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Die algerischen Autorinnen Maïssa Bey, Assia Djebar und Malika Mokeddem bezeichnen ihr literarisches Schaffen als Engagement gegen das (Ver-) Schweigen insbesondere der Erfahrungen von Frauen in der Gesellschaft. Wenn Kulturpolitik und nationale Identitätsbildung eng verknüpft sind, ist es von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung, dass in Literatur soziale Prozesse, politische Entscheidungen und traditionelle Lebensweisen hinterfragt werden. In der Arbeit wird die narrative Konstruktion weiblicher Identitäten im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und dem Bedürfnis nach Freiheit des eigenen Lebensentwurfs in Romanen der drei Autorinnen untersucht. Literatur wird dabei zu einem Ort des Verhandelns alternativer Lebensentwürfe und der expliziten Darstellung von Identitätskrisen in einem postkolonialen Kontext.
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Jessica Wilzek
„Contre tous les silences“: Weibliche Identitätsentwürfe in Romanen algerischer Autorinnen
Umschlagabbildung: Purple and magenta watercolor feathers. Bird feathers are hand-drawn and isolated on a white background. Adobe, Stock-ID: 488789857. Bildnachweis: Kateryna Polishchuk
Diese Dissertation wurde vom Fachbereich Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen in 2022 angenommen.
DOI: https://doi.org/10.24053/9783823396178
© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 0344-5895
ISBN 978-3-8233-8617-9 (Print)
ISBN 978-3-8233-0494-4 (ePub)
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die Anfang des Jahres 2022 vom Fachbereich 05 der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommen wurde. In der langen Zeit von den ersten Ideen bis zur Veröffentlichung haben mich viele Personen begleitet, denen ich danken möchte.
Ganz besonders möchte ich mich bei Prof. Dr. Hartmut Stenzel bedanken. Neben der intensiven und umfassenden fachlichen Unterstützung wäre diese Arbeit vor allem ohne seine ermutigende und konstante Begleitung nicht möglich gewesen. Ich bin froh, dass ich vor vielen Jahren nach Seminaren bei ihm meinen Mut zusammengefasst und Ideen für ein Promotionsprojekt mit ihm besprochen habe.
Meine Zweitbetreuerin, Prof. Dr. Verena Dolle, hat mich mit fachlichen Impulsen, differenzierter Kritik und vor allem Diskussionen über das theoretische Fundament meiner Arbeit begleitet. Ich danke ihr ebenso für Gespräche über potentielle weitere Karrierewege, die für mich wichtig waren, um die doch manchmal unsichere Zeit der Promotion zu navigieren.
Viele weitere Personen haben mich fachlich und darüber hinaus auf meinem Weg begleitet und einen wichtigen Beitrag zur Entstehung der Arbeit geleistet. Ich danke Prof. Dr. Kirsten von Hagen und Prof. Dr. Barbara Holland-Cunz, die mich in unterschiedlichen Phasen der Promotionszeit unterstützt und meine Forschung erweitert haben. Ich bin außerdem sehr dankbar für die vielen zeitintensiven Gespräche, das konkrete und ausführliche Feedback und die vielfältigen Impulse von Dr. Esther Suzanne Pabst, ohne die ich über die Anfangs- und Eva Hilus, ohne die ich über die Abschlussphase der Diss nicht hinausgekommen wäre. Mara Tabea Sarcevic möchte ich fürs kritische Lesen und Korrigieren danken.
Ein ganz besonderer Dank geht an meine Kolleg*innen im Akademischen Auslandsamt der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ohne die Ermutigung, die Zeit und die Unterstützung, die mir Petra, Karin, Julia, Szilvia, Meike, Patrycja, Marina und Saltanat geschenkt haben, wäre ich nicht so weit gekommen.
Ich bin die Erste in meiner Familie, die studiert hat. Eine Promotion zu beginnen (und zu beenden), erforderte Mut und Unterstützung von Menschen, die an die Machbarkeit des Projekts und an mich geglaubt haben.
Meine Freundinnen haben mich als Rat- und Ideengeberinnen, kritische Leserinnen und Helferinnen in der Not getragen: danke Helen, Anne, Steffi, Valentina, Eva und allen, die in den unterschiedlichen Phasen meinen Weg intensiv begleitet haben. Ich möchte mich auch bei den wichtigen Menschen in meinem Leben bedanken, die mich vor allem beim Abschluss der Arbeit und der Disputation aufgefangen und daran erinnert haben, was mir wichtig ist zu sagen.
Ein großer Dank geht an meine Familie, die immer fest daran geglaubt hat, dass ich es schaffen kann; auch wenn ich mal Umwege gegangen bin. Diese Art der Unterstützung ist unschätzbar.
Abschließend geht mein Dank an Steffen, der mich über den gesamten Zeitraum des Projekts unterstützt, mir oft den Rücken freigehalten, alle Krisen gesehen und begleitet und mir Mut gemacht hat, nicht aufzugeben. Und an meine Tochter, deren Anwesenheit in meinem Leben, meine Motivation zu schreiben und meine Stimme zu nutzen noch verstärkt hat.
Mon écriture est un engagement contre tous les silences. (B. 2004)
Die algerische Autorin Maїssa Bey bezeichnet in diesem Zitat ihr literarisches Schaffen als Engagement gegen jegliches (Ver-)Schweigen oder Tabuisieren. Ihre Romane, Novellen und Theaterstücke beschäftigen sich mit Themen, die die algerische Gesellschaft und die algerische Geschichtsschreibung zu vergessen oder sogar zu verdrängen versuchen. So geht es zum Beispiel um die Frage nach Schuld und Opfer des Algerienkriegs (in Entendez-vous dans les montagnes…), die verdrängte Gewalt und fehlende Aufarbeitung des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren (in Puisque mon coeur est mort), sowie die Gewalt gegenüber Frauen, ihre eingeschränkten Rechte und die gesellschaftlichen, religiösen und sozialen Regeln, die ihren Alltag und ihre individuellen Lebensentwürfe belasten und massiv einschränken. Ihr fiktionales Schreiben wird zum Mittel ihres Engagements gegen das Schweigen. Es wird für sie und ihre Leser:innen zum Ort, an dem eine Offenlegung verdrängter oder verschwiegener Ereignisse und gesellschaftlicher Mechanismen ebenso möglich zu sein scheint wie deren Verarbeitung.
Die wohl bekannteste algerische Autorin der Gegenwart, Assia Djebar, hat sich ebenfalls mit dem Schweigen und den Konsequenzen eines Schreibens dagegen auseinandergesetzt. Für sie wird das Schreiben zu einer politischen Handlung, die über das inhaltlich in literarischen Texten Verhandelte hinausgeht:
Une femme algérienne qui se met à écrire risque d’abord l’expulsion de sa société. […] En fait la société veut le silence. A un moment donné toute écriture devient provocation. (Chaulet-Achour 1998, S. 21)
Ihrer Ansicht nach begrüßt die Gesellschaft das Verschweigen bestimmter Ereignisse und sozialer Tabus. Eine schreibende Frau ist an sich bereits ein Tabubruch, mit dem sie soziale Ausgrenzung riskiert. Das Risiko verdoppelt sich, wenn in ihrem Schreiben Themen in den Fokus rücken, die in anderen öffentlichen Diskursen mit Rücksicht auf den gesellschaftlichen Konsens fehlen. Das Zitat Djebars stammt aus den 1990er Jahren und damit aus der Zeit des Bürgerkriegs, in der eine öffentliche Stellungnahme lebensgefährlich sein konnte. Auch wenn algerische Intellektuelle aktuell nicht mehr in gleichem Ausmaß um ihr Leben fürchten müssen, besteht eine Bedrohung – insbesondere für Frauen – nach wie vor. So wird die algerische Schauspielerin und Dramatikerin Rayhana 2010 Opfer eines versuchten Säureattentats in Paris (vgl. Hahn 2010). Die Attentäter beschimpfen sie mit sexistischen und islamistischen Parolen kurz vor der Aufführung ihres Theaterstücks A mon âge je me cache encore pour fumer, in dem Frauen in einem Hammam über weibliche Sexualität diskutieren.
