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Es ist um das Jahr 700 - Corbinianus sitzt vor seiner Klause im Schatten eines Baumes. Pilger, die an der Furt den Fluss überqueren, erzählen ihm von ihrer Reise ins ferne Rom. Corbinianus macht sich auf eine spannende Lebensreise durch das Frankenreich, die ihn schließlich bis nach Frisinga führt. Tausend Jahre später spielt Kurbl mit seinen Freunden auf den Feldern außerhalb der Stadt. Ihre "Mäusezauberei" endet in Hexenprozessen auf Leben und Tod, während der Fürstbischof das prunkvolle Jubiläum zur Tausendjährigen Ankunft des Heiligen Corbinian vorantreibt. Wird Kurbl dem Scheiterhaufen entkommen? Korbinian kommt zur Wallfahrt nach Freising. Oben am Belvedere des Dombergs begegnen sie sich: Corbinianus, Kurbl und Korbinian. "Bestimmt die Liebe zu Christus mein Leben?", sinnierte der Bischof, rückblickend auf sein Leben. "Wo ist die Liebe des Heilands gewesen, als sie meine Freunde gefoltert haben?", fragte sich Kurbl, als er voller Bitterkeit über die kurzen Jahre seiner Kindheit nachsann. "Werde ich den Menschen in dieser unvollkommenen Kirche in Liebe und im Sinne Christi dienen können?", zweifelte Korbinian. Ihre Gedanken verschmelzen und der Herbstwind weht sie vom Belvedere hinaus über das Moos ...
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Seitenzahl: 256
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Für Andre den Trudenfanger und seine Freunde
« Isdem venerandus vir Dei ex regione Militonense ortus fuit ex vico qui nuncupatur Castrus »
« Der verehrungswürdige Gottesmann stammte aus der Gegend von Melito aus einem Dorfe namens Castrus »
Bischof Arbeo von Freising, Das Leben des heiligen Korbinian(Herausgegeben und übersetzt von Franz Brunhölzl)
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Ein Samstagmorgen. Die Zeitung liegt auf dem Frühstückstisch. Politik, Wirtschaft, Sport, Feuilleton, Lokales und Regionales wollen gelesen werden.
Ein Artikel handelt von Hexenprozessen. Hexenprozessen, nach dem Mittelalter, in der jüngeren Neuzeit und der beginnenden Aufklärung, in denen Kinder zum Tode verurteilt wurden. Hexenprozessen, die gerade einmal 300 Jahre zurückliegen, Hexenprozesse in meiner Stadt, in Freising.
Schaudernd lese ich den Artikel. Ich bin bestürzt, reiße die Seite aus und lege sie auf meinen Schreibtisch. Die Vorfälle lassen mich nicht los. Einige Tage später beginne ich zu recherchieren, finde ein Buch, das sich mit diesem dunklen Kapitel befasst. „Die Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen“, des Historikers Dr. Rainer Beck, lässt mich in die mittelalterlich anmutenden Grausamkeiten tief eintauchen. Kinder und Jugendliche und historische Figuren werden ebenso lebendig wie die verantwortlichen Richter, Hofräte und der Fürstbischof. Das Buch wird für lange Zeit meine gruselig grausame Abend- und Bettlektüre.
Was ist das für eine Gesellschaft, die solche Grausamkeiten hervorbringt? Wie konnten Repräsentanten der Stadt und des Fürstbistums im Namen der Kirche und des christlichen Glaubens derartige Verbrechen an unschuldigen Kindern verüben? Warum konnten solche Urteile gesprochen und vollstreckt werden?
Die Geschichte der Stadt Freising, ihre Gründung, die Entstehung des Bistums, die Zeit der Hexenprozesse, und die Fragen der Gegenwart beginnen mich in ihren Bann zu ziehen.
Wie konnte es dazu kommen, dass aus einer grundsätzlich guten und frohen Botschaft des Glaubensstifters Jesus Christus ein Herrschaftssystem wurde, das über Jahrhunderte durch die Kirche an Einfluss und Macht gewann, sich in den päpstlichen und bischöflichen Strukturen manifestierte und zusammen mit der weltlichen Macht der Könige und Herrscher die Menschen in ein von Grausamkeiten geprägtes System pressten, frage ich mich. Und mich erschüttert, dass die Hexenprozesse in mancher Lektüre über die Geschichte der Stadt Freising anscheinend vollständig ausgeblendet und peinlich verschwiegen werden.
Mit den historischen Personen des Heiligen Corbinian von Freising und den Kindern aus den Hexenprozessen begann in meinem Kopf eine romanhafte Geschichte zu entstehen.
Corbinianus1, gebürtig in der Nähe von Paris, Heiliger der katholischen Kirche und Schutzpatron der Stadt, wird im Roman zur handelnden Figur im Spannungsfeld der christlichen Gesellschaft.
