Imperium - Thorsten Klein - E-Book

Imperium E-Book

Thorsten Klein

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Beschreibung

Imperium ist das 1. Buch einer sechsteiligen Romanreihe. In einer fremden Welt wird die Geschichte der Erde vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre lebendig. Erzählt werden bekannte und unbekannte historische Ereignisse aus der Sicht mehrerer "Götterfamilien", die eine Welt beherrschen wollen, ohne sie am Anfang richtig zu kennen. Und von einem Geheimnis, das diese fremde Welt mit einer von gottgleichen Menschen bewohnte Erde des 45. Jahrhunderts verbindet.

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Seitenzahl: 326

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„Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“

Karl Marx, „Der 18. Brumaire des L. Bonaparte“, (1852)

Meinen Töchtern Sophie und Vanessa gewidmet

Thorsten Klein

PSYCHE

1. Buch

Imperium

Roman

© 2015 Thorsten Klein

Umschlag, Illustration: Thorsten Klein

www.planet-psyche.de

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-7345-9998-9

e-Book

978-3-7345-9999-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel Drei-Kaiser-Treffen

2. Kapitel Kaiserwetter

Intermezzo 1

3. Kapitel Kaiserfahrt

4. Kapitel Kaiseraussichten

Intermezzo 2

5. Kapitel Kaiserplätzchen

6. Kapitel Drei-Kaiser-Jahr

Intermezzo 3

7. Kapitel Kaiserweg

8. Kapitel Kaiserhymne

Intermezzo 4

9. Kapitel Kaiserkult

10. Kapitel Kaiserschmarrn

Intermezzo 5

Ein MindScript (oder wie die ganze Sache begann...)

Irgendwann im Sommer des Jahres 2010 bin ich beim Stöbern im Internet auf eine seltsame Datei namens MindScript gestoßen. Nachdem ich sie geöffnet hatte, erschienen kryptische Zeichen auf dem Bildschirm.

Vor meinen Augen entstand gleichzeitig das holografisches Abbild eines jungen Mannes, um dann über den Tasten meines Laptops zu schweben.

In solchen Situationen sollte man zuerst den eigenen Drogenkonsum kritisch hinterfragen.

Ich war mir aber absolut sicher, außer Mineralwasser und Milch, nichts Bewusstseinserweiterndes zu mir genommen zu haben.

Heute, mit genauerem Wissen über dieses Phänomen, bin ich froh, damals so ruhig geblieben zu sein.

Welche Abenteuer, welche fantastischen Reisen in ebenso fantastische Welten wären mir entgangen, wenn ich diesen holografischen Menschen ignoriert oder vertrieben hätte.

Natürlich schwieg ich erst einmal und hoffte insgeheim, der Spuk würde schon vergehen, wenn ich ihm nur die Zeit dazu ließe.

Zu meinem Glück (und vielleicht auch zu dem meiner Leserinnen und Leser) bewies er jedoch Geduld mit mir und blieb.

Auch, um meine Fragen zu beantworten…

Thorsten Klein, Großenhain, 12.09.2016

Prolog

Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient

So werd ich ihn bald in die Klarheit führen

Goethe, „Faust - der Tragödie 1. Teil“, (Erde, 1808)

Ort: Großenhain, Wohnung des Chronisten

Nach einer Weile des gegenseitigen Musterns verlor jene holografische Gestalt als erste die Geduld. „Willst du nicht wissen, warum du mich siehst?“, fragte sie.

„Ich bin mir sicher, mein Antivirenprogramm ist auf dem neuesten Stand“, antwortete ich.

„Das ist richtig. Aber ich hatte keine Probleme damit. Obwohl ich einen Moment benötigte, die Hardware deines Rechners zu bedienen.“

„Ich mache kein Online-Banking“, versicherte ich sofort. „Trotzdem finde ich es seltsam, was für Programme die Phisher neuerdings entwickeln.“

„Ich bin kein Virus oder ein Phishing Programm. Ich bin ein MindScript“, klang die holografische Gestalt fast ein wenig beleidigt.

„Und damit ist alles erklärt…?“

„Für mich schon.“

„Für mich nicht.“

Der holografische Mensch nickte. „Ich sehe, du benötigst grundlegendes Wissen.“

Er lief über den Laptoptasten auf und ab und begann, zu dozieren. So sollte ich ihn noch oft erleben.

„MindScripte beinhalten die Erinnerungen ihrer Autoren. Sie können in jeder Epoche und mit allen möglichen Hardwarekonfigurationen ausgelesen werden. In der Antike oder im Mittelalter wäre ich dir als uralter, vielleicht sogar blinder Mann erschienen, der dir eine noch viel ältere Ballade erzählt.“

„Alte Balladen sind toll, aber Prosa ist mir lieber.“

Er sah sich in meiner Stube um. Überall standen Bücherregale. Nur im Bad und in der Küche habe ich keine. „Prosa ist mir ebenfalls lieber. Ich dichte nicht so gern.“

„Was willst du mir denn erzählen?“

„Etwas aus meinem Leben. Nur einen bestimmten Teil natürlich. Ich bin schon uralt. Nach deiner Lesart. Geboren wurde ich in deiner Zeit. Entstanden ist mein MindScript allerdings fast zweitausendfünfhundert Jahre später.“

„Du bist zweitausendfünfhundert Jahre alt? Dafür siehst du aber noch recht jung aus.“

„Wir altern nicht.“

Das war doch mal eine Mitteilung. „Ist das ansteckend?“, hoffte ich.

Er musterte mich eine Weile und schüttelte dann den Kopf. „Tut mir leid, aber du hast weder die anatomischen, noch die mentalen Voraussetzungen zum Vollbürger. So heißen bei uns die Menschen, die uralt und mächtig sind“, fuhr er nach meinem fragenden Blick erklärend fort. „Ihr würdet sie vielleicht als Götter bezeichnen. Machen wir aber nicht, denn Götter gibt es wirklich.“

„Na klar. Und manchmal kommen sie aus meinem Laptop gekrochen und wollen mir Geschichten erzählen. Ich habe schon einiges gelesen. Davon aber noch nichts.“

„Immer noch skeptisch? Dabei waren es gerade deine Bücher, die mir Mut gemacht haben. Ich hatte gehofft, eine gute Geschichte würde dich interessieren. Eine, die du noch nicht gelesen hast.“

