Von Oviedo nach A Fonsagrada - Thomas Schmidt - E-Book

Von Oviedo nach A Fonsagrada E-Book

Thomas Schmidt

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Beschreibung

Dieses Buch hat ein leicht abgewandeltes Konzept gegenüber den bisher erschienenen Bänden aus der Serie Camino Splitter. Es wird nicht nur aus meiner Sicht, sondern auch aus der meines Pilgerbruders und Begleiters Frederik Ebbert geschildert. Gleich geblieben ist der Charakter der Darstellung. Es ist kein Reiseführer im herkömmlichen Sinne einer präzisen topografischen Beschreibung des Weges, sondern mehr eine Reflexion unserer emotionalen Momente.

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Quelle: GoogleMaps

Camino Primitivo

Caminante, son tus huellas el camino, y nada más …

- Antonio Machado -

„Wanderer, deine Schritte sind der Weg und weiter nichts."

Liebe Leser,

dieses Buch hat ein leicht abgewandeltes Konzept gegenüber den bisher erschienenen Bändern aus der Serie „Camino Splitter“. Es wird nicht nur aus meiner Sicht, sondern auch aus der meines Pilgerbruders und Begleiters Frederik Ebbert geschildert. Gleich geblieben ist der Charakter der Darstellung. Es ist kein Reiseführer im herkömmlichen Sinne einer präzisen topografischen Beschreibung des Weges, sondern mehr eine Reflexion unserer emotionalen Momente.

„Was macht der Weg mit uns?“ „Welche Erinnerungen werden geweckt, welche Erkenntnisse löst er aus?“ „Welche Begegnungen bereichern den Weg?“ „Wie funktioniert das gemeinsame Fortkommen zweier Pilger, die aus unterschiedlichen Generationen stammen, der eine zum ersten Mal auf dem Weg, der andere mit Camino – Erfahrungen aus 12 Jahren?“

Ohne etwas vorwegnehmen zu wollen – auch der Camino Primitivo gibt Dir am Ende das, was Du brauchst. Aber – wie alle anderen Jakobswege – hält auch er Überraschungen bereit!

INHALTSVERZEICHNIS

Prolog

Kapitel 1 „Sidraspektakel”

Bocholt - Bilbao - Oviedo

Kapitel 2 „Die kleinste Dusche der Welt”

Oviedo - Grado / 25 km

Kapitel 3 „Berufung”

Grado - Salas / 23 km

Kapitel 4 „Herberge mit Aussicht”

Salas - Tineo / 24 km

Kapitel 5 „Stimmungsschwankungen”

Tineo - Pola de Allande / 29 km

Kapitel 6 „Todeskampf am Gipfel”

Pola de Allande – Berducedo – Grandas de Salime / 39 km*

Kapitel 7 „Noch ein Engel”

Grandas de Salime – A Fonsagrada / 26 km

Kapitel 8 „De ja vu”

A Fonsagrada – Lugo

Kapitel 9 „L´ultima Estrella Galicia”

Lugo – Santiago – Bocholt

Kapitel 10 „Das Christkind”

* 19 km Laufen / 20 km Taxifahrt

Prolog

Donnerstagabend ist Fußballabend. Nicht immer, aber immer dann, wenn ich es schaffe, meine Kundschaft rechtzeitig zufrieden zu stellen, um bis kurz vor sieben Uhr die Sporthalle des Euregio - Gymnasiums zu erreichen. Zuweilen kommt ein längeres Gespräch dazwischen, manchmal sind es die noch abzuarbeitenden telefonischen Rückrufe oder eine Virusepidemie. Dann wird es knapp. Schaffe ich es, so fühlt es sich ein wenig wie der vorweggenommene Beginn des Wochenendes an. Schweißtreibendes kollektives Auspowern Gleichgesinnter mit Ball. Ohne Ball – etwa beim Joggen – habe ich nicht selten das Empfinden, mich aus der Komfortzone herauswinden zu müssen Mit Ball ist es einfacher. Leidenschaft. Die Erkenntnis, dass die Ratio den Gefühlen untergeordnet ist, kommt nicht von ungefähr. Der schottische Philosoph David Hume formulierte bereits im 18. Jahrhundert provokant: „Die Vernunft ist und bleibt der Sklave der Leidenschaften“.