Der junge Kurbl2, realer überlebender Zeitgenosse der Hexenkinder und selbst im Fokus der Verfolger, erlebt die Grausamkeiten und Verbrechen, die an den Kindern verübt werden. Er führt uns durch die Stadt Freising an der Schnittstelle zwischen vergangenem Mittelalter und der Epoche der Aufklärung und lässt die Kinder, die tatsächlichen geschichtlichen Geschehnisse und fiktives Handeln miteinander verschmelzen.
Und schließlich zum Schluss Korbinian, ein Jugendlicher der Gegenwart; er sucht nach Antworten in der Kirche von heute, zweifelt zwischen seiner Sehnsucht nach christlichem Sendungsbewusstsein und den Verfehlungen der Kirche von heute.
Corbinianus, Kurbl und Korbinian begegnen sich schließlich fiktiv auf dem Belvedere, ihre Erfahrungen von Kirche und Glauben stehen sich gegenüber und ihre offenen Fragen verweht der herbstliche Wind am Domberg.
Ich bin einigen Autor*innen und Unterstützer*innen zu großem Dank verpflichtet, die mich in die Materie der Mäuselmacher und Hexenprozesse, sowie die geschichtlichen Zusammenhänge in der Zeit des Heiligen Corbinian eintauchen ließen.
Zuerst möchte ich mich bei Historiker Rainer Beck bedanken, der in seinem im C. H. Beck Verlag erschienenen Buch „Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen“ wissenschaftlich und detailgenau die Hexenprozesse in Freising in den Jahren 1715 bis 1723 aufgearbeitet hat, und mir damit reale historische handelnde Personen an die Hand gegeben hat. Doch erst im persönlichen Gespräch mit ihm wurden mir viele Hintergründe, Zusammenhänge und gesellschaftlichen Details dieser Zeit klarer und ich hoffe, dass sie in den handelnden Personen ein Profil bekommen, das der historischen Wahrheit nahekommt.
Die Freisinger Scharfrichter dieser Epoche, hat der Freisinger Volksschullehrer und Rektor Karl Mayer in seinem Buch „Schinder und Scharfrichter im Hochstift Freising“ recherchiert und lebendig gehalten. Seine historische Darstellung der Foltermethoden und der Praxis der örtlichen Scharfrichter hat die Handlung des Romans an weitere Plätze historisch belegter Orte geholt.
Mein Dank gilt Ernst Grassy, der mich in der Führung durch das Alte Gefängnis in Freising und in seinem Detailwissen zu den Hexenprozessen und zur Stadt Freising in die Zeit nach dem Mittelalter mitgenommen hat.
Über Corbinianus, den Heiligen und Schutzpatron der Stadt gibt es bis auf die Vitae Corbiniani des Freisinger Geschichtsschreibers und Bischofs Arbeo aus dem 8. Jahrhundert nur wenig historisch verlässliches konkretes und detailreicheres Material, das leider auch – was die Zeitangaben betrifft – gelegentlich etwas variiert. Erwähnen möchte ich weiter das kleine Büchlein von Peter B. Steiner „St. Korbinian“, das mich in komprimierter Form durch das Leben des Corbinianus geführt hat und den Bezug zu den Malereien im Freisinger Dom herstellt.
Mein besonderer Dank gilt Francesco Cester, der mit seinem historischen Wissen manchen Fehler ausgebügelt hat und insbesondere – als ehemaliger Römer Bürger – die Zeit des Corbinianus in der ewigen Stadt Rom auf Plausibilität geprüft hat. Ohne sein geduldiges, genaues Lektorat, ohne seine vielen Karten über das antike und mittelalterliche Rom wäre der geschichtliche Corbinianus auf seinen Pilgerreisen für mich nicht zu einer authentisch handelnden Figur an geschichtlichen Handlungsorten geworden. Unschätzbar ist das Buch „Le Piante di Roma” (Die Stadtpläne von Rom), das er mir für meine Recherchen zur Verfügung gestellt hat.
Nicht vergessen darf ich keinesfalls meine Frau Petra, die mich trotz einer langen und schwierigen Zeit der Unterbrechung immer wieder ermuntert hat, am Roman weiterzuschreiben und mir den Glauben an den Sinn dieser Handlung gestärkt hat.
Zum Abschluss möchte ich dem rein fiktiven Korbinian der Gegenwart danken, der sich, trotz aller Skandale der Kirche, mit dem christlichen Glauben weiter auseinandersetzt.
Ich habe versucht, so nahe wie möglich an den tatsächlichen Begebenheiten zu bleiben – sowohl was das spärlich beschriebene Leben des Corbinianus betrifft als auch die schreckliche Zeit der Kinder-Hexenprozesse – um die romanhafte Beschreibung dieser Zeiten nicht unnötig zu verfremden. Insbesondere auf die enge Anlehnung an die tatsächlichen Geschehnisse um die Kinder habe ich in den Anmerkungen versucht zu referenzieren.