„Die interessieren mich immer. Wenn sie spannend sind.“

„Ich werde versuchen, sie spannend zu erzählen. Versprochen. Ich habe in den über zweitausend Jahren meines Lebens immerhin einiges erlebt. Unter verschiedenen Namen natürlich. In einem langen Leben ist es normal, ab und zu mal einen anderen Namen anzunehmen. Wer möchte schon tausende von Jahren denselben tragen?“

„Und deiner ist?“

„Im Moment nenne ich mich Richard Kummer.“

„Im Moment?“

„Geboren wurde ich als Richard Rath. Hier, in dieser Gegend. Wir sind doch in Sachsen, in der Nähe Dresdens? Oder?“

„Wenn ich deine Frage verneine, verschwindest du dann?“

„Habe ich endlich deine Neugier geweckt?“

„Das hast du schon lange.“

„Das heißt, du bist bereit, mir zuzuhören?“

„Mache ich das nicht schon?“

Er schien erleichtert zu sein. Das kannte ich. Ich hatte beruflich oft mit Menschen zu tun, die mir etwas aus ihrem Leben erzählten, ohne dass ich sie darum bitten musste. Meist waren sie einfach nur froh, dass einer zuhörte. Warum nicht ihm? Es versprach, interessant zu werden. War doch toll, so ein Gott auf der Couch, oder? Okay, nicht auf der Couch, aber über dem Laptop.

Dessen Bildschirm zeigte nun ein wunderschönes Schloss, umgeben von einem ebenso schönen Park. Dahinter allerdings nur schwarzes Nichts.

„Die Terra Waldenburgensis“, stellte er vor, „Heimat echter Götter. Die Familie des Herzogs von Waldenburg lebt in diesem Schloss.“

„Ich kenne viele Götter. Aber ein Herzog von Waldenburg ist nicht darunter.“

„Ist er und du kennst ihn, da bin ich mir sicher. Allerdings unter einem anderen Namen.“

„Unter welchem?“

„Ist es nicht viel spannender, das selbst herauszufinden? Du wirst, wenn du meiner Geschichte folgst, noch viel mehr kennenlernen, was dir irgendwie bekannt vorkommt. Gerade das macht ihren Reiz aus, glaube mir.“

„Dann werde ich vielleicht weitere Fragen haben.“

„Folge meiner Geschichte. Deine Fragen werden sich nach und nach von selbst beantworten. Ich erzähle dir den wichtigsten Abschnitt meines langen Lebens. Natürlich ist in den anderen Lebensabschnitten ebenfalls viel geschehen. Und alles, was geschah, hatte Einfluss auf diesen. Auch meine Entscheidungen zur Welt PSYCHE.“

„Zur Welt PSYCHE?“

„PSYCHE ist das letzte große Geheimnis meiner Zeit. Einige halten sie für ein MindGame, also für eine Art Computerspiel, andere für eine Art Gefängnis.“

„Und wer hat Recht?“

„Um das herauszufinden, musst du einfach nur zuhören. Eine Rebellengruppe um Alexandra Al Kahira glaubte an die Gefängnistheorie“, erklärte er, während auf dem Bildschirm des Laptops nun die Gesichter einiger Menschen auftauchten. In der Mitte eine Frau von so atemberaubender Schönheit, dass ich sofort sicher war, Richard Kummer und seinesgleichen konnten nur Götter sein.

Der holografische Richard Kummer betrachtete sie mit der gleichen Intensität, mit der ich ihrer Schönheit huldigte. Das verwunderte mich und ich betrachtete ihn.

Es fiel mir auf, dass die tiefe Traurigkeit, die ich vorhin bereits in seinem Blick wahrgenommen hatte, sich noch intensivierte.

Ist ja schon mal interessant, dachte ich.

Der holografische Richard dachte nach einer Weile, es wäre interessanter, weiterzuerzählen, statt schöne Frauen anzustarren. „Neben Alexandra war auch il caskar der Anführer dieser Rebellen Community. Und natürlich Michael Arx. Der war eine Art Doppelspion. Obwohl seine Mitgliedschaft im Hohen Rat ein offenes Geheimnis für alle Bürger der Terra Nostra war.“

„Der Hohe Rat? Bestimmt die Regierung der Erde?“

„Die Regierung der Erde?“, fragte er zurück. „Meinst du, dass die Erde der Zukunft eine Regierung benötigt?“

„Ihr benötigt keine Regierung? Gibt es bei euch keine Konflikte mehr?“

„Schön wär’s. Neben der Rebellengruppe hatten wir noch Ärger mit illegalen Gamern. Die hatten herausgefunden, dass man PSYCHE auch über ein MindGamePortal betreten kann. Was deren Theorie, es handele sich bei PSYCHE um eine Art Computerspielwelt, natürlich festigte.“

„Ein Gefängnis oder eine Computerspielwelt. Pauschalreisen nach PSYCHE gab es wohl nicht?“

„Darüber wachte der Hohe Rat. Pauschalreisen? Wer wollte schon nach PSYCHE? Die Erde war ein Paradies. PSYCHE die Hölle. Die Wahl war nicht schwer.“

„Trotzdem müsst ihr darüber wachen, dass niemand das Paradies gegen die Hölle eintauscht?“, fragte ich und fuhr fort: „Ich glaubte weder an ein Paradies, noch an eine Hölle. Zumindest nicht, solange Menschen darin wohnen. Sie würden nicht lange brauchen, um beides gründlich zu versauen.“

„Du weißt gar nicht, wie Recht du hast. Menschen wollen immer das, was sie nicht haben. Viele zumindest. Lebt man im Paradies, scheint die Hölle erstrebenswert. Damit sie die nicht versauen, wacht der Hohe Rat darüber, wer sie betreten darf.“

Auf dem Bildschirm meines Laptops erschien wieder jene schöne Frau. „Alexandra sollte sie betreten. Unbedingt. Alles hing davon ab. Mein Leben, die Existenz von PSYCHE, selbst das Leben von Alexandra. Allerdings wusste sie das nicht.“

„Scheint so, als gebe es auch in der Zukunft Probleme?“

„Wo Menschen sind, sind Probleme. Je mächtiger die Menschheit, umso größer die Probleme, die sie verursacht.“

„Habt ihr erreicht, dass Alexandra nach PSYCHE will?“

„Ja, aber nur dadurch, dass der Chevalier Le Marechal und Sophia Demeter die Patenschaft über ihren Aufenthalt übernahmen. Ihnen vertraute sie.“

Der warf hier einfach so mit Namen um sich... „Die waren auch vom Hohen Rat?“, vermutete ich.

