aus dem Befreiungskrieg? Vielleicht ein General, der sich nicht von seiner äußeren Würde trennen konnte? Vielleicht …?

Niemand fragte ihn, woher er kam, und niemand wollte wissen, wohin er ging. Wenn er erschien, anfänglich zu Fuß und später hoch zu Pferde, wurde er ehrfurchtsvoll begrüßt. Ein mitleidiger Farmer auf der Farallon-Insel, der erst vor Kurzem aus Italien eingewandert war, hatte ihm die alte Mähre geschenkt und einen uralten Sattel dazu, der einem Zirkusgaul alle Ehre gemacht hätte. Dieses gutmütige Pferd vervollständigte den Glanz, ja, man konnte schon sagen den Mythos seiner Erscheinung. Eine ganze Woche war er auf der Inselgruppe geblieben. Vielleicht, um mit seinem neuen Kameraden Freundschaft zu schließen. Nur der Italiener, der einzige Bewohner, und die zahllosen Vögel der reizvollen Landschaft waren Zeugen seines seltsamen Treibens. Später wechselte er dann zur Pelikan-Insel „Alcatraz“ hinüber. Das gefürchtete Zuchthaus für Unverbesserliche. „The Rock“ genannt, das er täglich wie ein Wachhund umschritt, als müsste er sich von der Stärke der hohen und unheimlich dicken Mauern überzeugen, schien eine magische Anziehungskraft auf ihn auszuüben. Die Wärter tippten sich bei seinem Auftauchen bedeutungsvoll gegen die Stirn. Es waren respektlose Leute, und als sie Anstalten machten, den „hohen General“ für ganz bestimmte Gummizellen zu interessieren, verschwand Joshua A. Norton plötzlich von der Insel und tauchte inmitten von San Franzisko wieder auf. Hier war er in guter Gesellschaft. Sein Erscheinen wurde überhaupt nicht registriert. Ein Mann in einer blauen Armeeuniform mit Messingknöpfen und goldenen Litzen – nun ja, da liefen noch ganz andere Exemplare durch die Straßen der „verrücktesten Stadt der Welt“, wie man Frisko damals zu nennen pflegte. Zum Beispiel Coombs, der sich einbildete, der Vater seines Landes zu sein, George Washington persönlich, wie seine äußere Aufmachung deutlich verriet. Er paradierte in vornehmem Rock, schneeweißer Weste und den bekannten Kniehosen aus schwarzem Samt, niedrigen Schuhen mit aufgesetzten dunklen Schnallen, schwarzseidenen Strümpfen und dem traditionellen Zweispitz durch die Straßen. Sollte er doch. Jeder konnte hier nach seiner Fasson selig werden, und wenn sich einer einbildete, George Washington zu sein … nun ja – was war da schon Besonderes dran? Er war nicht der einzige Sonderling. Da lebte auch noch „Great Unknown“, der große Unbekannte, ein Mann von hoher Gestalt und unnahbarer Würde, der aufs vornehmste gekleidet durch San Franzisko stolzierte. Das Geheimnis umschwebte ihn und eine undurchdringliche Mystik, die keinen Schaden anrichtete, aber auch niemandem von Nutzen war. Aller Augen richteten sich auf den würdigen Gentleman, der in der Pose eines Grandseigneurs jeden Tag zur gleichen Stunde die Market Street entlangschritt. Einige nickten verständnisvoll; sie schätzten die Schweigsamkeit des Mannes, andere tadelten den Umstand, dass er seinen Spaziergang niemals unterbrach, um ein freundliches Wort mit seinen Mitmenschen zu wechseln. Keinem Bürger Friskos war es je gelungen, ihn zum Reden zu bringen. Man kannte nicht einmal seinen Namen. Er hatte aber auch seine Gegenspieler. Da waren „Old Misery“, auch „Gutter Snipe“[1] genannt, und „Old Rosey“, die alle Morgen um Geld bettelten. Niemand hatte in den langen Jahren ihrer „Tätigkeit“ Old Rosey jemals anders gesehen als mit einer blühenden Rose am schmutzigen Kittel.