Selbstverständlich handelt es sich hier um einen Roman, der, obwohl alle geschichtlichen handelnden Personen in ihrer jeweiligen Zeit real sind, keinesfalls den Anspruch an eine wahrheitsgetreue Wiedergabe tatsächlicher Begebenheiten erhebt. Das gilt insbesondere für die Wanderrouten des Corbinianus auf seinen Pilgerreisen nach Rom. Sie könnten zwar in etwa so verlaufen sein, aber – um es auf bayrisch zu sagen:
„Nix gwiss woas ma ned …“
Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Durch das Fenster des Abteils kommt die markante Silhouette der Domtürme in Sicht. In den Gängen des Waggons stehen viele Jugendliche, sammeln ihre Rucksäcke und ihr Gepäck. Nach wenigen Minuten ruckeln die Bremsen, der Zug fährt in den Bahnhof ein und die Türen öffnen sich.
Es scheint fast so, als ob alle Passagiere am selben Bahnhof aussteigen wollten. Es herrscht reges Gedränge auf dem Bahnsteig. Manche scheinen sich gut zu kennen und sind in Gruppen unterwegs. Andere sehen sich um und versuchen sich zu orientieren.
Langsam beginnen sich Bahnsteig und Bahnhof etwas zu leeren. Korbinian packt seinen Rucksack, durchquert die Bahnhofshalle, tritt hinaus in den schönen Herbsttag und macht sich auf den Weg in die Stadt.
Vor ihm liegt der Hügel mit den beiden hohen romanischen Türmen des Doms. Viele junge Menschen scheinen dasselbe Ziel anzusteuern. Korbinian überquert den kleinen Bach bei einer kleinen Insel, die vor Hunderten von Jahren in sumpfigen Wiesen noch außerhalb der Stadtmauern lag. Hier blühen trotz der späten Jahreszeit noch immer die Rosen. Vereinzelt spielen ein paar Kinder auf den Treppenstufen am Wasser. Es ist Mitte November.
Etwas weiter, an einem neuen kleinen Gebäude, drängt sich eine regelrechte Menschentraube: Alle scheinen mit dem kleinen Aufzug auf den Domberg zu wollen. Gleich daneben entdeckt Korbinian ein kleines Schild, das auf das ehemalige Münchner Tor hinweist. Hier war also die alte Stadtmauer. Er entscheidet sich für den Fußweg über die Treppen hinauf zum Diözesanmuseum.
Hier oben hat man einen schönen Blick über die Stadt und den nahen Hügel des Klosters Weihenstephan. Er beschließt, die Aussicht zu genießen und bestellt sich einen Kaffee auf der immer noch sonnenverwöhnten Terrasse.
Als sich ein paar Wolken vor die Sonne schieben, wird es aber schnell kühl und er macht sich wieder auf. Gleich um die Ecke führt ihn der Weg über altes Kopfsteinpflaster am fürstbischöflichen Palais vorbei hinauf zum Domplatz. Am alten Mohrenbrunnen, einem der Wahrzeichen der Stadt, sprudelt noch das Wasser. Die beiden hohen Türme des Doms Sankt Maria und Sankt Korbinian, dem er seinen Namen verdankt, stehen vor ihm. Er verweilt einen Augenblick, bevor er durch das mächtige Kirchenportal das kühle Kirchenschiff betritt.
Die farbenprächtige barocke Malerei im Dom ist beeindruckend und er bestaunt die Deckenfresken mit Szenen aus dem Leben des Heiligen Korbinian. Langsam und andächtig wandert er durch die Seitenschiffe, betrachtet den mächtigen Hochaltar und steigt dann hinab in die Krypta. Vor dem goldenen Schrein des Heiligen Corbinian verharrt er ehrfurchtsvoll und genießt die Ruhe in den alten Mauern.
Er wird langsam müde, und hungrig ist er auch. Nachdem er den Dom verlassen hat, geht er durch den Kanzlerbogen über das steile Kopfsteinpflaster wieder hinunter in die Stadt. Er biegt in die Domberggasse ab und kommt am Alten Gefängnis vorbei. Dort im Innenhof findet er Platz an einem kleinen Tisch, studiert die Speisekarte und entscheidet sich für einen Obatzd’n mit Weißbier. Er blickt hinauf zum Hexenturm und lässt sich von der Kellnerin erklären, dass das Gebäude schon über 300 Jahre alt ist und man damals hier Hexen und sogar Kinder eingesperrt hat.
