Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ethan Hunter zieht von New York in das beschauliche Kansas, in die Corridor Street. Alles scheint perfekt zu sein. Nette Nachbarn, die sich scheinbar sehr gut untereinander verstehen. Dazu noch die Abgeschiedenheit der Großstadt. Doch wenig später nach seinem Einzug stellt er fest, dass nicht wirklich alles so perfekt ist. Seltsame Dinge geschehen. Katzen werden tot aufgefunden. Nach und nach bröckelt auch die Fassade der Bewohner. Als auch noch ein Streit unter Nachbarn ausbricht treten Geheimnisse zu Tage, die niemand für möglich gehalten hat.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 327
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Impressum
© 2024 by Sven Theiner, Flurstraße 34, 40885 Ratingen
Umschlagsgestaltung: Sven Theiner
Satz: Sven Theiner
Veröffentlicht über: Tolino Media
Lektorat: Jan Andresen
Printed in Germany
Nachdruck, Kopie, Verkauf oder Vervielfältigung
nur durch Genehmigung des Autors
WIDMUNG
Dieses Buch ist allen gewidmet, die an Demokratie und Frieden glauben.
DANKSAGUNG
Ich danke allen, die mich beim Schreiben stets unterstützt haben.
1
Ethan Hunter wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er den letzten Umzugskarton in sein neues Zuhause in der Corridor Street in Parkerfield, Kansas, trug.
Es war Mitte Juni, und die Sonne hing schwer am wolkenlosen Himmel. Die Hitze lag wie eine drückende Decke über der Stadt, die Temperaturen kletterten auf über 30 Grad. Ethan spürte, wie sein graues T-Shirt unangenehm am Rücken klebte und vom Schweiß durchtränkt war.
Der Umzug, den er allein bewältigt hatte, war anstrengender als erwartet. Als er das Haus betrat, hielt er kurz inne und atmete die kühle, aber noch leere Luft ein. Es roch nach frischem Holz und dem feinen Staub, den die Renovierungsarbeiten hinterlassen hatten.
Das Haus war still. Die Wände schienen noch das letzte Echo der Abwesenheit zu tragen, als Ethan durch die Räume ging. Er beschloss, sich im Schlafzimmer ein frisches T-Shirt zu holen, vielleicht würde das die Hitze etwas lindern.
Das Schlafzimmer war kahl. Nur das Bett stand an seinem Platz, wie eine Insel in einem Meer von leeren Räumen. Der Boden knarrte unter seinen Schritten, als er einen Karton öffnete. Die kühle Textur seines neuen T-Shirts fühlte sich erfrischend an, und als er ins Bad ging, um sich im Spiegel zu betrachten, sah er etwas Vertrautes: Ein müdes, aber zufriedenes Gesicht.
Die blonden Haare hingen ihm verschwitzt in die Stirn, aber unter der Erschöpfung blitzte ein Funke auf, der Tatendrang verriet. Seine blauen Augen funkelten, obwohl sie von einem langen Tag geschattet waren, im Widerschein des Spiegels. Der Neuanfang in Parkerfield war ein befreiender Schritt.
Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, das wie eine angenehme Schockwelle über seine Haut lief. Gerade als er sich das frische Hemd überzog und nach dem Deo griff, durchbrach ein plötzliches Klopfen an der Tür die Stille des Hauses. Es war unerwarteter Besuch - er hatte noch niemandem von seinem Umzug erzählt. Wer konnte das sein?
Als er die Tür öffnete, stand eine junge Frau vor ihm. Sie war etwa dreißig Jahre alt und hatte lange, glänzende braune Haare, die ihr weich über die Schultern fielen. Ihre Augen, katzengrün und aufmerksam, musterten ihn mit einer Mischung aus Freundlichkeit und leicht spürbarer Unruhe. Sie trug ein luftiges, cremefarbenes Sommerkleid, das in der Nachmittagshitze sanft im Wind flatterte.
„Guten Tag, Mr. Hunter“, begann sie, ohne Luft zu holen. „Ich habe von den Nachbarn gehört, dass Sie hier eingezogen sind. Das Haus stand eine Weile leer, und ich war neugierig, wer der neue Bewohner ist“.
Ohne eine Einladung abzuwarten, trat sie ein, was Ethan einen Moment innehalten ließ. Sie bewegte sich durch den Raum, als wäre sie mit der Umgebung vertraut, als hätte sie schon oft darüber nachgedacht, wie es wäre, hier zu leben.
Ethan strich sich verlegen durchs Haar und lächelte gezwungen. „Da muss ich Sie leider enttäuschen. Meine Möbel kommen erst morgen, also ist es hier noch ziemlich leer, Miss...?“. Er ließ die Frage offen.
„Oh! Verzeihung, wo sind meine Manieren?“. Sie lachte kurz, ihr Lachen klang ein wenig zu hell, als sollte es eine nervöse Energie überdecken. „Samantha Riley. Mein Lebensgefährte Weston und unsere drei Töchter wohnen gleich nebenan. Wir freuen uns, Sie als neue Nachbarn begrüßen zu dürfen“. Sie reichte ihm die Hand, und Ethan war überrascht über den festen Händedruck, den er bei ihrer zierlichen Gestalt nicht erwartet hatte.
„Freut mich, Sie kennen zu lernen“, erwiderte er und versuchte, ihre Leichtigkeit nachzuahmen. Aber ihre Neugier war unübersehbar.
„Vielleicht kann ich das wieder gutmachen, indem ich Sie übermorgen zu uns zum Grillen einlade?“, bot Samantha an, und ihre Augen funkelten neugierig, fast fordernd. „Wir laden die Nachbarn ein, und es wäre doch eine gute Gelegenheit, sich besser kennen zu lernen“.
Ethan zögerte. Ihre Art war ihm etwas zu forsch, aber er lächelte höflich. „Hört sich gut an. Ich würde mich freuen, die Nachbarn kennenzulernen“.
Samantha lächelte übertrieben strahlend. „Gut, dann sehen wir uns übermorgen Nachmittag um vier“. Bevor er antworten konnte, drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand so schnell, wie sie gekommen war, durch die Tür.
Ethan stand einen Moment still und lauschte der plötzlichen Stille, die sich wieder über das Haus legte. Kopfschüttelnd ging er zurück ins Bad, um sich fertig zu machen.