„Das waren sie. Alexandra übrigens auch. Aber auch das wusste sie nicht mehr.“

„Eine Göttin mit solch massiven Gedächtnisproblemen? Was war falsch gelaufen?“

Er schwieg eine ganze Weile, bevor er antwortete: „Etwas Massives. Die Erde hatte drei gewaltige Kriege erlebt. Die beiden Kybernetischen Kriege und den Krieg der Kinder.“

„Den Krieg der Kinder?“, unterbrach ich ihn entsetzt.

„Klingt furchtbar, nicht wahr? Glaub mir, er war noch furchtbarer. Aber dem Hohen Rat war es gelungen, den Krieg der Kinder zu beenden und Frieden zu schließen. Fünfhundert Jahre bevor das begann, was ich erzählen möchte. Allerdings kam der Frieden nur unter der Akzeptanz der Rebellengruppe il caskars und Alexandra Al Kahiras zustande. Michael Arx schloss sich ihnen an. Er war der jüngste, der je Vollbürger wurde, und das jüngste Mitglied des Hohen Rates.“

„Und gleichzeitig euer Spion bei den Rebellen?“

„Gut aufgepasst. Allerdings passen eure antiken Begriffe nicht mehr in unsere Zeit. Bei uns gibt es kein Gut und kein Böse mehr.“

„Also seid ihr alle böse?“

„Und alle gut. Kommt immer darauf an, von welcher Seite man es betrachtet.“

Ich sah da keinen großen Unterschied zu meiner Zeit, wollte aber keine Diskussion darüber.

Seine Geschichte interessierte mich mehr. „Alexandra war also auf PSYCHE… “, assistierte ich ihm, um ihn zum Weitererzählen zu bewegen.

„Nicht nur sie, auch die drei wichtigsten MindGamer waren dort. Die aber schon viel länger, da sie PSYCHE ja als „Computerspiel“ betrachteten.“

„Ihr spielt Computerspiele in einer Welt mit echten Menschen?“

„Wir sind Götter. Die machen seit Jahrtausenden nichts Anderes.“

Wo er Recht hatte… Also schluckte ich nur kurz und fragte weiter: „Welche Spielchen habt ihr denn mit den Menschen auf PSYCHE gespielt?“

„Spielchen? Wir spielen keine Spielchen. Der Hohe Rat wachte über das Wohlergehen der Psychaner. Und über ihre Kriege. Einen hatten sie gerade beendet. Dessen politische Ergebnisse sorgten dafür, dass Alexandra dringend gebraucht wurde. Die drei MindGamer, Peta Avatar, Huldrich und Gerrich, hatten das Ihrige im Krieg bereits getan. Sie würden weitermachen. Level für Level. Wir waren uns sicher, sie alle konnten den gewaltigen Plan unterstützen, den wir auf PSYCHE umsetzen wollten.“

„Ach so. Die Rettung der Welt und die Vernichtung der Superschurken“, unterbrach ich ihn mit meiner Vermutung. Solche Geschichten kannte ich.

„Die Rettung der Welt und die Vernichtung der Superschurken?“, fragte er.

Richard Kummers holografische Abbildung war aufs Tiefste gekränkt. „So etwas erzähle ich nicht. Ich erzähle nur eine ganz einfache Geschichte. Über Wünsche und Sehnsüchte, aber auch über Versagen und Schuld. Nicht nur von Menschen, sondern auch von Göttern.“

„Klingt interessant genug, dir zuzuhören.“

„Das freut mich. Meine Eitelkeit will aber noch mehr von dir. Ich möchte, dass du mein Chronist wirst.“

„Dein Chronist?“

„Bring meine Erinnerungen in eine Form, mit der die Menschen in deiner Zeit etwas anfangen können: Mach daraus einen Film, ein Buch, ein Lied oder was immer dir möglich ist.“

„Du bist doch ein MindScript. Heißt das nicht, du bist schon so etwas, wie eine Geschichte?“

Sein Nicken machte seinem Nachnamen alle Ehre. „Ich bin eine Geschichte, das ist richtig. Allerdings in einer Form, die deine Zeitgenossen erschreckt. Sobald ich erscheine, fliehen die Leute vor mir. Einige haben auch aufgehört zu trinken, nachdem sie mich gesehen haben.“

„Dann hat doch dein Dasein etwas Gutes.“

„Wenn du erzählst, was ich erlebt habe, ist das vielleicht anders“, ging er auf meinen Spott nicht ein.

„Meinst du?“ Ich hatte da meine Zweifel.

„Wolltest du nicht immer Schriftsteller werden?“

„Wollte ich. Früher. Aber davon kann man nicht leben“, gab ich zu, bevor ich richtig verstand, was er sagte und misstrauisch nachfragte: „Woher weißt du das überhaupt?“

„Ich komme aus der Zukunft“, antwortete er, ohne mir eine Antwort zu geben.

„Heißt das, du kennst auch meine Zukunft?“

„Wer weiß. Wenn du keine Bücher schreibst, wirst du dich nie Schriftsteller nennen können.“

Lange musste ich nicht überlegen. „Da hast du Recht. Ich werde aus deiner Geschichte ein Buch machen. Filme oder Lieder sind nicht so mein Ding.“

„Ein Buch? Mehrere Bücher. Meine Geschichte ist mit einem Buch nicht erzählt.“

1. Kapitel Drei-Kaiser-Treffen

„Das Deutsche Reich war gegründet. Ob zum Heil oder Unheil, ... viel ist darüber gerichtet und gerechtet worden.“ S. Fischer-Fabian, „Preußens Krieg und Frieden“, (Erde, 2008)

Ort: Psyche, südlich von Berlin

Der Kaiser schoss.

So etwas ließ sich manchmal nicht vermeiden. Vor allem dann, wenn man sich auf einer Jagd befand. Da der Kaiser Gastgeber dieser Jagd war, musste er auch zum Gewehr greifen.

„Getroffen!“, rief Kanzler von Schönhausen applaudierend und fügte hinzu: „Majestät werden eine hervorragende Jagd haben.“

„Hervorragende Verhandlungen wären mir lieber. Wie laufen die denn? Hat es Fortschritte gegeben?“, fragte der Kaiser.

Wider Erwarten nickte der Kanzler. „Die Herren Diplomaten haben sich richtig Mühe gegeben und die Sache gewaltig vorangetrieben.“ Dass er die Diplomaten gewaltig vorangetrieben hatte, verschwieg er. Der Kaiser wusste auch so um seine Verdienste. „Heute Abend wird alles fertig sein“, versicherte er.