Was aber hat das Ganze mit dem Jakobsweg und speziell mit dem Camino Primitivo zu tun?

Die Auflösung führt zu Oberstudienrat Frederik Ebbert, genannt Freddy, Lehrer für Pädagogik, katholische Religion und Sport. Beim kommunikativen Auffüllen des Flüssigkeitshaushaltes nach dem Match in den geheiligten Räumlichkeiten des Lehrerzimmers fragte mich Freddy vor einem Jahr nach dem Jakobsweg. „Welchen meinst Du?“, fragte ich zurück. „Ja den Weg, den Du immer läufst“, antwortete er. Ich erklärte ihm, dass es viele Wege gibt und brachte ihm beim nächsten Mal eines meiner Bücher mit. Dann wollte er noch eines und danach ein weiteres. Schließlich fragte er mich: „Wann nimmst Du mich mit?“ „Im nächsten Jahr“, antwortete ich spontan, obwohl noch gar nicht klar war, welche Corona-Regeln zu beachten waren.

Unbedacht war es auch im Hinblick auf ein anderes Problem. Längst war klar, dass ich mit meiner Partnerin Kerstin im Juli den portugiesischen Küstenweg von Vigo aus vollenden würde. Wo sollte ich jetzt noch Freddy hinquetschen? Und welcher spanische Jakobsweg kam überhaupt infrage?

Für den ersten Teil der Via de la Plata von Sevilla bis etwa Zafra wäre es im Sommer zu heiß gewesen. Eine ernsthafte Option wäre die Fortsetzung des Camino del Norte von Bilbao aus gewesen, den ich 2018 von seinem Ursprung in Hondaribia an der französischen Grenze bis in die Capitale des Baskenlandes gelaufen bin. Nach reiflichen Überlegungen kam mir der Camino Primitivo in den Sinn, wobei „primitivo“ in diesem Fall nichts mit einem Rotwein zu tun hat und nicht etwa mit „einfach“ oder „primitiv“ übersetzt werden darf, sondern mit „ursprünglich“. Ja, der ursprüngliche Weg sollte es werden. Er stand schon länger auf meiner Agenda, von den physischen Belastungen her alles andere als einfach, sondern sicherlich die größte Herausforderung aller Jakobswege in Spanien. „Der Camino Primitivo gilt als der anspruchsvollste aller Jakobswege. Viele Höhenmeter und ein ständiges Auf und Ab begleiten den Pilger auf dem Weg von Oviedo bis nach Santiago. Daher zählt der Weg auch zu den Einsamsten und ist nicht so stark frequentiert. Eine gewisse Kondition und Ausdauer sollte vorhanden sein, um den Camino Primitivo ohne große Beschwerden zu laufen. Wer die Mühen auf sich nimmt, wird mit atemberaubenden Panoramablicken von den Bergen aus belohnt. Die ideale Jahreszeit ist der Sommer, bereits im Herbst und auch noch im Frühjahr kann der Weg durch Schneefall unpassierbar sein“, so heißt es in einer Übersicht über die unterschiedlichen Jakobswege in Spanien.

Camino Primitivo, ich bin mir jetzt sicher, diesen Weg werde ich mit Freddy laufen. Die Herausforderung nehme ich an. Was soll mir schon passieren? Zur Not muss mich der durchtrainierte Sportlehrer auf die Schulter nehmen und über die Berge Asturiens schleppen. Nach allem, was ich gelesen habe, kommen klimatisch bedingt mit Freddy nur die Sommerferien in Frage. Auch im Sommer sind die Temperaturen in Asturien aufgrund der Höhe von über 1000 Metern im Schnitt nur 23 Grad Celsius. Im Herbst kann es schon und im Frühjahr noch schneien. Das heißt für mich: Camino Portugues am Anfang der Ferien im Juli und Camino Primitivo am Ende der Ferien im August. Unverzüglich stürze ich mich in die Vorbereitungen.

