Cottage gesucht, Held gefunden - Susan Elizabeth Phillips - E-Book
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Cottage gesucht, Held gefunden E-Book

Susan Elizabeth Phillips

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Beschreibung

Peregrine Island vor der Küste von Maine. Annie Hewitt war sich sicher, nie wieder zurückzukehren. Und nun ist sie doch da – pleite, mut- und heimatlos, aber noch nicht bereit aufzugeben. Denn hier, auf dieser Insel, soll im Moonraker Cottage, dem Sommersitz ihrer Familie, der Nachlass ihrer Mutter versteckt sein. Annies Plan: ihr Erbe suchen, möglichst wenig auffallen und möglichst schnell wieder abreisen. Vor allem will sie unbedingt ein Aufeinandertreffen mit Theo Harp vermeiden. Er war ihre große Liebe. Doch jetzt ist er der Mann, den sie am meisten fürchtet. Und natürlich ist Theo der Erste, dem sie in die Arme läuft …

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Buch

Peregrine Island vor der Küste von Maine. Annie Hewitt, Schauspielerin und Puppenspielerin, war sich sicher, nie wieder hierher zurückzukehren. Die letzten Monate hat sie ihre kranke Mutter gepflegt und dadurch ihre letzten Ersparnisse verbraucht. Deshalb ist sie nun doch auf die Insel zurückgekehrt, zwar pleite und mutlos, aber doch hoffnungsvoll und noch nicht bereit aufzugeben. Denn hier soll der Nachlass ihrer Mutter versteckt sein – im Moonraker Cottage, dem Sommersitz ihrer Familie, das sich auf dem Grund von Harp House, einem großen alten Herrenhaus, befindet. Annies Plan: ihr Erbe suchen, möglichst wenig auffallen und möglichst schnell wieder abreisen. Doch es gibt ein Problem: In Harp House lebt Annies größte Schwäche, Theo Harp. Er war ihre erste Liebe, doch nun ist er der Mann, den sie am meisten fürchtet. Und natürlich ist Theo der Erste, dem sie in die Arme läuft …

Autorin

Susan Elizabeth Phillips ist eine der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Romane erobern jedes Mal auf Anhieb die Bestsellerlisten in Deutschland, England und den USA. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in der Nähe von Chicago.

Buch

Peregrine Island vor der Küste von Maine. Annie Hewitt, Schauspielerin und Puppenspielerin, war sich sicher, nie wieder hierher zurückzukehren. Die letzten Monate hat sie ihre kranke Mutter gepflegt und dadurch ihre letzten Ersparnisse verbraucht. Deshalb ist sie nun doch auf die Insel zurückgekehrt, zwar pleite und mutlos, aber doch hoffnungsvoll und noch nicht bereit aufzugeben. Denn hier soll der Nachlass ihrer Mutter versteckt sein – im Moonraker Cottage, dem Sommersitz ihrer Familie, das sich auf dem Grund von Harp House, einem großen alten Herrenhaus, befindet. Annies Plan: ihr Erbe suchen, möglichst wenig auffallen und möglichst schnell wieder abreisen. Doch es gibt ein Problem: In Harp House lebt Annies größte Schwäche, Theo Harp. Er war ihre erste Liebe, doch nun ist er der Mann, den sie am meisten fürchtet. Und natürlich ist Theo der Erste, dem sie in die Arme läuft …

Autorin

Susan Elizabeth Phillips ist eine der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Romane erobern jedes Mal auf Anhieb die Bestsellerlisten in Deutschland, England und den USA. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in der Nähe von Chicago.

Von Susan Elizabeth Phillips bei Blanvalet lieferbar:

Bleib nicht zum Frühstück (35029) · Küss mich, Engel (35066) · Träum weiter, Liebling (35105) · Kopfüber in die Kissen (35298) · Verliebt, verrückt, verheiratet (35339) · Wer will schon einen Traummann? (35394) · Ausgerechnet den? (35526) · Der und kein anderer (38358) · Dinner für drei (35670) · Vorsicht, frisch verliebt (35829) · Frühstück im Bett (38149) · Komm, und küss mich (38263) · Die Herzensbrecherin (36290) · Küss mich, wenn du kannst (36299) · Dieser Mann macht mich verrückt (36300) · Mitternachtsspitzen (36605) · Kein Mann für eine Nacht (36981) · Aus Versehen verliebt (36912) · Der schönste Fehler meines Lebens (36913) · Wer Ja sagt, muss sich wirklich trauen (38105)

Susan Elizabeth Phillips

Cottage gesucht, Held gefunden

Roman

Aus dem Amerikanischen von Claudia Geng

Die Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel »Heroes Are My Weakness« bei William Morrow, An Imprint of HarperCollinsPublishers, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe Mai 2015 bei Blanvalet Verlag,

einem Unternehmen der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2014 by Susan Elizabeth Phillips

Copyright © 2015 für die deutsche Ausgabe

by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe, München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: Getty Images/daitoZen; Getty Images/Tonic Photo Studios, LLC; www.buerosued.de

Redaktion: Margit von Cossart

LH ∙ Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH; Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15043-3V003

www.blanvalet.de

Kapitel 1

Annie redete normalerweise nicht mit ihrem Gepäck, aber sie war in letzter Zeit nicht ganz sie selbst. Das Fernlicht ihrer Autoscheinwerfer vermochte das chaotische Schneetreiben kaum zu durchdringen, die Scheibenwischer ihres uralten Kia waren dem Zorn des Sturms, der die Insel gerade überfiel, nicht gewachsen.

»Das ist nur ein bisschen Schnee«, erklärte sie dem übergroßen roten Koffer, der auf den Beifahrersitz gepfercht war. »Nur weil es sich wie das Ende der Welt anfühlt, heißt das nicht, dass es das auch ist.«

Du weißt, ich hasse die Kälte, antwortete Crumpet, die verwöhnte kleine Prinzessin, in ihrem Koffer. Sie sprach in dem nervtötenden Quengelton eines Kindes, das seinen Standpunkt gern verdeutlichte, indem es mit dem Fuß aufstampfte. Wie konntest du mich an diesen schrecklichen Ort bringen?

Weil mir die Alternativen ausgegangen sind …

Ein heftiger Windstoß brachte Annies Wagen zum Schaukeln, die Äste der hohen alten Tannen, die die ungepflasterte Straße säumten, wurden erbarmungslos hin und her gepeitscht. Jeder, der glaubte, die Hölle sei ein Glutofen, musste total im Irrtum sein. Die Hölle war diese trostlose, unwirtliche Insel im eiskalten Winter.

Hast du noch nie was von Miami Beach gehört?, nörgelte Crumpet weiter. Warum verschleppst du uns auf eine verlassene Insel mitten im Nordatlantik, wo wir wahrscheinlich von Polarbären gefressen werden!

Das Getriebe knirschte, während der Kia sich auf der schmalen, rutschigen Inselstraße vorankämpfte. Annie hatte Kopfschmerzen, ihre Rippen taten weh vom Husten, und die simple Anstrengung, einen langen Hals zu machen, um durch eine nicht beschlagene Lücke in der Windschutzscheibe hinausspähen zu können, machte sie schwindlig. Sie war ganz allein auf der Welt, ihr blieben lediglich die imaginären Stimmen ihrer Puppen, die sie in der Realität verankerten. Selbst in ihrem angeschlagenen Zustand entging Annie nicht die Ironie.

Sie beschwor die besänftigendere Stimme von Crumpets Gegenpart herauf, der praktisch denkenden, vernünftigen Dilly, die in dem kleineren roten Koffer auf dem Rücksitz verstaut war. Wir sind hier nicht mitten im Nordatlantik, sagte Dilly. Wir sind auf einer Insel, die zehn Meilen vor der Küste Neuenglands liegt, und nach allem, was ich gehört habe, gibt es in Maine keine Polarbären. Außerdem ist Peregrine Island nicht verlassen.

Die Prinzessin stieß einen verächtlichen Laut aus. Man könnte es aber meinen. Wäre Crumpet auf Annies Hand gewesen, hätte sie ihre kleine Nase hoch in die Luft gereckt. Die Leute können schon im Hochsommer hier kaum überleben, geschweige denn im Winter. Ich wette, die essen ihre Toten, um nicht zu verhungern.

Der Wagen geriet leicht ins Schleudern. Annie steuerte dagegen und umklammerte das Lenkrad fester. Die Heizung funktionierte nicht richtig, sie schwitzte dennoch.

Crumpet, hör auf mit der Nörgelei, mahnte Dilly ihren mürrischen Gegenpart. Peregrine Island ist im Sommer ein beliebtes Urlaubsziel.

Aber es ist nicht Sommer!, konterte Crumpet. Es ist der erste Februar, wir kommen gerade von einer Autofähre, die mich seekrank gemacht hat, und außerdem können es nicht mehr als fünfzig Menschen sein, die hier leben. Fünfzig dumme Menschen!

Du weißt genau, Annie hatte keine andere Wahl, als hierherzukommen, sagte Dilly.

Weil sie eine totale Versagerin ist, höhnte eine unfreundliche männliche Stimme.

Leo hatte die schlechte Angewohnheit, Annies tiefste Ängste auszusprechen, und es war unvermeidlich, dass er in ihre Gedanken eindrang. Leo war ihre ungeliebteste Puppe, doch jede Geschichte brauchte einen Bösewicht.

Sehr unhöflich, Leo, sagte Dilly. Selbst wenn es wahr ist.

