Conversio - Thorsten Klein - E-Book

Conversio E-Book

Thorsten Klein

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Beschreibung

Warum zieht es so viele Menschen des 45. Jahrhunderts nach PSYCHE? Schließlich ist die Erde ein Paradies. Und PSYCHE die Hölle? Auf PSYCHE leben Menschen, die denen auf der Erde ähneln. Sie werden von Kaisern regiert und haben weder das Geheimnis des Atoms entdeckt, noch das Handy erfunden. Das wird sich ändern. Die göttergleichen Menschen von der Erde wollen das Leben auf PSYCHE verbessern. Wie? Das erzählt der Roman Psyche in sechs Büchern. Das zweite Buch, "Conversio", setzt diese Geschichte fort: Der Krieg der Kaiser hat begonnen. Alle Länder PSYCHEs kämpfen gegeneinander. Die Rebellen integrieren in diesen Krieg ihren eigenen Krieg gegen den Hohen Rat. Sie wollen die Anführer des Hohen Rates, Alexandra Al Kahira und Richard Kummer, ermorden.

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Seitenzahl: 390

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„Der Krieg setzt sich, wie alle menschlichen Handlungen, aus Gut und Böse zusammen. Nur treten hier, wo sich die Kraft der Völker aufs Höchste steigert, die Gegensätze noch greller hervor als sonst.“

Ernst Jünger, „In Stahlgewittern“, (Erde, 1920)

Meinen Töchtern Sophie und Vanessa gewidmet

Thorsten Klein

PSYCHE

2. Buch

Conversio

Roman

© 2015 Thorsten Klein

Umschlag, Illustration: Thorsten Klein

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-7439-5198-3

e-Book

978-3-7439-5199-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel Welche Lust, Soldat zu sein

2. Kapitel Morgenrot, Morgenrot

Intermezzo 1

3. Kapitel Froh leben die Soldaten

4. Kapitel Auf mein Deutschland

Intermezzo 2

5. Kapitel Brüder, ergreift die Gewehre

6. Kapitel Es fährt ein Zug …

Intermezzo 3

7. Kapitel An einen Bonzen

8. Kapitel Brüder zur Sonne zur Freiheit

Intermezzo 4

9. Kapitel Wann wir schreiten Seit´ an Seit´

10. Kapitel Auf, auf zum Kampf

Intermezzo 5

Noch ein MindScript (oder wie es weiter ging...)

Das MindScript zeigte einen hohen Felsen in den amerikanischen Badlands. Auf dem Felsen stand ein Mann.

Er war groß, blond und, bis auf eine halblange lederne Hose und einen riesigen wallenden roten Umhang, nackt. Wahrscheinlich, um seine gewaltigen Muskeln zu zeigen. Genauso übertrieben wie die wirkte der riesige Kampfhammer, den er in der linken Hand trug.

Ich hatte im Internet nach einem weiteren MindScript zu Psyche gesucht, als plötzlich diese Bilder auftauchten.

Mit diesen Bildern erschien auch wieder das holografische Abbild Richard Kummers über meinem Laptop und ich konnte in seinem Gesicht eine gewaltige Abscheu zu den Bildern erkennen.

Der Hohe Rat hatte Alexandra und die drei MindGamer fest in Psyche integriert, erinnerte mich Richard Kummer. Es wurde nun Zeit, sich den anderen Mitgliedern dieser Rebellen Community zu widmen.

il caskar, jener Möchtegern-Gott mit dem Kampfhammer, sei leider ein Teil davon.

Er bot mir an, die Geschichte weiterzuerzählen. Selbstverständlich nahm ich wieder meine Rolle als Richard Kummers Chronist an und gestaltete aus den Bildern und Worten, die mir sein MindScript zeigte, das zweite Buch zu den Ereignissen auf Psyche.

Thorsten Klein

Großenhain, 21.09.2014

1. Kapitel Welche Lust, Soldat zu sein

Man dient mit tapfrem Mute dem Fürst, dem Staate allein

und verlässt mit leichtem Blute die Geliebte,

eilt zu der Helden Reih´n;

ach, ach welche Lust, Soldat zu sein

Soldatenlied, (Erde, 19. Jhd.)

Ort: Psyche, Schloss Ehrlichthausen

Auf dem Felsen in den Badlands waren inzwischen weitere Personen aufgetaucht.

Alle schienen ihrer Kleidung nach aus weit entfernten Epochen der Erdgeschichte zu stammen. Aus sehr kriegerischen Epochen, weshalb alle Waffen zur Ergänzung ihrer Kleidung trugen.

Aber keiner von ihnen trug ein Schwert.

Es war unmöglich, ihr Alter zu bestimmen. Schließlich sahen alle Bürger der Terra Nostra aus, als seien sie Anfang Zwanzig. Es sei denn, ihr tatsächliches Alter lag noch darunter.

Die Übertragung aus dem MindWeb beinhaltete auch das Gespräch, das sie führten. Allerdings war der Ton so leise, dass Peta Avatar sehr konzentriert zuhören musste, um zu verstehen, was die Leute sagten, die er belauschte.

Darauf war er so fokussiert, dass ihm die plötzliche Anwesenheit des schwarzen Herzogs entging.

Der war durch die RaumZeit unbemerkt in Petas Arbeitszimmer getreten.

Nach einer ganzen Weile beendete Peta mit einem Fingerschnippen seine private Filmvorführung und spürte nun auch seinen ungebetenen Gast.

„Ich kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben“, sagte Peta. Er war einen halben Kopf größer als der Herzog, der mit seinen zwei Metern auch kein Zwerg war. Trotzdem lag keine Drohung in seiner Stimme. Die Erinnerung an seine letzte Niederlage gegen den Herzog war noch zu frisch, für einen Streit mit ihm schien es noch zu früh zu sein.

„Deine Frau hat mir gestattet, dich zu besuchen. Ich richte meine Fragen stets an die jeweils höchste Autorität.“ Die spöttische Beiläufigkeit, mit der der Herzog diese Antwort gab, war genauso beleidigend, wie ihr Inhalt.

Aber Peta hatte keine Gefühle. Manchmal ist das von Vorteil. Besonders, wenn man es mit dem schwarzen Herzog zu tun hat. Also schwieg er.

„War ein toller MindWebHack, Herr Avatar“, fuhr der Herzog deshalb fort. „Ich hätte das interessante Gespräch auch in Waldenburg belauschen können. Aber ich wollte wissen, wie deine Meinung dazu ist. Jetzt kenne ich sie.“

„Ich habe nur alte Feinde beobachtet. Zum Glück sind sie weit weg. Das ist gut so.“

„Bist du immer noch sauer, dass dich Alexandras Community damals nicht aufgenommen hat? Du kannst sehr nachtragend sein. Mann, das ist mehr als fünfhundert Jahre her.“

„Sie hatten bereits zwei Anführer. Ich bin es nicht gewohnt, in der zweiten Reihe zu stehen.“

„Warum hast du dann nicht um die Führerschaft gekämpft? Gut, gegen Alexandra hättest du keine Chance gehabt. Aber il caskar wäre doch ein besiegbarer Gegner gewesen.“

„Nicht unter Alexandras Schutz. Sie hätte einen solchen Kampf außerdem nie zugelassen. Mir haben auch nicht alle ihre Ziele gefallen. Also habe ich mir meine eigene Community geschaffen und das MindGaming wieder populär gemacht. Erfolgreich, wie du weißt, liebster Vater.“

„Erspar mir bitte diesen Titel. Auf den lege ich nur Wert, wenn ich einen alleinigen Anspruch darauf habe. Bei dir ist das nicht der Fall.“

„Vielleicht ist es ganz gut, dass ihr il caskar von Alexandra getrennt habt. Sie hat auf Psyche eine echte Aufgabe gefunden und er ist allein auf der Terra Nostra viel weniger gefährlich, als mit ihr zusammen.“

„Er ist immer gefährlich. Auch, wenn sein lächerliches Äußere einen anderen Eindruck erweckt. Erstaunlich, dass seine Ansichten immer noch Anhänger finden. Vor allem in unserer Zeit. Wir glaubten, seine Ideen seien überholt. Ein Irrtum. Aber der Hohe Rat ist in der Lage, seine Irrtümer zu korrigieren. Bald wird das auch il caskar erkennen.“

„Wollt ihr ihn endlich einmal richtig bestrafen, für den ganzen Scheiß, den er sich bisher geleistet hat? Mit einer Strafe, die er auch als solche annimmt?“

Der Herzog nickte auf seine nur ihm eigentümliche Weise. Peta hatte gelernt, dieses Nicken zu hassen. Es leitete immer Erkenntnisse ein, die man besser mied.