Das war aber noch nicht alles. Die Fremden hatten wirklich recht, wenn sie San Franzisko als die Stadt der Verrückten bezeichneten. Da lebte noch ein anderes Original, „Der wilde Mann von Borneo“, ein lärmender Schausteller mit einer originellen Vorführung, die er an den Straßenecken und in belebten Parkanlagen zum Besten gab. Hauptdarsteller war er allein, er, der auf den Namen „Oofty Goofty“ hörte. Als fellbekleideter Tarzan zog er die Aufmerksamkeit der Menge auf sich, denn er konnte die Tierlaute der Wildnis täuschend nachahmen. Er schrie schrill wie ein Affe, wenn er seine Schaunummer ankündigte. Sie war auch ungewöhnlich. Er erlaubte jedermann, ihm für zehn Cent einen derben Tritt aufs feiste Hinterteil zu versetzen, und wer fünfzig Cent ausgab, konnte die Tierstimme wählen, die er dabei zum Besten geben sollte. Fünfundzwanzig Cent kostete es, ihn mit einem Billardstock zu schlagen, und wer ein vorzüglicher Baseball-Spieler war, konnte sich ein Vergnügen daraus machen, für einen Dollar seinen Allerwertesten aufs Korn zu nehmen. Dabei grunzte er wie ein leibhaftiges Ferkel.

Er ertrug harte Attacken. Nur einmal hatte er Pech. Als nämlich der große Boxer und Weltmeister John L. Sullivan sich einen kleinen Scherz mit dem Kricketschläger erlaubte, hatte „Oofty Goofty“ mit demoliertem Rückgrat das Hospital für längere Zeit in Anspruch nehmen müssen.

Ja – das war San Franzisko in der großen, verrückten Zeit. Konnte da ein Mann namens Joshua A. Norton noch Aufsehen erregen? Kaum. Dann aber trat ein Ereignis ein, das die ganze Stadt aufhorchen ließ, da es so ungewöhnlich war, dass es sogar dem an vielerlei Verrücktheiten gewöhnten Bürger den Atem verschlug. Bisher waren’s nur harmlose Narren, die ihre Gemüter erheiterten, verschrobene Gesellen, die mit ihrem Treiben zur allgemeinen Volksbelustigung beitrugen. Auch Frauen waren darunter, deren „Ruhm“ weit über die Grenzen der Stadt am Golden Gate hinausreichte. Aber sie gehörten eben dazu wie der Snob Hill oder die Cable Cars in ihren Straßen, wohl die „verrücktesten“ Fahrzeuge, über die die Menschen je verfügten. Man hatte im alten San Franzisko Verständnis für schrullige Leute. Man liebte sie wie die geschäftige Market Street, die herrlichen Parkanlagen oder die große Bay.

Eine rührende Hassliebe jedoch hegte man zu jenem Hafengebiet, das unter der Bezeichnung „Barbary Coast“ in der ganzen Welt traurige Berühmtheit genoss. Seit zwanzig Jahren schon trug es seinen Namen. Seeleute, die in den Kaschemmen Nordafrikas zu Hause waren, hatten ihn ihm gegeben. Nachts schlichen Spießer und Pharisäer unerkannt in diese dunklen Gefilde, dorthin, wo die roten Lampen über den schmalen Türen eine unmissverständliche Sprache wippten. Aber nicht immer waren’s nur die „cribs“, wie die leichten Mädchen genannt wurden, die den Anziehungspunkt der meist wohlhabenden Männerwelt bildeten, auch hier gab es Originale, Außenseiter der Weiblichkeit, über deren seltsame Angewohnheiten sich Tausende erheiterten. Da war „Waddling Duck“, die „Watschelnde Ente“ – ein Fleischkoloss, der zum Gaudium der Gäste das Tanzbein schwang, bis das primitive Podium zusammenbrach. Dabei warf sie ihren Partner, ein spindeldürres Männchen, wie einen Spielball durch die Luft und fing ihn dann mit ihrem ungewöhnlich breiten Nacken wieder auf. Am Schluss ihrer Darbietungen pflegte sie ein lockeres Brett aus den Fugen zu reißen, scheinbar, um das Produkt missglückter Männlichkeit wie eine lästige Fliege zu erschlagen. Wie johlte die ausgelassene Menge, wenn der Bedauernswerte sich gerade noch rechtzeitig durch einen raschen Sprung zur Seite retten konnte. Ein verrücktes Weib? Sie war’s, aber unter noch verrückteren Menschen, die solche Attraktionen zu sehen wünschten. Was aber hatte ihr „Ruhm“ schon zu bedeuten, ihr strahlendes Licht am Himmel der Originalität, gegen jenes, das nun bei Erscheinen eines Mannes in der blauen Uniform über der Stadt am Golden Gate aufleuchtete, gleich einem Kometen, der am Firmament emporstieg und volle zwanzig Jahre[2] nicht mehr erlosch!