Die bockige Crumpet fuhr fort, sich zu beschweren. Du bist die Heldin, Dilly, für dich geht es immer gut aus. Für den Rest von uns leider nicht. Nie. Wir sind verdammt! Verdammt, sage ich! Wir sind für immer…

Die Theatralik der Puppe wurde von Annies Husten unterbrochen. Ihr Körper würde sich früher oder später von den hartnäckigen Folgen der Lungenentzündung erholen, zumindest hoffte Annie das, aber was war mit ihrer Seele? Sie hatte den Glauben an sich selbst verloren, das Gefühl, dass ihre beste Zeit noch vor ihr lag – kein Wunder mit dreiunddreißig Jahren. Sie war körperlich geschwächt, emotional leer und mehr als nur ein bisschen verstört, nicht gerade die beste Verfassung für jemanden, der gezwungen war, die nächsten zwei Monate auf einer abgelegenen Insel in Maine zu verbringen.

Es sind nur sechzig Tage, Annie, versuchte Dilly zu beschwichtigen. Außerdem hast du keinen anderen Ort, an den du gehen kannst.

Und da war sie. Die hässliche Wahrheit. Annie hatte keinen anderen Ort. Hatte nichts anderes zu tun, als nach dem Vermächtnis zu suchen, das ihre Mutter Mariah ihr hinterlassen hatte oder vielleicht auch nicht.

Der Kia erwischte eine schneegefüllte Spurrille, und Annies Sicherheitsgurt blockierte. Der Druck auf ihren Brustkorb brachte sie wieder zum Husten. Könnte sie doch nur im Dorf übernachten, doch der Inselgasthof war bis Mai geschlossen. Egal, sie konnte sich eine Übernachtung sowieso nicht leisten.

Der Wagen kam kaum den Hügel hoch, den sie überwinden musste, um ihr Ziel zu erreichen. Annie hatte jahrelange Praxis darin, ihre Puppen bei jedem Wetter quer durch das ganze Land zu transportieren, eine Straße wie diese würde allerdings selbst ein wintererprobter Autofahrer nur eingeschränkt meistern können, besonders mit ihrem Kia. Es hatte seinen Grund, warum die Bewohner von Peregrine Island alle Pick-ups fuhren.

Lass es langsam angehen, riet eine andere männliche Stimme aus dem Koffer auf dem Rücksitz. Langsam und stetig führt sicher ans Ziel. Peter, ihre Heldenpuppe – ihr Ritter ohne Furcht und Tadel – fand stets aufmunternde Worte, anders als ihr letzter Lover, ein Schauspieler, der immer nur sich selbst aufmunterte.

Auf der Hügelkuppe brachte Annie den Wagen kurz zum Stehen, bevor sie langsam die Abfahrt begann. Und auf halbem Weg nach unten geschah es.

Die Erscheinung kam wie aus dem Nichts. Sie flog am Fuß des Hügels auf einem Pferd mit wehender Mähne über die Straße. Annie hatte schon immer eine lebhafte Fantasie besessen – man brauchte nur die inneren Gespräche mit ihren Puppen als Beispiel zu nehmen – und dachte zuerst, sie würde ihr wieder einmal einen Streich spielen. Aber die Vision war real. Es waren Teufelskreaturen: ein schwarz gekleideter Wahnsinniger mit einem glänzenden Rappen wie aus einem Albtraum, der gegen die tosende Naturgewalt angaloppierte.

Ross und Reiter verschwanden so rasch, wie sie aufgetaucht waren, Annie trat dennoch unwillkürlich auf die Bremse, und der Wagen geriet ins Schleudern. Er schlitterte quer über die Straße und kam mit einem unangenehmen Ruck in dem verschneiten Seitengraben zum Stehen.

Du bist so eine Loserin, höhnte Leo der Bösewicht.

Tränen der Erschöpfung traten Annie in die Augen. Ihre Hände zitterten. Waren der Mann und das Pferd wirklich real gewesen, oder hatte sie sich das nur eingebildet? Sie musste sich konzentrieren. Vorsichtig legte sie den Rückwärtsgang ein und versuchte, den Wagen aus dem Graben zu manövrieren, doch die Reifen bohrten sich nur tiefer in den Schnee. Annies Kopf sackte gegen die Kopfstütze. Wenn sie lange genug ausharrte, würde irgendwer sie schließlich hier finden. Aber wann? Nur das Cottage und Harp House, das große Haus auf der Klippe, lagen am Ende dieser Straße.

Sie dachte angestrengt nach. Ihre einzige Kontaktperson auf der Insel war Will Shaw, der sich um das Haus und das Cottage kümmerte, aber sie hatte von ihm nur eine E-Mail-Adresse, über die sie ihn mit der Bitte, den Generator und den kleinen Heizkessel im Cottage einzuschalten, über ihre Ankunft verständigt hatte. Selbst wenn sie die Telefonnummer des Mannes gehabt hätte, wäre das nicht hilfreich gewesen, denn sie bezweifelte, dass sie hier draußen ein Funksignal empfangen konnte.

Loserin. Leo redete nie in einem normalen Ton. Er konnte nur höhnen.

Annie zog ein Taschentuch aus einer zerknitterten Packung, und statt über ihr Dilemma nachzudenken, dachte sie wieder an das Pferd und den Reiter. Was für ein Verrückter ritt bei diesem Wetter aus? Sie kniff die Augen zu und kämpfte gegen einen Anflug von Übelkeit an. Wenn sie sich doch nur zusammenrollen und schlafen könnte. Wäre es denn so schlimm, sich einzugestehen, dass das Leben sie untergekriegt hatte?

Hör sofort damit auf, sagte die vernünftige Dilly.

Annies Kopf hämmerte. Sie musste Shaw bitten, ihren Wagen aus dem Graben zu ziehen.

Vergiss Shaw, verkündete Peter der Held. Ich kümmere mich darum.

Aber Peter war – genau wie Annies Exfreund – nur gut darin, fiktive Krisensituationen zu bewältigen.

Bis zum Cottage war es noch ungefähr eine Meile. Kein Problem für eine gesunde Person bei anständigem Wetter. Das Wetter war jedoch furchtbar, und an Annie war nichts gesund.

Gib auf, höhnte Leo. Du weißt, dass du nicht mehr kannst.

Leo, hör auf, so ein Arsch zu sein. Diese Stimme kam von Scamp, Dillys bester Freundin und Annies Alter Ego.

Obwohl Scamp für viele Meinungsverschiedenheiten zwischen den Puppen verantwortlich war – Meinungsverschiedenheiten, die Dilly und Peter klären mussten –, liebte Annie Scamps Mut und ihr großes Herz.

Reiß dich zusammen, befahl Scamp. Steig aus dem Wagen.

Annie hätte am liebsten erwidert, sie solle zur Hölle fahren, aber was machte das für einen Sinn? Sie stopfte ihre schwer zu bändigenden Haare in den Kragen ihrer Steppjacke und zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch. Ihre Strickhandschuhe hatten am Daumen ein Loch, und der Türgriff fühlte sich an der entblößten Hautstelle eiskalt an. Annie zwang sich, die Tür aufzustoßen.

Die Kälte, die ihr gleich ins Gesicht schlug, raubte ihr den Atem. Sie musste ihre Beine mit Gewalt aus dem Wagen hieven. Ihre ausgetretenen braunen Stadtstiefel aus Wildleder versanken im Schnee, und auch ihre Jeans war für dieses Wetter nicht geeignet. Annie zog den Kopf ein vor dem Wind und bahnte sich einen Weg zum Kofferraum, in dem ihr schwerer Daunenmantel lag, nur um festzustellen, dass sich das Heck ihres Wagens so fest in dem Hang verkeilt hatte, dass der Kofferraum sich nicht öffnen ließ. Warum sollte sie das überraschen? Es war so lange nichts mehr nach ihren Vorstellungen gelaufen, dass sie ganz vergessen hatte, wie es sich anfühlte, Glück zu haben.

Sie stapfte wieder vor zur Fahrertür. Ihre Puppen dürften über Nacht in dem Wagen sicher sein, aber was, wenn nicht? Annie brauchte sie. Sie waren alles, was sie noch hatte, und wenn sie die Puppen verlor, blieb nichts von ihr übrig.

Erbärmlich, höhnte Leo.

Annie hatte das Bedürfnis, ihn in Stücke zu reißen.

Babe… Du brauchst mich mehr als ich dich, erinnerte er sie. Ohne mich hast du keine Show.

Sie stellte ihn kalt. Dann hievte sie schwer keuchend die beiden Koffer aus dem Wagen, zog den Autoschlüssel ab, schaltete die Scheinwerfer aus und schlug die Tür zu.

Augenblicklich tauchte sie in dichte, wirbelnde Schwärze ein. Panik machte sich in ihrer Brust breit.

Ich werde dich retten!, verkündete Peter.

Annie umklammerte die Koffergriffe fester und versuchte, sich nicht von ihrer Panik lähmen zu lassen.

Ich kann nichts sehen!, jammerte Crumpet. Ich hasse die Dunkelheit!

Annie hatte keine praktische Taschenlampen-App auf ihrem uralten Handy, doch dafür hatte sie … Sie setzte einen Koffer im Schnee ab und kramte in ihrer Jackentasche nach ihrem Schlüsselbund, an dessen Ring eine kleine LED-Lampe hing. Sie hatte sie seit Monaten nicht benutzt, und sie wusste nicht, ob sie noch funktionierte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Lampe anknipste.