„Ihr wollt ihn nach Psyche holen?“ Peta wollte sicher sein, richtig geraten zu haben.

Der Herzog seufzte. „Wann versteht das endlich jemand? Wir holen niemanden nach Psyche. Alle Erdenbürger sind freiwillig hier, um uns bei der schweren Aufgabe zu unterstützen, diese Welt bewohnbar zu machen. Also werden wir ihn überzeugen, ebenfalls freiwillig nach Psyche zu kommen.“

Peta reagierte mit einer Heftigkeit, die seine Gefühllosigkeit Lügen strafte: „Er hat in meiner Welt nichts suchen.“

Der Herzog beobachtete diesen Ausbruch scheinbarer Emotionen mit Aufmerksamkeit. Entwickelte sich da was? Es wurde Zeit, dass auch Peta Gefühle bekam. Schon im Interesse Marias.

„Deine Welt? Es ist nicht deine Welt. Noch hast du nicht allein die Macht auf Psyche. Der Hohe Rat weiß von deinen Ambitionen. Aber sie entsprechen noch nicht den Tatsachen.“

„Ich arbeite hart daran, das zu ändern. Ein il caskar passt nicht in diese Pläne.“

Der Herzog schlug Peta kameradschaftlich auf die Schulter. „Genau das macht meine Pläne doch aus. Sie passen anderen nicht. Du musst aber zugeben, dass ich fair genug bin, dich rechtzeitig zu warnen.“

„Rechtzeitig? Wann wird er denn hier sein?“

Der Herzog zuckte die Schultern. „Irgendwann. Ein paar Fakten musst du schon selber rausfinden. Aber eine andere Tatsache ist viel interessanter. Sie ist auch viel aktueller, als il caskars geplantes Erscheinen auf Psyche.“

Eine andere MindNetProjektion erschien, ohne dass man beim Herzog irgendeine Geste wahrgenommen hätte. Sie zeigte ein komfortables Haus in Psyches Europa an der preußisch russischen Grenze. Offiziere standen davor und erwarteten einen Oberst des deutschen Heeres, der gerade mit einem Päckchen unterm Arm jenes Haus betreten wollte.

Man sprach miteinander. Jedes Wort war deutlich zu hören.

„Er soll ein Spion sein?“ Peta konnte nicht glauben, was er hörte.

Der Herzog zeigte die Miene eines Mannes, dem jede menschliche Schlechtigkeit bestens vertraut ist. „So etwas überrascht doch immer wieder. Seine Neigungen haben ihn zum Spion gemacht. In einer Armee gibt es viele starke Männer. Eine ständige Versuchung für den Herrn Oberst, der Männer über alles liebt. Das macht erpressbar. Die Russen haben ihn erpresst. So hat er ihnen gegen gute Bezahlung wichtige militärische Geheimnisse verraten.“

„Das Päckchen?“

„Nein. Das enthält keine Geheimnisse, da ist nur Bargeld drin. Es kam immer postlagernd. Dadurch ist er auch aufgeflogen.“

„Warum nehmen sie ihn nicht fest, sondern lassen ihn allein nach oben in seine Wohnung? Soll er sich zivile Kleidung anziehen, bevor man ihn abführt?“

„Ganz im Gegenteil. Die Herren Offiziere geben ihm eine Chance, die Angelegenheit wie ein Ehrenmann zu regeln. Das habe ich doch bei dir auch oft genug getan. Meist ist solch edle Herzensregung aber völlig umsonst.“

Man hörte einen lauten Schuss, der sofort von einem zweiten begleitet wurde.

Der Herzog zeigte ein befriedigtes Gesicht. „Es war nicht umsonst. Er hat wie ein Mann von Ehre reagiert. Sein Vater wird trotzdem nicht stolz darauf sein.“

Peta war entsetzt. „Er hat sich umgebracht? Aber er ist ein guter Freund von mir und sein Vater ist immerhin der Fürst zu...“

„...wirst du wohl still sein“, unterbrach ihn der Herzog. „Die Angelegenheit ist streng geheim. Im Moment weiß noch nicht mal der General von Dietrichstein davon. Vom Kaiser ganz zu schweigen. Wie oft soll ich dir noch erklären, wie wichtig solches Wissen ist und wie man es zur Umsetzung seiner eigenen Pläne richtig nutzt? Ich denke, du willst die alleinige Macht auf Psyche?“

„Ich soll es nutzen? So, wie du solches Wissen immer nutzt? Menschen manipulieren? Sie Hin- und Herschieben wie Schachfiguren? Ich werde nie so sein wie du.“

Der Herzog war nur ehrliches Bedauern. „Dann wird dir diese Welt nie gehören. Warum verstehst du nicht, dass ich dir nur helfen will? Immerhin hast du nun die Informationen, die du benötigst. Mach was draus.“

Wie es die Art des Herzogs war, verschwand er einfach in der RaumZeit und beendete so das Gespräch, nachdem er alles geklärt hatte, was zu klären war.

Ort: Psyche, Petersburger Vorort Petruschka

Es gab viel zu klären. Aber das geheime Gespräch war gut abgesichert.

Es ging um die Verteilung von Aufgaben bei der kommenden Revolution in Russland. Dieser Kreis war nur auf wenige Personen beschränkt. Natürlich war Pepi Wissarew unter diesen Personen. Ohne ihn ging in der Bolschewiki nichts mehr.

Sehr zu Pepis Bedauern hatte aber auch Michael nach seinem Eintritt in diese Bewegung sofort erheblichen Einfluss gewonnen.

Vor Tscherkassow, dem dritten in der Runde, musste Pepi weniger Angst haben. Der leitete zwar sämtliche Geheimoperationen der Bolschewiki, aber Pepi hatte umfangreiches und sehr belastendes Material über ihn gesammelt. Tscherkassow wusste das. Und so wusste Pepi, Tscherkassow würde gehorchen.

Bolschoi fehlte. Er war immer noch im Exil in Deutschland und der Krieg ließ seine Einreise nach Russland nicht zu.

Die drei stritten sich heftig, liefen dabei im Raum umher und brüllten sich gegenseitig an.

Nur einig wurden sie sich nicht.

Bis plötzlich eine weitere Person im Raum erschien. Einfach so, ohne durch die Tür gekommen zu sein.

Als der Herr Rechtsanwalt Sabota ganz plötzlich zwischen ihnen stand, beruhigte das die Gemüter. Sabotas Anwesenheit hatte immer diesen Effekt.

Michael sah in ihm einen Verbündeten im aktuellen Streit. Mit Vater Robert wollte Michael nichts mehr zu tun haben. Wegen des Blutsonntages. Zu Sabota aber hatte er noch Vertrauen.