Nachdem er sich die Haare gekämmt und etwas Deodorant aufgesprüht hatte, schnappte er sich seine Autoschlüssel und verließ das Haus. Dabei stieß er mit einer älteren Dame zusammen, die ihn erschrocken ansah.
„Oh! Entschuldigen Sie, junger Mann“, begann sie hastig, „ich war so in Gedanken, dass ich Sie gar nicht gesehen habe“. Ihre Stimme war rau, aber freundlich. Sie trug ein schlichtes Kleid und hielt ein kleines, altes Lederband in der Hand - vielleicht ein Amulett oder ein Erbstück.
Ethan lächelte beruhigend. „Kein Problem, es ist nichts passiert. Ihnen hoffentlich auch nicht?“
„Nein, nein. Es ist nur ... Ich suche meine Katze, Jinny. Sie kommt immer um die Mittagszeit nach Hause, aber heute ist sie nicht aufgetaucht. Ich hoffe, ihr ist nichts passiert“, sagte sie und biss sich nervös auf die Lippen. „Nicht wie der armen Katze von Mrs. Hemsworth“.
Er hob eine Augenbraue. „Was ist mit der Katze passiert?“
„Sie war drei Tage lang verschwunden“, flüsterte die Frau, „bis sie tot hinter dem Haus der Rileys gefunden wurde. Erschossen, mit Schrotkugeln. Kannst du dir das vorstellen?“.
Ethan spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Wer tut so etwas?“, fragte Ethan entsetzt und spürte, wie sich eine seltsame Beklemmung in seiner Brust ausbreitete.
Die alte Dame, deren graues Haar im milden Licht der Abendsonne fast silbern schimmerte, zuckte nur mit den Schultern. Ihr Gesicht war von Jahren und Sorgen gezeichnet, doch ihre blauen Augen blieben wachsam und scharf, als suchten sie in Ethans Blick nach einer Antwort, die auch sie nicht kannte.
„Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Aber es ist nicht das erste Mal, dass hier eine Katze verschwindet oder Schlimmeres passiert. Das passiert immer wieder, und jedes Mal heißt es, es sei ein Unfall gewesen. Aber wie oft kann es ein Unfall sein, wenn es immer die gleichen Häuser sind, hinter denen man die Tiere findet?“. Ihre Stimme war ruhig, fast tonlos, aber es lag etwas Dunkles in ihr, etwas, das Ethan unwillkürlich an eine alte Wunde erinnerte, die nie richtig verheilt war.
Sie senkte den Blick und schüttelte den Kopf, als wolle sie die Erinnerung abschütteln. „Entschuldigen Sie mich, ich will meine Jinny finden, bevor es dunkel wird“. Ihre eben noch so lebhaften Augen wirkten plötzlich müde und ihre Schultern sanken ein wenig nach vorne. „Ich wohne zwei Häuser weiter“, fügte sie hinzu und straffte sich. „Wenn Sie möchten, lade ich Sie am Samstag zum Tee ein. Dann können wir uns in Ruhe unterhalten, ohne diese ganze Aufregung“. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen.
Ethan nickte langsam. „Danke, das klingt nett. Kommen Sie übermorgen zum Grillfest der Rileys?“. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Frage eine so heftige Reaktion hervorrufen würde.
Die alte Dame erstarrte für einen Moment, als würde der bloße Gedanke an die Einladung eine unangenehme Erinnerung wachrufen. Ihre Augen weiteten sich leicht, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie sagte: "Oh nein, da gehe ich nicht hin. Sie blickte sich flüchtig um, als wolle sie sich vergewissern, dass niemand mithörte. „Ihr Mann, ja, er ist ein guter Mensch, arbeitet hart und ist immer höflich. Aber sie ...“. Ihre Stimme wurde noch tiefer, und Ethan musste sich etwas näher beugen, um sie zu verstehen. „Seine Frau hat etwas Böses in den Augen. Ein Schatten, der immer dann auftaucht, wenn sie glaubt, dass niemand hinsieht. Nein, ich bleibe lieber zu Hause bei meiner Katze“.
Mit diesen Worten verabschiedete sie sich hastig, fast so, als wolle sie dem Gespräch entfliehen, und setzte ihre Suche fort. Ethan beobachtete sie, wie sie mit schleppenden Schritten die Straße entlang ging, die Schultern leicht gebeugt, als trüge sie die Last all der Geschichten dieser Straße auf ihrem Rücken.
Er sah ihr nach, spürte die seltsame Spannung, die diese Begegnung in ihm ausgelöst hatte, und fragte sich, ob er in seiner neuen Nachbarschaft wirklich so viel Glück erwarten konnte, wie er anfangs geglaubt hatte. Zwei Einladungen am ersten Tag und doch fühlte sich alles unbehaglich und fremd an.
Gerade als er in sein Auto steigen wollte, hörte er laute Stimmen aus dem Haus der Rileys, die die ruhige Abendluft durchschnitten. Samantha Rileys Stimme war schrill und wütend, und Ethan konnte die harten Worte deutlich verstehen. „Bella, habe ich dir nicht gesagt, du sollst dein Zimmer aufräumen? Es sieht hier aus wie in einem Saustall. Und das Geschirr hast du auch noch nicht abgewaschen!“.
Ethan blieb stehen, die Hand auf der Türklinke. Seine Stimme klang ganz anders als das fröhliche, fast übertriebene Lächeln, das Samantha ihm vorhin geschenkt hatte. Jetzt lag ein schneidender Ton darin, eine Wut, die durch die Wände ihres Hauses drang und das Bild der freundlichen Nachbarin, das sie ihm noch vor wenigen Minuten präsentiert hatte, zerschmetterte.
Kopfschüttelnd stieg er schließlich in seinen Wagen und fuhr los. Während er durch die vertrauten Straßen der Stadt fuhr, in der er aufgewachsen war, kreisten seine Gedanken immer wieder um seine neuen Nachbarn. Die alte Dame mit ihren Geschichten über verschwundene Katzen, die Andeutungen über Samantha und der laute Streit, den er gerade gehört hatte - alles vermischte sich zu einem mulmigen Gefühl. Hatte er wirklich den richtigen Ort gewählt?