Assia Djebar macht in ihrem Zitat das Potential von Literatur als Provokation und damit als Auslöser gesellschaftlicher Debatten und Konflikte deutlich. Die drei für die vorliegende Arbeit ausgewählten Autorinnen, neben Djebar, die 2015 verstarb, und Bey auch Malika Mokeddem, schreiben im Bewusstsein dieser exponierten Position einer weiblichen Intellektuellen aus und in Algerien. Sie sind erfolgreiche und in Frankreich mit Preisen ausgezeichnete Autorinnen und stehen dennoch auf gewisse Weise am Rand der Gesellschaft. In ihrem Herkunftsland Algerien werden ihre Erfolge gefeiert, aber die Inhalte ihrer Bücher teilweise scharf kritisiert. Sie verkörpern nach Djebar die ambivalente Stellung französisch-schreibender, algerischer Schriftsteller:innen zwischen „au-dehors“ und „au-dedans“, zwischen Marginalität und Popularität.
Zuletzt wurde dies deutlich am Beispiel des Erfolgs der marokkanisch-stämmigen Autorin Leїla Slimani. Die Auszeichnung mit dem Prix Goncourt im Jahr 2016 macht sie auch in ihrem Herkunftsland zum Star. Die Thematik ihrer Publikation – Sexe et mensonges. La vie sexuelle au Maroc (2017) – allerdings, wird in Marokko sehr unterschiedlich aufgenommen. Die erste Ausgabe des Buchs war bereits nach kurzer Zeit ausverkauft, aber konservative Kreise der Gesellschaft betrachten sie als Nestbeschmutzerin (vgl. Pham 2018). In einem Interview reflektiert sie die Bedeutung des Schreibens für Frauen:
[…]dès que vous écrivez, dès que vous décidez d’être publiée, en tant que femme, par rapport au rôle social des femmes, c’est extrêmement subversif puisque vous acceptez de vous mettre à nu. (Slimani 2018, S. 43)
Sie beschreibt es als Überschreitung einer sozialen Grenze, als geradezu subversives Handeln. Das Erheben der Stimme und der Eintritt in die Öffentlichkeit ist, wie auch bei Bey und Djebar, ein politischer Akt, mit dem sich die Autorin einerseits exponiert und angreifbar macht. Andererseits allerdings fügen sie dem öffentlichen Diskurs ihre Stimmen hinzu und ergänzen ihn damit um bisher fehlende Positionen und Themen.
Die für die vorliegende Arbeit ausgewählten algerischen Autorinnen Bey, Djebar und Mokeddem brechen in ihren literarischen Werken vor allem das Schweigen über die individuelle Situation von Frauen in ihrem Herkunftsland Algerien, in dem Frauen rechtlich und sozial vielen Restriktionen und Diskriminierungen unterliegen. Zentrales Thema der hier untersuchten Romane ist die narrative Konstruktion weiblicher Identitäten im Spannungsfeld zwischen Wunsch nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Bedürfnis nach Freiheit des eigenen Lebensentwurfs. Literatur wird dabei zu einem Ort des Verhandelns alternativer Lebensentwürfe und der expliziten Darstellung von Identitätskrisen, deren Thematisierung in anderen öffentlichen Diskursen nur eingeschränkt bis gar nicht möglich ist.
Die drei Autorinnen sprechen ihrem Schreiben eine spezifische Bedeutung zu, die sich aus ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft und der Wahl ihrer Schriftsprache vor dem Hintergrund der langen Kolonialzeit Algeriens ergibt. Weibliches Schreiben ist in ihrem Verständnis ein Engagement für die Thematisierung weiblicher Lebenswelten in Algerien, mit den entsprechenden Folgen in Form von sozialen Sanktionen bis hin zu Gewalt als Konsequenz des Tabubruchs. Es bedeutet für sie, die Stimme zu ergreifen und das durch soziale Konventionen, rechtliche und religiöse Rahmenbedingungen verhängte Schweigen zu brechen und so einen öffentlichen Raum für die Belange, Bedürfnisse, Lebenswege, Leiderfahrungen und Identitätskonflikte von Frauen zu schaffen.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich daher mit der Bedeutung des Erzählens und Schreibens für Frauen in patriarchalen Gesellschaften mit geschlechtsbedingten Rollenzuweisungen: Es werden die Möglichkeiten, weibliche Identitäten in Literatur frei zu inszenieren, d. h. alternative Identitätsentwürfe zu erproben, aufgezeigt. Aber Literatur bietet auch die Möglichkeit, die Unfreiheiten der weiblichen Identitätskonstruktion zu thematisieren. Ich gehe davon aus, dass Erzählen und Literatur das spezifische Funktionspotential haben, ein Spiegel gesellschaftlicher Prozesse zu sein und diese gleichzeitig transzendieren, indem sie sie in Fiktion verarbeiten. Es gibt eine wechselseitige Beziehung zwischen literarischem Text und außerliterarischer Wirklichkeit (vgl. Pabst 2007, S. 15). Daraus ergibt sich, dass, wer erzählt, eine Stimme in der Gesellschaft hat. Es ist relevant, wer erzählt und wessen Geschichten erzählt werden, wessen Stimme gehört oder eben nicht gehört wird.
Die Situation in Algerien für schreibende Frauen unterliegt spezifischen Rahmenbedingungen. Auch wenn die für diese Studie ausgewählten Autorinnen nicht alle dauerhaft in Algerien wohnhaft waren oder sind, bleibt es dennoch ihr Herkunftsland und zentraler geographischer, emotionaler und kultureller Bezugspunkt sowie Handlungsort der ausgewählten Romane.
Die Werke, die im Folgenden untersucht werden, sind seit den 1980er veröffentlicht worden. Der Zeitraum von Ende der 1980er Jahre bis heute markiert in Algerien eine Phase radikaler Veränderungen und innenpolitischer Konflikte. Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1962 gibt es eine längere Phase des inneren Friedens, allerdings bewirkt durch eine nationale Einheitspolitik, die innergesellschaftliche Konflikte unterdrückt. Durchgesetzt wird diese Politik von der regierenden sozialistischen Einheitspartei FLN (Front de Libération Nationale bzw. ğabhat at-tahrīr al-waţanī), die sich als Gewinnerin des Unabhängigkeitskrieges als alleinige Machtoption inszeniert und sich dadurch lange politisch und gesellschaftlich legitimiert (vgl. Stora 1994, S. 89ff.).
In den 1980er Jahren bröckelt die Herrschaft des FLN bis es schließlich, hervorgerufen durch Demonstrationen und ein vermehrtes Engagement der Zivilbevölkerung, zu ersten freien Wahlen kommt. Diese kurze Zeitspanne der Demokratisierung endet, als die islamistische Partei FIS die Kommunalwahlen gewinnt (vgl. ebd., S. 17). Die Regierung erkennt das Ergebnis nicht an und annulliert die Wahlen. In der Folge kommt es zum Bürgerkrieg – der sogenannten „décennie noire“ –, der über ein Jahrzehnt dauern soll (vgl. Heiler 2005). Zunächst richten sich die Attentate gegen Intellektuelle und Ausländer:innen. Beide Gruppen verlassen nach und nach das Land.
Die spezifische Situation Algeriens nach dem Ende der Kolonialzeit und während der Unabhängigkeitsprozesse ist geprägt von dem Wunsch, eine nationale und kulturelle Einheit herbeizuführen1. Der Versuch, kulturelle Unabhängigkeit2 von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich zu erlangen, äußert sich u. a. durch eine homogenisierende Sprachpolitik, Islamisierung und eine arabische Kulturpolitik (vgl. Stora 2012). Literatur als Teil des Kultursystems nimmt hierbei einen besonderen Stellenwert ein.
In einer Situation, in der Kulturpolitik und nationale Identitätsbildung eng verknüpft sind, ist es von besonderer Bedeutung, wenn in Literatur gesellschaftliche Prozesse, politische Entscheidungen und traditionelle Lebensweisen hinterfragt werden. Auch die gesellschaftliche Stellung, familiäre und gesellschaftliche Rolle von Frauen kann dann in Literatur eine differenzierter und kritischer betrachtet werden als es der kulturpolitische und nationalidentitäre Diskurs möglicherweise zulässt.