„Soll das bedeuten, wir können die Verträge bereits unterschreiben?“, fragte der Kaiser. Nur deshalb hatte man ja die ganzen hohen Herrschaften überhaupt zum Tiere abschlachten eingeladen. Dem Zeitplan wäre man damit aber weit voraus.

„Dass die Unterlagen fertig sind, bedeutet nicht, sie seien unterschriftsreif. Aber ich bin mir sicher, Majestät werden in persönlicher Beratung mit den anderen Majestäten noch heute zu solchen Ergebnissen kommen. Es ist besser, wenn wir zu einem kleinen Gespräch im Familienkreis laden, als die vielen Diplomaten verhandeln zu lassen, die bisher daran arbeiten, Majestät. In familiärer Runde werden manchmal erstaunliche Ergebnisse erzielt.“

„Für die Tiere wäre es auf jeden Fall besser, wenn wir meinen Neffen, den Prince of Wales, einladen.“

„Aber das muss er unbedingt, Majestät. Nur deshalb ist er ja hier.“

„Er darf mit verhandeln? Kaiserin Victoria hat ihm das gestattet?“

„Die Schwiegermutter Eures Sohnes ist alt. Alle wünschen ihr ein langes Leben. Aber nur Gott weiß, wann er sie zu sich rufen wird. Der Thronfolger muss also zeigen, was er bereits kann.“

„Er wird keine Chance gegen meinen Kanzler haben.“

„Trotzdem müssen wir den Britanniern einige Zugeständnisse für ihre Neutralität im letzten Krieg machen. Kaiserin Victoria weiß das. Die Minister, die den Prince of Wales begleiten, haben strikte Order von ihr. Aber mit denen habe ich mich bereits abgesprochen. Euer Neffe wird am Ende glauben, er habe gut verhandelt. Einem zukünftigen König kann man unter die Arme greifen, ohne dass er es merkt. Es baut ihn trotzdem auf.“

„Ich bin ungeheuer beruhigt, mein lieber Fürst, dass Ihr nicht nur Eurem Kaiser, sondern auch ausländischen Mächten Eure Politik so aufdrängen könnt, dass sie glauben, es wäre ihre eigene“, erwiderte der Kaiser mit einem Lächeln, das der Kanzler verstanden hätte, wenn er nur wollte.

„Die Britannier wollen so viel Macht, wie nur möglich. Wir sind inzwischen ebenfalls in der Lage, Macht zu fordern. Da muss man Kompromisse schließen, um weiterhin Sicherheiten zu gewährleisten. Die Welt wird dann so sicher sein, wie diese Jagd.“

„Es sind alle Kaiser und Könige der Welt hier. Es fehlen nur noch ein paar verrückte Sozis oder andere Anarchisten mit ein paar Bomben und die Welt versinkt in jenem Chaos, das die anstreben.“

„Der Herzog von Waldenburg und seine schwarzen Husaren sind für die Sicherheit verantwortlich. Wir haben ihm schon so oft unser Leben anvertraut. Er wird kein Attentat zulassen.“

Der Kaiser sah auf das Gewimmel. „Bei so vielen Leuten? Wie will der Herzog da den Überblick behalten?“

Die Befürchtungen des Deutschen Kaisers waren nicht ganz unbegründet.

Bei so vielen Menschen können die Organisatoren schon mal den Überblick über die Teilnehmer verlieren. So achtete scheinbar keiner auf jenen Mann, der bei der Jagd anwesend war, obwohl ihn niemand eingeladen hatte. Da er sich, dank seiner Uniform, äußerlich nicht von den anderen unterschied, war er bis jetzt erfolgreich getarnt.

Natürlich schützte ihn das nicht vor der Aufmerksamkeit des Herzogs von Waldenburg, der bei seiner Wahrnehmung nicht nur auf seine Augen angewiesen war, sondern auch mit seinen Inneren Sinnen sah. Außerdem hatte der mit diesem Besuch gerechnet.

Es zeugt von der hohen Routine, erworben in vielen hundert Jahren an den verschiedensten Fürstenhöfen Psyches und anderer Welten, dass man dem Herzog äußerlich von seiner Anspannung nichts ansah.

Er plauderte mit dem Fürsten von Dietrichstein. Was an sich schon ein Kunststück war, denn die Dummheit des Fürsten war legendär. Wie immer rettete ihn die Frau des Fürsten Dietrichstein vor einer Fortsetzung der höchst einseitigen Konversation. Er überließ den Fürsten der Gesellschaft der Fürstin von Dietrichstein, um seine Aufmerksamkeit ganz dem Attentäter widmen zu können.

Dass es sich um einen solchen handelte, stand inzwischen vollkommen außer Zweifel. Dessen Gedanken lagen offen und klar vor dem Geist des Herzogs. Er war sich auch sicher, wer das Ziel dieses Anschlages war.

Ort: Psyche, Wedding

Alexandra Al Kahira war sich inzwischen sicher, in einer fremden Welt zu sein. Solche Städte gab es auf der Terra Nostra nicht, denn die Städte hier waren bewohnt. Gebäude, wie Alexandra sie sah, existierten auch noch auf der Erde. Aber nur als Gedenkstätten, als Erinnerungen an eine sehr ferne Zeit. Alexandra hatte den Schilderungen der Museumsführer nie geglaubt, Menschen hätten einst in solchen Gebäudeansammlungen gelebt. Es gab kaum Licht und die Luft als sauber zu bezeichnen war mehr als eine Zumutung.

Aber das Schlimmste neben diesem furchtbaren Geruch war der Dreck.

Die Gebäude ließen darauf schließen, dass man versucht hatte, auf engstem Raum so viele Menschen wie möglich unterzubringen. Alexandra befand sich in einer Straße, die links und rechts von hohen Häuserschluchten flankiert war. Ein schneller Scan zeigte ihr, dass die Wohnungen dieser Häuser alle bewohnt waren. Sie ließ ihren Geist steigen, um einen Überblick über die Umgebung zu gewinnen. Die Stadt war riesig, ungefähr vierzig bis fünfzig Kilometer in alle Richtungen. Ihrer Schätzung nach konnte man bis zu fünfzehn Millionen Menschen so zusammenpferchen. Ein gewaltiger Verstoß gegen das Innere Gesetz!

Noch war es dunkel, so dass sie die Möglichkeit haben sollte, sich am Sternenhimmel zu orientieren. Wo war sie? Die verblassenden Sternbilder entsprachen nichts, was sie von der Terra Nostra kannte.

Ein furchtbarer, schriller, auf- und abschwellender Ton durchschnitt plötzlich die morgendliche Stille. Als ob sie nur auf diese Aufforderung gewartet hätten, verließen Menschen die dunklen, grau roten Klippen ihrer Behausungen.