*
Die Nachmittagssonne senkte sich langsam über das viktorianische Haus, dessen verwitterte Fassade und kunstvoll geschnitzte Holzornamente Geschichten von Jahrzehnten erzählten.
Hazel war eine stolze Frau von mittlerer Statur, die trotz ihrer 70 Jahre nichts von ihrer inneren Stärke verloren hatte. Ihr schneeweißes Haar, das sie in einem einfachen Knoten trug, leuchtete im Abendlicht, und ihre blauen Augen funkelten vor Stolz auf ihre Arbeit.
Seit Jahren lebte sie allein mit ihrer Tochter Eliana und deren Familie in dem großen Haus, und obwohl sie sich oft zurückgezogen hatte, fand sie in ihrem Garten einen Ort der Ruhe und des Stolzes.
Hazel kniete im Vorgarten, wo sie mit ruhiger Entschlossenheit eine Reihe blühender Begonien pflanzte. Der Geruch der Erde vermischte sich mit dem zarten Duft der Blumen, während die goldenen Sonnenstrahlen den Garten in warmes Licht tauchten. Ihre Hände, von feinen Linien durchzogen und von unzähligen Stunden Arbeit in der Erde gezeichnet, bewegten sich so präzise und sicher, als hätten sie nie etwas anderes getan.
Eliana, eine junge Frau Anfang fünfzig mit glattem, kastanienbraunem Haar, das sie zu einem praktischen Knoten gebunden hatte, und einem strengen Gesichtsausdruck, stieg aus ihrem Auto. Ihre tiefbraunen Augen musterten ihre Mutter besorgt.
„Mutter, das hätte ich doch nachher für dich machen können“, sagte sie besorgt, aber bestimmt, während sie ihre Einkäufe aus dem Auto holte.
Hazel, richtete sich auf und warf ihrer Tochter einen scharfen Blick zu. „Ich bin zwar alt, aber was ich wann und wie mache, dass entscheide immer noch ich selbst!“. Ihre Augen funkelten trotzig, ein Hauch von Lächeln umspielte ihre Lippen.
Seit dem Tod ihres Mannes lebte Hazel zurückgezogen allein mit ihrer Tochter, deren Mann Grayson und den drei Enkelkindern in dem großen Haus. Seit Jahren litt sie an einer schweren Schilddrüsenüberfunktion, die sie ohne Medikamente stark zittern ließ.
Eliana seufzte und sagte in sanfterem Ton: „Mutter, ich meine es gut. Du bist doch nicht mehr die Jüngste!“. Sie warf ihrer Mutter einen liebevollen Blick zu, während sie die Haustür öffnete und den Einkaufskorb abstellte.
Hazel setzte sich auf die Gartenbank, wischte sich die schmutzigen Hände an einer alten Schürze ab und entgegnete: „Ich weiß. Aber zur Abwechslung ist heute mal schönes Wetter, und die frische Luft tut mir gut“.
Eliana schüttelte den Kopf und ging ins Haus, wo ihr Mann Grayson gerade Kaffee kochte. Grayson, ein großer, kräftiger Mann mit gepflegtem Bart und sanften grauen Augen, blickte auf, als sie die Küche betrat. „Du bist schon zu Hause?“, fragte sie ihn überrascht.
Er nickte und lächelte müde. „Ja, ich habe heute früher Feierabend gemacht. Aber du siehst aus, als könntest du einen starken Kaffee vertragen“.
Grayson reichte ihr eine Tasse, und Eliana stieß einen tiefen Seufzer aus, während sie ihre Einkaufstasche auf den Küchentisch stellte.
„Sieht man mir das so deutlich an?“, fragte sie mit einem schwachen Lächeln.
Ihr Mann grinste. „Oh ja, und man merkt es an deiner Stimme!“.
Sie nahm einen Schluck Kaffee und sagte dann: „Hast du gesehen, dass Mutter im Vorgarten sitzt und Blumen pflanzt?“.
Er nickte. „Ja, ich habe es gesehen. Warum stört dich das? Lass ihr doch die Freude. Es ist besser, als dass sie wieder den ganzen Tag in ihrem Wohnzimmer sitzt und die Wände anstarrt“.
Eliana seufzte erneut, tiefer diesmal. „Ich stimme dir zu, aber heute Abend dürfen wir uns dann wieder ihr Gejammer anhören, wie schlecht es ihr geht und dass sie keine Lust mehr hat, irgendetwas zu machen. An wem, meinst du, bleibt dann die ganze Arbeit hängen? An mir. Dann habe ich nicht nur unseren Haushalt, um den ich mich kümmern muss, sondern auch noch ihren“.
Ihr Mann nahm einen Schluck von seinem Kaffee und sah sie ruhig an. „Lass ihr die Freude, Eliana. Sie braucht das. Es ist besser, als dass sie drinnen sitzt und den ganzen Tag an den Tod deines Vaters denkt oder die Wände anstarrt“.
Eliana lehnte sich an die Theke, die Tasse fest in ihren Händen haltend. „Ich weiß, du hast recht. Aber du weißt auch, wie es endet. Ich werde am Ende des Tages alles erledigen müssen. Es bleibt immer an mir hängen“. Ihr Gesicht spiegelte die Erschöpfung wider, die sich in ihr angesammelt hatte.
Grayson stellte die Kaffeetasse sanft auf den Tisch und legte seine Hand warm auf Elianas Schulter, sein Daumen strich beruhigend über ihren Arm. „Ach komm, es wird schon nicht so schlimm sein“, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln. „Übrigens, Samantha Riley war vorhin hier. Sie hat nach ihrer Tochter Bella gesucht und uns ganz nebenbei zu einer Grillparty für übermorgen eingeladen“.
Eliana schnaubte leise und verzog das Gesicht, während sie mit den Händen durch die Einkaufstüten fuhr. „Schon wieder eine Feier bei den Rileys?“. Ihre Stimme triefte vor Ungeduld. „Es scheint, als wüssten sie nicht, wie sie ihre Zeit sonst verbringen sollen. Seitdem sie hier sind, haben sie bestimmt schon zehn oder zwölf Partys geschmissen. Immer dasselbe“.
