Dinner für drei - Susan Elizabeth Phillips - E-Book
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Dinner für drei E-Book

Susan Elizabeth Phillips

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Beschreibung

Alle Mädchen werden einmal groß – selbst erfolgreiche Kinderstars – und verlieben sich. Im Fall der blauäugigen, zierlichen Honey Moon allerdings gleich in zwei berühmt-berüchtigte Männer: in Dash Coogan, den legendären Kinohelden, und in Eric Dillon, Hollywoods Enfant terrible, dessen dunkle, geheimnisvolle Ausstrahlung ein schmerzhaftes Geheimnis verbirgt. Doch Honey Moon trüge ihren Namen zu Unrecht, wenn sie nicht mit Witz, Herz und Mut um die Liebe kämpfen würde …

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Inhaltsverzeichnis
Buch
Autorin
Von Susan Elizabeth Phillips ist bereits erschienen:
Widmung
Der Aufstieg – 1980-1982
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6 – DIE DASH COOGAN SHOW FOLGE EINS
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Der Gipfel – 1983
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Der Absturz – 1989-1990
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Die endgültige Heimkehr – 1990
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Epilog
Anmerkung der Autorin
Copyright
Buch
Aus einem heruntergekommenen Freizeitpark in South Carolina hat die lebhafte und energische Honey Moon vor Jahren den erfolgreichen Sprung nach Hollywood geschafft. Sie wurde der populärste Kinderstar Amerikas. Doch kleine Mädchen werden eines Tages groß – na ja, nicht sehr groß, was Honey betrifft – und erwachsen und verlieben sich. Im Fall der blauäugigen, zierlichen Honey gleich in zwei berühmt-berüchtigte Männer: in Dash Coogan, den sexy Filmbösewicht, der allerdings in zu schlechten Serien auftritt, um ein Star zu werden. Und in Eric Dillon, das Enfant terrible von Hollywood, dessen dunkle, geheimnisvolle Ausstrahlung ein schmerzhaftes Geheimnis verbirgt. Doch Honey Moon trüge ihren Namen zu Unrecht, wenn sie nicht eine wundervolle, geradezu himmlische Lösung für sämtliche Probleme finden würde …
Autorin
Susan Elizabeth Phillips’ Romane erobern jedes Mal auf Anhieb die Bestsellerlisten in den USA. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in der Nähe von Chicago.
Von Susan Elizabeth Phillips ist bereits erschienen:
Verliebt, verrückt, verheiratet (35339) · Bleib nicht zum Frühstück (35029) · Küss mich, Engel (35066) · Träum weiter, Liebling (35105) · Kopfüber in die Kissen (35298) · Wer will schon einen Traummann? (35394) · Ausgerechnet den? (35526) · Der und kein anderer (35669)
Im Gedenken an meinen Vater
Der Aufstieg
1980-1982
1
Das gesamte Frühjahr über betete Honey zu Walt Disney. Sie saß in ihrer Schlafnische im hinteren Teil des rostigen alten Wohnwagens, der in einem kleinen Pinienwäldchen hinter der dritten Erhebung von Black Thunder, der geliebten Achterbahn, stand, und wandte sich in der Hoffnung, dass eines dieser mächtigen himmlischen Geschöpfe ihr am Ende half, an Gott, an Walt und manchmal sogar an Jesus. Ihre Arme ruhten auf dem verbogenen Sims des einzigen Fensters der Nische, und sie blickte durch das herabhängende Fliegengitter auf das kleine Stück nächtlichen Himmels, das über den Wipfeln der Pinien gerade noch zu sehen war.
»Mr. Disney, hier ist wieder Honey. Ich weiß, dass der Silver-Lake-Freizeitpark jetzt, wo der Wasserspiegel so niedrig ist, dass man all die verrotteten Baumstümpfe erkennen kann, und wo die Bobby Lee am Ende des Docks auf dem Grund des Sees liegt, nicht gerade toll aussieht. Sicher haben letzte Woche höchstens hundert Leute unseren Park besucht, aber das heißt nicht, dass es so bleiben muss.«