Alexandra versuchte, die Persönlichkeiten der Menschen zu scannen. Sie erfasste aber nur das flackernde dunklen Licht von Müdigkeit und Hunger in deren Körpern. Ihre Versuche, verbalen Kontakt mit den Bewohnern aufzunehmen, scheiterten ebenfalls. Sie konnte an den inneren Reaktionen erkennen, dass die Menschen diese krude Sprache namens Deutsch, die Michael Arx ihr beigebracht hatte, verstanden. Aber seltsamer Weise wollte niemand mit ihr sprechen. Sie gingen alle zielstrebig in eine Richtung.

Das Ziel der sich fortbewegenden Menge aus müden Leibern schien ein gewaltiger Komplex aus hohen Gebäuden und noch viel höheren Schornsteinen zu sein, der das Ende der Straße abschloss. Von dort war auch jener durchdringende Ton gekommen, der den Morgen so abrupt beendet hatte.

Dieser Bereich war eingehüllt in eine Wolke aus Dampf, Ruß und Schwefel, wie der Gipfel eines aktiven Vulkans. Ein hoher, eiserner Zaun umgab diesen Komplex. Er war unterbrochen durch ein riesiges Tor. Wie der offene Rachen eines Blauwals auf der Suche nach Plankton. Die Suche war erfolgreich, denn die Menschen strömten in das Tor, als würden sie von einer unbekannten Kraft hineingezogen. Gleichzeitig strömten andere aus dem Tor heraus.

Alexandra blieb in einiger Entfernung vor diesem Moloch stehen und beobachtete das Geschehen mit fasziniertem Entsetzen.

Ein anfängliches Gefühl, doch im gesuchten Land namens Psyche zu sein, wurde immer mehr zur Gewissheit. Dieser Albtraum konnte nicht auf der Terra Nostra stattfinden. Es war schon schlimm genug, dass er überhaupt Realität war. Sie hatte die vielen Sinne, mit denen sie ausgestattet war, verschlossen und konnte nur noch hören und sehen. Aber das war für diesen Albtraum vollkommen ausreichend. Diesem eklatanten Verstoß gegen das Innere Gesetz musste Einhalt geboten werden.

Sie musste ihm Einhalt gebieten.

Alexandra konzentrierte sich nochmals auf die mentale Ebene. Es sollte doch möglich sein, dort mehr als nur Müdigkeit und Hunger zu sehen.

Sie hatte Erfolg. Mitten in dem grau-gelben Glühen menschlicher Auren erstrahlte ein helleres Licht. Nur schwach zwar, aber deutlich. Es gehörte einem kleinen, mageren Jungen, seinem Äußeren nach vielleicht zehn Jahre alt. Er war stehen geblieben und musterte Alexandra. Er lief auch nicht weg, als sie näherkam.

Ort: Psyche, südlich von Berlin

Auch Peta Avatar sah, wie der Attentäter näher kam. Peta trug auf dieser Jagd die schwarze Uniform der Waldenburger Husaren. In seiner Begleitung waren mehrere Offiziere und einige Damen, aber Peta gelang es trotzdem geschickt, sich aus der Gruppe zu lösen.

Der Attentäter war noch sehr jung, vielleicht Mitte zwanzig. Unbemerkt und sacht drang Peta in das Bewusstsein des jungen Mannes ein und fand Erstaunliches. Dessen Gedanken galten dem Thronfolger, also dem Sohn des neugebackenen Kaisers aller Deutschen. Bei einer so großen Auswahl potenzieller Opfer war das ein seltsames Ziel. Peta beschloss, dem Attentäter zu folgen. Aufhalten wollte er ihn erstmal nicht.

Den Sohn des Kaisers umbringen zu lassen, war vielleicht keine so schlechte Idee, um in diesem Spiel ein höheres Level zu erreichen.

Ort: Psyche, Wedding

Alexandras Entsetzen hatte ein höheres Level erreicht. In den Höfen dieser hohen Häuser befanden sich weitere hohe Häuser. Man hatte die Innenhöfe einfach zugebaut, um zusätzlichen Wohnraum zu schaffen. Alexandra konnte sich nicht vorstellen, dass es hier zu irgendeiner Zeit des Tages Sonnenlicht geben könnte. Die Atmosphäre dieser Höfe schien nur aus Dreck und schlechter Luft zu bestehen.

Der Junge hieß Wolfgang. Sie bat ihn, ihr sein Zuhause zu zeigen. Erst nach langem Zureden war er einverstanden. Allerdings murmelte er dabei immer, sein Vater würde wütend auf diesen hohen Besuch reagieren. Aber Alexandra verstand nicht, was er damit meinte.

Das Treppenhaus war so dunkel, dass man gerade noch die Treppenstufen erkennen konnte. Der Dreck, von anderen Dingen ganz zu schweigen, war zum Glück nur zu riechen, aber in dem Halbdunkel nicht zu sehen. Alexandra verstand es inzwischen schon gut, sich unangenehmen Eindrücken zu verschließen.

Wolfgang führte sie in eine Wohnung im dritten Stock. In ein großes Zimmer mit einem flachen Ofen, einem Tisch und vier Stühlen.

Am Tisch saßen ein Mann und ein Mädchen. Der Mann war, ein schneller Scan zeigte das, gerade Anfang vierzig, wirkte aber um vieles älter. Das Mädchen war vielleicht zwei Jahre älter als Wolfgang und dass er ihr Bruder war, erkannte Alexandra an ihrer Genstruktur.

Beide sahen überrascht auf die Besucherin. Die versuchte, ihnen verständlich zu machen, was sie wollte.

Ort: Psyche, südlich von Berlin

Peta versuchte, herauszufinden, was das MindGame von ihm wollte.

Er war auf die unteren Äste einer alten Eiche geklettert und hatte die Augen geschlossen, um die Umgebung mit seinen Inneren Sinnen besser wahrnehmen zu können. Verschiedene Punkte hatten ein Ziel und strebten dem mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu.

Da war erst einmal der einzelne Punkt des Attentäters, der, bar jeder Orientierungslosigkeit, genau zu wissen schien, wo das Ziel war, das er erreichen wollte.

Dann gab es noch die vier kaiserlichen Gendarmen in der Uniform der Waldenburger Husaren. Es war die einzige Uniform, die einfachen Soldaten hier im Jagdrevier gestattet war, weil dieses Regiment die Sicherheit der Jagd zu überwachen hatte. Peta kannte alle Soldaten seines Regimentes. Die vier gehörten nicht dazu. Außerdem stanken sie sieben Meilen gegen den Wind nach Bullen.