Während des Arabischen Frühlings 2011 gibt es auch in Algerien Demonstrationen. Die Bewegung (wenn auch in Algerien weniger dominant im Vergleich zu Tunesien) offenbarte den Wunsch der Bevölkerung einer Veränderung hin zu einer gesellschaftspolitischen Öffnung. Algerien ist nach wie vor mit innenpolitischen und gesellschaftlichen Problemen konfrontiert, zu denen für einen großen Teil der Bevölkerung u. a. Jugendarbeitslosigkeit, Korruption, Wohnungsnot, Terrorismus, fehlende wirtschaftliche und persönliche Entfaltungsspielräume zählen. Hinzu kommen fehlende Freiheiten in Meinungsäußerung und individueller Lebensgestaltung.
Zum Narrativ der Wiederaneignung einer algerischen Eigenständigkeit gehört als konkrete Konsequenz die Erklärung des Islam zur Staatsreligion. Das führte verstärkt zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die Reichweite des Islam im gesellschaftlichen und politischen Leben, die auch heute noch stattfinden und durch die Ereignisse von 2011 und auch aktuelle Entwicklungen in vielen arabischsprachigen Ländern wiederum an Brisanz zunehmen. Zu diesen Auseinandersetzungen gehört auch die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Frauen und ihrem rechtlichen Status.
Die Infragestellung einer eher traditionellen und stark sozial reglementierten Rolle der Frauen und ihrer durch islamische Rechtsprechung eingeschränkten Rechte hat vor diesem Hintergrund weitreichende Auswirkungen, da sie das bestehende gesellschaftliche Ordnungssystem angreift. Die Kritik von Bewahrer:innen des Status Quo gilt dem vermeintlichen Bezug auf „westliche“ Werte des Individualismus und der individuellen Freiheit. Diese Werte wiederum widersprächen einer Tradition, in der die Gesamtgesellschaft besondere Bedeutung hat. Der Bezug auf diese Werte stünde außerdem im Widerspruch zu dem Versuch der Abgrenzung zum Westen. Darüber hinaus verhindere es die Herstellung kultureller Eigenständigkeit durch Alterität. All diese Aspekte liefern Konfliktpotential.
Zudem ist die Auseinandersetzung um die Rolle der Frauen auch in Algerien ein zentraler Aushandlungspunkt für grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die durch wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung, Technologisierung etc. auf die Gesellschaft einwirken (vgl. Thielmann 2006, S. 11ff.). Der Wunsch nach mehr individueller Freiheit, Wohlstand und Mitbestimmung nimmt zu. Im Zuge dieser Prozesse gibt es regressive, traditionalistische Kräfte, die um Bewahrung des Status Quo bemüht sind. Deren Ziel ist die Verhinderung von weiblicher Emanzipation, eine – im Patriarchat – konsensfähige und somit vergleichsweise einfache Handlungsoption.
Ein nach wie vor national-patriotisch geprägter offizieller politischer Diskurs in Algerien scheint geprägt von dem Versuch eine einheitsstiftende Nationalgeschichte zu verbreiten. Die Infragestellung bestehender Geschlechterverhältnisse, die notwendigerweise Reformen der Familienpolitik nach sich ziehen würden, wird dabei als bedrohlich für das Gesellschaftsmodell und dessen Einheitspostulat empfunden.
Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des besonderen Stellenwerts von Literatur ist es aufschlussreich, sich die literarischen Inszenierungen von Weiblichkeit und weiblichen Identitätsentwürfen anzuschauen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich daher mit folgenden Leitfragen: Welche Möglichkeiten gibt es, diese Inszenierungen bzw. auch die Auseinandersetzung mit Rollenzuschreibungen in Literatur darzustellen? Welches besondere Potential birgt Fiktion bei der Umwertung dominanter Frauenrollen und der Darstellung alternativer Weiblichkeitsentwürfe? Der besondere Handlungs- bzw. Inszenierungsspielraum von Literatur nimmt dabei eine zentrale Rolle ein.
Überblicksdarstellungen zu von Frauen verfasster Literatur aus Algerien, bzw. dem Maghreb insgesamt, stammen zumeist bereits aus den 1990er Jahren. Dies kann auf die bedeutende Zunahme der Veröffentlichungen von Frauen in Algerien ab den 1980er Jahren zurückgeführt werden (vgl. Bonn 1994). Zu den umfangreichsten Einführungen gehören sicherlich neben den Arbeiten von Charles Bonn die Publikationen von Jean Déjeux1 und Christiane Chaulet-Achour (vgl. 1998). Im deutschsprachigen Raum wird dies ergänzt durch Sammelbände herausgegeben von Ernstpeter Ruhe (vgl. 1993).
In neueren Publikationen lässt sich eine Verschiebung des theoretischen Fokus in Richtung der Analyse von postkolonialen Merkmalen maghrebinischer Literatur beobachten. Dazu finden sich u. a. Studien in dem von Gesine Müller und Susanne Stemmler herausgegebenen Band Raum-Bewegung-Passage. Postkoloniale frankophone Literaturen (Müller und Stemmler 2009) sowie in Najib Redouanes Diversité littéraire en Algérie (Redouane 2010).
Das Fehlen aktuellerer Überblicksdarstellungen kann auch durch eine erschwerte Zuordnung zur ohnehin problematischen Kategorie der Nationalliteratur erklärt werden, da ab den 1990er Jahren eine wachsende Anzahl an französisch-schreibenden Autorinnen zwar Algerien als Bezugspunkt und Handlungsort ihrer Texte behalten, aber zunehmend nach Frankreich emigrieren. Aus dem Korpus der vorliegenden Studie betrifft dies Malika Mokeddem und zeitweise Assia Djebar. Beide zeichnen sich durch Migrationserfahrung im Erwachsenenalter nach Frankreich und die Wahl des Französischen als Schriftsprache sowie eine Kindheit und Jugend und im Falle Djebars regelmäßige weitere Aufenthalte in Algerien und eine inhaltliche Fokussierung der literarischen Werke auf Algerien aus. Das Konzept einer Nationalliteratur aufgrund von Herkunft/Wohnort und Schriftsprache der Autorinnen greift hier nicht. Im Sinne Saids wird dadurch die „rhetorische Trennung von Kulturen“ (Said 1994, S. 77) aufgehoben und zeigt die Komplexität literarischer und kultureller Verflechtungen auf2.
Trotz der breiten Rezeption der ausgewählten Autorinnen liegen Forschungsarbeiten hauptsächlich zum Werk Assia Djebars vor, die sicherlich die Bekannteste der drei ist. Als eines der ersten Werke im deutschsprachigen Raum vereint der Band Assia Djebar, herausgegeben von Ernstpeter Ruhe (2001), vereint Artikel der Djebar-Expert:innen, u. a. Claudia Gronemann, Mireille Calle-Gruber, Priscilla Ringrose, Clarisse Zimra, Allison Rice und Winifred Woodhull.
Zum Werk Malika Mokeddems gibt es u. a. einen ausführlichen Sammelband von Redouane, Bénayoun-Szmidt, Elbaz (Redouane et al. 2003), darunter Analysen von Christiane Chaulet-Achours zum Thema der gesellschaftlichen Stellung der Autorin und Intellektuellen Malika Mokeddem. Zu Maїssa Bey finden sich ebenfalls Artikel in Sammelbänden u. a. im von Gronemann und Pasquier herausgegebenen Band Scènes des genres au Maghreb. Masculinités, critiques queer et espaces du féminin/masculin (Gronemann und Pasquier 2013). Ausführliche Monographien, die sich auf das Einzelwerk Mokeddems und Beys fokussieren, fehlen bisher. Auch in der Quantität der vorhandenen Studien gibt es eine bedeutende Lücke zwischen den Publikationen zum literarischen Schaffen Djebars auf der einen und dem Mokeddems und Beys auf der anderen Seite.