Wie hieß der Mann? Staunend tuschelten die überraschten Bürger seinen Namen. Einige wollten ihn sogar wirklich kennen, ein wohlangesehener Geschäftsmann, den unglückliche Spekulationen ruiniert hatten. Mein Gott, welche Tragik! Hatte der Arme den Verstand verloren? Nun, das hatten viele und die meisten merkten es gar nicht. Jener aber … nein, es war nicht zu fassen –

Ausgerechnet in der MacAllister Street, vor der fünfstöckigen Fassade eines im neo-klassizistischen Stil erbauten Gebäudes, in dem die Büros des State Gouvernements, der Oberste Gerichtshof von Kalifornien, das Hasting-College für Rechte der Universität, sowie eine umfassende Sammlung von Gesetzesbüchern untergebracht waren, geschah es. Das hatte San Franzisko noch nie erlebt! Auf dem kleinen Sockel vor dem Eingang des großen Gebäudes stand er, eine volle Stunde lang mit himmelwärts gerichtetem Blick, bis sich so viele Menschen um ihn versammelt hatten, dass er sich herablassen konnte, seine große Mission zu verkünden. Alle hörten es. Ein paar Verwegene lachten, sie wurden durch heftige Rippenstöße davon überzeugt, dass es besser sei, gute Miene zum komischen Spiel zu machen. Mit Kindern und Narren musste man nachsichtig umgehen. Er hatte ein laute, befehlende Stimme, dieser Mister Joshua A. Norton, als er offenbarte: „Hört zu, meine lieben Untertanen, meine verehrten Freunde und Gönner! Großes Glück ist euch zuteil geworden, denn heute, nach so langer Zeit, bin ich hier erschienen, meine unveräußerlichen Rechte anzutreten. ---Ich …, Norton der Erste, Kaiser von Amerika und Protektor von Mexiko! Ich bin gekommen, um für mein Recht zu kämpfen und den Thronräubern in Washington bittere Fehde anzusagen. Ich befehle euch, mich in meinem Kampf zu unterstützen …“

Das war alles. Nun erst senkte er den Kopf und stieg mit der Grandezza eines spanischen Edelmannes von seinem Podest herab. Bereitwillig, ja fast ehrfürchtig machte ihm die Menge Platz, staunte ihn an, als hätte sie soeben eines der sieben Weltwunder gesehen. Sie gab ihm eine kurze Wegstrecke das Geleit. Spaßmacher gibt es überall, und einige befanden sich auch in dem Gewühl. Sie begannen ihrem Herrscher zuzujubeln, machten tiefe Verbeugungen, Norton I. aber winkte lässig ab. Er liebte also keine Ovationen, keinen Personenkult, keine öffentlichen Huldigungen. Eine herrische Gebärde verwies die Vorlauten in ihre Schranken. Und mit unnachahmlicher Würde stolzierte er die MacAllister Street entlang, bog in die Larkin Street ein und war wenige Minuten später den Blicken der ihm belustigt Nachstarrenden entschwunden. Jetzt löste sich die aufgestaute Heiterkeit. Die frohe Schar, die sich vor dem State Building eingefunden hatte, brach in brüllendes Gelächter aus. Sie hatte schon viel gesehen und erlebt. Sie hatten schon manches besessen und in ihren Reihen geduldet. Auch eingebildete Vornehme. Zum Beispiel die „Countess“, die Gräfin. Der Goldrausch hatte sie mit zahllosen Abenteurern in die Stadt getrieben, in der das Laster zu Hause war, und als sie dann als Friskos führende Kurtisane ihr