„Du musst uns helfen und unseren Streit schlichten.“

„Ich habe schon gehört, dass es Unstimmigkeiten über die Funktionen bei der kommenden Revolution gibt, meine Herren“, wandte sich Richard Sabota aber nicht nur an Michael, sondern auch an Pepi und Tscherkassow. Dabei war er die Sachlichkeit in Person. Eine seiner Stärken. „Wir werden sicher schnell zu einer Einigung kommen. Vielleicht klären wir zuerst, wo jeder der Herren seine eigenen Stärken sieht. Dann werden sich entsprechende Aufgaben für jeden finden lassen.“

Pepi kam mit seiner Antwort natürlich den beiden anderen zuvor. Immer der Erste zu sein, war eine seiner Stärken. „Ich habe immer den besten Überblick übers Große und Ganze und bin in der Lage, daraus schnelle und richtige Entscheidungen zu treffen.“

„Kann er gern tun“, knurrte Tscherkassow. „Ich halte mich lieber im Hintergrund.“

Michael knurrte nicht, er schrei: „Ich habe einen viel besseren Überblick übers Große und Ganze, als ihn Pepi je erreichen kann. Wer hatte denn die Idee zum Sternenmarsch? Ich. Wer hat die Leute beim Sternenmarsch angeführt? Ich. Wem ist es gelungen, das Schlimmste zu verhindern, als die Soldaten schossen? Mir.“

„Aber es ist meine Bolschewiki, die den Aufstand durchführen wird. Ich bin ihr Führer und das habe ich mir hart genug erarbeitet“, schrie Pepi zurück.

„Du? Ihr Führer? In deinen Träumen vielleicht. Ich bin der Held des Blutsonntags und das habe ich mir hart genug erarbeitet. Wer hat denn im Kugelhagel ausgehalten? Ich. Wer ist geflohen? Du.“

Richard Sabota fand, es sei ziemlich einfach, im Kugelhagel auszuhalten, wenn man unverwundbar war. Aber als guter Anwalt wusste er auch, wann man ein Argument seines Mandanten gegen ihn einsetzen konnte.

„Dein ungeheurer Mut vor dem Narwa Tor ist in aller Munde, Michael. Warum nutzt du ihn nicht und führst die revolutionären Soldaten als deren General an? Dir würden sie überall hin folgen.“

„Ich kann vielmehr, als nur Leute in die Schlacht zu führen. Ich...“

Weiter kam er nicht, denn Richard Sabota machte eine heftige Geste. Nicht nur aus Wut über Michaels Starrsinn, sondern auch, um diesen sinnlosen Streit zu beenden.

Danach fand die Auseinandersetzung auf einer Ebene statt, von der die beiden anderen ausgeschlossen waren. Denn Tscherkassow und Pepi waren nicht in der Lage, einem mentalen Dialog zu folgen, wie ihn Richard und Michael plötzlich führten.

„Ich, ich, ich. Wo ist der Michael Arx, den ich kannte? Haben die paar Schüsse der Soldaten deinen Verstand vollkommen vernebelt?“, fragte Richard eindringlich.

„Ein paar Schüsse? Es war ein Schlachten. Aber was kannst du schon wissen. Du warst nicht dabei.“

„Du müsstest inzwischen wissen, dass ich immer dabei bin. Bei allem, was auf Psyche passiert. Denn es geschieht für Alexandra. Ist dir das plötzlich gleichgültig?“

„Komm mir nicht mit Alexandra. Was hat sie mit der Revolution in Russland zu tun? Sie ist in Deutschland ...“

„... und muss dort eine Revolution beginnen, um gesund zu werden. Vorher aber kommt Russland. Lass Pepi nur machen. Er wird es sowieso versauen und danach bei Bolschoi um Hilfe betteln müssen. Dann hat der Hohe Rat die Ereignisse, die wir berechnet haben und die Alexandra helfen.“

„Geht es immer nur um die Wünsche des Hohen Rates? Meinst du, den Russen gefällt es, für eure Pläne zu sterben?“

„Für unsere Pläne? Was wissen sie davon? Nichts. Sie wollen die Revolution. Da hat der Genosse Wissarew vollkommen Recht. Du wirst dabei sein. Dann wirst du auch sehen, dass sie nicht für unsere Pläne, sondern einzig für ihre eigenen Interessen zu sterben bereit sind. Denn das Leben in Russland ist im Moment so, dass es auf diese Art nicht weitergehen kann. Also überwinde dich endlich und stimme Pepis Plänen zu. Wir unterhalten uns später, ohne die beiden so unhöflich bei unserem Dialog außen vor zu lassen.“

Da mentale Kommunikation viel schneller geht, als verbale, hatte dieser Disput nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde gedauert. Die beiden anderen bekamen nichts davon mit, wunderten sich aber über Michaels plötzliches Einlenken.

Natürlich war Pepi darüber erleichtert, ohne ergründen zu wollen, woher dieser plötzliche Gesinnungswandel kam. Die drei besprachen dann nur noch die Details.

Keinem fiel auf, dass Sabota durch die RaumZeit verschwand. Denn der musste schnellstens zur Flandernfront.

Ort: Psyche, Eisenbahnfahrt zur Flandernfront

Der lange Zug befand sich ebenfalls auf dem Weg zur Flandernfront.

Die Abteile und Gänge waren voller Soldaten. Die meisten trugen die gleiche Uniform, denn sie waren vom gleichen Regiment. Die Verschiedenheit der Menschen konnte das aber nicht verdecken. Es gab gestandene Handwerker, gebeugte Arbeiter und nasehochtragende Gymnasiasten. Alle hatten ein ähnliches Gefühl. Ein Schriftsteller sollte dieses später Morituri*-Stimmung nennen. Sterben würden die meisten von ihnen, auch wenn die wenigsten das im Moment wahrhaben wollten.

Es war keine bequeme Zugfahrt. Aber in einem Jahr würden sich die Soldaten nach den Umständen dieser Zugfahrt sehnen. Denn der Krieg sollte für sie noch viel ungemütlicher werden, als dieser Transport an die Front.

Alle wurden durchgerüttelt. Man unterhielt sich trotzdem miteinander. Auch wenn es komisch klang. Als würde jeder der Soldaten stottern.

„Man merkt gleich, dass man im fränkischen Reich ist.“ Der Feldwebel versuchte, die Karten aufzunehmen, die der Soldat gegenüber austeilte.

„Wieso merkt man das? Ist die Luft hier besser?“, fragte der Soldat.

„Nein, die Schienen sind schlechter. Seit wir über der Grenze sind, werden wir durchgerüttelt. So macht der Krieg keinen Spaß.“

Der Soldat hätte mindestens siebenhundert Erwiderungen gegen diese drei Sätze gehabt, aber mit Feldwebeln diskutiert man nicht. Aber im Kartenspiel kann man sie besiegen. Zumindest hatte er kein diesbezügliches Verbot in den zuständigen Dienstvorschriften gefunden. Also spielten sie. Während der Soldat den Feldwebel fleißig um dessen Geld brachte, stellte er sich, den Krieg betreffend, ahnungslos: „Wann macht denn der Krieg Spaß, Herr Feldwebel?“

„Spaß macht es, wenn wir die Franken vor uns hertreiben. Sie werden keine Chance haben. Weder gegen unsere Waffen, noch gegen die Kraft und den Mut unserer Soldaten. Ich bin damals vor Verdun gewesen, als sich ihr Kaiser feige ergab. Keinen Schuss mussten wir abfeuern und trotzdem ist ihnen der Arsch auf Grundeis gegangen.“

Die Eisenbahnwagen waren berstend voll beladen. Mit vielen Soldaten und mit noch mehr Waffen und Munition. Es gab einfach nicht genügend Züge, um alle Freiwilligen an die Front zu transportieren. Denn es gab viele Freiwillige.

Noch.

Keiner der Soldaten hatte allerdings Bedenken, dass die Front so schnell neue Truppen brauchte. Alle waren begierig, endlich in den Kampf zu ziehen.