Ein neonblauer Lichtstrahl schnitt einen kleinen Pfad durch den Schnee, so schmal, dass man leicht von der Straße abkommen konnte.

Reiß dich zusammen, befahl Scamp wieder.

Gib auf, höhnte Leo.

Annie machte die ersten Schritte in den Schnee hinein. Der Wind pfiff durch ihre zu dünne Jacke und zerrte an ihren Haaren, peitschte ihr die Locken ins Gesicht. Schneeflocken klatschten ihr in den Nacken, und sie fing an zu husten. Ihre Lunge zog sich schmerzhaft zusammen. Viel zu früh musste sie ihr Gepäck absetzen, um ihren Armen eine Pause zu gönnen.

Im Bemühen, sich so gut es ging vor der eiskalten Luft zu schützen, kauerte Annie sich tief in ihre Jacke. Ihre Finger brannten vor Kälte, sie hatte noch niemals so sehr gefroren. Als sie sich wieder in Bewegung setzte, wandte sie sich erneut an die imaginären Stimmen ihrer Puppen, um wenigstens ein bisschen Gesellschaft zu haben.

Crumpet: Wenn du mich fallen lässt und mein lavendelblaues Glitzerkleid ruinierst, werde ich dich verklagen.

Peter: Ich bin der Tapferste! Ich bin der Stärkste! Ich werde dir helfen!

Leo (höhnisch): Kannst du überhaupt irgendwas richtig machen?

Dilly: Hör nicht auf Leo. Geh einfach weiter. Wir werden schon ankommen.

Und Scamp, ihr nutzloses Alter Ego: Kommt eine Frau mit einem Koffer in eine Bar…

Eiskalte Tränen stiegen Annie in die Augen, und sie sah nur noch verschwommen. Der Wind zerrte an den beiden Koffern, drohte, sie fortzureißen. Dumm von ihr, dass sie sie mitgenommen hatte. Dumm, dumm, dumm. Aber sie konnte ihre Puppen nicht zurücklassen.

Jeder Schritt fühlte sich an wie eine Meile. Dabei hatte sie schon gedacht, dass ihr Glück sich zum Besseren wendete, nachdem sie es geschafft hatte, die Fähre zu erwischen, die im Winter nur alle paar Wochen verkehrte. Doch je weiter sich das Schiff von der Küste entfernt hatte, desto schlimmer war der Sturm geworden.

Annie stapfte durch den Schnee, setzte mühsam einen Fuß vor den anderen, versuchte, ruhig zu atmen, um nicht gleich dem nächsten Hustenanfall zu unterliegen. Warum hatte sie ihren warmen Daunenmantel nicht auf die Rückbank gelegt statt in den Kofferraum? Warum hatte sie so viele Dinge versäumt? Zum Beispiel eine dauerhafte Beschäftigung zu finden. Vorsichtiger mit dem Geld umzugehen. Mit anständigen Männern auszugehen.

Es war so viel Zeit verstrichen seit ihrem letzten Besuch auf der Insel. Früher endete die Straße an einer Abzweigung, die links zum Cottage und rechts zum Klippenhaus führte. Aber was, wenn sie die Abzweigung verpasste? Wer wusste schon, was sich in all den Jahren verändert hatte?

Annie stolperte und fiel auf die Knie. Der Schlüsselbund glitt ihr aus der Hand, und das Licht ging aus. Sie stützte sich auf einen der Koffer, steif vor Kälte, rang nach Luft und tastete verzweifelt im Schnee herum. Wenn sie ihre Taschenlampe nicht fand …

Ihre Finger waren so taub, dass sie sie kaum noch bewegen konnte. Als sie die Lampe schließlich wieder in der Hand hielt, schaltete sie erleichtert das Licht an und sah vor sich die Baumgruppe, die immer das Ende der Straße markiert hatte. Sie schwenkte den Lichtstrahl nach rechts, wo er auf den großen Granitfelsen an der Abzweigung fiel. Annie stemmte sich vom Boden hoch, nahm die Koffer und stolperte weiter durch das Schneegestöber.

Ihre Erleichterung darüber, dass sie die Abzweigung gefunden hatte, schwand wieder. Das raue Klima in Maine hatte diesen Landstrich über Jahrhunderte hinweg kahl gefegt, abgesehen von ein paar besonders widerstandsfähigen Fichten. Ohne einen Windschutz war es kaum möglich, sich auf den Beinen zu halten. Annie gelang es nur mit größter Mühe, sich die Koffer nicht aus den Händen reißen zu lassen. Mühsam schleppte sie sich Schritt für Schritt durch die hohen Schneeverwehungen, gegen das Bedürfnis ankämpfend, sich einfach fallen zu lassen und sich der Kälte auszuliefern.

Sie war so damit beschäftigt, der Sturmgewalt zu trotzen, dass sie beinahe an ihrem Ziel vorbeigestapft wäre. Erst als sie mit einem ihrer Koffer an eine zugeschneite Steinmauer stieß, erkannte Annie, dass sie Moonraker Cottage erreicht hatte. Das kleine Haus mit der grauen Schindelfassade war völlig zugeschneit. Kein freigeschaufelter Weg, keine Willkommenslichter. Bei Annies letztem Besuch war die Vordertür scharlachrot gewesen, inzwischen hatte man ihr einen kühlen lavendelblauen Anstrich verpasst. Unter dem Erkerfenster standen zwei alte Hummerfallen aus Holz, ein Hinweis auf den Ursprung des Cottage – es war eine ehemalige Fischerhütte. Annie bahnte sich einen Weg durch den tiefen Schnee zur Tür und setzte ihre Koffer ab. Sie stocherte mit ihrem Schlüssel in dem Türschloss herum, bis ihr einfiel, dass die Inselbewohner selten ihre Häuser abschlossen.

Die Tür flog mit dem Wind auf. Annie schleifte die Koffer hinein und drückte mit letzter Kraft die Tür von innen zu. Mit pfeifender Lunge ließ sie sich auf den nächsten Koffer sinken und rang nach Luft.

Schließlich wurde ihr der Modergeruch in dem eiskalten Raum bewusst. Sie presste die Nase in ihren Jackenärmel und tastete nach dem Lichtschalter. Nichts passierte, als sie ihn umlegte. Entweder war ihre E-Mail nicht angekommen, oder Shaw hatte sie einfach ignoriert.

Annies steif gefrorene Glieder pochten. Sie ließ ihre eisverkrusteten Handschuhe auf den kleinen Läufer aus grobem Leinen fallen, der direkt hinter der Tür lag, hielt sich aber nicht damit auf, den Schnee aus ihren sturmzerzausten Haaren zu schütteln. Ihre Jeans war an ihren Beinen festgefroren, um sie auszuziehen, musste sie ihre Stiefel abstreifen, und dafür war ihr zu kalt. Zudem musste sie, wie erbärmlich sie sich auch fühlen mochte, zuerst ihre Puppen aus den verschneiten Koffern holen.

Annie entdeckte eine Taschenlampe, die ihre Mutter immer in der Nähe der Tür aufbewahrt hatte, und knipste sie an. Bevor die Mittel für die Schulen und Büchereien drastisch gekürzt worden waren, hatten die Puppen ihr ein regelmäßiges Einkommen als Bauchrednerin verschafft, was ihr darüber hinweghalf, dass ihre Schauspielkarriere gescheitert war. Die Teilzeitjobs als Hundesitterin und Kellnerin waren nicht besonders lukrativ gewesen.

Zitternd vor Kälte, verfluchte sie Shaw, der offenbar keine Skrupel hatte, ein Pferd durch das Unwetter zu treiben, aber sich die Mühe sparte, seinen eigentlichen Job zu machen. Der schwarze Reiter musste Shaw gewesen sein. Niemand sonst lebte im Winter an diesem Ende der Insel. Annie öffnete die Reißverschlüsse beider Koffer und nahm ihre fünf Puppen heraus. Sie ließ sie in ihren Schutzhüllen und drapierte sie vorläufig auf der pinkfarbenen viktorianischen Samtcouch im Wohnzimmer, bevor sie dann, die Taschenlampe in der Hand, durch das Haus wanderte.

Die Einrichtung des Cottage entsprach in keiner Weise den gängigen Vorstellungen von einer traditionellen Fischerhütte in Neuengland. Mariah hatte überall ihren exzentrischen Stempel hinterlassen – angefangen von einer gruseligen Schüssel, die mit kleinen Vogelschädeln gefüllt war, bis hin zu einer versilberten Louis-XIV.-Kommode, die sie mit schwarzen Graffitibuchstaben besprüht hatte. Annie selbst bevorzugte ein gemütlicheres Ambiente, aber in Mariahs Glanzzeit, als sie Modedesigner und eine ganze Generation junger Künstler inspiriert hatte, waren das Cottage wie auch ihre Wohnung in Manhattan von exklusiven Einrichtungszeitschriften porträtiert worden.

Diese glorreichen Zeiten lagen schon viele Jahre zurück. Mariah war in Manhattans zunehmend jüngeren Künstlerkreisen in Ungnade gefallen. Die New Yorker Upperclass hatte schließlich begonnen, sich bei anderen Rat für die Zusammenstellung ihrer privaten Kunstsammlungen zu holen, und Annies Mutter war gezwungen gewesen, ihre Wertsachen nach und nach zu verscherbeln, um ihren Lebensstil beibehalten zu können. Als sie krank geworden war, war bereits alles verkauft. Alles bis auf etwas, das sich in diesem Cottage befinden sollte: das mysteriöse »Vermächtnis« für ihre Tochter.