Etablissement eröffnete, sandte sie ihre Einladungskarten an alle wohlbekannten Persönlichkeiten. Eine Gräfin war sie nicht. Sie ließ sich nur so nennen. Oder eine andere, Lady Jane Grey, die von ihrer hohen Geburt so felsenfest überzeugt war, dass sie sich eine Krone aus bunter Pappe ins Haar setzte und bei jeder Gelegenheit vergoldete Visitenkarten verteilen ließ. Dies alles hatte Frisko schon genossen. Grafen, Ladys, Barone und Bettlerkönige. Warum sollte sie also zur Abwechslung nicht auch mal einen Kaiser ihr eigen nennen? Einen richtigen Kaiser. Großer Himmel – welch ein Kuriosum! Das hatten sie sich schon immer gewünscht, wenn sie die pikanten Hofgeschichten europäischer Fürstenhäuser in den Zeitungen lasen. Diesmal aber schien die Verrücktheit eine ganz besondere Blüte getrieben zu haben, die wohl schnell und schmerzlos in einer Gummizelle verwelken würde. So dachten viele. Als der Gouverneur von dieser aufsehenerregenden Volksproklamation erfuhr, lachte er sich fast zu Tode. Der Krankenwagen, der schon bereitstand, wurde wieder zurückgeschickt, sehr zum Missvergnügen der beiden stämmigen Beamten, die darin ihrer handfesten Aufgabe harrten. Der Polizeipräsident, ein ehemaliger Goldschürfer, der dem harten Boden Kaliforniens keinen erzhaltigen Reichtum hatte abgewinnen können, trotz seiner Misserfolge aber seinen goldenen Humor nicht verloren hatte, stimmte in das allgemeine Gelächter mit ein. Was bedeutete das schon! Einen Verrückten mehr in der Stadt. Solange er sich nicht gegen die Gesetze verging und keine Gefahr für seine Mitmenschen bildete, sollte er ruhig sein Spiel weitertreiben. Wozu nannte man schließlich San Franzisko die „verrückteste Stadt“? Der Olympic Club in der Post Street, über dessen Marmoreingang ein geflügeltes „O“ auf die Bedeutung dieses ältesten Athletenclubs des Staates hinwies, lud den „Kaiser von Amerika“ ein, seine Antrittsrede in den heiligen Räumen des imposanten, lederfarbenen Ziegelsteingebäudes zu halten. Norton I. kam, und während sich die übermütigen Mitglieder in ihrem großen Schwimmbassin, das sein Wasser direkt vom Pazifischen Ozean zugeleitet bekam, tummelten, hielt die „Erlauchte Majestät“ ihre erste große Rede. Er befahl, seine Proklamation zu veröffentlichen – was auch geschah –, die demokratische und die republikanische Partei im Interesse des Friedens aufzulösen. Die Staaten hatten ihren Herrscher, und einer genügte. Abermals schleuderte er harte Worte gegen die Land- und Kronräuber in Washington. Er mahnte die Bevölkerung seiner zu gedenken, da man ihm unmöglich zumuten könne, die öffentliche Fürsorge in Anspruch zu nehmen. Er forderte die Braven auf, dafür zu sorgen, dass sein Speise-, aber auch sein Kleiderschrank immer gefüllt seien und dass es ihm an nichts mangele, was er in Anbetracht seiner hohen Mission unbedingt für seine Regierungsgeschäfte brauche … Tosender Beifall wurde ihm zuteil. Und natürlich auch ein paar Hundert Dollar, denn den Mitgliedern des Athletenclubs war diese köstliche Bereicherung ihrer Unterhaltung einen kleinen Aderlass wert.