Im windgeschützten Innenhof unter dem Heizpilz lässt es sich aushalten. Als Korbinian in Ruhe sein Weißbier ausgetrunken hat, macht er noch einen kleinen Rundgang durch das Alte Gefängnis, die Gasträume in den ehemaligen Gefängniszellen und besucht eine kleine Kunstausstellung im oberen Stockwerk.
In Gedanken versunken verlässt er die alten Gemäuer und macht sich endgültig auf ins Zentrum der Stadt zum Marienplatz am Rathaus.
Die ersten Sonnenstrahlen des herannahenden Frühlings wärmten die sumpfigen Wiesen am Bach. Der harte, lange Winter hatte seine Kraft beinahe verloren. Drüben am Domberg begannen die Handwerker ihr morgendliches Gewerk. In der Stadt wurde überall geschäftig gebaut.
Hier unter dem Klosterberg ging es ruhiger und beschaulicher zu. Die Gebäude des Klosters waren schon vor einigen Jahren erneuert worden und danach war dort wieder mehr Ruhe eingekehrt. Durch die Bäume am Hang konnte man eine kleine Kirche erkennen, an der die Handwerker gerade die gerundeten Grundmauern setzten. Sie sollte nach den Plänen der Brüder Asam3 zu Ehren des Wanderbischofs Corbinian gebaut werden, dem man die wundersame Entdeckung der heilenden Quelle dort oben an den Hängen unter den mächtigen Buchen nachsagte.
Eigentlich sollte der kleine Junge, der hier unten auf den Wiesen am Berg gerne spielte, nach dem Wunsch seiner Mutter, Valentin heißen. Valentin – „der Gesunde“, denn er war schon am Tag seiner Geburt mit einem kräftigen, gesunden Schrei zu Welt gekommen. Und zudem erzählte man sich, dass der Heilige Valentin im fernen Rom Liebespaare getraut haben soll, und solche Geschichten versüßten die tägliche harte Arbeit. Aber am Morgen nach seiner Geburt hatten sich die Eltern doch auf den Namen Korbinian geeinigt, den Namen des Schutzpatrons der Stadt.
Kurbl, so nannten ihn seine Eltern, hielt sich gerne hier auf. Die Wiesen vor der Stadt waren Spielplatz und Versteck zugleich. Es wurde jetzt täglich wärmer und Kurbl nutzte die Gelegenheit, um den ersten gelben Schmetterlingen zuzusehen, wie sie auf den Wiesen nach Blüten suchten, denn an den warmen sonnigen Plätzen am Bach unterhalb des Klosters und nahe dem Fürstendamm, der die Stadt durch die feuchten Wiesen mit dem Klosterberg verband, spitzten die ersten kleinen Blumen hervor. Für den jungen Buben waren Wiesen, Felder, Wald und Bach Lebensmittelpunkt. Wann immer er Zeit hatte und der Aufsicht seiner Mutter entkam, war er auf den Wiesen vor den Toren der Stadt zu finden.
Gegen Nachmittag meldete sich der Winter noch einmal kurz zurück. Schwere, schwarze Wolken zogen von Westen heran und bald fegten raue, nasskalte Schauer über den Hügel des Klosters. Schneeregen setzte der kleinen Pause ein jähes Ende. Kurbl machte sich flink auf den Heimweg, um sich dann zu Hause am Herdfeuer aufzuwärmen.
Das kleine Haus seiner Eltern lag direkt an der Stadtmauer. Kurbls Vater hatte als Maurer viel zu tun in diesen Tagen. Überall wurde gebaut, denn der wachsende Reichtum der kleinen, aber durchaus bedeutsamen aufsteigenden Residenzstadt machte es möglich, dass seit etlichen Jahren viel repariert und erneuert wurde.
Nach der Fertigstellung des Lyceums in der Stadt, gleich unterhalb des Dombergs, hatte sich die quirlige Bautätigkeit der Handwerker auf den Domberg verlagert. Ab und zu, wenn sein Vater Gelegenheit hatte, durfte Kurbl ihn auf den Domberg begleiten. Er bewunderte den riesigen Dom, seine Pracht und die Macht, die er ausstrahlte. Immer wieder zog es ihn hinunter in die Krypta des Doms, wo die Gebeine des Heiligen Corbinian seit fast tausend Jahren in einem steinernen Sarg ruhten.
„Ich war heute bei Vater oben im Dom!“, erzählte Kurbl und trocknete seine feuchten Strümpfe beim warmen Feuer am Küchenherd. „Unten in der Krypta liegen viele Heilige begraben“, erzählte er eifrig und steckte sich ein Stück Brot in den Mund. „Recht dunkel und gruselig war es dort unter dem Dom“, sprudelte es weiter aus ihm heraus. „Und den goldenen Schrein des Heiligen Corbinian habe ich gesehen!“.