Es ist im Cottage. Damit wirst du … ausgesorgt haben, hatte Mariah Annie in den letzten Stunden vor ihrem Tod, als sie kaum noch bei klarem Verstand gewesen war, zugeraunt.

Es gibt kein Vermächtnis, höhnte Leo. Deine Mutter hatte einen starken Hang zum Übertreiben.

Hätte Annie mehr Zeit auf der Insel verbracht, würde sie wahrscheinlich wissen, ob Mariah die Wahrheit gesagt hatte, aber sie verabscheute diesen Ort. Sie hatte ihn seit ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag nicht mehr besucht. Das war jetzt elf Jahre her.

Sie leuchtete mit der Taschenlampe in das Schlafzimmer ihrer Mutter. Ein aufwendig geschnitztes italienisches Kopfbrett zierte das riesige Doppelbett. Zwei Wandteppiche aus Wolle und Teilen, die wie Restposten aus einem Baumarkt aussahen, hingen neben dem Wandschrank. Der Schrank selbst roch immer noch nach dem unverwechselbaren Duft ihrer Mutter, einem wenig bekannten japanischen Herrenparfüm, dessen Import ein Vermögen gekostet hatte. Annie atmete den Duft ein und wünschte sich, sie würde die Trauer einer Tochter empfinden, die nur fünf Wochen zuvor einen Elternteil verloren hatte, doch sie fühlte sich lediglich erschöpft.

Erst als sie Mariahs alten scharlachroten Wollumhang und ein Paar dicke Socken entdeckte, zog Annie ihre nasse Kleidung aus. Dann packte sie jede Decke, die sie finden konnte, auf das Bett ihrer Mutter, kletterte zwischen die klammen Laken, knipste die Taschenlampe aus und versuchte, in den Schlaf zu finden.

Annie hätte nicht gedacht, dass ihr jemals wieder warm werden würde, aber tatsächlich war sie schweißgebadet, als sie gegen zwei Uhr morgens von einem Hustenanfall wach wurde. Ihre Rippen fühlten sich an, als wären sie gequetscht worden, ihr Kopf hämmerte, und ihr Hals war wund. Zudem musste sie auf die Toilette, und das in einem Cottage, in dem das Wasser abgestellt war. Als der Hustenkrampf schließlich nachließ, strampelte sie sich unter den Decken hervor. Sie wickelte sich in den Umhang, schaltete die Taschenlampe ein und machte sich auf den Weg ins Bad.

Sie richtete die Taschenlampe weit weg von dem Spiegel, der über dem altmodischen Waschbecken hing. Sie wusste, was sie darin sehen würde: ein blasses, schmales Gesicht, von Krankheit gezeichnet, mit einem sehr spitzen Kinn und großen haselnussbraunen Augen, umrahmt von einer unkontrollierbaren Mähne aus hellbraunem Haar, das sich lockte, wie es wollte. Kinder mochten Annies Gesicht, die meisten Männer fanden es jedoch eher skurril als verführerisch. Annie hatte ihre Gesichtszüge und ihr Haar von ihrem Vater geerbt.

Ein verheirateter Mann sei er gewesen, hatte Mariah immer wieder geschimpft. Er habe nichts mit ihr zu tun haben wollen. Gott sei Dank sei er mittlerweile tot … Die Worte ihrer Mutter schossen ihr wieder durch den Kopf. Das war nicht die einzige Nettigkeit, die sie ihrer Tochter um die Ohren gehauen hatte.Um eine erfolgreiche Schauspielerin zu sein, muss man entweder eine außergewöhnliche Schönheit besitzen oder ein außergewöhnliches Talent, hatte Mariah eines Tages am Telefon gesagt. Du bist einigermaßen hübsch, Antoinette, und du bist eine sehr gute Stimmenimitatorin, aber wir müssen realistisch sein …

Deine Mutter war nicht gerade dein Cheerleader. Dilly stellte das Offensichtliche fest.

Ich werde dein Cheerleader sein, verkündete Peter. Ich werde mich um dich kümmern und dich immer lieben.

Peters heroische Erklärungen brachten Annie normalerweise zum Lächeln, im Moment konnte sie allerdings nur an die emotionale Kluft zwischen den Männern, denen sie ihr Herz geschenkt hatte, und ihren geliebten fiktiven Helden denken. Und an die andere Kluft – die zwischen dem Leben, das sie sich erträumt hatte, und dem, das sie tatsächlich führte.

Trotz der Einwände Mariahs hatte Annie Schauspiel und Theater studiert und sich danach zehn Jahre lang durch Vorsprechproben geplagt. Sie hatte Moderationen gemacht, Laientheater gespielt und sogar ein paar wenige Charakterrollen an kleinen New Yorker Bühnen ergattert. Zu wenige. Im Laufe des letzten Sommers hatte sie schließlich eingesehen, dass Mariah recht hatte. Sie war definitiv eine bessere Bauchrednerin als Schauspielerin. Was sie allerdings kein Stück weiterbrachte.

Annie entdeckte eine Flasche Wasser mit Ginsengaroma, die irgendwie vom Frost verschont geblieben war. Doch selbst das Schlucken tat ihr weh. Sie nahm die Flasche und machte sich auf den Weg in das Wohnzimmer.

Mariah war im vergangenen Sommer das letzte Mal auf der Insel gewesen, kurz bevor der Krebs diagnostiziert wurde, aber es war trotzdem relativ sauber. Shaw hatte offenbar zumindest einen Teil seiner Aufgaben erledigt. Ihr Blick fiel auf ihre Puppen. Die Puppen und ihr Kia waren alles, was Annie noch hatte.

Nicht ganz alles, sagte Dilly.

Richtig. Da waren noch die gigantischen Schulden, die Annie nicht zurückzahlen konnte. Während der letzten sechs Monate vor dem Tod ihrer Mutter hatte sie eine Menge Geld leihen müssen, um Mariahs Bedürfnisse befriedigen zu können.

Und um endlich Mommys Anerkennung zu gewinnen, höhnte Leo.

Annie nahm die Puppen aus ihren Schutzhüllen. Jede war ungefähr achtzig Zentimeter groß und hatte bewegliche Augen, einen beweglichen Mund und abnehmbare Beine. Sie griff sich Peter und schob ihre Hand unter sein T-Shirt.

Wie schön du bist, meine geliebte Dilly, sagte Peter mit seiner männlichsten Stimme. Die Frau meiner Träume.

Und du bist der beste Mann von allen, seufzte Dilly. Tapfer und furchtlos.

Nur in Annies Fantasie, bemerkte Scamp mit untypischer Boshaftigkeit. Ansonsten bist du genauso nutzlos wie ihre Exfreunde.

Es gibt nur zwei, Scamp, rügte Dilly ihre Freundin. Und du solltest deine Verbitterung über die Männer wirklich nicht an Peter auslassen. Ich bin mir sicher, dass du das nicht mit Absicht machst, du klingst trotzdem wie ein Tyrann. Und du weißt ja, wie wir zu Tyrannen stehen.

Annie hatte sich auf themenorientiertes Puppentheater spezialisiert mit dem Schwerpunkt Mobbing. Sie setzte Peter auf das Sofa und schob Leo ganz an den Rand, wo er höhnisch flüsterte: Du hast immer noch Angst vor mir…

Manchmal kam es Annie so vor, als würden die Puppen ihr eigenes Leben leben.

Sie zog den scharlachroten Umhang fester um sich und schlenderte zu dem Erkerfenster. Der Sturm hatte inzwischen ein wenig nachgelassen, es schneite nicht mehr. Fahles Mondlicht schien ins Zimmer. Annie blickte hinaus auf die trostlose Winterlandschaft – auf die tintenschwarzen Schatten der Fichten, auf das kahle Moor. Dann hob sie den Blick.

In der Ferne, auf der Spitze einer kargen Klippe, stand Harp House. Der in der Dunkelheit dramatisch wirkende Turm zeichnete sich vor dem trüben Halbmond ab. Nur hinter einem der oberen Turmfenster schimmerte Licht. Die Szenerie erinnerte Annie an die Titelbilder alter Schauerromane, die man manchmal noch in Antiquariaten entdeckte. Sie brauchte nicht viel Fantasie, um sich eine Heldin vorzustellen, die barfuß, nur mit einem hauchdünnen Negligé bekleidet, aus dem gespenstischen Haus floh, vom Turmlicht bedrohlich beleuchtet. Die alten Schauergeschichten waren kurios, verglichen mit den erotisch aufgeladenen Vampiren, Werwölfen und Gestaltwandlern von heute, aber Annie hatte sie schon immer mit Begeisterung verschlungen. Sie hatten ihre Tagträume genährt.

Über dem zerklüfteten Dach des Hauses jagten dunkle Wolken am Mond vorüber, ihr Flug so wild wie der Galopp des schwarzen Reiters auf seinem Pferd. Annie bekam eine Gänsehaut, nicht von der Kälte, sondern von ihrer eigenen Fantasie. Sie wandte sich von dem Erkerfenster ab und sah hinüber zu Leo.

Schwerlidrige Augen, ein schmallippiges, spöttisches Lächeln … der perfekte Bösewicht. Sie hätte sich so viel Kummer ersparen können, wenn sie diese grüblerischen Männer, in die sie sich verliebt hatte, nicht zu Fantasiehelden idealisiert, sondern erkannt hätte, dass einer ein Fremdgänger war und der andere ein Narziss. Leo war allerdings eine andere Geschichte. Annie hatte ihn selbst erschaffen. Sie hatte die Kontrolle über ihn.