Dieser Heiterkeitserfolg des Olympic Clubs ließ die bekannteste Künstlervereinigung, die Frisko besaß, den Bohemian Club, der nur namhafte Schriftsteller und Maler aufnahm, nicht ruhen. Er war die nächste Örtlichkeit, die Norton I., Kaiser von Amerika, besuchte. Als der „hohe Gast“ das dunkelrote Ziegelsteingebäude an der Nordostecke der Post und Taylor Street betrat, standen die Künstler Spalier und begrüßten ihn mit tiefen Verbeugungen. Ehre, wem Ehre gebührt! Man besaß Humor und freute sich, man spielte mit. Spielverderber, kleinbürgerliche Spießer oder gar armselige Bürokratenseelen hatten in den weltberühmten Räumen des Bohemian Clubs noch nie Zutritt erhalten, und Mark Twain behauptete einmal, dass es in ganz Kalifornien überhaupt keine Spießer oder gar verachtenswerte Bürokraten gebe. Gottlob – noch nicht. Wie käme San Franzisko auch nur zu solchen Witzblattfiguren? Wovon hatte Norton I. in den geheiligten Räumen dieses angesehenen Clubs gesprochen? Anfänglich empfanden die geduldigen Zuhörer gar nicht, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Er sprach doch ganz normal. Aber vielleicht lag es am Künstlervolk, dass es die Worte seines „Kaisers“ nicht verstand? Norton I. pries die Kunst der Friskoer zu feiern und zu leben. Sie hätten ihre „Weltanschauung der Menschlichkeit“ zur höchsten Form entwickelt. Und dann schilderte er in bewegten Worten, wie man an den zahllosen Spieltischen der Saloons gut angezogene Gents neben rauen Goldgräbern sitzen sehe, die eben von ihren Claims kämen. Er befahl, alle Standesunterschiede fallen zu lassen, die nur zu versnobter Arroganz führten. Er berichtete von den endlosen Kolonnen, die in den großen Tagen des Rushs in der Glorie ihrer Goldgräberkostüme, behängt mit Waschpfannen, Kaffeetöpfen und anderen Essgeräten hinausgezogen waren. Menschen aller Schattierungen, weiße, rote, schwarze und auch gelbe unter ihren großen Basthüten. Wie waren sie zurückgekehrt? Die Taschen voller Nuggets, die Herzen angefüllt mit Lebenslust. Die Körper brennend vor Daseinsfreude und Gier. Sie trugen Seidenhüte, Prinz-Albert-Jacken, fein gefältelte Hemden, modische Westen und Beinkleider, die unter den Knien endeten und von hohen, glänzend polierten Stiefeln umschlossen wurden. Aus der vornehmen Kalifornia und Stockton Street kämen die eleganten Frauen und Töchter, aus der Pike Street[3] die Halbweltdamen mit ihrem aufdringlichen Gekreisch. Die bildschöne Lola Montez führe die Straße entlang und ihre Verehrer begleiteten sie hoch zu Ross in respektvoller Entfernung. In lebendigen Worten verstand es „Seine Majestät“ den Prunk der Stadt zu schildern, und dann mahnte er seine Zuhörer, die Hoffart abzulegen, der Sinneslust zu entsagen, den Müßiggang energisch zu bekämpfen und wieder auf die verlassenen Claims zurückzugehen, anstatt die zahllosen Saloons und Spielhöllen zu bevölkern, denn das Gold, das die Digger in die Stadt brächten, ginge seinen Weg über die grünen Tische, und die Männer huldigten dem Aberglauben, nur dann zu den Claims zurückkehren zu können, wenn der letzte Cent verspielt sei. Das war der Inhalt seiner Ansprache. Eine vernünftige Rede wie es schien. Sie hatte nur einen Nachteil: Sie wurde um zwanzig Jahre zu spät gehalten, denn die Goldfelder waren längst abgeräumt und die paar Körner, nach denen noch gegraben wurde, reichten kaum aus, den armseligen Schürfer am Leben zu erhalten.