Seine Mutter war dabei, seine zerrissenen Hosen zu flicken und legte sich Nadel und Zwirn auf dem Küchentisch zurecht. Sie freute sich, dass der Junge oben am Berg den herrlichen Dom erkundet hatte. „Solange er am Sitz des Bischofs den Dom erkundet, macht er keine dummen Sachen“, dachte sie bei sich und nahm das Gespräch mit Kurbl auf.
„Ja, deshalb haben wir Dich auch auf Korbinian getauft“, erwiderte sie und dachte dabei an das Korbiniansfest, das jedes Jahr im Herbst, während der Dultzeit, gefeiert wurde.
Sie wusste nicht sehr viel über den Schutzpatron und Heiligen der Stadt. Aber sie erklärte ihm, dass Corbinianus vor vielen hundert Jahren als Bischof auf seiner Wanderschaft in die Stadt gekommen war und sich im Kloster niedergelassen hatte. „Er muss ein sehr frommer Mann gewesen sein“, fügte sie hinzu, „und hat den Menschen viel Gutes getan“. Kurbl hörte aufmerksam zu. Der Reichtum im Dom hatte ihn fasziniert und er hatte die Macht gespürt, die von diesem Reichtum ausging. Seine Mutter wünschte sich insgeheim, dass Kurbl eines Tages das Lyceum besuchen könnte, um Priester zu werden, aber sie wusste, dass das wohl nur ihr Wunsch bleiben würde. „Den guten Bischof Corbinianus hat uns GOTT in die Stadt gesandt, um uns von unseren Sünden zu erlösen“, ergänzte sie, bevor sich Kurbl anderen Dingen zuwandte. Kurbl war wie alle Kinder seines Alters in jeder freien Minute in der Stadt und auf den Feldern vor den Stadtmauern unterwegs. Schule und Lesenlernen waren nicht unbedingt bei ihm beliebt. Umso mehr freute sich seine Mutter darüber, dass er im Dom die Reichtümer der Kirche und das emsige Bauen am Dom gesehen hatte. „Schöne Gewänder tragen die Priester und der Bischof“, rief sie Kurbl hinterher, „da bräuchte ich keine Hosen zu stopfen, wenn du eines Tages Priester sein könntest.“
Der Domberg war schon von weither das sichtbare Zeichen der Stadt. Wenn man vom Fluss herüberblickte, dann thronten die Türme wie mächtige Zinnen einer wehrhaften Burg über der Stadt.
Seit einigen Jahren wurde in und um die Stadt viel gebaut und erneuert. Erst vor ein paar Jahren hatte der Fürstbischof den Auftrag erteilt, das Kirchlein Sankt Valentin im morastigen Grund des kleinen Örtchens Altunhusir, das bei Hochwasser immer wieder überflutet wurde, an etwas höherer Stelle neu zu bauen. Überall waren die Maurer und Bauleute am Werk. Immer wieder huschten Mäuse um ihre Füße im moosigen Gras.
Auf der Brücke, etwas oberhalb über den Fluss, war ständig geschäftiges Treiben. Händler von überall her überquerten hier den Fluss, der nach den langen eisigen Wintern dieser Jahre und mit Beginn des Frühjahrs eine besonders reißende und gefährliche Strömung führte.
Außerhalb der Stadt, beim Veitsmüller, und in der Nähe des gleichnamigen Stadttores, teilte sich die kleine Moosach in zwei einzelne Bachläufe; manche zwielichtige Gestalt versuchte hier zu dunklerer Tageszeit außerhalb der Stadtmauern ihr Glück, um Fische zu fangen. Einer der Hauptarme des Bachs floss unterhalb des Dombergs durch die Stadt. Dort hatten auch die Fischer ihr Quartier. Der kleine Bach bot nur für wenige Fischerfamilien den notwendigen Ertrag für ein Leben ohne Hunger. Meist waren es nur kleine Gründlinge oder ab und zu Saiblinge und Bachforellen, die ins Netz gingen. Dazu manchmal kleine Krebse. Die Fangplätze am Bach waren dennoch gesucht. Jeder Fischer versuchte seinen Platz zu verteidigen, und je weiter bachaufwärts, desto begehrter war der Platz und umso aussichtsreicher war ein guter Fang.
Abbildung 1: Freisinger Stadtmauer und Stadttore
Einige kleine Wehre teilten den Bach in weitere Arme auf, die vor dem etwas kleineren Münchner Törl und dem Münchner Tor außerhalb der Stadt um den Domberg herum flossen und dort ihr natürliches Bachbett hatten. Die Schleifer und die Müller gingen dort in der Gegend ihrem Handwerk nach. Die Mühle, direkt hinter dem Domberg gelegen, versorgte das Brothaus am Marienplatz gleich neben dem Rathaus und der Schranne mit Mehl.