Der dritte und interessanteste Punkt war der schwarze Herzog selbst. Peta war das nicht gleich aufgefallen. Erst ein paar Interferenzen beim Scan zeigten ihm, dass ein wesentlich stärkerer Geist als der seine an den Geschehnissen interessiert war.

Der schwarze Herzog schien die ganze Aktion zu überwachen. Diese Erkenntnis hatte Peta auf den Baum getrieben. Hier war der mentale Empfang besser und er konnte ungestörter beobachten.

Der Thronfolger stand mit ein paar Offizieren jüngeren Alters und seinem Sohn auf einer Lichtung. Die Herren unterhielten sich. Der Thronfolger des Deutschen Kaisers war berüchtigt für seine liberalen Einstellungen und gestattete den anwesenden Herren, ganz ungezwungen mit ihm zu plaudern. Was diesen sichtlich wohl tat, aber ganz entschieden gegen die Etikette verstieß.

Aber so hatte sich ein interessantes Gespräch ergeben In der Sicherheit und Abgeschiedenheit der kaiserlichen Jagd machte sich auch keiner Gedanken wegen irgendeiner Art von Gefahr.

„...die Vereinigung der deutschen Staaten bringt eine riesige Chance für den Kontinent“, referierte Seine Kaiserliche Hoheit der Kronprinz gerade. „Damit ist der halbe Kontinent unter deutscher Zunge und einer einheitlichen politischen Leitung vereinigt. Wenn man noch das Südreich dazu nimmt, wo Deutsch ebenfalls die Amtssprache ist, stellt sich die Frage, ob die Deutschen auf dem Kontinent das Sagen haben, nicht mehr.“

„Das wird den Franken aber gar nicht gefallen“, wagte der Oberst von Meltikow einzuwenden.

„Ach die Franken“, winkte der Kronprinz ab. „Die haben wieder einmal eine Revolution und binden damit die Armeen des Marschalls Mahon. Der konnte gar nicht schnell genug Frieden mit uns schließen, als wir seinen Kaiser festgenommen hatten. Nun gehören uns die nördlichen Provinzen des Großfränkischen Reiches mit ihrer Kohle und ihrem Eisen.“

„Wenn sie die Rebellen besiegt haben, werden sie sich Kleinfränkisches Reich nennen müssen.“ Der Prinz zu Hertenfeld, ein deutschlandweit gefeierter Journalist und Zeitungsverleger, musste seinen Humor beweisen.

„Ich fürchte, sie werden eine Republik gründen“, sinnierte der Kronprinz. „Die Franken sind ein Menschenschlag, der für solch bürgerlichen Mummenschanz zu haben ist. Meine Informationen gehen in diese Richtung.“

„Haben sie in Paris nicht schon die Republik ausgerufen?“ Fürst zu Hertenfeld hatte ebenfalls seine Quellen.

„Aber lieber Fürst, dass ist die schlimmste Sorte Menschen, die dort agiert. Sozialdemokraten und Kommunisten. Aufgestanden, jedwede Ordnung über den Haufen zu werfen. Ich habe unser Heer angewiesen, wegzusehen, wenn Großmarschall Mahon diese Bande über den Haufen schießt.“

„Solche Sozialdemokraten haben wir in Deutschland auch. Nach der Gründung des Kaiserreiches hatten sie nichts Eiligeres zu tun, als ihre Parteien zu vereinigen“, antwortete Hertenfeld.

„Das sind deutsche Sozialdemokraten, lieber Hertenfeld. Die würden so etwas Umstürzlerisches nie tun. Der Kanzler war immer im Einvernehmen mit ihnen, als es gegen die Franken ging.“

Der Sohn des Kronprinzen verfolgte amüsiert, welche Wendung das Gespräch nahm. Dann habt ihr wenigsten noch mal über die Leute gesprochen, die dich gleich erschießen werden, liebster Vater, dachte er.

Ihm war der einsame Mann nicht entgangen, der sich der Gruppe näherte. Aber er war auch der Einzige, der Anlass hatte, auf den Attentäter zu achten.

Ort: Psyche, erst Wedding, dann Berlin

Michael hatte den Auftrag, auf Alexandra zu achten.

Als er sie suchte, kamen seine alten Vorurteile zu Psyche hoch. Wie kann man nur so wohnen? In diesem Dreck und mit diesem Ungeziefer. Die Umwelt verpestet, viel zu viele Menschen auf engstem Raum untergebracht, ohne die Möglichkeit, alle ausreichend zu ernähren oder ihre Gesundheit zu erhalten. Von der allseitigen Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und der vollkommenen Entfaltung der individuellen Persönlichkeit, den beiden obersten Prinzipien des Inneren Gesetzes auf der Terra Nostra, konnte hier keine Rede sein.

Michael war ungefähr fünfhundert Kilometer westlich der deutschen Hauptstadt unterwegs, um Alexandra Al Kahira zu finden. Er fühlte sich ein wenig für sie verantwortlich, ohne sich dabei eingestehen zu wollen, dass neben diesem Gefühl noch etwas Anderes existierte, was ihn zu ihr hinzog.

Es war nicht weiter schwer, Alexandra ausfindig zu machen. Ihre Aura leuchtete hell und drängte sich dabei genauso intensiv in seine Inneren Sinne, wie ihre äußere Erscheinung. Gerade jetzt konnte er ein starkes Gefühl für sie nicht unterdrücken, als sie wutentbrannt aus dem Ausgang einer Mietskaserne stürmte. Ihre sonst so blasse Haut hatte sich gerötet und unter ihren wütenden Blicken musste es unvermeidlich sein, dass die Wände ringsumher krachend einstürzten.

Auf Michael hatten die ersten Stunden auf Psyche einen ähnlichen Eindruck gemacht. Am liebsten wäre er sofort wieder auf die Terra Nostra geflohen, in der Hoffnung, alles auf Psyche Erfahrene irgendwann zu vergessen. Robert von Waldenburg hatte lange mit ihm gesprochen und Michael dadurch den Mut vermittelt, in dieser Welt weiterzuarbeiten.

Bevor Alexandra einen ihrer berüchtigten Wutausbrüche bekommen konnte, hatte Michael sie am Arm gefasst und schnellstens den Ort durch einen RaumZeitSprung gewechselt.

Jede andere Frau als Alexandra hätte er in ein Restaurant geführt, um bei einem gemütlichen Essen miteinander zu plaudern und sie so in diese neue Welt einzuführen.