Plötzlich hatte der „hohe Redner“ seine Ausführungen abgebrochen. Der Gedankenfaden war gerissen, und ohne Gruß, ohne die Ovationen für seine aufschlussreichen Ausführungen abzuwarten, hatte er den Club verlassen, eingedenk der Tatsache, dass die Wirkung einer Rede umso größer ist, wenn man sie auf dem Höhepunkt beendet. Etwas enttäuscht entließen ihn die anwesenden Künstler. Sie hatten ihren „Herrscher“ gar nicht so sehr als verrückt empfunden. Da erreichten ihre eigenen Erzeugnisse mitunter höhere Grade der Verworrenheit. Etwas ganz anderes aber bekamen die Mitglieder des Pacific Union Clubs auf dem Nob Hill zu hören, in dem prunkvollen Haus, das Mister James C. Flood gehörte, dem steinreichen Goldgruben-Besitzer, der seine Karriere als Barkeeper begonnen hatte. Natürlich wollte auch er damit prunken, den „Kaiser von Amerika“ in Privataudienz empfangen zu haben. Wohl über Hundert Mitglieder dieses feudalen Clubs hörten dort zu ihrer größten Verblüffung, was ihnen „Seine Majestät“ zu sagen, ja zu befehlen hatte. Mit glühenden Worten hatte er die Schönheit der Stadt gerühmt, die nicht müde wurde, ihren Glanz als Königin der Städte noch weiter zu vermehren. Was aber nützten die schönsten Gebäude, die verlockendsten Parkanlagen, die breitesten Avenuen. Die Hauptsache fehlte: Es gab keine Möglichkeit, trockenen Fußes über die große Bucht zu wandern, um die Welt dort draußen an den Schönheiten der herrlichen Stadt teilnehmen zu lassen. Er befahl, eine Brücke über die Bucht zu bauen, die schönste, die längste, die je von Menschenhand errichtet worden sei. Und er verlangte, dass seine Forderung acht Tage lang in den Zeitungen veröffentlicht werde. Was auch sofort geschah. Jetzt lasen es die staunenden Bürger. Eine Brücke über die große Bucht? Eigentlich ein großartiger Gedanke! Die maßgebenden Behörden erinnerten sich plötzlich an einen Plan, der schon lange in ihren Schränken ruhte, und der sich genau mit einem solchen Vorhaben befasste. Bürgerversammlungen wurden einberufen und man beschloss, dem Gouverneur die Aufforderung zu übersenden, den „Befehl Seiner Majestät“ unverzüglich zur Durchführung zu bringen. Und volle acht Tage berichteten die Zeitungen auf der ersten Seite von ihren Bemühungen, die maßgebenden Stellen für dieses grandiose Projekt zu gewinnen. Und was niemand für möglich gehalten hatte, geschah. Dieses unvorstellbar gigantische Werk wurde in Angriff genommen. Es war schon eine verrückte, aber großartige Zeit … Damals –

Der Montgomery Block war im Entstehen, erbaut aus Zement und Ziegeln, die man aus England herüberbrachte. „Affen-Block“ wurde er im Volksmund genannt. Ebenfalls stieg das Hotaling Building, ein dreistöckiges Backsteinhaus im Stil des zweiten Empire-Reiches aus dem Grund. Man prophezeite ihnen ewiges Leben. Beide hatten es nicht. Norton I., Kaiser von Amerika, überlebte sie … Jahre vergingen. Man lachte noch immer über den einfältigen Harlekin mit der schweren Biberfellmütze und der blauen Uniform mit den Messingknöpfen und goldenen Litzen. Man hatte ihm zwar nur ein paar Wochen seines falschen Glanzes vorausgesagt. Aber der Montgomery Block und das Hotaling Building waren fertiggestellt und „Seine Majestät“ war noch immer in Amt und Würden. Nichts hatte sich an seinem Äußeren verändert. Nur ein kleiner Zierdegen war