Grayson lachte, dieses tiefe, brummende Lachen, das immer einen Hauch von Gelassenheit in die Situation brachte. „Ja, genau das habe ich mir auch gedacht. Sie kam mit ihrer typisch aufgesetzten Freundlichkeit – wahrscheinlich ist die Sache mit ihrer Tochter nur ein Vorwand gewesen, um uns einzuladen. Du kennst ja Samantha“.
Eliana grinste spöttisch und schüttelte leicht den Kopf. „Weston ist ja in Ordnung, auch wenn er gerne angibt. Aber sie…“. Sie hielt inne, als ob sie nach den richtigen Worten suchte. „Sie ist einfach dumm. Bei jedem Gespräch, sei es über Politik, Kultur oder etwas Tiefgründigeres, habe ich das Gefühl, dass sie keine Ahnung hat. Es ist, als würde ich ständig gegen eine Wand reden".
Grayson zog sie näher an sich, seine Arme schlossen sich schützend um ihre Schultern, und er lachte leise in ihr Haar. „Ja, Samantha ist ein Fall für sich. Aber es wäre trotzdem eine gute Gelegenheit, mal wieder rauszukommen. Und hey, es sind auch noch andere Nachbarn da. Du wirst sicher jemanden finden, mit dem du dich besser unterhalten kannst“.
Eliana seufzte, doch diesmal lag ein weiches Lächeln auf ihren Lippen. „Na gut“, sagte sie und gab ihm einen schnellen Kuss auf die Wange. „Weil du es bist“.
Sie begann, die Einkäufe auszupacken, und plötzlich fiel ihr etwas ein. „Hat Weston eigentlich die Schubkarre zurückgebracht, die er sich ausgeliehen hat?“.
Grayson seufzte und schüttelte den Kopf. „Nein, bisher nicht. Aber die Grillparty wäre eine gute Gelegenheit, ihn daran zu erinnern“. Er hob beschwichtigend die Hände, als er Elianas Blick sah, der sich für einen Moment verhärtete.
„Vergiss es nicht wieder“, sagte sie streng, während sie die Butter in den Kühlschrank stellte. „Er hat sich schon öfter Dinge bei uns ausgeliehen und sie erst nach mehrfacher Erinnerung zurückgebracht“.
„Ich weiß“, antwortete Grayson und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Als er sich den Akkuschrauber geliehen hat, musste ich ihn dreimal daran erinnern. Jedes Mal sagte er mir, er hätte so viel zu tun, dass er es vergessen hätte“.
Eliana fischte eine Gemüsepackung aus der Tasche und warf sie entschlossen in die Gemüsekiste. „Ja, aber was macht er eigentlich den ganzen Tag? Ich sehe ihn immer nur wie ein aufgescheuchtes Kaninchen durch den Garten hoppeln. Und ehrlich gesagt frage ich mich manchmal, womit er eigentlich sein Geld verdient“.
Grayson lachte und hob die Schultern. „Das frage ich mich auch. Aber egal, wenn wir ihn auf der Grillparty sehen, werde ich ihn definitiv daran erinnern“.
In diesem Moment trat Hazel ins Haus. Ihre Hände waren noch mit Erde beschmiert, doch ihre Augen leuchteten zufrieden. Sie strich sich die schmutzigen Hände an ihrer alten Schürze ab, bevor sie ihre Tochter und ihren Schwiegersohn ansah. „Na, ihr zwei scheint ja gut drauf zu sein. Was gibt es denn so Lustiges?“. Ihre Stimme klang warm, doch die Müdigkeit der vergangenen Jahre schwang leise darin mit.
Eliana und Grayson tauschten einen schnellen Blick aus, bevor Eliana antwortete: „Ach, nichts, Mutter. Wir haben nur über das Grillfest bei den Rileys gesprochen. Hast du vielleicht Lust mitzukommen?“.
Hazel lächelte sanft, aber auch ein wenig wehmütig. „Ach, meine Lieben“, sagte sie leise, während sie sich vorsichtig hinsetzte. „Ich denke, ich werde lieber zu Hause bleiben. Die jungen Leute sollen ihren Spaß haben. Außerdem kann ich hier auf das Haus aufpassen“.
Eliana beugte sich zu ihrer Mutter hinunter und küsste sie zärtlich auf die Wange. „Wie du möchtest, Mutter. Aber du weißt, dass wir immer für dich da sind, oder?“.
Hazel sah ihre Tochter mit einem liebevollen, fast melancholischen Blick an. „Ich weiß, mein Schatz. Danke“.
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch in den einfachen Worten lag eine tiefe Dankbarkeit, die das stille Band zwischen ihnen stärkte. Sie sah ihre Familie an und für einen Moment schien es, als wäre das große Haus, in dem sie lebten, trotz all seiner Ecken und Kanten, ein sicherer Hafen in einer sich ständig verändernden Welt.
*
Der Abend hatte die Landschaft in ein samtiges, dunkles Blau getaucht, als Weston Kaczmarek die knarrende Tür zu Caleb Stuarts Cottage öffnete. Ein Hauch von Feuchtigkeit und Moos schlich sich ins Haus, während die Umgebung draußen immer stiller wurde.
Das Haus selbst stand einsam am Rande eines tiefen Waldes, dessen Bäume wie uralte Wächter über die Geheimnisse der Wildnis wachten. Die Hütte war eine seltsame Mischung aus behaglicher Zuflucht und bedrohlichem Unterschlupf. Im Hintergrund loderte die prasselnde Wärme des Kamins, doch die Schatten an den Wänden schienen tiefer zu sein als die der knorrigen Bäume draußen. Jagdtrophäen mit stummen, leeren Augen hingen an den rauen Holzwänden, Zeugen von Calebs Leben in der Wildnis.
Caleb, groß wie die alten Eichen, die den Wald säumten, stand an der massiven Theke aus grobem Holz. Sein Gesicht, vom Wetter gegerbt, mit tiefen Furchen, die von Jahren in der Wildnis erzählten, war so unbeweglich wie eine steinerne Statue. Doch seine Augen, scharf wie die eines Raubtiers, fixierten Weston, während er wortlos zwei Flaschen Bier öffnete. Der Geruch von Holzrauch und Leder lag in der Luft, während draußen der Wind das Rascheln der Blätter verstummen ließ.