Inhaltlich richtet sich ein zentrales Interesse der Forschung zum Werk maghrebinischer Autorinnen auf die autobiographischen Aspekte in ihrem Schreiben (vgl. Richter 2004). Gronemann (2002) arbeitet die autobiographische Dimension der fiktionalen Texte verschiedener Autor:innen heraus, darunter u. a. Assia Djebar. Ihre Überlegungen beziehen sich auf die postmoderne Vorreiterrolle maghrebinischer Autor:innen in Bezug auf die Verknüpfung von Autobiographie und Fiktion. In einer weiteren Arbeit (2012) vertieft sie Djebars Konzeption von Autorschaft, und kommt zu dem Schluss, dass sie „Autorschaft als Subversion klassischer patriarchaler Autoritätsmodelle [entwirft]“ (Gronemann et al. 2012, S. 197). Diese These, die gestützt wird von der Herausarbeitung narratologischer Besonderheiten wie multiperspektivischem Erzählen und Pluralität der Erzählstimmen in Djebars Texten, ist auch für die spätere Analyse der vorliegenden Arbeit fruchtbar. Sie kann daher an die Arbeit Gronemanns in diesem Punkt anknüpfen.
Im Gegensatz zu Gronemann, die theoretische Überlegungen zur Gattung der Autobiographie und dem innovativen Potential des autobiographischen Schreibens aus dem Maghreb betrachtet, sind für Alison Rice die autobiographischen Aspekte in Anlehnung an Derrida „testimonies“ (Rice 2012, S. 3ff.) zentraler Bestandteil ihrer Auseinandersetzung mit dem Werk Djebars. Rice untersucht u. a. auch die Texte Djebars, Mokeddems und Beys unter diesem Aspekt. Sie untersucht die Beziehungen zwischen „testimony and fiction“ (ebd.). In ihrer Studie finden sich kaum detaillierte Textanalysen einzelner literarischer Texte. Sie stellt allerdings fiktionale, autobiographische und theoretische Texte der ausgewählten Autorinnen auf eine fruchtbare Art in einen Zusammenhang und kommt zu dem Schluss, dass die von ihr untersuchten Texte sich über Gattungsgrenzen hinwegsetzen (vgl. Rice 2012, S. 16), was sie zu einer Vielzahl an Verstehensmöglichkeiten führt. Rice sieht in Djebars und Beys Texten die Zerstreuung des stereotypen Bildes von algerischen Frauen und eine Auseinandersetzung mit den multiplen Herausforderungen im Algerien nach der Unabhängigkeit (vgl. Rice 2012, S. 22).
Auch Mildred Mortimer (2013) sowie Clarisse Zimra (1992 und 1993) setzen sich, wie auch Rice, mit Djebars Sicht auf die patriarchalen Strukturen in der algerischen Gesellschaft und deren literarischer Inszenierung auseinander.
Mireille Calle-Gruber hingegen beschäftigt sich in ihrer Studie Assia Djebar ou la résistance de l’écriture. Regards d’un écrivain d’Algérie (Calle-Gruber 2001) mit der besonderen sprachlichen Situation Djebars, in deren Familie Arabisch ebenso wie Berbersprachen gesprochen wurden und die dennoch auf Französisch schreibt. Calle-Gruber nimmt in ihrer Studie neben dem inhaltlichen Schwerpunkt zur Wahl der Schriftsprache Djebars detaillierte Textanalysen vor. Sie entgeht damit der Versuchung einer vornehmlich feministischen oder postkolonialen Lesart, sondern fokussiert auf das literarische Potential der Texte. Ein weiterer zentraler Schwerpunkt ist die Thematisierung des Schweigens. Damit bezieht sie sich auch auf das Hör- und Lesbarmachen weiblicher Stimmen durch Djebars Texte. Gleichzeitig verweist Calle-Gruber in der Analyse ihres Werks damit aber allgemeiner auf die zentrale Bedeutung des Zuhörens für die Inszenierung vielfältiger Perspektiven, Lebensweisen und Erfahrungen.
Die Studie von Priscilla Ringrose (2006) setzt sich mit ausgewählten Texten Assia Djebars unter der Prämisse auseinander, Parallelen und Widersprüche zwischen ihrem Schreiben und den theoretischen Texten der französischen Feministinnen Hélène Cixous, Julia Kristeva und Luce Irigaray sowie Leila Ahmed und Fatima Mernissi auszumachen. Ein ähnlicher Ansatz findet sich bei Jane Hiddleston, indem sie in Untersuchungen, ebenfalls aus 2006, Djebars Leben sowie ihr Werk in Bezug zu postkolonialen und aktuellen französischen philosophischen Theorieansätzen setzt. Ihr Erkenntnisinteresse gilt dabei Djebars Beschäftigung mit einer algerischen Identität, die sie außerhalb von Dualismen wie Islam und Westen, Kollektivität und Individualität zu verorten sucht (vgl. Hiddleston 2006).
Einen anderen Ansatz bei der Analyse des Werks von Assia Djebar verfolgt Beatrice Schuchardt. Der interdisziplinäre Ansatz in ihrer 2006 erschienenen Dissertation Schreiben auf der Grenze. Postkoloniale Geschichtsbilder bei Assia Djebar (Schuchardt 2006) will postkoloniale Literatur als Teil der Geschichtsschreibung begreifen. Ihrer Ansicht nach kann ein derartiger Analyseansatz das subversive Potential postkolonialer Literatur in Bezug auf die Historiographie verdeutlichen, da in der Literatur als kreativem und damit vom herrschenden Machtdiskurs weitgehend befreitem Medium eine differenziertere, ambivalentere Geschichtsschreibung möglich sei.
Mertz-Baumgartner beschäftigt sich in ihrer Untersuchung Ethik und Ästhetik der Migration (Mertz-Baumgartner 2004) u. a. mit Mokeddem. Sie entwirft mit Hilfe theoretischer Konzepte der Postcolonial Studies (u. a. Homi K. Bhabha) eine Ethik der Migration, die sie mit Beispielen literarischer Texte algerischer Autorinnen belegt. Anhand des Konzepts der Transkulturalität stellt sie die These auf, dass die Autorinnen einen Gegenentwurf zu „monovalenten Kultur- und Nationenkonzepten“ (Mertz-Baumgartner 2004, S. 18) verwirklichen. Als Teil dieses Gegenentwurfs, so arbeitet sie heraus, werden Identitäts- und Kulturbegriff als Folge der Auseinandersetzung mit der Migrationserfahrung revidiert (vgl. ebd., S. 24). Grundlage ihrer Analyse sind dabei literarische Texte von Malika Mokeddem, Latifa Ben Mansour, Leїla Marouane und Fatima Gallaire.
Methodisch bezieht Mertz-Baumgartners Studie die Aussagen der Autorinnen des Korpus selbst mit ein, um die theoretischen Überlegungen zu ergänzen. Dazu werden Äußerungen aus Interviews oder Artikeln, in denen sich die Autorinnen mit dem Thema Migration auseinandersetzen, gegenübergestellt (vgl. Mertz-Baumgartner 2004, S. 66ff.). Diese Methodik wird auch in der vorliegenden Arbeit in Kapitel 3 übernommen, um den theoretischen Überlegungen eine weitere Dimension zu verleihen und die Reflektionen der Autorinnen zu ihren Texten, ihrer Stellung im Literaturbetrieb und die Thematik des weiblichen Schreibens mit einzubeziehen.
Im Fokus der vorgestellten Studien liegen die Analyse autobiographischen Schreibens sowie die theoretische Auseinandersetzung damit. Darüber hinaus finden sich die Untersuchung des historiographischen Potentials im Schreiben der Autorinnen und die Beschäftigung mit dem Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg in Algerien. Ein weiterer Schwerpunkt sind Vergleiche mit und das Aufzeigen von inhaltlichen Übereinstimmungen mit theoretischen Positionen der französischen feministischen Philosophie. Außerdem gibt es eingehende Analyse der Spuren migratorischen Erlebens sowie der narrativen Verarbeitung desselben.
Die Studien bilden Anknüpfungspunkte für die vorliegende Arbeit, u. a. methodisch in der Nebeneinanderstellung fiktionaler sowie theoretischer, autobiographischer bzw. essayistischer Texte der ausgewählten Autorinnen (vgl. Kapitel 3).