Einer militanten NonCena*wie ihr konnte man eine solche Lokalität natürlich nicht zumuten.

„Wo sind wir hier?“, fragte Alexandra, nachdem sie Michaels Entschuldigung über die abrupte Entführung und seine Einladung zu einem erklärenden Gespräch gnädig nickend angenommen hatte.

„Im kaiserlichen Schlosspark. Riesengroß und, dank der kaiserlichen Jagd, fast menschenleer.“

Alexandra atmete die Luft tief ein. Die Umgebung erinnerte an die Terra Nostra.

„Das ist die Luft, die sich die Mächtigen und Reichen gönnen. Natürlich dürfen Normalbürger den Park nicht einfach so betreten. Begründet wird diese Regelung hauptsächlich über den notwendigen Schutz vor Attentätern. Außerdem sind die Mächtigen so unter sich und ersparen sich den furchtbaren Anblick gewöhnlicher Menschen.“

„Ich hätte nie geglaubt, dass du so ein Zyniker sein kannst. Die ständige Gegenwart des schwarzen Herzogs verdirbt deinen Charakter.“

„Ich sehe den Herzog von Waldenburg sehr selten, Alexandra. Meist nur bei hohen internationalen Anlässen. Wie zum Beispiel jene Jagd, die gerade stattfindet. Normalerweise befinde ich mich zusammen mit Robert von Waldenburg im Gefolge des Kaisers aller Drewlanen und Polaner und kümmere mich um das Seelenheil seiner Entourage und seines Volkes.“

„Deshalb das komische Gewand?“

„Wir sind orthodoxe Mönche.“

„Seit wann bist du religiös?“

„Hier kann man das ohne weiteres werden. Zumindest bekommt man einen Eindruck davon, wie Religion in der Lage ist, in gewissen Situationen Trost zu spenden.“

„Aber bei allem, was ich hier bereits erlebt habe, muss man nicht trösten, sondern verändern. Diese ganze Welt ist ein einziger Verstoß gegen das Innere Gesetz.“

„Das Innere Gesetz hat hier keine Gültigkeit.“

„Es ist überall dort gültig, wo es Menschen gibt. Hier leben Menschen, das lässt sich wohl kaum leugnen.“

„Alexandra, du weißt nicht mehr, wie das Innere Gesetz entstanden ist. Um es mit Leben zu erfüllen, muss man es leben. Die Menschen hier sind noch weit davon entfernt.“

„Dann muss man sie dorthin führen.“

„Ach ja? Wie willst du das denn anstellen?“

„Das weiß ich noch nicht. Aber das, was ich erlebt habe, werde ich nicht widerspruchslos dulden. Ich werde es verändern.“

„Kann ich dir ein Versprechen abnehmen, Alexandra?“

„Welches?“

„Du versuchst erstmal, herauszufinden, wie die Dinge hier wirklich stehen, bevor du sie veränderst. Wie du richtig erkannt hast, leben hier Menschen. Für die werden deine Veränderungen nicht ohne Folgen sein.“

„Sie werden sie dankbar begrüßen.“

„Glaubst du? Meine Erfahrungen auf Psyche haben mich etwas anderes gelehrt. Versprich mir wenigsten eine Karenzzeit von mindestens einem Jahr, in dem du versuchst, diese Welt und ihre Bewohner besser kennenzulernen.“

Alexandra wollte sofort widersprechen. Aber etwas in Michaels Blick hielt sie davon ab. Außerdem war da noch ein seltsames Gefühl. Ein unbekanntes. Auch das hatte mit Michael zu tun.

„Ein Jahr ist akzeptabel.“

„Denke immer daran, du hast es mit echten Menschen zu tun. Das ist kein Spiel.“

Ort: Psyche, südlich von Berlin

Peta fand immer mehr Gefallen an diesem Spiel. Er konnte inzwischen verstehen, warum auch ein Mitglied des Hohen Rates einem MindGame nicht widerstehen konnte.

Mit seinen ganzen Sinnen hatte er das Areal umfasst, in dem das Attentat stattfinden sollte. So konnte er an den Gefühlen und Gedanken der Protagonisten teilhaben.

Peta war vom Baum gesprungen und hatte alle Anstrengungen unternommen, sich vor dem überwachenden Bewusstsein des schwarzen Herzogs zu tarnen. Denn er wollte dessen Pläne durchkreuzen. Was er dann mit dem Ergebnis seines Eingreifens anfangen mochte, wusste er noch nicht. Immerhin war er jetzt im nächsten Level dieses MindGames. Konnte durchaus sein, dass er dieses Level nur knackte, wenn er den Herzog von Waldenburg besiegte. Peta glaubte, dem Herzog gewachsen zu sein.

Auch der Attentäter war ein angemessener Gegner. Er besaß militärische Fähigkeiten, die ihn für Petas Spezialeinheit qualifiziert hätten. Leider verschwendete er sie für irgendwelche revolutionären Hirngespinste. Aber das tat er sehr gut. Im Moment sprach er mit den beiden wachhabenden Soldaten in der Nähe des Thronfolgers. Er berief sich darauf, eine wichtige Nachricht an den Thronfolger überbringen zu müssen. Da er den höheren Dienstgrad hatte, ließen sie ihn schließlich passieren.

Aber in der Nachrichtenrolle befand sich keine Nachricht, sondern ein Dolch und der Attentäter hatte ihn im Nu gezogen und stach damit nach dem Kronprinzen. Nur Petas Fähigkeit, viel schneller zu sein, als jeder der hier Anwesenden, rette dem Kronprinzen das Leben. Vorerst.

Der Dolch hatte den Prinzen am Hals getroffen und die starke Blutung ließ vermuten, dass ein wichtiges Blutgefäß verletzt sei.

Der Kronprinz lag im Gras und versaute dessen schönes Grün mit dem Rot seines Blutes. Prinz Wilhelm, sein Sohn, sah die Sauerei und dachte nur eines: Er ist nicht tot, verdammter Pfusch, er ist nicht tot.

Diese Gedanken hielten ihn allerdings nicht davon ab, sich auf seinen Vater zu werfen, laut um Hilfe zu schreien und heiße Tränen zu vergießen. Dass er damit alle effektiven Möglichkeiten behinderte, seinem Vater zu helfen, war sozusagen ein angenehmer und von ihm gewollter Nebeneffekt dieser Aktion.

Peta war zunächst fassungslos über das Verhalten Prinz Wilhelms. Aber die lange Zeit, die er bereits in dieser MindGameMap lebte, hatte ihn befähigt, schnell zu handeln.