hinzugekommen. Dazu viele Freunde, die sich über den wirren Kauz köstlich amüsierten, für seinen Lebensunterhalt sorgten, seine Zechen zahlten und ihn überall hochleben ließen. Die Reden des „Hohen Herrn“ an die Adresse der Thronräuber in Washington wurden allerdings immer stiller und gedämpfter. Aber sie hörten nie ganz auf. Dafür begann er zu schreiben. Briefe an die Staatsmänner der Union. Sie wurden prompt veröffentlicht. In ihnen beschwerte er sich über die verschiedenen Missstände in der „schönsten Stadt der Welt“. Dort seien die Straßen nicht sauber angelegt, hier erregte ein schmutziges Gebäude sein Missfallen, er empörte sich über soziale Ungerechtigkeiten, derer es eine ganze Menge gab. Er „befahl“ dem Gouverneur, verschiedene neue Wagenlinien der Cable Cars, jener vortrefflichen Hügelfahrzeuge der Stadt, zu bauen. Dies lag ohnedies in der Planung der Stadt. Also geschah es. Einmal wurde ein Haus niedergerissen – man behauptete, auf „Anordnung des Kaisers“. Das Gebäude war aber dem überhandnehmenden Verkehr im Wege gewesen. Er wurde nicht müde, zu kontrollieren, ob seine „Befehle“ auch ausgeführt wurden. Er kontrollierte nächtlicherweise die Polizei, ob sie auf ihrem Posten war, er inspizierte die öffentlichen Gebäude, ob die Clerks ihre Pflicht erfüllten. Sie taten es. Nicht ein einziges Mal hatte „Seine Majestät“ Grund zur Klage gehabt. Überall, in den Ämtern und auch in den Büros privater Unternehmer, wurde er freundlich aufgenommen, bewirtet und beschenkt, wie es seiner kaiserlichen Würde entsprach. Man freute sich, dass so etwas möglich war, und es war eben nur in Frisko möglich, nirgends sonst auf der Welt. Großartige Etablissements entstanden. Das Mark-Hopkins-Hotel, ein Wolkenkratzer, der den Namen eines der „Großen Vier“ der Eisenbahnlinien verewigen sollte. Immer größer wurde die Stadt, immer schöner und imposanter. Mit ihr wuchs auch die Zahl der Spielsaloons. Immer noch war sie größter Anziehungspunkt der Einwanderer, die aus aller Welt kamen, in schmutzigen Flanellhosen und krempelosen Hüten, darunter Mexikaner mit ihren bunten Decken über der Schulter, dünne Zigaretten rauchend, Franzosen mit ihren typischen Mützen, schwarz verschmorte Pfeifen paffend und ganze Schwärme von Chinesen mit ihren radgroßen Basthüten. „Seine Majestät“ begrüßte sie alle. Staunend wurde er von den Fremden betrachtet, die schmunzelnd erfuhren, dass sie jetzt auf einmal von einem Kaiser regiert wurden. Der Mann in seiner prunkvollen Paradeuniform ermahnte sie, sich gesittet zu benehmen, die Kneipen zu meiden, einer friedlichen Beschäftigung nachzugehen und vor allem dem „Chuck a luck“, dem verdammten Glücksspiel, zu entsagen. Alle versprachen’s, aber nur wenige hielten ihr Wort. Das Gold in den Taschen der Digger, die in mühseliger Arbeit den Boden Kaliforniens durchwühlten, war nicht von Bestand. Es schmolz in den Saloons wie Schnee in der Märzensonne. Norton I. ließ es sich auch nicht entgehen, in die Höhle des Löwen zu gehen, um den Keepern ins Gewissen zu reden. Er sah stets nur demütig gesenkte Blicke und schamvoll errötende Menschen, die innerlich sofort Besserung gelobten. Es gehörte zum guten Ton, dem „Kaiser“ nicht zu widersprechen, der mit einer guten Mahlzeit schnell zu besänftigen war. In der Tat – es war eine verrückte, aber großartige Zeit.