Jedoch findet sich keine umfassende Auseinandersetzung mit dem Fokus auf der Inszenierung von weiblichen Identitäten in den Texten Djebars, Beys und Mokeddems. Die vorliegende Arbeit fragt nach der Konstruktion eines weiblichen Identitätsentwurfs3 unter den am Handlungsort Algerien gegebenen Bedingungen. So wird untersucht wie Identitäten narrativ4 konstruiert werden, ob ein stabiler freier Identitätsentwurf gelingen kann, welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen und wie die Protagonistinnen mit Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten in der Identitätskonstruktion umgehen.
Methodisch werden dabei die ausgewählten Texte der Autorinnen nebeneinandergestellt und in ihrer gesamten Länge narratologisch untersucht. Diese Vorgehensweise zielt auf ein weiteres Forschungsdesiderat, da die ästhetische Komponente der Texte in den Studien der anglo-amerikanische Wissenschaftlerinnen, die sich auf die kontextuelle Einordnung der Literatur konzentrieren und die Literatur als Medium bzw. Darstellungsform der Stellung der Frauen in der algerischen Gesellschaft betrachten, häufig zu kurz kommt. Indem die vorliegende Arbeit die ausgewählten Texte systematisch narratologisch untersucht, hebt sie sich methodisch von einem Großteil der vorliegenden Forschungsliteratur ab.
Aufbauend auf kulturwissenschaftlichen, soziologischen und literaturwissenschaftlichen Studien geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass die Darstellung weiblicher Identitätsentwürfe in den Romanen vielschichtiger und widersprüchlicher ist als es andere Diskurse dies in Algerien öffentlichkeitswirksam abbilden.
Die literarischen Figuren in den ausgewählten Texten stellen traditionelle weibliche Identitätsentwürfe und -narrative in Frage, bzw. verweigern sich ihnen. Gleichermaßen wird die Vorstellung eines stabilen Identitätsentwurfs hinterfragt. Eine der Forschungsfragen der Studie ist daher, inwiefern diese Verweigerung in einen positiven eigenen Identitätsentwurf, im Sinne der Möglichkeiten freier Identitätskonstruktionen, überführt werden kann, oder ob dies scheitert (scheitern muss).
Die zugrundeliegenden literarischen Texte beziehen sich auf zwei kulturelle Referenzsysteme: Frankreich und Algerien. Die weiblichen Figuren setzen sich mit den algerischen Identitätsangeboten auseinander. In einigen Fällen emigrieren sie nach Frankreich bevor ihre Lebensentwürfe vollends zu scheitern drohen. Frankreich, bereits ein inhärentes Bezugssystem durch die Wahl der Schriftsprache, stellt dadurch zunächst einen Sehnsuchtsort dar, dennoch treffen die Figuren auch dort auf Grenzen ihrer Lebensentwürfe.
Im Kapitel zu den theoretischen Überlegungen werden verschiedene Identitätskonzepte vorgestellt. Das ist einerseits relevant für die Textanalyse, in der gefragt wird, wie sich die Identität der weiblichen Figuren konstituiert und wogegen sie sich abgrenzt. Andererseits werden die Konzepte auch auf der Ebene der Textkonstruktion und -entstehung angewandt. Das Schreiben bzw. die schriftstellerische Tätigkeit der Autorinnen wird als Prozess der Identitätskonstruktion verstanden. In der Produktion literarischer Texte eröffnet sich für die Autorinnen die Option weibliche Identitäten zu entwerfen, die sich gegen bestehende (traditionelle) Identitätsentwürfe in Algerien abgrenzen, bzw. das Scheitern (freier) weiblicher Identitätskonstruktion in der algerischen Gesellschaft zu dokumentieren.
Damit bezieht sich der Begriff Identität auf zwei Bereiche der vorliegenden Arbeit, die somit ineinandergreifen: Identitätskonstruktion findet im Prozess des Schreibens statt, der wiederum als Ergebnis der literarischen Texte weibliche Identitätsentwürfe produziert. Die weiblichen Figuren in den Texten grenzen sich vor allem von den traditionellen und konventionellen Identitätsangeboten in Algerien ab, ebenso entziehen sie sich Zuschreibungen, die ihnen als Migrantinnen in Frankreich widerfahren.
Aus dieser Skizzierung der Thesen der Arbeit ergibt sich eine dreigeteilte Fragestellung und Zielsetzung, die sich auf die unterschiedlichen Ebenen eines Textes beziehen:
Textebene:
Es wird betrachtet, wie weibliche Identitäten in den ausgewählten Texten der drei Autorinnen literarisch inszeniert werden. Außerdem wird untersucht, mit welchen Mitteln die in der narrativen Darstellung der Identitätskonstruktionen erkennbare Instabilität und Ambivalenz umgesetzt werden und welche Wirkung sich daraus ergibt.
Konstruktionsebene:
Eine zweite Grundannahme der vorliegenden Studie bezieht sich darauf, dass der Schreibprozess als Prozess der Identitätsfindung eine Analogie zwischen den literarischen Figuren und ihren Schöpferinnen schafft, d. h. eine autobiographische Dimension beinhaltet. Das Erzählen als Kulturtechnik verbindet die Ebene der Figuren und die der Autorinnen. Gleichzeitig wird so der Konstruktionscharakter von Identität und dessen narrative Gestaltung offengelegt.
Rezeptionsebene:
Eine weitere Grundannahme ist, dass Literatur in dem Fall der analysierten Texte die Funktion eines Gegendiskurses übernimmt. Es wird zu zeigen sein, ob und wie dies an den untersuchten Texten auszumachen ist.
Als Untersuchungsgegenstand wurden Texte der Autorinnen Maїssa Bey, Malika Mokeddem und Assia Djebar gewählt. Die Wahl ergibt sich einerseits aus der Popularität und breiten Rezeption dieser Schriftstellerinnen, die einen leichten Zugang zu ihrem Werk ermöglichen, aber auch eine breite Leser:innenschaft ausdrücken. Ihre Bedeutung innerhalb des literarischen Feldes in Frankreich und Algerien ist vergleichbar. Die 2015 verstorbene Assia Djebar ist sicherlich die bekannteste. Sie war u. a. Mitglied der Académie française und Preisträgerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Aber auch Malika Mokeddem und Maїssa Bey sind vielfach ausgezeichnet, z. B. mit dem LiBeraturpreis (Bey), dem Prix de l’Afrique Méditerranée (Bey, Mokeddem) oder dem Prix Littré (Mokeddem) (vgl. Baddoura 2009). Die drei Autorinnen verbindet außerdem das Französische als gemeinsame Sprache ihres literarischen Schaffens. Sie setzen sich darüber hinaus mit der Wahl ihrer Schriftsprache ebenso wie mit ihrer Stellung als Schriftstellerinnen und Intellektuelle in der algerischen sowie der französischen Gesellschaft auseinander.
Die ausgewählten Autorinnen sind noch zur Kolonialzeit geboren1 und haben den Krieg um die Unabhängigkeit miterlebt. Sie sind mit dem Einfluss zweier unterschiedlicher und widersprüchlicher Welten aufgewachsen. Maїssa Bey beschreibt es als „sensation de me tenir à la lisière de deux mondes entre lesquels l’écart ne cessait de se creuser“ (Bey 2009, S. 40). Für sie prägt die Kolonialzeit nicht nur die Wahrnehmung der Welt, sondern auch die Eigenwahrnehmung. Sie begreift sie als identitätsstiftend.
Si je m’attarde ainsi sur la période coloniale, c’est en premier lieu parce qu’indéniablement, c’est la colonisation qui a forgé ma représentation du monde et qui a sans nul doute donné sens (à la fois signification et direction) à mes engagements d’adulte, mais aussi parce que la question de l’identité passe nécessairement par l’histoire […]. (Bey 2009, S. 36)
Die Erfahrung des Kolonialismus führt zur ersten Selbstwahrnehmung als Andere, die intersektionaler Diskriminierung und Gewalterfahrung ausgesetzt ist.2 Dadurch ist er präsent im Werk der drei Autorinnen und wird konkret sichtbar durch die Wahl des Französischen als Schriftsprache. Die Autorinnen verbindet darüber hinaus die Erfahrung des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren, den u. a. Bey in ihrem Roman Puisque mon coeur est mort (2010) und Djebar in Le Blanc d’Algérie (1996) thematisiert.