Weston, mit seiner auffallend lässigen Art, ließ sich schwer auf das abgewetzte Ledersofa fallen. Ein halbherziges Lächeln umspielte sein Gesicht, doch in seinen dunklen Augen blitzte etwas Gefährliches auf. „Du kommst doch morgen zu unserer Grillparty, oder?“, fragte er beiläufig, als wäre es nicht wichtig. Doch seine Haltung, zu entspannt, seine Worte, zu glatt, verrieten etwas anderes.
Caleb nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche, die Finger fest um den Bierhals geschlungen. Die Dämmerung draußen schien tiefer zu werden, als würde der Wald die Dunkelheit gierig verschlingen.
„Das kann ich dir noch nicht genau sagen“, antwortet Caleb nach einer langen Pause, seine Stimme tief und rau. „Es gibt viel zu tun“. Die Müdigkeit in seinen Worten war unüberhörbar, aber darunter lag noch etwas anderes - ein Hauch von Unsicherheit.
Weston, jetzt mit hochgezogenen Augenbrauen, musterte Caleb. Sein Lächeln war verschwunden, und für einen kurzen Moment schien die behagliche Wärme des Raumes zu erkalten. „Du bist mir noch einen Gefallen schuldig, Caleb. Vergiss das nicht“. Die Worte kamen leise, aber sie hingen schwer im Raum, wie eine unsichtbare Last, die sich auf die Schultern der Männer legte.
Calebs Gesicht verhärtete sich, seine Stirn legte sich dabei in tiefe Falten. „Ich habe dir bereits mehr als einen Gefallen getan“, erwiderte er mit ruhiger, aber spürbar angespannter Stimme. „Oder hast du die Sache von neulich schon vergessen?“. Die Wut, die in Calebs Stimme mitschwang, war beherrscht, aber seine Hände schlossen sich um die Flasche.
Weston lachte kurz, kalt, fast mechanisch. Er lehnte sich zurück und legte die Arme lässig auf die Lehne des Sofas, als hätte er die Situation bereits vollkommen unter Kontrolle. „Nein, Caleb, ich habe es nicht vergessen. Ich bin dir auch dankbar“. Aber die Art, wie seine Augen funkelten, verriet etwas anderes. Es war keine Dankbarkeit, es war Berechnung, vielleicht sogar Verachtung.
Calebs Blick verfinsterte sich noch mehr. „Dann sind wir uns ja einig. Und ehrlich gesagt halte ich es für keine gute Idee, dass ich zum Barbecue komme. Samantha würde das nicht gutheißen“. Seine Worte waren wohlüberlegt, aber jedes einzelne fiel wie ein Stein in die Stille des Raumes.
Für einen Moment verhärtete sich Westons Gesicht, als ob der Name seiner Frau etwas in ihm berührte, dass er nicht kontrollieren konnte. Doch dann setzte er wieder sein gewohnt charmantes Lächeln auf. „Überlassen Sie Samantha mir“, sagte er fast zu leichtfertig. „Die Sache von neulich habe ich längst geklärt.“
Caleb hob skeptisch eine Augenbraue, seine Stimme klang schärfer als zuvor. „Ach ja? Wie du die Sache mit dem Kaninchen geregelt hast, nehme ich an?“. Seine Worte trafen wie scharfe Pfeile, und die Spannung zwischen den beiden Männern war mit Händen zu greifen.
Westons Lächeln verwandelte sich in ein hasserfülltes Grinsen. „Samantha fand es nicht besonders lustig, aber ich habe es genossen". Seine Stimme klang kalt, und in seinen Augen funkelte etwas Dunkles, das Caleb unbehaglich machte.
„Du hast ihr also nicht gesagt, dass es deine Idee war, den Hund mitzubringen?“, fragte Caleb mit gefährlich ruhiger Stimme. „Und dass du darauf bestanden hast, ihn auf die Tiere loszulassen?“. Wut brodelte in Calebs Brust, aber er zwang sich, ruhig zu bleiben.
Weston zuckte nur gleichgültig die Schultern. „Kleinigkeiten“, sagte er in einem Ton, der jede Verantwortung von sich wies. „Ich habe mich darum gekümmert. Samantha muss nicht alles erfahren. Vor allem nicht, wie sehr mich diese Viecher anwidern“.
Caleb atmete tief durch und trank einen weiteren Schluck Bier, als würde der Alkohol die aufsteigende Wut in ihm dämpfen. „Du zahlst einen hohen Preis für deinen Frieden, Weston“, murmelte er, seine Stimme dunkel und rau wie der Wald draußen.
Weston ließ sich Zeit, bevor er antwortete, die Augen immer noch kalt und berechnend auf Caleb gerichtet. „Manchmal muss man etwas riskieren, um zu gewinnen“, sagte er leise, fast wie eine Feststellung, aber die Drohung darin war unüberhörbar.
Das Schweigen, das folgte, war dicht und schwer, als wäre der Raum selbst Zeuge einer Vereinbarung, die keiner der Männer laut aussprechen wollte. Draußen heulte der Wind durch die Bäume, und es war, als würde der Wald atmen - unruhig, bedrohlich.
„Sieger? Du hast eine seltsame Definition für dieses Wort, Weston“, sagte Caleb und schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang rau, als spräche er nicht nur zu Weston, sondern zu einem unsichtbaren Gewicht, das den Raum beschwerte. „Was ist mit Mrs. Reed und ihrem Sohn? Mit denen teilt ihr euch ein Haus. Und du glaubst ernsthaft, du gewinnst, indem du sie vergraulst?“. Calebs Augen fixierten Weston, scharf und wachsam wie die eines Jägers, der den wahren Feind wittert.
Westons Augen funkelten im schwachen Licht des Raumes, eine Mischung aus Berechnung und Stolz. „Ich habe bereits einen Plan. Bis Ende des Jahres habe ich sie so weit, dass sie freiwillig ihre Wohnung verkaufen“, sagte er mit einer Stimme, die gleichzeitig selbstsicher und kalt klang, als wäre das Schicksal der Reeds nur eine weitere Herausforderung auf dem Spielfeld seines Lebens.
Calebs Blick verfinsterte sich. „Und wenn sie nicht verkaufen?“. Seine Stimme klang jetzt scharf, fast bedrohlich, als wüsste er genau, wohin dieses Gespräch führen würde.