Abbildung 2: Marienplatz und Markt in Freising
Etwas weiter hatten sich die Schmiede, Wagner und Kutscher niedergelassen. Hier ging es meist laut und sehr geschäftig zu. Manch angekommener Reisende ließ hier etwas wieder reparieren, wenn unterwegs an Kutsche, Rad und anderen Geräten etwas zu Bruch gegangen war, bevor er sich ein Quartier suchte oder aufmachte, um in die Stadt zu gelangen. Von der Brücke aus, unter dem Domberg entlang und dann durch das Isartor, kam man hier auch hinauf zum Dom, oder mit seinen Waren auf den Marktplatz. Etwas weiter oberhalb, am Büchl, in der Nähe des Judentors, das man wegen des nahen Moores auch immer noch Murntor nannte, gleich an der Poststraße, die nach Nordosten führte, und in der Hauptgasse, hatten sich Brauer angesiedelt. Sie schätzten die Nähe zu den Schmieden und Wagnern, wenn sie Hilfe brauchten, um ihre Kutschen und Wagen für den Transport der Fässer zu reparieren. Und die umliegenden Orte konnten von hier aus gut und schnell von den Gespannen mit frischem Bier versorgt werden. In den Hügeln und gleich außerhalb der Stadtmauer hatten sie ihre Keller gegraben, um den frisch gebrauten Gerstensaft im Sommer vor dem schnellen Verderben zu schützen. Jetzt, am Ende des Winters, hatten die Brauer ihren Eisvorrat durch das dicke Eis am Fluss gut aufgefüllt, den sie in der warmen Jahreszeit zur Kühlung ihres Bieres in den Kellern brauchten.
Um den Marienplatz am Rathaus fanden sich der Heiglbräu und der Weindlbräu, der Kochbräu und der Laubenbräu. Von dort aus reihte sich bis zum Büchl eine Brauerei an die andere: Zuerst der Jungbräu und die Brauerei vom Paulimayr, es folgte der Hummelbräu, die Brauerei vom Gößwein und die vom Schweinhammer, gleich gegenüber vom Franziskanerkloster mit der großen Klosterbrauerei am Büchl. Am Eck und Ende der Hauptgasse folgte noch der Hagnbräu. Für die Bürger gab es also ausreichend Möglichkeiten, um sich nach getaner Arbeit am Abend ein Bier zu gönnen oder um den schweren Alltag vergessen zu machen. Für die jungen Burschen der Stadt fiel hier auch immer wieder etwas Essbares oder ein Rest Bier ab.
Vom Büchl aus gelangte man an der Stadtmauer entlang durch den Graben, an dem viele Bürger ihre Häuser gebaut hatten, zum Ziegeltor. Durch das Ziegeltor und die Ziegelgasse schaffte man das Baumaterial herbei, das in den nahegelegenen Lehmgruben abgebaut und in der Ziegelei vor den Toren der Stadt zu Ziegeln gebrannt wurde. Gleich neben dem Ziegeltor lag das kleine Haus, das Maurer Föderl mit seiner Familie und Kurbl bewohnten.
Die Stadt mit ihren sechs Toren war nur spärlich gegen Eindringlinge geschützt. Die Stadtmauer und die Tore zur Stadt konnten trotz einiger Grenadiere keinem Ansturm standhalten. Auch im grausamen Dreißigjährigen Krieg hatte man lieber die Tore der Stadt geöffnet und die Plünderungen in Kauf genommen. Aber immerhin hatten es Räuber, Diebe und Bettler bei Nacht, wenn die Torwächter die Stadttore verriegelt hatten, doch schwerer in die Stadt zu gelangen, ohne bemerkt zu werden.
Auch ab dem Veitstor, am oberen Ende der Hauptgasse, reihte sich ein Wirtshaus mit seiner Brauerei an das andere: Der Stieglbräu war die erste Brauerei, wenn man vom Veitstor aus in die Stadt kam. Nicht weit davon der Furtner und nebenan der Franzlbräu. An der Ziegelgasse gab es noch den Ziegelbräu, und mehrere weitere Gasthäuser und Brauereien in Weihenstefen, zur Poststraße hin und im Kloster Neustifft. Für die Versorgung mit Gerstensaft war also ausreichend gesorgt, und in den Gaststuben der Brauhäuser fand das rege städtische Leben statt. Und für die jungen Burschen fiel hier immer wieder „a Noagerl“ Bier ab.
Der Marktplatz zusammen mit der Schranne im Rathaus war das bürgerliche Zentrum und hier wurde reger Handel betrieben: Die Fischer boten ihren täglichen Fang an, die Müller hatten immer ausreichend Mehl anzubieten damit die Frauen zu Hause frisches Brot backen konnten, und Gerber und Weber boten Felle, Wolle und Stoffe an. Tagtäglich war hier ein reges und buntes Leben zu finden. Und gerade jetzt, kurz nach dem Winter und an den ersten wärmeren Tagen, schienen alle Bürger der Stadt auf den Beinen zu sein; die verschlafenen winterlichen Wochen machten fast schlagartig geschäftigem Treiben Platz.