Das denkst du, flüsterte er.

Sie fröstelte und kehrte in das Schlafzimmer zurück. Doch selbst als sie wieder unter die Decken schlüpfte, konnte sie das düstere Bild von dem Haus auf der Klippe nicht abschütteln.

Annie hatte keinen Hunger, als sie am nächsten Morgen aufstand, aber sie zwang sich trotzdem, eine Handvoll pappige Cornflakes zu essen. Im Cottage war es kalt, draußen war es grau, und alles, was sie wollte, war, ins Bett zurückzukehren. Ohne Ofen und fließendes Wasser war das Cottage allerdings nicht bewohnbar, und je mehr sie über den abwesenden Will Shaw nachdachte, desto wütender wurde sie. Sie kramte die einzige örtliche Telefonnummer heraus, die sie hatte, die des Gemeindehauses, das gleichzeitig auch Postamt und Bücherei war, nur um festzustellen, dass ihr Handy zwar noch ausreichend Akku hatte, aber keinen Empfang. Desillusioniert ließ Annie sich auf die Samtcouch sinken und stützte den Kopf in die Hände. Sie musste sich auf die Suche nach Will machen, und das bedeutete, sie musste zum Haus auf der Klippe hochgehen. Zurück an den Ort, den sie sich geschworen hatte, nie wieder zu betreten.

Sie zog so viele wärmende Kleidungsstücke übereinander, wie sie finden konnte, hüllte sich in den Wollumhang ihrer Mutter und band sich ein altes Hermès-Tuch um den Kopf. Dann nahm sie ihre ganze Energie und Willenskraft zusammen und brach auf. Der Tag war so trüb wie ihre Zukunft, die salzige Luft nasskalt. Die Entfernung zwischen dem Cottage und dem Haus auf der Klippenspitze schien unüberwindbar.

Ich werde dich jeden einzelnen Schritt auf dem Weg tragen, verkündete Peter.

Scamp schnaubte nur verächtlich.

Es war gerade Ebbe, doch in dieser Jahreszeit über die vereisten Felsen an der Küste zu klettern war zu gefährlich, also musste Annie den längeren Weg um das Moor nehmen. Aber es war nicht nur der Weg, der ihr Angst machte.

Dilly versuchte, ihr Mut zuzusprechen. Es ist fast zwanzig Jahre her, dass du das letzte Mal oben in Harp House warst. Die Geister und Kobolde sind längst verschwunden.

Annie presste sich einen Zipfel ihres Umhangs gegen Nase und Mund.

Keine Sorge, sagte Peter. Ich werde auf dich achtgeben.

Peter und Dilly machten ihren Job. Sie waren dafür zuständig, die von Scamp entfachten Diskussionen zu klären und einzuschreiten, wenn Leo jemanden tyrannisierte. Sie waren diejenigen, die vor Drogen warnten und die Kinder mahnten, ihr Gemüse zu essen, ihre Zähne zu pflegen und sich von niemandem an ihren Genitalien anfassen zu lassen.

Aber es würde sich so gut anfühlen, höhnte Leo und kicherte.

Manchmal wünschte Annie, sie hätte ihn nie erschaffen, leider war er so ein perfekter Bösewicht. Leo war der Tyrann, der Drogendealer, der Fast-Food-König und der Fremde, der versuchte, Kinder vom Spielplatz wegzulocken.

Kommt mit mir, meine Kleinen, und ich gebe euch so viel Süßes, wie ihr wollt…

Hör auf damit, Annie, sagte Dilly. Von den Harps kommt keiner vor dem Sommer auf die Insel. Nur Will Shaw lebt dort oben.

Leo weigerte sich, Annie in Ruhe zu lassen. Ich habe Andenken an deine ganzen Misserfolge. Wie läuft es eigentlich mit deiner dir so wichtigen Schauspielkarriere?

Annie zog ihre Schultern bis zu den Ohren hoch. Sie musste unbedingt anfangen zu meditieren oder einen Yogakurs machen, irgendwas, das sie lehrte, ihren Geist zu disziplinieren, statt ihn frei umherwandern zu lassen, wie es ihm – beziehungsweise wie es ihm nicht – beliebte. Und wenn schon, ihr Traum von einer Schauspielkarriere hatte sich nicht auf die Art erfüllt, die sie sich gewünscht hatte, dafür wurde ihr Puppentheater von den Kindern heiß geliebt.

Annies Stiefel knirschten im Schnee. Vertrocknetes Schilfrohr lugte aus der Eisschicht, die das schlafende Moor überzog. Im Sommer wimmelte es hier von Leben, aber nun war alles öde und grau und so trostlos wie Annies Hoffnungen.

Als Annie sich der frisch vom Schnee geräumten Kiesauffahrt näherte, die zum Klippenhaus führte, blieb sie kurz stehen, um zu verschnaufen. Wenn Shaw die Zufahrt freischaufeln konnte, konnte er auch ihren Wagen aus dem Graben ziehen. Sie schleppte sich weiter. Vor ihrer Lungenentzündung hätte sie die Klippe im Laufschritt hochstürmen können, als sie nun die Spitze erreichte, brannte ihre Lunge allerdings wie Feuer, und ihr Atem ging wieder pfeifend. Von hier oben sah das Cottage wie ein verlassenes Spielzeug aus, das sich gegen die stürmische See und die schroffen Klippen verteidigen musste. Annie sog mehr Feuer in ihre Lunge und zwang sich dann, den Kopf zu heben.

Harp House erhob sich vor ihr, eine gezackte Silhouette vor dem zinnfarbenen Himmel. Verankert in Granit, den Sommerwinden und den Winterstürmen gnadenlos ausgesetzt, forderte es die Elemente heraus, es niederzureißen. Die anderen Ferienhäuser waren alle auf der besser geschützten Ostseite der Insel errichtet worden, aber Harp House verachtete den einfachen Weg. Hoch über dem Meer auf der felsigen Landspitze im Westen stand das Anwesen, eine mit Schindeln verkleidete, Furcht einflößende Festung aus Holz mit einem abweisenden Eckturm.

Alles war hier spitzwinklig: die Dächer, die Traufen und die Unheil verkündenden Giebel. Wie sehr Annie diese düstere Atmosphäre geliebt hatte in jenem Sommer, als ihre Mutter und Elliott Harp frisch verheiratet gewesen waren. Annie hatte sich damals ausgemalt, wie sie hier vorsprach, in einem mausgrauen Kleid und mit einem Handkoffer – von hoher Geburt, doch mittellos und verzweifelt, gezwungen, die bescheidene Stellung einer Gouvernante anzunehmen. Wie sie mit erhobenem Kinn und zurückgebogenen Schultern dem gewalttätigen, aber außerordentlich attraktiven Hausherrn derart mutig entgegentrat, dass er sich schließlich hoffnungslos in sie verliebte. Wie sie heirateten und Annie anschließend das Haus umgestaltete.

Es hatte nicht lange gedauert, bis die romantischen Träume einer Fünfzehnjährigen, die zu viel las und zu wenig erlebte, auf die harte Realität trafen.

Der Pool war inzwischen ein unheimlicher, gähnender Schlund, und die schlichte Holztreppe, die früher zum Hintereingang und zur Turmtür geführt hatte, war durch Steinstufen ersetzt worden, die von Wasserspeiern bewacht wurden. Annie kam am Pferdestall vorbei und folgte einem nachlässig freigeschaufelten Pfad zur Hintertür. Wehe, Shaw war nicht da, weil er wieder auf einem von Elliott Harps Pferden durch die Gegend galoppierte. Sie drückte auf die Klingel, hörte es drinnen jedoch nicht läuten. Das Haus war zu groß. Sie wartete, dann klingelte sie wieder. Niemand kam. Die Fußmatte sah allerdings so aus, als wäre dort erst vor Kurzem Schnee abgestreift worden. Annie klopfte kräftig an die Tür, die daraufhin knarrend aufschwang.

Annie war so kalt, dass sie ohne zu zögern den Windfang betrat. Eine bunte Sammlung von Jacken hing an einer Hakenreihe neben ein paar Schrubbern und Besen. Annie ging zu dem Durchgang, der zur Küche führte, und blieb wie angewurzelt stehen.

Alles hatte sich verändert. Die Küche war nicht mehr mit Walnussholzschränken und Edelstahlgeräten bestückt, wie Annie in Erinnerung hatte. Vielmehr sah der Raum nun aus, als wäre er durch eine Zeitschleife zurück ins 19. Jahrhundert katapultiert worden. Die Wand zwischen Küche und ehemaligem Frühstückszimmer war abgeschlagen worden, was den Raum doppelt so groß machte. Hoch angebrachte horizontale Fenster ließen viel Tageslicht herein, allerdings konnten nur große Menschen durch sie hinausschauen. Rauputz bedeckte die obere Hälfte der Wände, die untere war mit Kacheln gefliest, manche davon mit abgebrochenen Ecken, andere gerissen durch das Alter. Den Boden bedeckten alte Steinfliesen, die Feuerstelle war eine rußige Höhle, groß genug, um darin ein Wildschwein zu braten … oder einen Mann, der unklug genug war, sich beim Wildern auf dem Besitz Seiner Lordschaft erwischen zu lassen.