Westons Lächeln verschwand und ein dunkler Schatten trat in seine Augen. „Samantha will das ganze Haus, und sie wird bekommen, was sie will“, sagte er mit Nachdruck, aber die Worte hatten eine andere Schärfe. Nicht nur für Samantha.
Calebs Gesicht blieb ausdruckslos, aber seine Stimme war leise und voller Erkenntnis. „Nicht für Samantha“, sagte er fast im Flüsterton. „Sondern für deine Kinder. Du willst nicht, dass sie durchmachen müssen, was du durchgemacht hast, als deine Eltern sich getrennt haben“. Die Worte trafen Weston tief, auch wenn sein Gesicht das nicht verriet. Caleb wusste, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte.
Westons Gesicht verhärtete sich, seine Kiefermuskeln spannten sich an, seine Augen wurden hart wie Stahl. „Das ist meine Sache. Nicht deine“, knurrte er, die Hände zu Fäusten geballt. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt, als würde er gleich explodieren.
Caleb ließ sich nicht einschüchtern, obwohl er die gefährliche Spannung im Raum spürte. „Es könnte dich eines Tages alles kosten“, sagte er, und in seiner Stimme lag die Schwere eines Mannes, der schon zu viele falsche Entscheidungen getroffen hatte. Seine Worte schwebten zwischen ihnen wie ein drohendes Omen, während draußen der Wind gegen das Fenster schlug und die Bäume im Wald wie geisterhafte Schatten tanzten.
Das war zu viel für Weston. Mit einem Ruck sprang er von seinem Stuhl auf, die Hände zu Fäusten geballt, die Knöchel weiß vor Anspannung. „Ich werde gewinnen!“, fauchte er, sein Gesicht eine Maske aus Wut und Frustration. „Ich habe noch ein Ass im Ärmel, Caleb. Und glaub mir, wenn es sein muss, werde ich ihn gegen Samantha ausspielen“. In seiner Stimme schwang unterdrückter Wahnsinn mit, und in diesem Moment wurde Caleb klar, wie weit Weston zu gehen bereit war.
Caleb starrte seinen alten Freund an, suchte nach einem Funken Menschlichkeit in seinen Augen, fand aber nur Entschlossenheit und eine beunruhigende Leere. „Du machst einen Fehler, Weston. Irgendwann wird es dich alles kosten“, sagte er schließlich, und seine Stimme klang fast resigniert, als wüsste er, dass er Weston nicht mehr aufhalten konnte.
Weston lachte, aber es war ein kaltes, humorloses Lachen, eher ein spöttisches Aufblitzen. „Nicht solange sie die Mutter meiner Kinder ist“, sagte er, und sein Lächeln war eine Mischung aus Spott und Verachtung. Dann drehte er sich abrupt um, als sei die Diskussion beendet. „Also, was ist mit dem Barbecue?“, fragte er beiläufig, als hätten sie gerade über das Wetter gesprochen.
Caleb spürte die Anspannung in seinen Schultern und atmete tief durch, um den aufsteigenden Ärger zu unterdrücken. „Ich werde darüber nachdenken“, sagte er schließlich und zwang sich, ruhig zu bleiben. Es war nicht die Zeit für weitere Diskussionen, nicht mit einem Mann, der bereit war, alles und jeden zu opfern, um zu bekommen, was er wollte.
Sie verabschiedeten sich kurz, und Weston verließ das Haus, seine Schritte schwer und entschlossen. Caleb blieb am Fenster stehen und sah Weston nach, wie er in die mondbeschienene Nacht hinaustrat, die kühle Herbstluft umwehte ihn, während seine Gestalt langsam im Schatten der Bäume verschwand. Die gepflasterte Straße lag in einem unheimlichen Licht, und die langen, dunklen Schatten des Waldes schienen bis zum Haus zu reichen, als wollten sie es verschlingen.
„Worauf habe ich mich nur eingelassen?“, murmelte Caleb leise zu sich selbst, während draußen der Wind heulte. Er wandte sich vom Fenster ab und ging ins Bad. Das Licht reflektierte sein müdes Gesicht im beschlagenen Spiegel. Seine Augen sahen schwer und ausgebrannt aus, wie die eines Mannes, der mehr Last trägt, als er zugeben will. Mit kaltem Wasser versuchte er, die Sorgen und den Schmutz des Tages abzuwaschen, doch das mulmige Gefühl in seinem Bauch blieb, fest wie ein Fels.
Zurück im Wohnzimmer griff Caleb nach einem alten Fotoalbum, dessen vergilbte Seiten von einer Zeit erzählten, in der das Leben noch einfach gewesen war. Er blätterte mechanisch durch die Bilder, ohne wirklich hinzusehen, während draußen ein Hund heulte und der Wind durch die Bäume pfiff. Ein Schatten legte sich über Calebs Gedanken, und für einen Moment fragte er sich, ob es einen Weg zurück gab, aus dieser Dunkelheit, die Weston mit sich gebracht hatte.
2
Es war noch früh am Morgen, als Cora Hughes die letzte Schaufel Erde glattstrich und sich erhob. Der Garten lag still da, nur die schwache Brise ließ die Blätter leise flüstern. Cora, mit ihren scharfen Zügen und dem konzentrierten Blick, wirkte wie eine stille Regentin inmitten ihres Reichs.
Die kastanienbraunen Strähnen, die sich aus dem lockeren Knoten gelöst hatten, tanzten sanft im ersten Hauch der Morgendämmerung. Die Sterne verblassten am Horizont, während die ersten zaghaften Sonnenstrahlen die Dunkelheit verdrängten. Sie atmete tief durch, spürte die Kühle der Nacht auf ihrer Haut und das leise Pulsieren des erwachenden Tages.
Der verwilderte Garten, einst stolzes Schmuckstück des alten Herrenhauses, war wie ein ungezähmtes Biest, dass sie nach und nach zu zähmen versuchte. Jede Pflanze, jeder Strauch schien ein Geheimnis zu verbergen, als ob die Vergangenheit des Hauses in seinen Wurzeln eingeschlossen wäre.