Auf den Wiesen gleich hinter dem Ziegeltor und neben dem Gottesacker war ein beliebter Treffpunkt der Kinder der Gegend. Dort am Paintl4 waren sie außer Sichtweite. Der Föderl-Kurbl, so nannten ihn die anderen Kinder, war für seine fast zehn Jahre recht flink und sehr geschickt und konnte seine Freunde durch artistische Kunststückchen beeindrucken. Gut ein Dutzend Kinder trafen sich jetzt im Frühling auf den frischen, feuchten Wiesen vor der Stadt. Ab und zu, besonders wenn es kühler oder regnerisch war, verlagerten sie ihre Spiele und suchten Schutz und Wärme in der nahen Ziegelei vor der Stadt, weil die Zieglerbuben5 jedes Versteck in der väterlichen Hofziegelei kannten. Schuri6, der Jägerbub vorm Veitstor, streifte oft außerhalb der Stadtmauer vom Klosterberg herüber zum Paintl, meist begleitet von einem kleinen Trupp von Bettlerkindern, die innerhalb der Stadt keine feste Bleibe hatten. Veit Adlwart7 gehörte auch dazu und war schon etwas älter als die anderen Buben. In der Ziegelgasse besorgte er sich ab und zu eine wärmende Suppe und gesellte sich dann zu den anderen Kindern am Paintl.
Die mächtige Eiche neben der Klause spendete wohltuenden Schatten vor der Sommerhitze. Hier suchte Corbinianus gerne Ruhe. Gleich neben der zur Ruine verkommenen Kapelle zu Ehren des Heiligen Germanos hatte er sich die kleine Einsiedelei bei Chastres gebaut. Sie lag etwas versteckt am Waldrand an der Uferböschung eines kleinen Baches, der etwas weiter abwärts in einen Fluss mündete, den die Gallier Sequana genannt hatten. Ab und zu kamen hier Pilger vorbei, um den Bach zu überqueren und um auf dem Weg von Aurelianum, im Süden Galliens, nach Paris zu gelangen, der Stadt, die die keltischen Parisier gegründet hatten, und die nun Residenzstadt im Frankenreich war.
Ursprünglich war er auf den Namen seines Vaters, Waldekisus, getauft worden, der schon vor seiner Geburt gestorben war. Seine Mutter Corbiniana hatte ihn aber bald nach dem ach so frühen Tod seines Vaters nach ihrem eigenen Namen Corbinianus gerufen. Obwohl er aus einem gut versorgten Elternhaus stammte und vornehmer Herkunft war, hatte er früh die Einsamkeit gesucht und sich deshalb in jungen Jahren die kleine Klause gebaut.
Zurückgezogen, bescheiden und asketisch versorgte er sich schon in seiner Jugend mit dem Notwendigsten selbst. Klein von Gestalt sah man ihm dennoch seine edle Herkunft an. Seine weichen Züge des Gesichts verrieten seine adeligen
Vorfahren. Er liebte es, in den Heiligen Schriften zu forschen, fastete und betete viel, um seinen Geist bei der inneren Einkehr zu schulen, und er war den Armen seiner Gegend behilflich, wo immer es ihm möglich war. Er hatte ein sanftes Gemüt und führte ein tugendhaftes Leben. Das Leben in der Stadt war ihm recht fremd. Einmal war er eine Tagesreise weit nach Paris gezogen, um in der Basilika zu beten, die dem Heiligen Dionysius, dem ersten Bischof der Residenzstadt, geweiht war. Aber gerne war er danach wieder in die Einsamkeit seiner Klause zurückgekehrt. So wie sein Vorbild Germanos bevorzugte auch er das zurückgezogene Leben, weit weg vom Trubel der Stadt.
Gerne beobachtete er die Natur um sich und nutzte die Zeit, um dabei sein Innerstes zu erforschen. Er konnte gut mit sich selbst allein sein. Ja, er genoss es, von niemandem gestört zu werden, wenn er über sein Wesen und seine Bestimmung als Mensch und als Christ nachdachte. Und dennoch hatte ihn dieses Gotteshaus in Paris irgendwie beeindruckt. Es strahlte die Macht der Kirche aus und des Glaubens, den er auch in sich fühlte. Manchmal beschlich ihn der tiefe Wunsch, Neues zu entdecken. Neues in sich selbst, aber auch die Welt außerhalb Galliens machte ihn neugierig. Trotz seiner Einsiedelei war es für ihn immer eine Bereicherung gewesen, wenn Pilger an seiner Klause Rast suchten und Zeit für Gespräche hatten. Besonders angeregt konnte er sich unterhalten, wenn Fremde von weither von ihren Erlebnissen berichteten. Das Leben in der Einsiedelei Galliens schien in vielen Dingen doch so verschieden zu sein vom Leben in der Ferne.