Ein weiterer Grund für die Wahl der Autorinnen ist ihre wiederholte Thematisierung der Situation von Frauen in Algerien, die sich durch ihre jeweiligen Werke ziehen. Die ausgewählten Romane Cette fille-là (Bey 2001), Surtout ne te retourne pas (Bey 2005), La transe des insoumis (Mokeddem 2003), Je dois tout à ton oubli (Mokeddem 2008) sowie Ombre Sultane (Djebar 1987) legen dabei insbesondere den Fokus auf die durch innere Konflikte geprägte Auseinandersetzung mit Identitätsentwürfen und die Suche nach Stabilität.
Mit der Untersuchung der Romane Beys und Mokeddems, die in den 2000er Jahren erschienen, will diese Studie auch einen Beitrag zur Erforschung algerischer Gegenwartsliteratur in französischer Sprache leisten. Assia Djebars Roman dient dabei als zeitliche Klammer, da er noch vor dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren und den daraus resultierenden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Folgen erschien. Es erlaubt somit eine diachrone Perspektive auf die Darstellung weiblicher Lebens- und Identitätsentwürfe in den Romanen algerischer Autorinnen.
Die Analyse der Figuren der ausgewählten Romane beschreibt die Identitätssuche von Frauen in Algerien, die in jedem Text eng verknüpft mit dem Schreiben ist. Es werden von jeder Autorin zwei zentrale Figuren eingehend analysiert. Bei Mokeddem und Bey sind es jeweils zwei Romane mit einer Protagonistin. Bei Djebar ist es ein Roman mit zwei Protagonistinnen. Djebars Text steht an letzter Stelle obwohl er chronologisch der älteste ist, da er in der Zeit vor dem Bürgerkrieg geschrieben und veröffentlicht wurde und die Erwartungen an eine gesellschaftliche Entwicklung thematisiert. Er bietet damit eine historische Verortung, aber auch eine inhaltliche Klammer der Analyseergebnisse. Der intertextuelle Bezug in Ombre Sultane auf den traditionellen Text aus Tausendundeiner Nacht und der fiktiven Erzählerin Scheherazade bildet gewissermaßen den Rahmen weiblichen Erzählens ab, wie er in der vorliegenden Arbeit untersucht wird.
Die Textanalyse konzentriert sich bewusst auf die vollständige Untersuchung der Texte, anstatt einzelne Textstellen als Beispiele für spezifische Themen oder Fragestellungen heranzuziehen. Diese Art der Analyse ermöglicht es, den einzelnen Text in seiner Gesamtheit unter dem Blickwinkel der der Arbeit zugrundgelegten Fragestellungen zu betrachten. Der Vorteil dieses Vorgehens ist die Möglichkeit dabei eine thematische und formale Entwicklung zu beobachten, die sich in höherem Maße aus den Texten selbst ergibt als dies bei einer Konzentration auf spezifische Einzelfragestellungen, zu denen Fragmente der Texte herangezogen würden, der Fall wäre.
An den beispielhaft ausgewählten Romanen werden die Thesen überprüft. Diese Arbeit kann es nicht leisten das gesamte Œuvre der drei Autorinnen zu analysieren und konzentriert sich daher auf die Werke, deren Inhalt für das angestrebte Erkenntnisinteresse am fruchtbarsten scheint.
Der erste Teil der Arbeit, in dem die theoretischen Grundlagen gelegt werden, beginnt mit einer Überblicksdarstellung der Geschlechterverhältnisse im postkolonialen Algerien und betrachtet dabei die besonderen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Stellung und Rollenzuschreibung von Frauen in kolonialen Strukturen und in postkolonialen Prozessen. Im Weiteren werden theoretische Konzepte von Identität vorgestellt und diese insbesondere auf ihr narratives Potential beleuchtet. Daran anschließend werden Überlegungen zum Wirkungspotential von Literatur als Gegendiskurs zu den traditionellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen im Kontext Algeriens vorgestellt. Vor der Analyse verknüpft ein Übergangskapitel die theoretischen Grundlagen mit der folgenden Untersuchung der Romane, indem es explizit weibliches Schreiben im Kontext Algeriens und die Funktionen weiblichen Schreibens anhand des Selbstverständnisses und der Strategien der Autorinnen thematisiert. Im Zuge der Annahme, dass Identitätskonstruktion im Prozess des Schreibens stattfindet, wird untersucht, welche Strategien die Autorinnen in ihrem Schreiben entwickeln und welches Selbstverständnis daraus resultiert. Die nicht-fiktionalen Texte der Autorinnen sind Teil eines Diskurses über weibliches Schreiben. Dabei wird die Frage gestellt, welcher Stellenwert der literarischen Textproduktion innerhalb dieses Diskurses zukommt.
Daran schließen sich im zweiten Teil der Arbeit die Romananalysen an, in denen die Möglichkeiten der literarischen Inszenierung von weiblichen Identitätsentwürfen im Kontext Algeriens an konkreten Beispielen illustriert werden. Im abschließenden Kapitel werden schließlich Strategien und Möglichkeiten weiblicher Identitätskonstruktion in den französischsprachigen Romanen der drei algerischen Autorinnen unter den thematischen Schwerpunkten des Erzählens, der Bewegung und der Solidarität zusammengefasst.
Die spezifische Entwicklung von Geschlechterverhältnissen unter dem Einfluss kolonialer Herrschaft bzw. in der Herausbildung postkolonialer Gesellschaften ist aufgrund der mehr als 130jährigen Kolonialgeschichte Algeriens mit Frankreich ein bedeutender Aspekt bei der Betrachtung weiblicher Lebensentwürfe in den ausgewählten Romanen.
Auch wenn auf Handlungsebene der Romane keine explizite Reflexion der Wechselwirkungen zwischen ehemaliger Kolonialmacht und ehemaliger Kolonie stattfindet, ist Frankreich implizit schon durch die Verwendung der französischen Sprache als Referenzpunkt präsent. Frankreich ist außerdem ein Möglichkeitsraum, der nicht zuletzt das Potential eines (Bildungs-) Aufstiegs für die weiblichen Figuren bietet und die Option gewisser, wenn auch nicht bedingungsloser, Freiheiten in Aussicht stellt.
Der postkoloniale Bezug ist auch auf Ebene der Textproduktion von Bedeutung, wenn die Position, von der aus die Autorinnen sprechen bzw. schreiben, betrachtet wird: Denn diese ist durchaus beeinflusst von der kolonialen Vergangenheit und den darauf folgenden postkolonialen Aushandlungsprozessen zwischen Algerien und Frankreich1. Die kritische Betrachtung der Geschlechterverhältnisse und der gesellschaftlichen Rollenerwartungen an Frauen in den untersuchten Romanen findet in einem spezifischen Kontext statt, der von der kolonialen Vergangenheit geprägt ist. Eine Auseinandersetzung mit der Situation von Frauen in Algerien muss sich daher mit der historischen Entwicklung sowie den Dynamiken kolonialer Diskurse auseinandersetzen. Dabei bewegt sie sich zwischen folgenden Polen: Auf der einen Seite die historische Instrumentalisierung von Frauenrechten als ein Legitimationsgrund für die Kolonialisierung und Zeichen eines kulturellen Überlegenheitsdenkens Frankreichs sowie die gleichzeitige Orientalisierung bzw. Exotisierung von Frauen aus den Kolonien. Auf der anderen Seite die bis in die Gegenwart spürbare Gegenreaktion auf hegemoniale Machtansprüche, die sich häufig in der Ablehnung alles „Westlichen“, worunter auch Emanzipationsbestrebungen von Frauen fallen, und der Rückbesinnung auf eine vermeintlich eigenkulturelle Tradition äußern.