Genauso begierig waren sie auf Berichte von früheren, ruhmreichen Kriegen. Sie hatten noch keine persönlichen Erfahrungen, denn nur der Feldwebel hatte bisher einen miterlebt.

Und der Soldat mit den Spielkarten natürlich. Er hieß Kowalski, hatte aber kein Interesse daran, mit seinen in früheren Kriegen gemachten Erfahrungen zu prahlen.

Der Feldwebel schon.

Er war sowieso wieder drauf und dran, das Kartenspiel gegen den Soldaten zu verlieren. Also legte er die Karten beiseite und erzählte stattdessen von gewinnbringenderen Erlebnissen: „Der Krieg damals, gegen den großfränkischen Kaiser, das war eine Sache, sag ich euch ... Wir hatten ihre letzten drei großen Festungen eingeschlossen. Und ihren Kaiser natürlich auch. Unsere gewaltigen Geschütze hatten schwere Breschen in ihre Verteidigungsanlagen geschlagen. Es war nur eine Frage von wenigen Tagen, dass unser Oberbefehlshaber, der Kronprinz Friedrich, den Befehl zum Sturm auf die Festungen geben würde.“

Warum muss so ein Feldwebel in diesem Augenblick etwas trinken? Einer der ganz jungen Soldaten hielt die Spannung nicht aus. Vielleicht hatte er auch im Geschichtsunterricht nicht richtig aufgepasst. „Dann habt ihr die Festungen gestürmt und der großfränkische Kaiser hat sich ergeben?“, mutmaßte er.

Der Feldwebel wischte sich den Mund. „Wir kamen gar nicht dazu, sie zu stürmen. Der Kaiser ist vorher abgehauen. Mitsamt seiner Alten Garde. Es gab noch zwei fränkische Armeen im Süden, die das Gleichgewicht der Kräfte wiederhergestellt hätten. Der Kaiser war abgehauen, um diese Soldaten an die Front zu bringen.“

„So ein welsches Schwein. Statt sich ehrlich zu ergeben und seine Niederlage hinzunehmen, versucht er hinten rum den Krieg doch noch zu gewinnen. So sind die Franken. Alle falsch und hinterhältig.“

Der Feldwebel nickte. „Aber der Oberst von Ehrlichthausen hat davon erfahren und mit seinen Waldenburger Husaren die Alte Garde des fränkischen Kaisers besiegt und den Kaiser selbst gefangen genommen.“

„Lang lebe der General Ehrlichthausen!“, rief einer in schwarzer Uniform und fügte hinzu: „Lang leben die Waldenburger Husaren.“

„Wenn die Waldenburger Husaren so großartig sind, warum gibt es sie dann nur noch als Aufklärungskompanie und nicht mehr in Regimentsstärke?“, spottete der Feldwebel.

Der Schwarzgekleidete wurde rot. „Moderne Waffen lassen Kriegern zu Pferde leider keine Chance mehr“, murmelte er.

„Richtig. Aber damals durften Husaren noch kämpfen und den fränkischen Kaiser gefangen nehmen. Aber auch ohne die Gefangennahme hätten die Franken keine Chance gegen uns gehabt, weil wir die modernsten Waffen hatten. Diesmal wird es wieder so sein. In unserem Zug fährt nämlich die Dicke Bertha mit, stimmt´s Kowalski.“

„Falls Frauen in diesem Zug sitzen, so kenne ich sie nicht.“ Der Soldat Kowalski hatte alle Spielkarten wieder an sich genommen und konnte sich nicht verkneifen, seinen seltsamen Humor zu beweisen.

Der Feldwebel hatte keinen Humor. „Mit Dicke Bertha sind die Kruiperschen Mörser und Geschütze gemeint, die wir transportieren“, raunzte er und fuhr fort: „Ich habe selbst in den Kruiperwerken daran gearbeitet und kann es kaum erwarten, sie im Einsatz zu sehen, wenn wir die Lütticher Festungen erobern.“

„Ich denke, wir haben Lüttich eingenommen?“ Der Aufklärer von den Waldenburger Husaren war nicht aufgeklärt.

Der Feldwebel übernahm das: „Die Stadt ist unser, aber rundherum gibt es zwölf mit Stahlbeton gesicherte Forts. Die müssen wir noch knacken. Aber mit der Dicken Bertha wird das gelingen.“

Der Soldat Kowalski hatte dazu gerade eine defätistische Bemerkung auf den Lippen, als der Waldenburger Husar plötzlich aufsprang und ein ohrenbetäubendes Achtung brüllte. Die anderen standen ebenfalls auf und der Feldwebel, als Dienstranghöchster, machte Meldung: „Melde gehorsamst, Herr General, Gemeine und Unteroffiziere vom Transport zweihundertsiebzig beim Kriegsgespräch.“

Der General nickte wohlwollend. „Man kann sich nicht früh genug auf unseren Sieg vorbereiten, Feldwebel. Lassen Sie weitermachen!“

Dann drehte er sich zu Kowalski um. „Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Soldat, folgen Sie mir.“

Ohne die anderen Soldaten noch eines Blickes zu würdigen oder zu kontrollieren, ob seinem Befehl gehorcht wurde, drehte er sich um und ging.

„Jetzt wird man ihm für seine flapsigen Antworten auf allerhöchster Stelle die Hammelbeine lang ziehen“, flüsterte der Feldwebel dem Waldenburger Husaren zu.

Das Lächeln des Soldaten Kowalski zeigte jedoch, dass er sich vor dieser Begegnung auf allerhöchster Stelle mit einem leibhaftigen General überhaupt nicht fürchtete.

Er schien General von Ehrlichthausen zu kennen.

Ort: Psyche, Petersburger Vorort Petruschka

„Ich erkenne dich nicht wieder, Michael.“

Richard Sabota stand in Petruschka am Ufer eines der vielen Arme des Flusses Newa.

Ganz allein mit Michael Arx.

„Ist das ein Wunder?“, erwiderte der. „Ich erkenne mich ja selbst nicht wieder. Psyche verändert jeden. Es war ein Fehler, hierher zu kommen.“

„Diese Welt wird auch Alexandra verändern. Ist es ein Fehler, ihr zu helfen?“

„Nein, natürlich nicht. Alexandra hat jede Hilfe verdient.“

„Und die Menschen hier? Haben die keine Hilfe verdient?“

„Ihr helft ihnen schon so lange. Und? Hat sich etwas gebessert? Nein. Welchen Wert hat ein Kaiser, der auf sein Volk schießen lässt, weil es ihn darauf hinweisen will, dass es hungert? Jeder Herrscher, der zu solchen Taten fähig ist, verdient strengste Strafen. Aber keine Hilfe. Zar Alexander wird seine Strafe bekommen. Du wirst mich nicht davon abhalten.“

„Ich werde deine Revolution schon deshalb nicht aufhalten, weil es nicht deine Revolution ist, sondern die des russischen Volkes. Ob du sie anführst oder Pepi oder irgendein anderer, sie wird stattfinden.“

„Natürlich wird sie das und dann wird sich hier einiges ändern. Alle werden ausreichend zu essen haben und jeder wird eine Arbeit und eine Wohnung bekommen. Ausbeutung wird man nicht mehr kennen.“

Was für ein Träumer, dachte Richard Sabota. Er wünschte sich ein wenig, Michaels revolutionären Träume könnten wahr werden. Aber wenn man so viele Revolutionen mitgemacht hatte, wie er, hielten sich solche Träume in Grenzen. Zynische Bemerkungen dazu ersparte er sich aber. Das war Sache des schwarzen Herzogs.