Seine Mutter hatte ihm viel von der im Norden gelegenen Insel Irland erzählt, von der sie stammte, vom Heiligen Patrick, der den christlichen Glauben auf die Insel Irland gebracht hatte. Dort hatte nicht nur die Einsamkeit, sondern auch Armut und hartes Leben den Alltag geprägt. Es schien fast, als ob ihm sowohl die Suche nach Einsamkeit als auch die Neugierde auf Neues durch seine Mutter in die Wiege gelegt worden wäre.
„Höre, mein Sohn“, hatte sie ihm immer wieder erklärt, „Abt Columbanus hat uns gelehrt, dass dieses Leben nur einen kleinen Augenblick währt, um uns auf die Ewigkeit vorzubereiten“ und, so hatte sie hinzugefügt, „Bedenke nie, was du Armer bist, sondern bedenke immer, was du einstens sein wirst. Richte Deine Liebe stets hin auf das Jenseits!“.
Die Erziehung nach den Regeln Columbans war streng und voll Strafen. Er verlangte von den Mönchen und Einsiedlern für alle Verfehlungen der Regeln des Klosters entschiedene und eiserne Selbstkasteiung. Jeder Mönch hatte seinen Aufseher, der über Beichte und selbst verabreichte Züchtigungen wachte, und der streng und hart weitere Strafen mit Peitsche und Rute anordnete und durchführen ließ. „Selbstkasteiung und Buße sind die einzigen Mittel, um die Verderbtheit der Seele zu heilen“, so hatte ihm seine Mutter immer wieder die Regeln Columbans erklärt.
„Höre, mein Sohn!“ pflegte sie ihm schon als kleines Kind einzuprägen, „Gehorsamkeit, Pflicht und Demut vor GOTT sind wahrliche Perlen des Christenmenschen. Columbanus´ Strenge soll uns nur immer wieder auf den Pfad dieser Tugenden zurückführen“; nicht selten hatte er in seinen Kindertagen diese Strenge durch schmerzhafte Strafen zu spüren bekommen, wenn seine Gehorsamkeit in den Augen seiner Mutter zu wünschen übrigließ. Er hatte es nie gewagt, sich zu beklagen, aber in zunehmendem Alter doch gefragt, ob Strafe und Selbstkasteiung wirklich zu GOTT führen würden.
Wie seine Mutter, so versuchte auch Corbinianus in seiner Jugend nach der Regel Columbans zu leben, der eine Zeitlang als Abt des berühmten Kloster Clonmacnoise und Missionar auf der Insel Irland gelebt und den Glauben vor Jahrzehnten nach Schottland weitergetragen hatte.
„Es muss vor etwa hundert Jahren gewesen sein“, so hatte ihm seine Mutter am abendlichen Feuer immer wieder erzählt, „als Sankt Columban mit seinen Freunden unsere Heimat, die Insel Éire verlassen hat, um mit seinen Brüdern über das Meer gen Osten, nach Dál Riata, zu gelangen.“
Allabendlich hatte sie ihm die Namen von dessen Brüdern in sein Gedächtnis geschrieben:
„Sankt Attala, der mit Sankt Columban im Reich der Langobarden später das Kloster Bobbio gegründet hat, und Sankt Cummain, Sankt Domgal, Sankt Eogain und Sankt Eunan sammelte er in Éire um sich“, so hatte sie unermüdlich erzählt. „Sein Gefährte Sankt Gallus begleitete den Heiligen später auf dem Rhenus bis hinauf an den Lacus Bodamicus, und dort, am anderen Ufer des Sees gelegen, begründeten sie das Kloster von Sankt Gallus“, hatte sie immer wieder betont und hervorgehoben. „Zusammen mit Sankt Gurgano, Sankt Libran, Sankt Lua, Sankt Sigisbert und Sankt Waldoleno hat man sie ehrfurchtsvoll die 12 Apostel von Éire genannt“.
Corbinianus hatte diese Erzählungen immer geliebt. In seinen Vorstellungen wanderte er mit den Heiligen über die satten grünen Wiesen der fernen Insel Éire, segelte über das Meer an die Küste von Dál Riata in das Königreich der Skoten und tauchte ein in das Leben der Wandermönche.
„Die 12 Apostel überquerten das Meer und landeten an der Küste der Bretonen und kamen hierher nach Gallien. Columban wanderte in Richtung Osten durch das Reich der Franken, bis er nicht weit vor Germanien bei einem römischen Kastell sein Kloster Luxeuil erbaute“. Corbinianus sog diese Erzählungen regelrecht in sich auf.