Auf letzteren Punkt nimmt u. a. die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi Bezug. Sie beobachtet die zunehmenden gesellschaftlichen Restriktionen, denen Frauen im Maghreb ausgesetzt sind, sowie die Tendenz zur religiös-orientierten Retraditionalisierung schon seit mehreren Jahrzehnten und begreift sie als „Angst vor dem Weiblichen“, die als Ausdruck einer innergesellschaftlichen Bedrohung gilt:
Die Angst vor dem Weiblichen steht für die Bedrohung von innen, und die Debatte über die Globalisierung, in der es im Wesentlichen um die Angst geht, von fremden Kulturen überrannt zu werden, wird sich notwendigerweise auf die Frauen konzentrieren. (Mernissi 2005, S. 27–28)
So befinden sich Frauen (insbesondere, aber bei weitem nicht ausschließlich) in postkolonialen Gesellschaften einerseits im Zentrum eines Konfliktfeldes, in dem es um Aushandlungsprozesse zwischen traditionell-konservativen und liberaleren Denk- und Lebensweisen geht. Andererseits kommen sie selbst kaum zu Wort und sind im öffentlichen Diskurs selten als Subjekte oder politische Akteurinnen präsent. Das führt zu einer besonderen Situation, die Frauen laut Spivak in postkolonialen gesellschaftlichen Entwicklungen verschwinden lässt:
Zwischen Patriarchat und Imperialismus, Subjektkonstituierung und Objektformierung, verschwindet die Figur der Frau, und zwar nicht in ein unberührtes Nichts hinein, sondern in eine gewaltförmige Pendelbewegung, die in der verschobenen Gestaltwerdung der zwischen Tradition und Modernisierung gefangenen „Frau der Dritten Welt“ besteht. (Spivak 2011, S. 101)
Diese „gewaltförmige Pendelbewegung“ lässt sich illustrieren mit Blick auf die Nationalisierungsprozesse in Gesellschaften nach der politischen Unabhängigkeit, die stark verknüpft sind mit spezifischen Rollenerwartungen an die Geschlechter (vgl. Zettelbauer 2002, S. 253f.). Wie Zettelbauer bemerkt, stellen „Nationen als Konzepte, die von außen wie von innen konstituiert werden, unterschiedliche Ansprüche an Identität und Differenz“ (Zettelbauer 2002, S. 254). Darüber hinaus ist „die Veränderung der jeweiligen Ansprüche […] stets unmittelbar verbunden mit politischen Zielvorstellungen und hängt mit der Veränderbarkeit von politischen, kulturellen und ökonomischen Prozessen zusammen“ (ebd., S. 254). Zettelbauer identifiziert u. a. in Bezugnahme auf Nira Yuval-Davis (1997) fünf funktionale Zuschreibungen, „in denen Geschlecht im Rahmen von Nationskonzepten einen zentralen Stellenwert einnimmt“ (Zettelbauer 2002, S. 255–256):
Frauen in ihrer Funktion als Mütter, bzw. als „Reproduzentinnen der Nation“.
Frauen als Verkörperung der nationalen Grenzen: Frauen „reproduzieren […] auch die Grenzen des nationalen oder ethnischen Kollektivs (dies zeigt sich beispielsweise im Verbot von Mischehen oder in Exogamieverboten)“.
Frauen als Hüterinnen der Tradition2: „Frauen spielen in nationalen Bewegungen nun eine zentrale Rolle als konstruierte ‚Hüterinnen‘ dieser kulturellen Codes [Kleidung, Benehmen, Bräuche, Religion, Sprache], sie erweisen sich aber auch vielfach als ihre Reproduzentinnen.“
Frauen als „Zeichen oder Symbol nationaler oder ethnischer Kollektive“: in „Analogiesetzungen (von Haus/Familie/Körper mit dem Volk) oder in Allegorien (z. B. Germania, Marianne)“.
Der Ausschluss von Frauen als grundlegendes Element der Konstruktion gesellschaftlicher Hierarchien: Als Beispiel sei hier das Bild des die Nation ‚nach außen‘ verteidigenden Mannes genannt, der vor allem kämpft, um Frau und Kinder zu beschützen und sich dadurch gewisse Rechte verdient (vgl. Zettelbauer 2002, 255f.).
All diese Funktionszuschreibungen lassen sich auch in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen Algeriens nach der Unabhängigkeit ausmachen und sind teilweise bereits durch algerische Frauenorganisationen und -bewegungen kritisiert worden. Die Objektivierung und Instrumentalisierung von Frauen im Rahmen eines Nationalisierungsprozesses (in Folge oder als Begleiterscheinung von postkolonialen Prozessen), wie in Anlehnung an Zettelbauer dargelegt, birgt die Gefahr der Herausbildung und/oder Verfestigung starrer und wenig differenzierter Identitätsangebote für Frauen. Frauenbewegungen in Algerien, die versuchen die Verknüpfung von Nationalisierungsprozess und Geschlecht zu hinterfragen, sehen sich in der Folge häufig dem Vorwurf der ‚Verwestlichung‘ ausgesetzt:
Women who refuse to ‚return‘ to ‚tradition‘ are attacked as the dupes of imperialism, manifested as western feminism. (Bulbeck 1998, S. 30)
Holst Petersen fasst dies in der Frage zusammen „which is the more important, which comes first, the fight for female equality or the fight against Western cultural imperialism?“ (Holst Petersen 2004, S. 252). Dies bringt das zentrale Dilemma für Frauen in postkolonialen Gesellschaften auf den Punkt.3
Feminismus und Antikolonialismus haben ein gespaltenes und konfliktreiches Verhältnis. Castro Varela/Dhawan stellen fest, dass „antikoloniale männliche Nationalisten durchweg feindlich eingestellt gegenüber einer feministischen Bewegung [sind], da diese ihrer Meinung nach die notwendigen nationalen Allianzen im Dekolonialisierungsprozess zu irritieren drohe“ (Castro Varela und Dhawan 2005, S. 124). Diese Beobachtung weist auf verschiedene Ängste und Mechanismen hin, die Frauenbewegungen zur Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit ihren Kampf um Freiheit und Rechte erschweren.
Nach der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht versuchen viele neu gegründete Staaten eine Anknüpfung an prä-koloniale Traditionen und Werte zu finden. Nach Jahrzehnten – oder wie im Fall Algeriens fast zwei Jahrhunderten – kolonialer Unterdrückung und Herabsetzung der eigenen kulturellen Praktiken und gesellschaftlichen Strukturen, beginnt zunächst die Suche nach einem genuinen Erbe jenseits der Kolonialkultur. Dies geschieht nicht selten zum Leidwesen der Frauen, die sich einerseits einer wiederbelebten Tradition mit signifikanten misogynen Anteilen und andererseits der Allegorisierung als ‚Hüterinnen‘ dieser Tradition gegenübersehen:
[Les femmes] sont, pour longtemps, figées dans un rôle extrêmement lourd: celui de gardiennes de Tradition et de garantes de l’ordre masculin, chargées d’assurer la surcompensation des humiliations subies et déifiées pour être mieux piétinées. […] La stagnation de leur condition est la garante de la stabilité sociale. (Daoud 1996, S. 12)
Hier wird deutlich, dass die Hinterfragung der Rolle, die Frauen in dieser Retraditionalisierung spielen, mit der Bedrohung gesellschaftlicher Stabilität verknüpft wird. Die Fokussierung auf eine vermeintliche, gemeinsame Tradition und traditionelle Werte soll heterogene Gruppen und Interessen einen und so zu Stabilität führen.
Bei dem Versuch, zu einer als authentisch imaginierten präkolonialen Vergangenheit zurückzufinden, werden Frauen zu „standard-bearers of the nation’s culture“ (Bulbeck 1998, S. 29) stilisiert.4 Demnach trifft zu, dass „women’s issue was not only ignored […] it was conscripted in the service of dignifying the past and restoring African self-confidence.“ (Holst Petersen 2004, S. 253). Holst Petersen betont das Dilemma für Frauen in dieser Zeit der nationalen und kulturellen Selbstfindung für ihre eigenen Rechte und Freiheiten einzutreten und diese einzufordern. Das Konzept und die politischen Implikationen des westlichen Feminismus bieten Anknüpfungspunkte, bergen aber auch die Gefahr sich wiederum der kulturellen Hegemonie der ehemaligen Kolonialmacht zu beugen – noch dazu in deren Sprache:
This … is a more difficult and therefore more courageous path to take in the African situation than in the Western one, because it has to borrow some concepts – and a vocabulary – from a culture from which at the same time it is trying to disassociate itself and at the same time it has to modify its admiration for some aspects of a culture it is claiming validity for… . (Holst Petersen 2004, S. 254)
Die Zerreißprobe, insbesondere für Frauen, besteht darin, sich zwischen den Errungenschaften der aus der Kultur der Kolonialmacht hergeleiteten Denkkategorien und den wiederbelebten Traditionen der eigenen Kultur einzuordnen. In den post-kolonialen nationalistischen Diskursen scheinen diese beiden Pole unvereinbar als sich einander ausschließende Konstrukte gegenüber zu stehen.