Stattdessen gab er einen Rat. Das war die Sache von Richard Sabota: „Pass auf dich auf, damit du auch erreichst, was du planst. Kann ich dem Hohen Rat mitteilen, das wir wieder am gleichen Strang und auch in die gleiche Richtung ziehen?“

Michael musste sich Mühe geben, einen Gleichmut zu heucheln, den er nicht empfand. „Wenn meine Zusammenarbeit mit dem Hohen Rat mich von Vater Robert fernhält und vor allem von euren ewigen Sitzungen und Beratungen, gern.“

„Keine Angst, mein Junge, der kommt dir so schnell nicht zu nahe. Er hat immer noch ein schlechtes Gewissen wegen der Dinge, die er dir antun musste. Aber er hat´s bald geschafft. Dem britannischen Geheimdienst missfällt der Pazifismus von Vater Robert und sie suchen einen blutigen Ausweg.“

„Sie wollen Vater Robert ermorden?“

Richard Sabota lächelte, denn Michael wollte nun doch Details hören, um bei der Arbeit des Hohen Rates wieder richtig mitmachen zu können. Genau darauf hatte Richard Sabota gebaut.

Ort: Psyche, Lüttich, Fort Loncin

„Sie bauen, Herr General“, sagte der Oberst ohne sein Fernglas abzunehmen.

„Das sehe ich auch, Oberst. Aber was bauen sie?“

„Irgendetwas aus Stahl. Wenn sie so etwas wie einen Lauf daran montieren, dann wissen wir, dass es eine Kanone ist, die sie dort zusammenschrauben.“

„Vor Kanonen habe ich keine Angst, Oberst. Ich vertraue Ihren Stahlbetonkonstruktionen. Die haben bei den Probeschüssen allen Belastungen standgehalten. Diesmal werden sie unseren nördlichen Festungsgürtel nicht so leicht durchbrechen, wie im letzten Krieg.“

„Ich glaube, wir haben ein Problem, Herr General“, flüsterte der Oberst.

„Was für ein Problem?“

„Das ist die Kurze Marinekanone Kaliber 42 der Firma Kruiper, Herr General.“

„Ja, Sie haben den Waffentyp richtig erkannt. Ich habe die Unterlagen unseres Geheimdienstes über diese Waffe auch gesehen. Die Russen haben sie uns zugespielt. Irgendein hoher deutscher Oberst war russischer Spion. Dieses Ding sieht genauso aus, wie auf den Bildern, die er davon besorgt hat.“

„Wir haben unsere Befestigungen nie auf die Standhaftigkeit gegen Schiffsgeschütze getestet, Herr General.“

„Bleiben Sie ruhig, Oberst. Ihr Stahlbeton wird schon halten.“

Ort: Psyche, Lüttich, Stellung „Dicke Bertha“

Der Stahlbeton hielt. Die Artilleristen hatten schon zehn Schuss abgefeuert. Alle wohl gezielt, glaubten sie. Allerdings, ohne irgendwelche ernsthaften Schäden an der Festung anzurichten.

Kein Wunder, dass dann irgendwann ein General kommt, um sich zu erkundigen, was hier los ist. Der Kommandant der Kanone machte Meldung. Der General schien sich so nah am Feind sehr sicher zu fühlen. Er hatte keine Eskorte und keinen Stab bei sich, nur einen Soldaten namens Kowalski.

Aber alle wussten, General von Ehrlichthausen war ungeheurer tapfer und verstand verdammt viel von Technik. Keinen wunderte es also, dass er sich die Waffe genau erklären ließ.

Danach gab er die Koordinaten für Zielvorgaben. Der Kommandant hatte anfangs Bedenken, denn seine bisherigen Befehle lauteten ganz anders.

Aber Peta gelang es, ihn zu überzeugen. Hauptsächlich dadurch, dass er versprach, im Hintergrund zu bleiben und die Lorbeeren eines Erfolges der Geschützmannschaft zu überlassen.

Also ließ der Kommandant die Waffe neu ausrichten. Ein inneres Gefühl sagte ihm, das sei richtig.

Ort: Psyche, Lüttich, Fort Loncin

„Wissen Sie, wie ich mich fühle, Oberst?“

„Nein, Herr General.“

„Wie der Marschall de Toiras. Sein König nannte ihn den König aller Festungskommandeure, weil er diese bis zum letzten Mann gehalten hat und nie besiegt wurde. Mit Ihrem Stahlbeton wird uns das wesentlich leichter fallen, als dem Marschall damals hinter Steinmauern.“

Es pfiff wieder. Man konnte sich an das jaulende Geräusch, das die Geschosse machten, nicht gewöhnen. Eher daran, dass ihr Einschlag nur minimalen Schaden verursachte.

Dann war eine ganze Weile Ruhe. Entweder hatten die da drüben keine Munition mehr, oder sie hatten die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens eingesehen.

Der General wandte sich zum Gehen. „Ich werde mich um die anderen Abschnitte des Forts kümmern und dann eine Kleinigkeit essen. Wir sehen uns dann beim Essen,

Oberst?“

Der Oberst hätte gern geantwortet, aber er kam nicht mehr dazu. Die Worte des Generals wurden wieder durch dieses laute Jaulen begleitet. Den wahnsinnigen Krach der Detonation, als das Geschoss den Munitionsbunker des Forts traf, hörten die beiden schon nicht mehr. Da waren sie bereits tot.

Wie viele andere ihrer Kameraden.

General von Ehrlichthausen wusste, was er tat, als er an allen Forts für die Geschützmannschaften neue Zielvorgaben machte. Er sorgte für die fränkische Niederlage.

Ort: Psyche, Sankt Petersburg, Winterpalais

An der Russlandfront hatte das deutsche Heer bisher nur Niederlagen eingesteckt.

Der russische Oberkommandierende fühlte sich deshalb stark genug, seine vielen Einheiten zu zwei großen Armeegruppen zusammenzufassen, um die deutschen Verbände einzukesseln und zu vernichten.

Also gab er die entsprechenden Befehle.

Diese Nachrichten erhielt der Zar während der Lagebesprechung im Sankt Petersburger Kriegsrat. Eine erfolgreiche Durchführung dieses Planes hätte den Sieg der Russen über die Deutschen bedeutet. Eine gute Nachricht also.

Darüber unterhielten sich der Zar, die Zarin und Vater Robert beim Essen.

Die Zarin freute sich mit ihrem Gemahl. „Wir führen erfolgreich Krieg gegen die Preußen! Wer hätte das jemals gedacht!“

„Wer hätte gedacht, dass Russen und Deutsche noch mal gegeneinander Krieg führen, wo sie doch solange miteinander verbündet waren“, erlaubte sich Vater Robert zu nörgeln.

„Jetzt sind sie unsere Feinde. Immerhin haben sie meinen Schwager ermordet.“ Die Zarin widersprach Vater Robert nur selten.

„Euren Schwager ermordet? Glaubt Ihr das wirklich?“

„Es stand in allen Zeitungen, Vater Robert. Der deutsche Geheimdienst hat dieses fiese Attentat organisiert. Eigentlich wollten die meinen Gemahl treffen.“ Die Zarin bekreuzigte sich und sah ihren Mann an. „Ich bin dem Baron Plehwe immer noch für deine Rettung dankbar. Seine Familie zu versorgen, war das Mindeste, was wir tun konnten.“

„Glaubt Ihr alles, was die Zeitungen schreiben, Majestät? Ein solches Attentat konnten keine nationalistischen Spinner organisieren. Dazu arbeiten die viel zu dilettantisch. Da stand ein Geheimdienst dahinter. Aber nicht der deutsche.“

„Das behauptet Ihr immer wieder, mein lieber Vater Robert.“ Diesmal war der Zar schneller im Widersprechen als seine Frau. „Aber Ihr habt keine Beweise.“

„Es gibt keine Beweise, aber Hinweise auf eine Verwicklung der Franken. Allerdings keine konkreten. Wenn Geheimdienste etwas organisieren, kann man es hinterher nicht mehr beweisen“, antwortete Vater Robert. „Geheimdienste machen immer alles im Geheimen.“

„Also kann es genauso gut auch der deutsche Geheimdienst gewesen sein, der es dann so aussehen ließ, als wären die Franken daran schuld. Was nicht unwahrscheinlich ist, die wollten diesen Krieg ja unbedingt.“ Eine treffende Analyse der Zarin.