Freddy bekommt den gelben Reiseführer von Raymund Joos, ich nehme den roten von Cordula Rabe. Sie unterscheiden sich im Wesentlichen dadurch, dass Joos den Weg sehr genau beschreibt und Cordula Rabe mehr geschichtliche Hintergründe aufzeigt. Wir haben acht Tage Zeit für unsere Pilgerreise. Der Camino Primitivo verläuft von Oviedo aus etwa zur Hälfte durch Asturien und zur anderen Hälfte durch Galicien. Am Ende mündet er in den Camino Francés. Die Länge beträgt ca. 320 km. Wenn alles gut geht, schaffen wir es bis nach A Fonsagrada, dem ersten Ort in der Provinz Galicien. Was die einzelnen Etappen angeht habe ich schnell eine Vorstellung, wie wir sie aufteilen. Da nur fünf Prozent der Pilger, die in Santiago ankommen, den Camino Primitivo wählen, sollte es zumindest mit Unterkünften kein Problem geben. Bleibt noch die An- und Abreise.

Ich spiele verschiedene Möglichkeiten durch: Von Düsseldorf oder Frankfurt nach Madrid und von dort Anschlussflug nach Asturias, dem Flughafen der Provinz, ca. 35 km von Oviedo entfernt. Oder Flug nach Santiago und von dort mit dem Bus nach Oviedo. Beides sehr umständlich und mit vielen Zeitverzögerungen verbunden. Schließlich bietet sich noch eine dritte Option an: Flug von Düsseldorf nach Bilbao und von dort aus ca. 400 km mit dem Bus nach Oviedo. Abflugzeiten und Anschlüsse sind passend. Der Zwangsaufenthalt in Bilbao bedeutet keine Last, sondern die Chance, Freddy eine zweistündige Stadtbesichtigung zu ermöglichen. Für den Rückflug plane ich Santiago ein.

Mit der Buchung des Busses von Bilbao nach Oviedo habe ich ein bisschen zu lange gewartet. Die Direktverbindungen sind ausverkauft. Wir werden daher in Santander umsteigen müssen und etwa gegen 23 Uhr in Oviedo ankommen, wenn alles planmäßig verläuft.

Ach ja, da war doch noch etwas! Corona, die Kapriziöse, schickte sich an, ein Wörtchen mitreden zu wollen. Kurz bevor die Reise losgehen soll, wird Spanien zum Hochrisikogebiet ernannt. Die nächste Steigerung träte ein, wenn das Land zum Virusvariantengebiet erklärt würde. Das hätte zur Folge, dass wir nach unserer Rückkehr nach Deutschland in Quarantäne müssten. Freddy hätte sicherlich Probleme, es seinem Direktor zu erklären, mich würde es erneut in ein organisatorisches Chaos in der Praxis stürzen, nachdem ich bereits im Februar drei Wochen wegen einer Corona-Infektion in Isolation verbringen musste.

No risk, no fun. Wir wählen das Risiko.

„Eines Tages wirst Du aufwachen und keine Zeit haben für die Dinge, die Du tun wolltest. Tu sie jetzt“.

- Paulo Coelho -

Die "Vorbereitungen" aus Freddys Feder

Das Audimax ist nur mit wenigen Studentinnen und Studenten gefüllt. schnellen Schritten schreitet die Dozentin zum in die Jahre gekommenen Rednerpult. Wer in diesem ehrwürdigen Hörsaal wohl schon seine Studenten gequält hat, geht es mir durch den Kopf. Immerhin hat auch unser emeritierter Papst Benedikt eine kurze Zeit in der westfälischen Provinz Münster gelehrt. Beim Versuch eines seiner Bücher zu lesen, war ich nach kurzer Zeit von den verschachtelten nicht endenden Sätzen aus einer anderen theologischen Sphäre erschöpft, sodass ich konstatierte, dass meine kognitiven Fähigkeiten zum Erfassen dieser sehr wahrscheinlich konservativen Ansichten nicht ausreichen. Die Dozentin, im besten Alter, gut gekleidet und hübsch im Ansehen, hat sich doch tatsächlich dem Gebiet der Kirchengeschichte verschrieben. Mit den Erwartungen an einen weisen alten Mann, der diese unwirkliche Zeit gefühlt miterlebt hat, geht dies in meinem Kopf nicht überein. Zügig beginnt sie ihre Folien anzuwerfen und mit klarer Stimme die durchtriebene Kirchengeschichte, geprägt von Machtmissbrauch und Egoismus, zu referieren. Die Geschichte zählt ca. 307 Päpste und 31 Gegenpäpste, es gab auch Zeiten mit zwei Päpsten, die gleichzeitig das Amt für sich beanspruchten, so genau weiß es sicherlich keiner. Gedanklich erweckt es mich beim Gang nach Canossa. Der Gang bezeichnet den Bitt- und Bußgang des römisch-deutschen Königs Heinrich des IV. im Jahr 1076-1077 zu Papst Gregor den VII. Unter schwierigen Bedingungen pilgerte der König zur Burg Canossa, um seine zuvor ausgesprochene Exkommunikation rückgängig zu machen. Angeblich bat er drei Tage kniend um seine Absolution, die er schließlich erhielt. Dieses beeindruckende Beispiel einer christlichen Reise führte mich zum Thema des Pilgerns.