Die Hängeschränke waren derben Regalbrettern gewichen, auf denen Schalen und Töpfe aus Steingut standen. Hohe, frei stehende Schränke aus dunklem Holz ragten auf beiden Seiten eines mattschwarzen Industriekochers empor. Ein Spülstein barg einen unordentlichen Berg schmutziges Geschirr. Suppentöpfe und Pfannen aus Kupfer – nicht auf Hochglanz poliert, sondern verbeult und abgenutzt – hingen über einem großen, vernarbten Arbeitstisch aus massivem Holz, der dafür ausgelegt war, Hühnern die Köpfe abzuhacken, Hammelrippen zu Koteletts zu verarbeiten oder eine Weincreme zu schlagen für das Dinner Seiner Lordschaft.

Die Küche musste renoviert worden sein, aber im Stil eines anderen Jahrhunderts. Warum nur?

Lauf!, schrie Crumpet. Irgendetwas ist hier oberfaul!

Immer wenn Crumpet hysterisch wurde, zählte Annie auf Dillys sachlich-nüchterne Art, die Dinge zu betrachten, doch Dilly blieb stumm, und selbst Scamp fiel kein witziger Spruch ein.

»Mr. Shaw?« Annies Stimme mangelte es an ihrer normalen Ausdruckskraft.

Als keine Antwort erfolgte, setzte Annie ihren Weg durch die Küche fort, wobei sie nasse Schuhabdrücke auf dem Steinboden hinterließ. Sie würde ihre Stiefel trotzdem auf keinen Fall ausziehen. Falls sie weglaufen musste, würde sie das nicht auf Socken tun.

»Will?«

Nicht ein Mucks.

Sie ging an der Speisekammer vorbei, durchquerte einen schmalen Hinterflur, machte einen Schlenker um das Esszimmer und trat durch einen Türbogen in die Eingangshalle. Nur schwach drang milchiges Licht durch die sechs Fensterquadrate über der Haustür. Die massive Mahagonitreppe führte nach wie vor zu einem Zwischenabsatz mit einem Buntglasfenster, das farbenfrohe Blumenmuster des Treppenläufers war einem tristen Kastanienbraun gewichen. Auf den Möbeln lag ein Staubfilm, und oben in den Ecken hingen Spinnweben. Die Wände waren hier mit dunklem Massivholz getäfelt, die Meerlandschaften waren durch düstere Ölgemälde ersetzt worden, die wohlhabende Männer und Frauen in der Kleidung des 19. Jahrhunderts porträtierten, bei denen es sich ganz sicher nicht um die irischen bäuerlichen Vorfahren von Elliott Harp handelte. Alles, was fehlte, um die Eingangshalle noch deprimierender zu machen, waren eine Rüstung und ein ausgestopfter Rabe.

Annie hörte oben Schritte und näherte sich der Treppe.

»Mr. Shaw? Hier ist Annie Hewitt. Die Hintertür war offen, also habe ich mir erlaubt einzutreten.« Sie sah hoch. »Ich brauche …« Die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Auf dem oberen Treppenabsatz stand der Herr des Hauses.

Kapitel 2

Er kam langsam die Treppe herunter. Ein zum Leben erwachter Schauerromanheld in einem schneeweißen Hemd mit Halstuch, einer perlgrauen Weste und einer dunklen Hose, die in eng die Waden umschließenden Reitstiefeln aus schwarzem Leder steckte. In seiner linken Hand hielt er lässig eine Duellierpistole mit einem stählernen Lauf.

Annie rieselte ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sie zog kurz die Möglichkeit in Betracht, dass ihr Fieber zurückgekehrt war – oder dass ihre Einbildungskraft sie endgültig über die Klippe der Realität gestoßen hatte. Aber es war keine Halluzination. Er war nur allzu real.

Nur langsam riss sie ihren Blick von der Pistole, den Stiefeln und der Weste los, um den Mann selbst zu betrachten. In dem trüben Halbdunkel erschien sein Haar rabenschwarz, seine Augen waren königsblau, das Gesicht kantig und ernst – alles an ihm verkörperte den Hochmut des 19. Jahrhunderts. Annie überkam das Bedürfnis, einen Knicks zu machen. Die Flucht zu ergreifen. Ihm zu sagen, dass sie auf die Gouvernantenstelle überhaupt nicht angewiesen sei.

Er erreichte nun das Ende der Treppe, und da sah Annie sie: die blasse helle Narbe am äußeren Rand seiner rechten Augenbraue. Die Narbe, die er ihr zu verdanken hatte.

Theo Harp.

Genau achtzehn Jahre waren vergangen seit ihrer letzten Begegnung. Achtzehn Jahre, in denen Annie versucht hatte, die Erinnerung an diesen schrecklichen Sommer zu begraben.

Lauf! Lauf so schnell du kannst! Dieses Mal war es nicht Crumpet, die sie in ihrem Kopf hörte, sondern die vernünftige, praktisch veranlagte Dilly.

Und noch jemanden …

So… Lernen wir uns also endlich kennen. Leos anhaltende Geringschätzung war plötzlich verschwunden und Ehrfurcht gewichen.

Theo Harps maskuline Schönheit passte perfekt in die schauerliche Umgebung. Er war groß, schlank und strahlte eine elegante Zügellosigkeit aus. Das Halstuch betonte seinen dunklen Teint, den er von seiner andalusischen Mutter geerbt hatte, der schlaksige Teenager von damals war nur noch eine entfernte Erinnerung. Aber an seiner Sohn-reicher-Eltern-Attitüde hatte sich nichts geändert. Er musterte Annie kühl.

»Was willst du hier?«

Sie hatte ihren Namen gerufen, er wusste also genau, wer sie war, doch er tat trotzdem so, als wäre eine fremde Person in sein Haus eingedrungen.

»Ich suche Will Shaw«, antwortete sie, wütend über das leichte Zittern in ihrer Stimme.

Er betrat nun den Marmorboden. »Shaw arbeitet hier nicht mehr.«

»Wer kümmert sich dann um das Cottage?«

»Das musst du meinen Vater fragen.«

Als könnte Annie einfach Elliott Harp anrufen, einen Mann, der die Wintermonate in Südfrankreich verbrachte, zusammen mit seiner dritten Frau, Cynthia, die sich von ihrer Vorgängerin nicht stärker unterscheiden könnte. Mariahs lebhafte Persönlichkeit und ihr exzentrischer Stil – Bleistifthosen, weiße Männerhemden, herrliche Seidentücher – hatten ein halbes Dutzend Liebhaber bezaubert, so auch Elliott Harp. Die Hochzeit mit Mariah war die Antwort auf seine Rebellion gegen ein ultrakonservatives Leben gewesen. Und Elliott hatte Mariah das Gefühl von Sicherheit gegeben, das sie sich selbst nie hatte geben können. Doch sie waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.

Annie befahl sich stumm, hart zu bleiben. »Weißt du, wo ich Shaw finden kann?«

Theos Schultern hoben sich kaum wahrnehmbar – er war wohl zu gelangweilt, um Energie für ein richtiges Achselzucken zu verschwenden.

»Keine Ahnung, wo er ist.«

Das Klingeln eines sehr modernen Mobiltelefons funkte dazwischen. Annie hatte nicht bemerkt, dass Theo ein elegantes schwarzes Smartphone in seiner Hand hielt – in der, die nicht die Duellierpistole liebkoste. Während er einen Blick auf das Display warf, wurde Annie auf einmal bewusst, dass Theo der schwarze Reiter gewesen war, den sie in der Nacht hatte vorbeigaloppieren sehen, ohne jede Rücksicht hatte er das Pferd über die Straße getrieben. Nicht verwunderlich, denn Theo besaß eine dunkle Vergangenheit, was das Wohl anderer Lebewesen betraf, sei es Tier oder Mensch.

Das flaue Gefühl kehrte in Annies Magen zurück. Sie beobachtete eine Spinne, die über den schmutzigen Marmorboden krabbelte. Theo schaltete das Handy auf lautlos. Durch die offene Tür hinter ihm, die in die Bibliothek führte, erhaschte Annie einen Blick auf Elliott Harps großen Mahagonischreibtisch. Er sah unbenutzt aus. Keine Kaffeetassen, keine Notizblöcke oder Nachschlagewerke. Falls Theo Harp gerade an seinem nächsten Buch arbeitete, tat er das nicht an diesem Platz.

»Ich habe das mit deiner Mutter gehört«, sagte er.

Kein Bedauern … Andererseits hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie Mariah ihre Tochter behandelt hatte.

Steh gerade, Antoinette. Sieh den Leuten in die Augen. Wie willst du sonst Respekt von den anderen erwarten? Schlimmer noch: Gib das Buch her. Ab sofort wirst du keinen Schund mehr lesen. Nur noch die Romane, die ich dir gebe.

Annie hatte jeden einzelnen dieser Romane gehasst. Andere mochten sich vielleicht für Melville, Proust, Joyce und Tolstoi begeistern, Annie wollte Geschichten über mutige Heldinnen lesen, die sich nicht unterkriegen ließen und sich nicht vor einen Zug warfen.

Theo musterte Annies improvisierte Kleidung – den roten Umhang, das alte Kopftuch, ihre ausgelatschten braunen Wildlederstiefel. Sie war in einem Albtraum gelandet. Die Pistole … Seine bizarre Kleidung … Warum sah das Haus aus, als hätte es sich zwei Jahrhunderte zurückentwickelt? Und warum hatte Theo einmal versucht, sie umzubringen?