Ihr Gemahl stimmte ihr zu. „Sie rächen sich für die Niederlage im letzten Krieg an den Deutschen, so wie wir uns für das Attentat rächen. Wenn wir diesen Krieg gewonnen haben, wird es Deutschland natürlich noch geben. Allerdings viel kleiner als jetzt. Wir werden uns den ganzen polanischen Teil sichern. Dort stehen schon jetzt unsere Truppen. Wer will uns von dort vertreiben? Die Oder und die Neiße werden die neue Grenze zwischen Deutschen und Russen bilden. Das Gebiet westlich davon war schon immer deutsch. Das soll es auch bleiben.“

„Wenn ich Zar wäre, würde ich meine Truppen an der jetzigen Front konzentrieren und den Deutschen einen Separatfrieden anbieten. Danach könnten die anderen Kriegsparteien sehen, wo sie in diesem Krieg bleiben.“

„Zum Glück seid Ihr kein Zar, Vater Robert. Mit diesen Ideen würdet Ihr keinen Tag auf dem Zarenthron überleben. Sowohl die Britannier, als auch mein eigener Adel würden mich lynchen, wenn ich meine Truppen jetzt aus dem Krieg zurückziehe. Wir werden alle bis zum siegreichen Ende zusammenhalten, als gemeinsame Sieger.“

„Das Ende des Krieges wird Russland als Verlierer sehen, Majestät. Ich habe Euch das immer prophezeit.“

„Mit solchen Prophezeiungen kann man sich irren, mein Lieber. Wenn es soweit ist, werde ich Euch darauf aufmerksam machen.“

„Wenn es soweit ist, wird man mich schon ermordet haben, Majestät. Auch das habe ich prophezeit.“

Diesmal reagierte die Zarin schneller. Mit dem lauten Klirren des zu Boden gehenden Geschirrs stand sie auf. „Ihr habt eine wunderbare Art, einem das Essen zu verderben, Vater Robert.“ Dann rauschte sie davon.

Der Zar indessen war ganz ihrer Meinung.

Ort: Psyche, Oberste Deutsche Heeresleitung

An der Flandernfront war niemand der Meinung des Generals von Ehrlichthausen. Der meinte, der Schliefenplan sei gescheitert, Deutschland könne den Krieg nicht mehr gewinnen.

Dabei gewannen die Deutschen doch bis jetzt jede Schlacht. Nach der Schlacht um Lüttich hatten sie die ganzen Niederen Lande des Großfränkischen Reiches einschließlich der Hauptstadt Brüssel erobert.

Trotzdem hatte Lüttich die deutschen Truppen zu lange aufgehalten. Der Schliefenplan sah eine schnellere Eroberung dieser Gebiete vor. Wenn es nach diesem Plan ginge, wären die Deutschen jetzt schon in Paris. Das haben Pläne meist an sich. Sie lassen sie sich nie so pünktlich umsetzen, wie es geplant war.

Trotzdem würden die deutschen Truppen Paris erobern, waren sich die anderen Offiziere einig. Nur über das Wie herrschte keine Einigkeit. Also diskutierten die Herren Offiziere.

„Unsere Nachschublinien werden immer mehr strapaziert, während die der Franken und Britannier sich stabilisieren können.“

„Das ist der Nachteil unseres schnellen Vordringens“, spöttelte Stabschef von Meltikow über die Bemerkung des Generals Ehrlichthausen. „Wir treiben die Gegner so rasch vor uns her, dass wir sogar für unsere eigenen Truppen zu schnell sind. Unser linker Flügel steht schon kurz vor Paris. Wenn wir hier in die Offensive gehen, können wir den Gegner umfassen, einkesseln und vernichten.“

„Es wird uns nicht gelingen.“

„Solchen Pessimismus kennen wir von Euch gar nicht, General von Ehrlichthausen. Natürlich wird es gelingen. Es muss einfach.“

„Die Entente hat weitere Armeen mobilisiert“, erläuterte Ehrlichthausen seinen Pessimismus. „Außerdem besitzen sie um Nancy und Verdun starke Auffangstellungen, in die sie sich zurückziehen können. Die Folge wäre ein Stellungskrieg, wie ihn die Russen letztes Jahr in der Mandschurei bereits durchmachen mussten. Sie können die gern fragen, Herr General von Meltikow, wie angenehm so ein Stellungskrieg ist.“

„Sie sind also gegen meinen Plan über ein weiteres Vorgehen an der Flandernfront, Herr General von Ehrlichthausen?“

„Natürlich. Sie werden scheitern. Wenn Sie Glück haben, endet alles in einem Stellungskrieg. Haben Sie Pech, kesselt Sie der Gegner ein und vernichtet Ihre Armee. Eine Aussicht auf einen Sieg sehe ich nicht, Herr General. Warum sollte ich sonst meine Bedenken äußern?“ Peta wusste, was der Generalstabschef vorhatte. Es passte gut in seine Pläne. Also ließ er von Meltikow gewähren.

„Aber die anderen Herren Stabsoffiziere sind dafür, meinen Schlachtplan umzusetzen?“ Der Stabschef sah sich um. Die anderen Herren nickten. „Dann sind Sie sicher derselben Meinung wie unser geliebter Kaiser, dass man dem Herren General von Ehrlichthausen andere Aufgaben zuweisen müsse, als die bisherigen hier an der Flandernfront?“

Peta lächelte, als er sah, wie die Herren plötzlich von ihm abrückten, als wolle von Meltikow gleich verkünden, Peta trage eine sehr ansteckende Krankheit in sich.

Von Meltikow verkündete etwas Ähnliches: „Der General von Ehrlichthausen hat vor Lüttich leider nicht die militärischen Leistungen gebracht, die Majestät von ihm erwartete. Wir haben den Sieg vor Lüttich nicht dem strategischen Genie Ehrlichthausens zu verdanken, sondern nur der gewaltigen Kraft unserer Kanonen.“

„Was hat sich denn unser Wilhelm für mich ausgedacht?“

„Ihr seid Eures Kommandos an der Flandernfront enthoben, Herr General von Ehrlichthausen. Ich habe jetzt hier das alleinige Sagen. Keine Angst, Herr von Ehrlichthausen, einen General wie Euch lässt man nicht ohne Kommando. Der Kriegsverlauf an der Russlandfront entspricht nicht den Erwartungen Seiner Majestät des Kaisers. Er hat deshalb den dortigen Stab beurlaubt. Ihr sollt diese Vakanz ausfüllen, mein lieber General. Bei der Wahl Eures Stabes lässt Euch Seine Majestät freie Hand.“

„Das ist ganz ausgezeichnet, mein lieber von Meltikow. Der Kaiser war bei dieser Entscheidung sehr gut beraten. Ich werde meinen Generalstab sofort zusammenstellen und dann an die russische Front reisen. Ist Dietrichstein noch in Berlin? Sehr gut. Dann werde ich ihn als Generalstabschef anfordern. Er ist der einzige fähige Generalstabschef, den ich kenne.“

Peta verließ den Raum, ohne einen der Herren oder die Karte auch nur noch eines Blickes zu würdigen.

Ort: Psyche, Flandernfront

Der General sah auf die Karte.

Sie war riesig und bedeckte die ganze Wand. Musste sie auch, denn der Frontverlauf, den sie darstellte, war ebenfalls riesig. Britannier und Franken auf der einen, Deutsche auf der anderen Seite, kämpften auf einer fast vierhundert Kilometer breiten Front.