Es war Zeit, das Werkzeug wegzuräumen und sich zurückzuziehen, bevor die Nachbarn erwachten und das vertraute Geräusch von Rasenmähern und Autotüren die nächtliche Stille zerriss.
Hinter ihr erhob sich majestätisch das Haus, ein Bauwerk aus vergangenen Zeiten. Die verwitterten Ziegel, die einst in warmen Rottönen geleuchtet hatten, wirkten nun wie blasse Schatten ihrer selbst. Es hatte eine Aura der Vergänglichkeit, aber auch eine stille Würde, die in jeder Ritze und in jedem knarrenden Balken steckte.
Cora betrat das Bad und wusch sich die erdigen Hände. Ihr Spiegelbild blickte ihr entgegen, grüne Augen unter langen Wimpern, ein Gesicht, das trotz der Erschöpfung Zufriedenheit ausstrahlte.
Sie wusste, dass der Garten ihr etwas gab, was das hektische Tageslicht nicht bieten konnte: Ruhe und Zeit für sich. Als sie die Fenster ihres Schlafzimmers öffnete, wehte eine kühle Brise herein, die den Duft von feuchtem Gras und taufrischen Blumen mit sich trug, wie ein leises Versprechen des Tages.
„Was für ein herrlicher Tag“, murmelte Cora, während ihr Blick über den Garten schweifte. Die Vögel draußen begannen mit ihrem zaghaftes Morgenlied, und in diesem Moment war alles in perfektem Einklang, zumindest für einen flüchtigen Augenblick.
Mit einem leichten Seufzen machte sie sich auf den Weg in den Keller, ihrem Zufluchtsort, ihrem Reich – das Fotolabor. Der Raum, kühl und still, war wie ein Paralleluniversum. Die gedämpfte Beleuchtung legte sich sanft auf die unzähligen Fotografien, die die Wände zierten.
Es waren keine bloßen Bilder, sondern eingefangene Momente voller Leben: lachende Kinder, die im Sonnenlicht tanzten, sternenklare Nächte, die viele unendliche Geschichten erzählten, und alltägliche Szenen, die in ihrer Einfachheit berührten. Jedes Bild war ein Fragment von Coras Seele, ein Zeugnis ihrer unermüdlichen Suche nach Schönheit und Bedeutung im Banalen.
Als sie vor dem Entwicklerbecken stand, war es, als halte sie den Atem an. Die Chemikalien tanzten ihre unsichtbaren Tänze, und nach und nach enthüllten sich die Bilder, als würden sie aus einer anderen Welt auftauchen. Der scharfe, metallische Geruch des Fixiermittels vermischte sich mit der kühlen Kellerluft, und das gleichmäßige Ticken der Uhr dehnte die Zeit. Doch die Harmonie wurde jedoch jäh unterbrochen, als das schrille Klingeln der Türglocke die Stille zerriss.
Cora zuckte zusammen. „Wer mag das wohl sein?“, fragte sie sich, während sie sich die Hände hastig an ihrer Schürze abwischte. Ihr Herz schlug schneller, ein unangenehmes Gefühl kroch in ihr hoch. Sie eilte die knarrende Treppe hinauf und öffnete die Tür.
Vor ihr stand Mrs. Greenberg, die von Angst und Sorgen gezeichnet waren. Ihr zerzaustes Haar und die hastig übergeworfene Strickjacke verliehen ihr das Aussehen einer verlorenen Seele. „Haben Sie in den letzten Tagen vielleicht meine Ginny gesehen?“, fragte sie mit zittriger Stimme, und die Verzweiflung in ihrem Blick schnitt tief.
Cora fühlte einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust. „Tut mir leid, Mrs. Greenberg“, antwortete sie sanft, während sie versuchte, den Schmerz der alten Frau zu mildern. „Ich habe keine Katze gesehen. Vielleicht ist sie unbemerkt an mir vorbeigeschlichen, aber ich werde die Augen offenhalten“.
Mrs. Greenberg seufzte schwer, als ob die Last der Welt auf ihren Schultern ruhte. „Ich weiß nicht, was ich ohne meine Ginny machen soll. Sie ist alles, was ich noch habe“. Ihre Stimme brach, und Cora konnte die Einsamkeit in ihren Augen sehen, eine Einsamkeit, die tiefer ging, als Worte ausdrücken konnten.
Cora erinnerte sich an die Geschichten, die man über Mrs. Greenberg erzählte: Ihr Mann war vor Jahren gestorben, und die Kinderlosigkeit hatte sie in eine Stille gehüllt, die nur ihre Katze zu durchbrechen vermochte. Jetzt, ohne Ginny, schien die Dunkelheit nun endgültig über sie und die Corridor Street hereinzubrechen.
„Das tut mir wirklich leid“, sagte Cora mit aufrichtiger Stimme. „Ich verspreche Ihnen, ich halte Ausschau nach ihr“.
„Danke“, flüsterte Mrs. Greenberg und ging langsam zurück zu ihrem Haus, ihre gebeugten Schultern wirkten noch ein wenig kleiner als zuvor. Cora blickte ihr nach, bis sie in der Ferne verschwand. „Arme Mrs. Greenberg“, murmelte sie leise, bevor sie die Tür schloss.
Zurück in der Küche ließ sie sich eine Tasse Kaffee einschenken. Der heiße Dampf stieg auf, füllte die Luft mit einem Hauch von Behaglichkeit, und für einen Moment ließ Cora sich von der Wärme einhüllen. Doch als sie in ihr Fotolabor zurückkehrte, schien die Stille plötzlich schwerer zu wiegen. Ihre Hände waren ruhig, aber ihre Gedanken wirbelten.
Plötzlich fiel ihr Blick auf ein Bild, das ihr zuvor entgangen war. Sie hielt es hoch, ihre Augen weiteten sich. Im Hintergrund des Bildes, fast versteckt, war eine schemenhafte, gespenstische Gestalt zu erkennen. Eine unheimliche Kälte breitete sich im Raum aus. Cora spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als sie das Bild genauer betrachtete und versuchte, die Bedeutung dieses Details zu entschlüsseln.
*
Das einst düstere Haus Nr. 1 in der Corridor Street war kaum wiederzuerkennen. Wo zuvor blätternde Farbe und verwitterte Fensterläden das Bild prägten, glänzte nun eine moderne, schiefergraue Fassade.