Er ließ sich neben dem Thronfolger auf die Knie fallen, schob dessen Sohn zur Seite und drückte das verletzte Blutgefäß am Hals des Thronfolgers zu. Die Verletzung wäre unter normalen Umständen tödlich gewesen. Aber die Anwesenheit Petas war kein normaler Umstand. Sie rettete dem Kronprinzen das Leben.

Das Heilen von Wunden gehörte zur elementaren Ausbildung eines Erdenbürgers. Petas Talent in diesem Bereich war nur sehr gering entwickelt. Aber ein verletztes Blutgefäß konnte er schließen. Also konzentrierte er sich ganz auf die Physis des Unfallopfers.

Bei solchen Bemühungen ist es immer hilfreich, dass der Betroffene weiterleben will. Der Kronprinz wollte weiterleben, und so gelang es Peta, den Schnitt zu schließen.

Wäre der Kronprinz eine Prinzessin gewesen, hätte sie jetzt die Augen geöffnet und ihrem Retter gedankt. Unabänderlichen narrativen Gesetzen folgend sicherlich mit einem Kuss. Und irgendwann hätte er noch das halbe Königreich dazu bekommen.

Zum Glück handelte es sich um einen Prinzen. Der Prinz war so nett und blieb ohnmächtig.

Immerhin, er blutete nicht mehr.

Unter diesen Umständen war das eine gute Nachricht und der schwarze Herzog war natürlich der Herold, sie allen zu verkünden. Im allgemeinen Durcheinander, das nun folgte, bemerkte keiner, dass der Herzog von Waldenburg mithilfe seiner Polizisten den Attentäter abführte.

Peta wäre ihnen gern gefolgt, um den Herzog zur Rede zu stellen, aber alle Anwesenden hielten es offenbar plötzlich für nötig, dem Lebensretter persönlich zu danken.

Ort: Psyche, südlich von Berlin

Peta musste auf das Gespräch mit dem schwarzen Herzog nicht verzichten. Gerade als er ihn suchte, bat ihn ein Lakai, den Herzog in dessen Arbeitszimmer im königlichen Jagdschloss aufzusuchen.

Peta hatte in diesem Moment ohnehin nichts anderes vor.

Er grüßte den Herzog, als er dessen Zimmer betrat, und blieb dann vor dem Schreibtisch stehen, hinter dem der Herzog saß. Dessen Aufforderung, Platz zu nehmen, ignorierte er.

„Mein lieber Oberst“, wiederholte der Herzog daraufhin, „ich habe Euch gebeten, Euch zu setzen. Ich weiß, dass es höflich ist, vor einem Vorgesetzten zu stehen. Allein, ich bestehe nicht auf diese Art von Höflichkeit. Also bitte, setzt Euch.“

Peta wäre lieber stehen geblieben. Es klagt sich im Stehen besser an. Aber die Bitte, sich zu setzen, war in einem Ton ausgesprochen, dem man nachkam. Selbst bei Petas bewährter Tapferkeit.

„Ihr seid ein richtiger Held, mein lieber Oberst von Ehrlichthausen. Oder soll ich Euch lieber Peta Avatar nennen? Welchen Namen zieht Ihr vor?“

„In dieser Welt den Ersteren, Königliche Hoheit.“

„In dieser Welt? Ich heiße in der Terra Nostra und auf Psyche Herzog von Waldenburg. Es ist mein Name und es sind dieselben Welten.“

„Und ich dachte, ich sei in der MindGameMap01558, Königliche Hoheit?“

„Wir sind auf Psyche, schon die ganze Zeit.“

„Die ganze Zeit?“

„Selbstverständlich. Seit dem ersten Level. Für MindMap-Spielchen habe ich nämlich keine Zeit.“

„Entschuldigung, Königliche Hoheit, wie konnte ich das ahnen.“

„Was soll das heißen?“

„Ihr habt keine Zeit für Spielchen? Für mich sah das alles nach einem Spiel aus. Ihr wusstet von dem Attentat. Ihr kanntet das Ziel des Attentäters und Ihr wusstet auch, wer das Attentat geplant hat.“

„Ich wusste davon? Von Wissen kann keine Rede sein. Unsere Polizei hatte Hinweise. Nichts richtig Konkretes eigentlich, aber wir sind allen Spuren nachgegangen.“

„Wie das Bullen so tun.“

„Ich weiß, dass du bereits persönliche Erfahrungen mit dem Vorgehen der Polizei hast.“

„Ich habe daraus nie einen Hehl gemacht. Aber ich dachte immer, Eurer Königlichen Hoheit stünden andere Mittel zur Verfügung, als die der Hilfe von Polizisten.“

„So? Und welche?“

„Dieselben wie mir. Schließlich sind wir Vollbürger von der Terra Nostra und den Bewohnern dieser Welt weit überlegen. Sowohl körperlich, als auch geistig.“

„Ach? Das ist also Ihre Meinung, Herr Oberst? Interessant. Ich erlaube mir, dazu eine andere zu haben.“

„Zu mir oder zu den Bewohnern dieser Welt?“

„Zu dir und zu den Psychanern. Aber ich bin durchaus bereit, diese zu revidieren, wenn die Umstände das zulassen. Du könntest schon jetzt dazu beitragen.“

„Bitte?“

„Du könntest den Pfusch von vorhin revidieren.“

„Den Pfusch von vorhin?“

„Wie kann man nur auf die bescheuerte Idee kommen, dem Thronfolger das Leben zu retten?“

„Ich bin mir sicher, Prinz Friedrich sah darin keine bescheuerte Idee.“

„Da ist er aber der Einzige. Gut, seine Frau könnte ähnlicher Meinung sein. Die beiden sollen starke Gefühle füreinander hegen. Man sagt sogar, die beiden lieben sich. Das kann unter Eheleuten schon mal vorkommen. Sogar in den besten Familien.“

„Ihr hattet tatsächlich die Absicht, ihn sterben zu lassen?“ Peta war fassungslos.

„Ihn sterben zu lassen? Mein Gott, er ist doch schon tot, er weiß es nur noch nicht.“

„Und dieser Irrtum sollte korrigiert werden?“

„Ich habe langsam die Schnauze voll, mir von einem erwachsenen Menschen, dazu noch Vollbürger der Terra Nostra, so einen Schwachsinn anzuhören ... “ Der Herzog unterbrach sein Schreien, denn langsam dämmerte ihm, was los war. „Du bist nur fünf Zentimeter von ihm entfernt gewesen und hast es nicht bemerkt?“

„Was?“