An dieser Front hatte man in diesen Tagen des Zurückziehens mehrere hunderttausend Mann verloren. Vor allem aber hatte man die Initiative verloren und reagierte nur noch auf die Aktionen des Gegners.

„Beim Krieg ist es immer das Schlimmste, die Initiative zu verlieren“, sagte der großfränkische General.

„Da stimme ich Ihnen zu, General Joffre“, erwiderte Peta ohne sich umzudrehen, „also müssen wir dafür Sorge tragen, die Initiative wieder zu ergreifen. Haben Sie dazu eine Idee?“

„Wir ziehen uns weiter zurück?“, antwortete der General Joffre zaghaft.

„Machen wir das nicht schon?“

Diesen Spott kannte der fränkische General. Seine Bemerkung war also richtig. Das gab ihm Mut. „Ja, wir ziehen uns zurück. Aber nur wegen kleinerer Scharmützel, die die Deutschen als Schlachten bezeichnen und deren Siege sie in ihren Zeitungen feiern. Gewonnen haben sie noch nichts. Wen interessieren schon eine halbe Million tote Soldaten, wenn der Krieg noch nicht verloren ist?“

„Ihre Einstellung gefällt mir, mon general. Sie zeigt den echten Krieger, der in Ihnen steckt. Sie teilen also die Angst der fränkischen Regierung vor einer Niederlage nicht? Die Herren wollen Paris verlassen.“

„Wir haben vor Paris zwei neue große Armeen aufgestellt und erwarten aus dem britannischen Reich noch weitere Truppen. Da die deutsche Flotte ängstlich in Bremerhaven hockt, ohne auszulaufen und zu kämpfen, wird niemand unsere Verstärkungen am Übersetzen aufs Festland hindern können. Außerdem haben unsere Niederlagen eine wichtige Erkenntnis gebracht: Es wird bald einen Stellungskrieg geben.“

„Darin stimme ich Ihnen zu. Jede Zeit hat ihre eigene Art der Kriegsführung. Früher waren es Bogenschützen und Ritter, heute ist es die mechanisierte Massenarmee. Das bedingt auch immer charakteristische Formen des Krieges. Im aktuellen kommt es darauf an, wer die meisten Soldaten und Maschinen hat. Die haben wir.“

„Noch sind die Deutschen in der Überzahl“, wagte der fränkische General einzuwerfen.

„Wie müssen wir darauf reagieren?“

„Rückzug an die Marne. Dort haben wir gut vorbereitete Stellungen und können hier auch schnell unsere Reserven von der Hauptstadt heranziehen. Wenn sich die Deutschen bei ihrem Vormarsch richtig dämlich anstellen, haben wir sogar die Chance, sie einzukesseln und zu vernichten.“

„Trauen Sie dem Herrn von Meltikow einen solchen Fehler zu? Er soll ein fähiger Heerführer sein.“

„Sein Vater war einer. Er hat uns oft besiegt. Von seinem Sohn halte ich nicht so viel.“

„Ich halte viel von ihm.“ Peta, der auf der anderen Seite der Front immer noch als britannischer Herzog von Montmorency auftrat, schien träumend in die Ferne zu sehen. Eine Weile wirkte er, als würde er schlafen. Der großfränkische General kannte solche Situationen und wartete respektvoll, bis Peta wieder ansprechbar war.

Das dauerte nur einen Moment, dann sagte dieser: „Warten wir´s ab. Der Herr von Meltikow könnte uns die Gelegenheit geben, die Deutschen zu umfassen und zu vernichten. Man soll immer an die Schwächen seiner Gegner glauben.“

* lat. die Todgeweihten

2. Kapitel Morgenrot, Morgenrot

Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod,

bald wird die Trompete blasen,

dann muss ich mein Leben lassen,

ich und mancher Kamerad.

Wilhelm Hauff, (Erde, 1824)

Gewalt, physische Gewalt ist das Mittel, dem Feinde unseren Willen aufzuzwingen, der Zweck. Um diesen Zweck sicher zu erreichen, müssen wir den Feind wehrlos machen. Dies ist dem Begriffe nach das eigentliche Ziel der kriegerischen Handlung.

General von Clausewitz, „Vom Kriege“, (Erde, 1832)

Ort: Psyche, Wedding, Alexandras Wohnung

Alexandra benötigte mehr Zeit, um wieder in ihren Körper zu finden, als Richard Kummer.

Das MindScript zeigte dem Chronisten fast nur noch einen sehr alten, sehr grauen und sehr krummen Richard Kummer. Er sah nun auch in Echt so aus, wie jene Maske, in der er sich den Bürgern Psyches als uralter Professor Rath üblicherweise zeigte.

Allerdings sahen die Psychaner nie, wie dieser alte Mann manchmal seine Fähigkeiten als Vollbürger nutzte, um wieder jung zu werden. Wie er darauf konzentriert war, seine Haare von Grau zu Dunkelbraun wechseln zu lassen und seinem Körper Spannkraft zu geben und Falten zu nehmen.

Während dieser Regeneration, die ihm ungeheure Kraft zu kosten schien, so angestrengt wirkte er dabei, musterte er die Schönheit der nackten Alexandra auf eine sehr intime Art.

Das MindScript wahrte bei diesen Bildern wieder jene Diskretion, die den Chronisten schon so oft zu Vermutungen zwang, weil ihm konkrete Fakten fehlten.

Es sprach nämlich nur von der Ausbildung, die Alexandra immer noch von Richard Kummer erhielt. Und es sprach davon, dass sie damit besser klarkam, als mit ihren Gefühlen zu ihm. Welches persönliche Verhältnis die beiden inzwischen zueinander hatten, verschwieg es.

Bis auf ein paar vage Bemerkungen, es hätte sich erheblich gebessert.

Kein Wort und erstrecht kein Bild dazu, warum beide nach dem Ausflug ihrer Geister in ihre nackten Körper zurückkehrten, die in Richards breitem Bett auf diese Wiedervereinigung von Körper und Geist gewartet hatten.

Der Ausflug im Geiste und die Auswertung des Gesehenen waren dem MindScript viel wichtiger.

Auch sie hatten beobachtet, wie sich der Oberst erschoss, den man als Spion enttarnt hatte. Danach musste Alexandra mal wieder feststellen, dass sie Psyche und ihre Bewohner immer noch nicht richtig verstand.

„Sie haben den Oberst gezwungen, sich umzubringen, weil er ein Spion war?“, fragte sie, ohne dabei irgendwelche Versuche zu unternehmen, ihre Nacktheit vor Richard Kummers eindeutigen Blicken zu schützen.

„Nein. Sie haben ihm die Möglichkeit gegeben, seine Ehre und die seiner Familie durch seinen Selbstmord zu bewahren.“

„Du meinst, die Tatsache, dass er sich das Leben genommen hat, macht sein Verbrechen weniger schlimm?“

„Er hat sich umgebracht und das ist der Schande, im Gefängnis zu sitzen, jederzeit vorzuziehen. Außerdem bewahrt ihn das vor der Schande einer noch viel schlimmeren Entdeckung: Der seiner sexuellen Neigung.“

„Eine Schande? Er liebt Männer. Was ist daran so schlimm?“

„Es ist in dieser Welt keine sexuelle Neigung, sondern ein Verbrechen, welches mit Gefängnis bestraft wird.“

„Aber er kann doch gar nichts dafür. Sie gehört zu ihm und sie ausleben zu dürfen, ist eines der wichtigsten Wesensmerkmale menschlicher Existenz. Auf Terra Nostra würde man kein Wort daran verschwenden.“

„Auf Terra Nostra ja. Aber hier aber ist Sex zwischen Männern verboten.“

„In dieser Welt muss vieles anders werden. Wir waren fast so weit, diese wichtigen Dinge zu ändern, aber dann kam der bescheuerte Krieg dazwischen. Er muss so schnell wie möglich wieder aufhören.“

„Ich habe vor, ihn noch im nächsten Jahr zu beenden. Mit deiner Hilfe und der deiner Genossen wird das kein Problem sein.“

„Mit der Hilfe meiner Genossen? Unsere Genossen sind alle eingesperrt. Wie sollen sie dir da helfen können?“

„Nicht alle Genossen sind im Gefängnis. Man hat nur wenige Sozialdemokraten eingesperrt. Die meisten sind frei, weil sie sich für die Politik des Kaisers aussprachen. Sprich mit ihnen. Vielleicht haben sie ihre Meinung inzwischen geändert. Versuche, sie von deinen Zielen zu überzeugen. Du kannst ja gern bei Herrn Brandenburger anfangen. Vielleicht steht er noch auf dich. Bleibe aber bitte ruhig und diplomatisch.“

Ort: Psyche, Berlin

Alexandra Al Kahira blieb ruhig und diplomatisch.