Bei uns in Westfalen sind Pilgerreisen eher Marienwallfahrten. Aus unserer Umgebung führt der Weg in Großgruppen zur Marienstatue in das 55 km entfernte Kevelaer. Eine anstrengende, aber lohnenswerte Reise in einer herzlichen Pilgergruppe, die aber nicht zu tieferen Gedanken zu sich selbst führt. Zumindest gaben das meine drei Pilgerreisen nicht her.

Es muss also anders gepilgert werden. Irgendwann entdeckte ich einen Pilgerweg, der nach Rom führt, von dem ich bis heute nicht weiß, wo er genau ist, den ich aber gerne laufen möchte. Eine Reise zu sich selbst, mit der Möglichkeit, mich mit meiner Frau im faszinierenden Rom zu treffen und mit ihr noch eine Woche in römisch-vatikanischen Gefilden zu verbringen.

Diese Gedanken trage ich seit langen in meinem Kopf, aber wie immer hindert mich mein Alltag an der Umsetzung dieser Pläne. Das dachte ich bis dahin zumindest. Generell stecke ich voller Pläne für die Zukunft, was mich manchmal mein Leben in der Gegenwart vernachlässigen lässt. Wirklich im Hier und Jetzt zu sein, wird zunehmend schwerer. Die digitalen Medien lenken unseren Alltag wie unsichtbare Süchte und verhindern teilweise wichtige zwischenmenschliche Kommunikation. Meine Angetraute ist nicht nur besser im Umgang mit den sozialen Medien, sie nutzt nur die wesentlichen Dienste und benötigt mitunter mehrere Tage, bis sie eine Antwort verfasst, sondern lebt im Einklang mit sich selbst in der Gegenwart.

Leider ist die heutige Zeit aber von der Nutzung der sozialen Medien mehr und mehr geprägt, was sich in der ausufernden Zahl von Apps auf dem Bildschirm des Handys bemerkbar macht. Wesentliche Informationen, sei es aus dem Kindergarten, der Schule, den Printmedien etc. sind heute online abrufbar und führen dazu, dass die Handynutzung unverzichtbar wird. Auch das Virusgespenst Corona scheint ohne unsere Handys nicht verdrängbar zu sein. Freizeitveranstalter öffnen ohne Impfstatus keine Türen, wo uns das noch hinführt? Daher entspringt die Idee, auf der Pilgerreise das kleine Überwachungsgerät so wenig wie möglich zu nutzen. Wie man so schön sagt, soll der Weg die Gedanken führen. Lebhaft stelle ich mir vor, dass ich durch die spanische Landschaft schreite, fern ab von jeder Zivilisation. Es sollte anders kommen.

Mein Problem war immer und ist es bis heute, dass ich ein Universum von Ideen habe, aber nur eine Mü davon umsetze. Was wollte ich nicht alles schon gesehen haben, mit den Kindern umsetzen, mit Janina bereist haben oder einfach nur gebastelt haben. Wir kennen es alle, immer kommt etwas vermeintlich „Wichtigeres“ dazwischen. Desto mehr Zeit uns zur Verfügung steht, desto weniger schaffen wir.

„Sage nicht, wenn ich Zeit dazu habe, vielleicht hast du nie Zeit dazu. Wenn nicht jetzt, wann dann?“ (Aus dem Talmud, einem der wichtigsten Schriftwerke des Judentums).