Er ist mehr als ein Tyrann, Elliott, hatte Mariah ihrem Mann damals erklärt. Mit deinem Sohn stimmt etwas ernsthaft nicht.

Annie begriff nun, was ihr in jenem Sommer nicht klar gewesen war: Theo Harp war geisteskrank – ein Psychopath. Die Lügen, die Manipulationen, die Grausamkeiten … Die Vorfälle, die sein Vater als jugendlichen Unfug abgetan hatte, waren ganz und gar kein Unfug gewesen.

Ihr Magen weigerte sich, sich zu beruhigen. Sie hasste es, so viel Angst zu haben. Theo steckte sein Handy in die Hosentasche und nahm die Pistole von der linken in die rechte Hand.

»Lass dich hier nie wieder blicken, Annie«, sagte er scharf.

Wieder einmal erwies er sich als der Stärkere, und sie hasste auch das.

Wie aus dem Nichts kroch ein gespenstisches Seufzen durch die Eingangshalle. Annie sah sich ruckartig um, auf der Suche nach der Ursache.

»Was war das?«

Sie richtete den Blick wieder auf Theo und sah, dass er überrascht wirkte. Er fasste sich rasch wieder. »Dies ist ein altes Haus.«

»Für mich klang das nicht wie ein Hausgeräusch.«

»Was geht dich das an?«

Er hatte recht. Nichts, was mit ihm zu tun hatte, ging sie etwas an. Annie war mehr als bereit zu verschwinden, aber sie war kaum ein halbes Dutzend Schritte gegangen, als das Seufzen sich wiederholte. Dieses Mal war es leiser, sogar noch unheimlicher als das erste Mal, und es kam aus einer anderen Richtung. Sie starrte zu Theo zurück. Sein Stirnrunzeln hatte sich vertieft, seine Schultern waren angespannt.

»Hast du eine Wahnsinnige auf dem Dachboden versteckt?« Die Worte waren ihr herausgerutscht, ohne dass sie darüber hatte nachdenken können.

»Es ist der Wind«, erwiderte er, ihren erneuten Widerspruch herausfordernd.

Annies Hand umklammerte den weichen Wollumhang ihrer Mutter. »Wenn ich du wäre, würde ich überall das Licht anlassen.«

Sie hielt den Kopf aufrecht, bis sie aus der Eingangshalle in den Hinterflur verschwunden war, aber als sie die Küche erreichte, blieb sie stehen und holte tief Luft. Aus dem überfüllten Mülleimer, der in einer Ecke stand, ragten eine leere Tiefkühlpackung Waffeln, eine zerknitterte Fischli-Tüte und eine Ketchupflasche. Theo Harp war verrückt. Nicht lustig verrückt wie ein Mann, der schlechte Witze erzählte, sondern schlimm verrückt wie ein Mann, der im Keller Leichen stapelte. Als Annie schließlich in die arktische Luft hinaustrat, war es mehr als die Kälte, die sie zum Zittern brachte. Es war Verzweiflung.

Sie straffte sich. Sein Smartphone … Im Haus musste es ein Funksignal geben. War es möglich, es auch hier draußen zu empfangen? Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche, fand eine geschützte Stelle in der Nähe des verwaisten Gartenpavillons und schaltete ihr Gerät ein. Innerhalb von Sekunden hatte sie ein Signal. Ihre Hände zitterten, als sie die Nummer des sogenannten Gemeindehauses von Peregrine Island wählte.

Es meldete sich eine Frau, die sich als Barbara Rose vorstellte. »Will Shaw hat mit seiner Familie die Insel verlassen«, erklärte sie. »Ein paar Tage, bevor Theo Harp hier ankam.« Annies Mut sank. »So machen das die jungen Leute«, sprach Barbara weiter. »Sie gehen fort. Die Hummerausbeute war in den letzten paar Jahren nicht gut.«

Zumindest verstand Annie nun, warum Shaw ihre E-Mail nicht beantwortet hatte. Sie befeuchtete ihre Lippen. »Ich frage mich … Wie viel würde es kosten, jemanden zu mir rauskommen zu lassen, um mir zu helfen?«

Sie schilderte kurz das Problem mit ihrem Wagen und ihr Unvermögen, den kleinen Pelletofen und den Generator für das Cottage in Gang zu setzen.

»Ich werde meinen Mann zu Ihnen rausschicken, sobald er zurückkommt«, erwiderte Barbara in aufmunterndem Ton. »So handhaben wir das hier auf der Insel. Wir helfen uns gegenseitig. Sollte nicht länger als eine Stunde dauern.«

»Wirklich? Das wäre … Das ist wirklich sehr nett.«

Annie hörte aus dem Stall ein leises Wiehern. Damals war das Gebäude in einem warmen Grauton gestrichen gewesen. Nun war es dunkelbraun, genau wie der Pavillon daneben. Annie richtete den Blick auf das Haus.

»Wir waren alle sehr betroffen, als wir erfahren haben, was mit Ihrer Mutter passiert ist«, sagte Barbara. »Wir werden sie vermissen. Sie hat Kultur auf die Insel gebracht, ganz zu schweigen von all den berühmten Leuten.«

»Danke.«

Annie dachte zuerst, das Licht würde ihr einen Streich spielen. Sie kniff kurz die Augen zusammen, aber es war immer noch da. Jemand stand an einem der oberen Fenster und sah zu ihr herunter.

»Booker wird Ihren Wagen rausziehen und Ihnen dann zeigen, wie man den Heizkessel und den Generator anwirft.« Barbara machte eine kurze Pause. »Sind Sie schon Theo Harp begegnet?«

So schnell wie es aufgetaucht war, verschwand das Gesicht am Fenster wieder. Annie war zu weit entfernt, als dass sie die Gesichtszüge hätte erkennen können, aber sie gehörten eindeutig nicht zu Theo. Zu einer Frau vielleicht? Der wahnsinnigen Ehefrau, die er weggesperrt hatte? Oder zu einem Kind?

»Nur kurz.« Annie starrte zu dem Fenster hoch. »Hat Theo jemanden mitgebracht?«

»Nein, er kam allein. Vielleicht haben Sie es noch nicht gehört … Seine Frau starb im letzten Jahr.«

Sie starb? Annie wandte den Blick von dem Fenster ab und ließ ihrer Fantasie wieder freien Lauf. Sie bedankte sich bei Barbara für die Hilfe und machte sich anschließend auf den Rückweg zum Cottage.

Trotz der Kälte, ihrer schmerzenden Lunge und der unheimlichen Erscheinung am Fenster hatte sich ihre Stimmung ein wenig gebessert. Bald würde sie ihren Wagen wiederhaben, und auch das Haus würde zum Leben erweckt. Dann konnte sie ernsthaft mit der Suche nach Mariahs Vermächtnis beginnen, was auch immer sich dahinter verbarg. Das Cottage war nicht sehr groß. Es durfte also nicht so schwer sein, den Nachlass zu finden.

Nicht zum ersten Mal wünschte Annie sich, sie könnte das kleine Haus verkaufen, aber alles, was mit Mariah und Elliott zusammenhing, war schon immer kompliziert gewesen. Sie blieb stehen, um sich kurz auszuruhen. Elliotts Großvater hatte Harp House zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut, und Elliott hatte später das umliegende Gelände dazugekauft, zu dem auch Moonraker Cottage gehörte. Aus irgendeinem Grund hatte Mariah sich in die kleine Fischerhütte verliebt und im Laufe des Scheidungsverfahrens von Elliott verlangt, ihr das Häuschen zu schenken. Er hatte das zunächst abgelehnt, als die Scheidungsvereinbarung schließlich unterschriftsreif war, hatten die beiden jedoch einen Kompromiss gefunden. Das Cottage sollte Mariah gehören, solange sie es jedes Jahr an sechzig aufeinanderfolgenden Tagen bewohnte. Anderenfalls würde es an die Familie Harp zurückfallen. Unwiderruflich. Verließ Mariah die Insel bevor die sechzig Tage vergangen waren auch nur für eine Nacht, verlor sie das Ferienhaus, ohne eine zweite Chance zu erhalten. Sie konnte nicht zurückkehren und wieder von vorn anfangen.

Mariah war ein Stadtmensch, und Elliott dachte, er hätte ihr ein Schnippchen geschlagen. Zu seiner Bestürzung arrangierte Mariah sich damit ganz gut. Sie liebte die Insel, auch wenn sie Elliott nicht mehr liebte, und da sie ihre Freunde auf dem Festland nicht besuchen konnte, lud sie sie einfach zu sich ein. Darunter waren bekannte Künstler und junge Talente, die Mariah unterstützen wollte. Sie alle begrüßten die Gelegenheit, im Atelier des Cottage zu malen, zu schreiben, kreativ zu sein. Mariah hatte die Künstler viel stärker gefördert, als sie jemals ihre eigene Tochter gefördert hatte.

Annie kauerte sich in ihren Umhang und setzte sich wieder in Bewegung. Sie hatte das Cottage geerbt, zusammen mit denselben Konditionen, denen ihre Mutter damals zugestimmt hatte. Keine Ausnahmen. Sie musste sechzig Tage in Folge hier verbringen, oder das Cottage gehörte wieder der Familie Harp. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hasste Annie die Insel. Aber im Moment hatte sie keinen anderen Ort, an den sie gehen konnte – den mottenzerfressenen Futon im Lagerraum des Coffeeshops, in dem sie gekellnert hatte, nicht mitgezählt. Durch die Krankheit ihrer Mutter und dann durch ihre eigene Erkrankung war Annie nicht mehr in der Lage gewesen, ihren Jobs nachzugehen, und sie besaß weder die Kraft noch das Geld, um sich eine andere Unterkunft zu suchen.