Obwohl der Herr Reichstagsabgeordnete und SPD-Chef Brandenburger ihr im bisherigen Gespräch schon viele Anlässe gegeben hatte, aufzuspringen und ihm die Augen auszukratzen.

Besonders aufgeregt hatte sie sein selbstgefälliger Bericht vom Empfang durch den Kaiser: „Seine Majestät haben fast wie von Gleich zu Gleich mit uns gesprochen. Er kenne keine Parteien mehr, nur noch brave Untertanen und Landsleute, die mit ihm die Gefahr fürs Vaterland abwehren wollen. Wer hätte da nicht für den Krieg gestimmt, meine Liebe? Ich hatte Tränen der Rührung in den Augen, als mir der Kaiser seine Hand gab.“

Alexandra hatte auch Tränen in den Augen. Allerdings nur solche der Wut. Erstaunlicherweise blieb sie trotzdem ruhig und fragte nur: „Hatten Sie bei Ihrer Zustimmung auch daran gedacht, dass nicht alle Parteimitglieder für den Krieg waren?“

„Ja, ja, der von Ihnen geführte linke Flügel, diese kommunistischen Spinner. Eine kleine, unbedeutende Minderheit. Bedenken Sie, meine Liebe, wir kämpfen auch gegen den russischen Zaren. Ist er nicht für euch Weltrevolutionäre das Urbild der Knechtschaft und der kapitalistischen Barbarei?“

„Der Zar ja. Aber seine Soldaten sind unsere Brüder. Sie sind einfache Arbeiter. Genau wie die Soldaten der großfränkischen und der britannischen Armee.“

„Das ist Unsinn. In einem Krieg gibt es nur Verbündete und Feinde. Brüder auf der gegnerischen Seite? Das ist eine militärische Unmöglichkeit, meine Liebe.“

„Genau aus diesem Grund lehnen wir den Krieg ja ab. Er spaltet die Einheit der internationalen Arbeiterschaft und schafft Feinde, wo es keine geben sollte.“

„Sie können mich mit Ihrer Propaganda nicht mehr einlullen, Königliche Hoheit. Alle, die so denken wie Sie, sind im Gefängnis.“

Bei diesen Worten wurde Herr Brandenburger plötzlich misstrauisch. „Warum hat man Sie eigentlich nicht eingesperrt? Die anderen Linken befinden sich doch auch alle hinter Schloss und Riegel.“

„Man hat mich auf mein Ehrenwort freigelassen. Dafür musste ich versprechen, nicht mehr öffentlich zu agitieren.“

„Dann tun Sie mir den Gefallen und agitieren Sie auch nicht mehr privat. Zumindest nicht in meiner Gegenwart.“ Brandenburger stand auf, um das Gespräch zu beenden.

Alexandra blieb sitzen. „Haben Sie ein schlechtes Gewissen, weil ich Ihnen begreiflich machen konnte, dass Sie die Arbeiter verraten haben, von denen Sie behaupten, sie zu vertreten, Herr Sozialdemokrat?“

„Ich habe keine Arbeiter verraten. Aber sie verraten die Arbeiter. Mit Ihrer Chimäre von der Weltrevolution. Wollen Ihre Arbeiter wirklich eine Weltrevolution? Nein. Alles, was die Arbeiter wollen, ist arbeiten, essen und leben.“

„Richtig. Sie wollen arbeiten, essen und leben. Wer leben will, will nicht in den Krieg...“

„Das ist Schwachsinn, Teuerste. Es strömen Millionen Freiwillige an die Front, um zu verhindern, dass ihnen diese Ausländer, gegen die wir gerechterweise kämpfen, ihre Arbeit und ihr Essen wegnehmen. Bis zum Winter haben wir das geschafft. Dann werden wir diesen Krieg gewonnen haben. Sie werden sehen, an Weihnachten sind alle wieder zu Hause.“

„Und wenn nicht?“

Brandenburger wies Alexandra energisch die Tür. „Ihre Kleingläubigkeit ist verachtenswert. An einem schnellen deutschen Sieg kann gar kein Zweifel bestehen.“

Ort: Psyche, Russlandfront, nahe Allenstein

„An einem schnellen russischen Sieg kann gar kein Zweifel bestehen. Wir haben unsere Truppen in zwei Armeeverbände geteilt und werden dadurch die deutschen Einheiten gründlich vernichten.“ Der russische Oberbefehlshaber wies auf die Fähnchen an der Karte und sah sich dann um. Er erwartete auf seine Worte nur begeisterte Zustimmung.

Die meisten russischen Offiziere waren begeistert.

Nur Gerrich und Huldrich gefielen die Ausführungen ihres Oberbefehlshabers überhaupt nicht. Folgte der seinen Plänen, wäre es Peta ein Leichtes, die Russen zu besiegen.

Gerrich machte eine Bewegung und die anderen Offiziere schwiegen nicht nur, für die war auch die Zeit stehengeblieben.

Für den kommandierenden General natürlich nicht. Der musste sich Gerrichs Vorwürfe anhören.

„Mit Verlaub, Herr General, ich finde, die beiden Armeen sind dann zu weit voneinander entfernt. Sie können sich nicht mehr gegenseitig unterstützen. Ein fähiger Befehlshaber der Gegenseite würde das ausnutzen und sie einzeln schlagen. Getrennt marschieren, gemeinsam schlagen. Der alte von Meltikow hat mit dieser Taktik sehr viele Kriege gewonnen.“

„Aber der alte von Meltikow ist tot. Die Deutschen haben keinen Ersatz für ihn. Oder wollen Sie etwa behaupten, sein Sohn hätte die Fähigkeiten seines Vaters?“

„Das wünscht er sich vielleicht, aber es ist nicht der Fall. Außerdem ist von Meltikow in Flandern. Ehrlichthausen hingegen ...“

„... Ehrlichthausen ist auch in Flandern.“ Der Oberbefehlshaber der russischen Front war ein Kavallerist der ganz alten Schule. Er liebte Angriffe, aber er mochte keine Diskussionen. Am wenigsten, wenn man ihm bei solchen widersprach. „Mein lieber Marcus Petrowitsch Gerrich, Sie mögen ein fähiger Ingenieur sein, aber zum General fehlt Ihnen Zucht und Gehorsam. Sie sind zu lässig und widersprechen mir zu oft.“

„Aber ich widerspreche doch nur, um Ihnen einen Fehler zu zeigen, den Sie möglicherweise begehen. Ich sehe eine deutliche militärische Situation, die uns die Früchte der bisherigen Siege kosten wird. Davor wollte ich Sie warnen, Herr General.“

„Ständig widersprechen Sie meinen Ideen, General Gerrich. Warum? Wären Sie gern der Oberbefehlshaber? Leider haben Sie diesen Rang nicht inne. Ich hingegen schon und ich weiß ihn auch zu nutzen.“