Die alten, knorrigen Eichen, deren Äste zuvor wie gespenstische Finger in den Himmel ragten, waren sorgfältig beschnitten und durch zeitgenössische Gartenanlagen ersetzt worden. Die dichten, wilden Büsche wurden durch geometrische, gepflegte Hecken und minimalistische Skulpturen ersetzt, die dem Garten ein kunstvolles und dennoch aufgeräumtes Aussehen verliehen
Große Fenster öffneten das Haus nach außen, ließen Licht herein und verwandelten die früher düstere Atmosphäre in ein helles, offenes Raumkonzept. Die klaren, modernen Linien hatten die alte, verschnörkelte Architektur abgelöst, und Solarpaneele auf dem Dach betonten den nachhaltigen, zukunftsorientierten Charakter des Gebäudes.
Im Inneren setzte sich der Wandel fort: Polierter Beton ersetzte die knarrenden Dielen, und neutrale Wände bildeten die perfekte Leinwand für moderne Kunstwerke.
Der Eingangsbereich war nun von einem stilvollen Glasvorbau geschmückt, der die Räume vom Garten abtrennte und gleichzeitig einen großzügigen Blick auf die neu gestaltete Landschaft ermöglichte.
Die alte, schwerfällige Eingangstür wurde durch eine elegante, schlanke Tür aus Glas und Edelstahl ersetzt, die mit modernen Schlüssel- und Sicherheitssystemen ausgestattet war. Im Inneren des Hauses setzten sich die modernen Umgestaltungen fort.
Die Küche mit Quarzarbeitsplatten und mattschwarzen Schränken war eine Mischung aus Funktionalität und stilvoller Eleganz. Das Wohnzimmer bot mit minimalistischen Möbeln und einem schlichten schwarzen Kamin eine gemütliche und moderne Atmosphäre.
Insgesamt hatte das Haus seine geheimnisvolle Aura der Vergangenheit gegen einen eleganten Stil eingetauscht, der zeitgemäß war. Aus dem alten Gebäude, das wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten wirkte, war ein modernes Meisterwerk geworden, das die Vergangenheit in neuem Licht erstrahlen ließ.
Doch trotz der umfassenden Renovierungen und der modernen Ausstrahlung trug das Haus immer noch ein Geheimnis in sich, das darauf wartete, entdeckt zu werden.
Die Familie Gray bestehend aus Eloise, Enzo und ihr Sohn Gael, hatte das alte Haus vor einigen Monaten geerbt, aber der Ort war ihnen immer noch fremd. Das Erbe war unerwartet gekommen, fast wie ein Schatten aus der Vergangenheit, und das Haus selbst war voller Geheimnisse.
Eloise Gray, eine Frau Anfang vierzig, stand am Fenster und ließ ihren scharfen Blick über den einst verwilderten Garten schweifen. Ihr kurzes blondes Haar war akkurat geschnitten, doch in ihrer Haltung lag eine gewisse Unruhe, als warte sie innerlich auf etwas. Sie wirkte stets beherrscht, fast kühl, aber ihre elegante Kleidung und der schwarze Mantel, den sie oft trug, wirkten wie eine Maske, die eine tiefere Unsicherheit verbarg.
Enzo Gray hingegen strahlte eine ganz andere Energie aus. Der große, kräftige Mann mit dem gemütlichen Bart wirkte auf den ersten Blick wie der ruhende Pol der Familie, aber auch in ihm steckte eine subtile Anspannung, die er durch seine ständige Geschäftigkeit zu verbergen suchte.
Er stand im Wohnzimmer und räumte dabei gedankenverloren auf, seine Hände zitterten leicht. Die Atmosphäre des Hauses schien auch auf ihn zu wirken, so sehr er es auch leugnen wollte.
Dann war da Gael, der fünfjährige Sohn, der sich oft still in den Hintergrund zurückzog. Mit seinen melancholischen, tiefen Augen und der ständigen Dunkelheit unter ihnen wirkte er weitaus älter, als er war. Gael sprach wenig, und wenn er es tat, schwang in seiner Stimme eine Nachdenklichkeit mit, die für sein Alter ungewöhnlich war.
Sein leicht zerzaustes Haar und die schlichte Kleidung verstärkten den Eindruck eines Kindes, das in einer eigenen Welt lebte – einer Welt, die ihn mehr zu beschäftigen schien als die Realität um ihn herum.
An diesem Nachmittag hatten die Grays Besuch. Samantha und Weston Kaczmarek, ein Paar, das ebenso mysteriös wie das Haus selbst wirkte. Samantha, mit ihren scharfen Gesichtszügen und dem silbernen Schmuck, der im schwachen Licht des Raumes funkelte, hatte eine neugierige, beinahe boshaft funkelnde Aura.
Ihre Augen wanderten wachsam durch den Raum, als ob sie versuchte, jedes Detail des alten Hauses in sich aufzusaugen, als könnte es ihr ein Geheimnis verraten. Sie schien von der Geschichte des Hauses fasziniert, aber da war auch etwas Dunkleres in ihrem Blick, ein Verlangen, mehr zu erfahren, als vielleicht gut für sie war.
Weston, groß und schlank, stand stets in ihrer Nähe. Sein analytischer Blick erfasste alles in der Umgebung, als würde er jede Bewegung, jedes Flüstern im Raum in seinem Gedächtnis festhalten. Der Kontrast zwischen seinem maßgeschneiderten Anzug und den weißen Turnschuhen verstärkte die Ambivalenz seiner Persönlichkeit, er war sowohl penibel als auch unkonventionell, ein Mann, der das Spiel der Wahrnehmung beherrschte.
Im großen Wohnzimmer des Hauses, dessen Wände von prächtigen Porträts gesäumt waren, saß die Familie Gray fast verloren zwischen den imposanten, antiken Möbeln. Das Licht, das durch die hohen Fenster strömte, fiel sanft in den Raum und ließ die Bilder in warmem Glanz erstrahlen.
Doch selbst die goldenen Sonnenstrahlen konnten die dichte, unausgesprochene Spannung im Raum nicht auflösen. Die Ruhe war trügerisch, als ob hinter den eleganten Fassaden der Möbel und Gemälde ein unausweichliches Geheimnis lauerte.