Die Konsequenz für den Versuch feministische Forderungen zu formulieren und Frauenrechte einzufordern, ist häufig eine Stigmatisierung von Feministinnen als ‚Marionetten‘ des Westens oder Opfer neo-kolonialer Missionierungen. Frauen, die die erzwungene Rückkehr zu prä-kolonialer Tradition kritisieren, werden „attacked as the dupes of imperialism, manifested as western feminism“ (Bulbeck 1998, S. 30).
Ein gesellschaftlich erwartetes (unkritisches) patriotisches Auftreten und uneingeschränktes Bekenntnis zum offiziell propagierten nationalen Einheitsdiskurs scheint mit feministischen Positionen unvereinbar zu sein. Diese Haltung wird begründet mit der Befürchtung von innerkulturellen Konflikten und gesellschaftlicher Destabilisierung. Die ehemalige Kolonialmacht wird häufig zum Feindbild stilisiert und damit der Versuch unternommen, sämtliche kulturellen Errungenschaften aus der Kolonialzeit ex negativo aus postkolonialen nationalen Identitätsangeboten auszuschließen bzw. sich zu eigen zu machen.
Der kategorische Ausschluss des ‚westlichen‘ Feminismus hatte außerdem den Effekt von „Grenzziehungen zwischen ‚weißen‘ und ‚indigenen‘ Frauen“ (Castro Varela und Dhawan 2005, S. 124). Eine internationale Verbindung feministischen Engagements wird dadurch erschwert.
Soziale Bewegungen (z. B. Frauenbewegungen) werden von der institutionellen Macht zu unterbinden versucht, da sie die Illusion von Kohärenz der Widerstandserzählung stören (vgl. Spivak 1988, S. 245). Die Konstruktion einer kohärenten Nationalgeschichte erfordert das Ausblenden von Minderheiteninteressen oder vom Machtdiskurs ausgeschlossener Anteile der Bevölkerung (vgl. Castro Varela und Dhawan 2005, S. 70). Als Konsequenz gehen diese Bewegungen nicht in die offizielle Geschichtsschreibung und somit in das kollektive Gedächtnis ein (vgl. ebd., S. 70). Ihr Aufbegehren wird als subversiv, die gesellschaftliche Ordnung und den Prozess der nationalen Identitätsfindung bedrohend, angesehen.
Feministischen Forderungen wird eine Instrumentalisierung durch den Westen unterstellt. Dies offenbart patriarchale Machtansprüche wie auch die Befürchtung einer kulturellen Infiltrierung durch die ehemalige oder neo-kolonialistisch agierende Kolonialmacht. Es offenbart außerdem „the extent to which the nation authenticates its distinct cultural identity through its women“ (Ghandi 1998, S. 96).
Daraus ergibt sich eine konfliktgeladene und diskursiv unauflösbare Situation für Feministinnen. Das Bekenntnis zum Feminismus unterstellt sie dem Verdacht dem hegemonialen Einfluss der ehemaligen Kolonialmacht zu unterliegen und dadurch einen Mangel an Patriotismus zu zeigen. Indem sie die traditionellen Identitätsangebote, die als genuin und kulturell ‚ursprünglich‘ inszeniert werden, ablehnen, geraten sie in einen Konflikt zwischen starren kulturellen Identitätszuschreibungen – wie sie in nationalen Diskursen konstruiert werden – und dem Wunsch nach offenen, differenzierten, variablen Identitätsentwürfen. Sie stellen u. a. die für die Konstruktion und Inszenierung einer kulturellen Identität fundamental wichtige Funktion der Identitätszuschreibung von Frauen als ‚Hüterinnen‘ oder ‚Bewahrerinnen der Kultur‘ in Frage. Dieses feste Korsett, geschnürt aus statisch definierten Rollenzuweisungen, die ideologisch untermauert werden, erschwert jede kritische Auseinandersetzung – sowohl mit Rollenzuweisungen der Tradition (die Frau als Jungfrau, Ehefrau, Mutter, die im Privaten agiert), mit denen der postkolonialen Identitätsdiskurse (die Frau als Hüterin der Vergangenheit, der kulturellen Tradition und Werte) als auch mit den von ‚außen‘, d. h. aus dem ‚Westen‘ herangetragenen (als Reformerinnen, bzw. als unterdrückte arabische Frau). Die Stigmatisierung als ‚unpatriotisch‘ verhindert auch die Möglichkeit Kritik am Nationalismus und seinen essentialistischen Identitätsangeboten zu üben:
The needs of the nation are identified with the needs, frustrations, and aspirations of men. As in the translated (not original) title of Fanon’s famous essay “Algeria Unveiled,” women are construed as the “bearers of the nation,” its boundary and symbolic limit, but lack a nationality of their own. In such instances, women serve to represent the limits of national difference between men. (McClintock 1996, S. 105)
Die postkoloniale, kulturelle Identitätszuschreibung beinhaltet eine starre Vorstellung von weiblicher Identität und der Funktion, Aufgaben und Rollen von Frauen in der Gesellschaft. Kritik an Rollenzuschreibungen für Frauen wird damit zu einer Kritik am Nationalismusdiskurs in Bezug auf seine starren, monoidentitären Tendenzen. Die Aufweichung kultureller Identitätszuschreibungen zugunsten pluraler und dynamischer Identitätsentwürfe für Frauen (und Männer) innerhalb nationaler und nationalkultureller Diskurse stellt damit aktuelle Nationalismuskonzepte und -vorstellungen in Frage. Daher wird versucht ebendies zu verhindern.5 Chatterjee (1993) kritisiert in diesem Zusammenhang Nationalismusdiskurse als „a discourse about women; women do not speak here“ (Chatterjee 1993, S. 133).
Die kolonialen Eroberer instrumentalisierten Frauen und deren (vermeintliche) Unterdrückung als Legitimationsgrund ihrer mission civilisatrice und der Affirmation ihrer kulturellen Überlegenheit.6 In der Folge der Unabhängigkeit instrumentalisiert die neue (männliche) Macht Frauen als Mittel zur Demonstration eigener kultureller Werte und Traditionen, die im Versuch einer postkolonialen Machtumkehr bzw. eines Gegendiskurses ebenfalls als Überlegenheitsmerkmal herhalten sollen: „Beide Male spricht das (koloniale und einheimische) Patriarchat für [Hervorhebung im Original, JW] die subalterne Frau, während man an keiner Stelle auf die Stimme der Frau selber trifft“ (Castro Varela und Dhawan 2005, S. 75).
Was Frauen selbst zu sagen haben, bleibt ungehört bzw. wird zu Legitimationszwecken der einen oder anderen Position benutzt. Eine Artikulation des eigenen Standpunkts hat für Frauen der Bevölkerung vor Ort, also in Algerien, selbst wenn sie erfolgt, keinen Bestand, da ihr kein eigenständiges Element zugestanden wird. Vorgegebene Interpretationsmuster und eine bestimmte (imperialistische) Lesart der historischen Ereignisse verhindern, dass Frauen ‚gehört‘ werden.7 Das führt(e) nach Spivak dazu, dass weibliche Erfahrungen und Bedürfnisse keinen Eingang in gesellschaftliche Diskurse und Narrative finden, selbst wenn Frauen sich aus ihrer marginalisierten Position8 heraus äußern; bzw. werden ihre Äußerungen „auf dieselbe Art interpretiert […], wie wir historisch alles interpretieren“ (Spivak 2011, S. 126). Eine postkoloniale Betrachtungsweise (im Sinne von nicht-hegemonial, nicht-marginalisierend) scheint unmöglich und daher bleiben die Frauen selbst im Sprechen stumm, sie sind eingeschlossen in einer „gewaltförmigen Pendelbewegung“ (Spivak 2011, S. 101).