Als sie das Moor erreichte, begannen Annies Beine zu rebellieren. Sie lenkte sich ab, indem sie Varianten ihres unheimlichen Seufzens übte. Etwas, das fast einem Lachen ähnelte, quälte sich aus ihr heraus. Als Schauspielerin mochte sie versagt haben, doch nicht als Bauchrednerin.

Und Theo Harp hatte keinen Verdacht geschöpft.

Ab dem kommenden Morgen hatte Annie Wasser, Strom und einen funktionierenden Ofen. Im Haus war es zwar immer noch kühl, aber es war bewohnbar. Und ihr Wagen stand vor der Tür. Von Barbara Roses geschwätzigem Ehemann Booker erfuhr sie, dass Theo Harps Rückkehr das Tagesgespräch auf der Insel war.

»Tragisch, was mit seiner Frau passiert ist«, sagte Booker, nachdem er Annie gezeigt hatte, wie man verhinderte, dass die Rohre zufroren, wie man den Generator bediente und wie man sparsam mit dem Gas umging, das den Heizkessel für das warme Wasser speiste. »Der Junge tut uns allen richtig leid, obwohl er immer schon ein sonderbarer Kauz war. Er hat hier viele Sommer verbracht. Haben Sie sein Buch gelesen?«

Annie widerstrebte es zuzugeben, dass sie es gelesen hatte, also antwortete sie mit einem unverbindlichen Achselzucken.

»Meine Frau bekam davon Albträume, schlimmer noch als von Stephen King«, fuhr Booker fort. »Kann mir nicht vorstellen, woher der Kerl so eine Fantasie hat.«

Die Heilanstalt war ein unnötig grausamer Roman über eine psychiatrische Klinik für geisteskranke Kriminelle, in der sich ein Raum befand, der die Patienten – besonders jene, die Freude am Quälen hatten – in eine andere Zeit zurückversetzte. Annie verabscheute das Buch. Theo besaß dank seiner Großmutter ein üppiges Vermögen und war nicht auf das Schreiben angewiesen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, was sein Werk in Annies Augen nur noch verwerflicher machte, selbst wenn es ein Bestseller gewesen war. Angeblich arbeitete er bereits an einer Fortsetzung, aber die würde sie ganz sicher nicht lesen.

Nachdem Booker gegangen war, packte Annie die Lebensmittel aus, die sie vom Festland mitgebracht hatte, überprüfte alle Fenster, schob den Beistelltisch aus massivem Stahl vor die Tür und schlief danach zwölf Stunden durch.

Wie immer in der letzten Zeit wachte Annie hustend auf und dachte als Erstes an ihre finanzielle Situation. Sie ertrank in Schulden, und sie war es leid, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie lag unter den Decken, die Augen an die Decke geheftet, und dachte über einen Ausweg nach.

Nach ihrer Krebsdiagnose war Mariah zum ersten Mal auf Annie angewiesen gewesen, und Annie hatte ihre Mutter nicht im Stich gelassen. Sie hatte sogar ihre Jobs aufgegeben, als der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie Mariah nicht mehr allein hatte lassen können.

Wie konnte ich so ein ängstliches Kind großziehen?, hatte ihre Mutter früher immer gesagt. Aber am Ende war Mariah diejenige gewesen, die sich fürchtete, die sich an Annie klammerte und sie anflehte, sie nicht zu verlassen.

Annie hatte ihre bescheidenen Ersparnisse aufgebraucht, um die Miete für Mariahs geliebte Wohnung in Manhattan zu bezahlen, damit ihre Mutter nicht ausziehen musste, und sich dann zum ersten Mal in ihrem Leben auf Kreditkarten verlassen. Sie kaufte die pflanzlichen Arzneimittel, auf die Mariah so sehr schwor, die Bücher, die den künstlerischen Geist ihrer Mutter nährten, und die spezielle Aufbaunahrung, die verhinderte, dass Mariah zu viel Gewicht verlor.

Je schwächer Mariah wurde, desto dankbarer wurde sie. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde, hatte sie wieder und wieder geflüstert. Ihre Worte waren Balsam für das kleine Mädchen, das immer noch in der Seele der erwachsenen Annie wohnte und das sich früher sehnlichst die Anerkennung seiner kritischen Mutter gewünscht hatte.

Annie wäre vielleicht in der Lage gewesen, sich über Wasser zu halten, hätte sie nicht beschlossen, den Traum ihrer Mutter von einer letzten Reise nach London zu erfüllen. Mithilfe eines weiteren Kredits hatte sie Mariah eine Woche lang in ihrem Rollstuhl durch die Londoner Museen und Galerien geschoben, die sie am meisten geliebt hatte. Allein jener Moment in der Tate Modern Gallery, als sie vor der riesigen Leinwand eines jungen Künstlers namens Niven Garr verweilt hatten, war Annies Opfer wert gewesen. Mariah hatte die Hand ihrer Tochter genommen, ihre Lippen daraufgedrückt und die Worte ausgesprochen, nach denen diese sich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatte.

Ich hab dich lieb.

Annie quälte sich schließlich aus dem Bett und verbrachte den Vormittag damit, die fünf Räume des Cottage zu durchsuchen – Wohnzimmer, Küche, Bad, Mariahs Schlafzimmer und das Atelier, das gleichzeitig als Gästezimmer gedient hatte. All die Künstler, die im Laufe der Jahre hier zu Besuch gewesen waren, hatten ihrer Mutter Bilder und Skulpturen geschenkt, von denen Mariah die wertvollsten schon vor langer Zeit verkauft hatte. Aber was hatte sie behalten? Ein Chesterfield-Sofa und einen futuristisch anmutenden maulwurfgrauen Sessel, eine steinerne Thaigöttin, ein wandgroßes Gemälde einer kopfstehenden Ulme. Das Sammelsurium aus Kunstobjekten und verschiedenen Möbelstilen wurde durch Mariahs unfehlbaren Sinn für Farben geeint – Wände in zartem Vanillegelb und stabile Polstermöbel in Immergrün, Oliv und Braungrau. Die pinkfarbene Couch und ein hässlicher, in allen Farben schillernder Gipsstuhl in Form einer Meerjungfrau sorgten für den Schockeffekt.

Als Annie sich bei einer zweiten Tasse Kaffee eine Pause gönnte, beschloss sie, systematischer bei ihrer Suche vorzugehen. Sie fing im Wohnzimmer an und trug jedes Kunstobjekt samt seiner Beschreibung in ein Notizbuch ein. Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn Mariah ihr gesagt hätte, wonach sie suchen sollte, beziehungsweise wie sie das Cottage verkaufen konnte.

Crumpet zog einen Flunsch. Du hättest deiner Mutter diesen Trip nach London nicht zu spendieren brauchen. Stattdessen hättest du mir ein neues Kleid kaufen sollen. Und ein Diadem.

Du hast das Richtige getan, sagte der stets motivierende Peter. Mariah war kein schlechter Mensch, nur eine schlechte Mutter.

Dilly sprach in ihrer sanften Art, was ihre Worte nicht weniger schmerzlich machte. Hast du es für sie getan… oder für dich selbst?

Leo reagierte lediglich mit Spott. Alles, um Mommys Liebe zu gewinnen. Richtig, Antoinette?

Und genau das war die Krux mit ihren Puppen – sie sprachen die Wahrheiten aus, denen Annie sich nicht stellen wollte.

Sie warf einen Blick aus dem Fenster und sah, dass sich in der Ferne etwas bewegte. Ein Reiter und ein Pferd, die sich deutlich vor einem grauweißen Meer abzeichneten, während sie durch die Winterlandschaft jagten, als wären die Dämonen aus der Hölle hinter ihnen her.

Es hatte keinen Sinn, Annie konnte nicht länger verdrängen, dass sie sich um ihr Handy kümmern musste. Der Schneefall in der Nacht zuvor hatte die bereits gefährliche Straße sicherlich vollends unpassierbar gemacht, und das bedeutete, dass sie wieder auf die Klippe hochsteigen musste, um ein Signal zu empfangen. Dieses Mal würde sie sich jedoch vom Haus fernhalten.

Mit ihrem dicken, daunengefütterten Mantel war sie für den Marsch besser gerüstet als beim letzten Mal. Es war zwar immer noch bitterkalt, zwischendurch kam jedoch die Sonne hervor, und der frische Schnee sah aus, als wäre er mit Glitzerstaub bestreut worden. Annies Probleme lasteten jedoch zu schwer auf ihr, um diese Schönheit genießen zu können. Sie brauchte mehr als nur Handyempfang. Sie benötigte einen Internetzugang. Wenn sie vermeiden wollte, dass ein Kunsthändler sie übers Ohr haute, musste sie alle Objekte recherchieren, die sie in ihrer Inventarliste notiert hatte. Und wie sollte sie das ohne das Internet bewerkstelligen? Das Cottage hatte keinen Satellitenempfang. Das Hotel und die Gasthäuser boten einen kostenlosen Internetservice an, aber jetzt im Winter waren sie geschlossen, und selbst wenn Annies Wagen die Strecke in die Stadt bewältigen würde, konnte sie sich nicht vorstellen, an Türen zu klopfen auf der Suche nach jemandem, der sie im Netz surfen ließ.