Seit im Democrat, der führenden Zeitung des Bezirks Paxawatchie, gestanden hatte, dass die Leute von Walt Disney in Erwägung zögen, den Silver-Lake-Freizeitpark zu kaufen und eine South-Carolina-Version von Disney World daraus zu machen, konnte Honey an nichts anderes mehr denken. Sie war sechzehn Jahre alt und wusste, dass es albern und vor allem für eine gläubige Baptistin recht fragwürdig war, ihre Gebete an Mr. Disney zu richten, aber eine verzweifelte Situation erforderte nun einmal verzweifelte Maßnahmen.
Sie zählte Mr. Disney die Vorteile einer Entscheidung zugunsten des Vergnügungsparks auf: »Von der Interstate ist es nur eine Stunde bis hierher. Und mit ein paar guten Wegweisern ließen sich sicher sämtliche Eltern, die auf dem Weg nach Myrtle Beach sind, mit ihren Kindern für einen Tag hierher locken. Abgesehen von den Moskitos und der Feuchtigkeit haben wir ein durchaus angenehmes Klima. Der See könnte richtig hübsch werden, wenn Ihre Angestellten den Farbhersteller Purlex dazu bewegen könnten, endlich aufzuhören, seine giftigen Abfälle dort hineinzuleiten. Außerdem könnten die Leute, die Ihr Unternehmen seit Ihrem Tod leiten, den Park ganz billig kriegen. Könnten Sie bei Ihnen nicht ein gutes Wort für uns einlegen? Könnten Sie ihnen nicht irgendwie begreiflich machen, dass der Freizeitpark genau das ist, was sie suchen?«
Plötzlich wurde die Mischung aus Gebet und Verkaufsveranstaltung von der dünnen Stimme ihrer Tante unterbrochen. »Mit wem sprichst du da, Honey? Du hast doch nicht etwa einen Jungen bei dir im Schlafzimmer, oder?«
»Doch natürlich, Sophie«, erwiderte Honey grinsend. »Und zwar gleich ein ganzes Dutzend. Und einer von ihnen macht sich gerade daran, mir seinen Schniedelwutz zu zeigen.«
»Also bitte, Honey. So solltest du nicht reden. Das ist wirklich nicht schön.«
»Tut mir Leid.« Honey wusste, dass sie Sophie nicht ärgern sollte, aber sie mochte es einfach, wenn sich die Tante über sie aufregte. Es passierte nicht sehr oft, und es hatte niemals irgendwelche Folgen, aber wenn Sophie sich aufregte, konnte Honey fast so tun, als sei sie ihre richtige Mutter und nicht nur ihre Tante.
Gelächter drang aus dem Nebenzimmer, als das Publikum der Tonight Show auf einen von Johnny Carsons Witzen über Erdnüsse und Jimmy Carter reagierte. Bei Sophie lief den ganzen Tag der Fernseher. Sie behauptete, die Geräusche wären ein Ersatz für die Stimme von Onkel Earl.
Earl Booker war vor anderthalb Jahren gestorben, wodurch Sophie die offizielle Eigentümerin des Freizeitparks geworden war. Bereits zu seinen Lebzeiten war sie nicht gerade ein Energiebündel gewesen, doch seit seinem Tod war es noch viel schlimmer, sodass die Leitung des Unternehmens fast ausschließlich in Honeys Händen lag. Sie wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Tante Sophie schlief. Obwohl sie kaum jemals vor dem Mittagessen aufstand, fielen ihr die Augen für gewöhnlich spätestens um Mitternacht schon wieder zu.
Honey lehnte sich gegen die Kissen. Im Wohnwagen war es heiß und stickig. Obgleich sie nur ein orangefarbenes Budweiser-T-Shirt und einen Slip trug, war sie völlig verschwitzt. Früher einmal hatten sie eine Klimaanlage besessen, aber die funktionierte genau wie alles andere bereits seit einer Ewigkeit nicht mehr, und für eine Reparatur fehlte ihnen ganz einfach das Geld.
Honey blickte auf die Zeiger der Uhr, die neben dem Bett stand, das sie mit Sophies Tochter teilte, und runzelte die Stirn. Chantal sollte längst zu Hause sein. Es war Montagabend, der Park war geschlossen, und es gab nichts zu tun. Für den Fall, dass Mr. Disneys Mitarbeiter den Freizeitpark nicht kauften, war Chantal zentraler Bestandteil von Honeys Ersatzplan, deshalb konnte sie es sich ganz einfach nicht leisten, ihre Cousine auch nur für einen Abend aus den Augen zu lassen.
Honey schwang ihre Füße vom Bett und griff nach den verblichenen roten Shorts, die sie während des Tages getragen hatte. Sie war zartgliedrig, kaum einen Meter fünfzig groß, und die Shorts waren ein Erbstück von Chantal. Sie waren zu weit für ihre schmalen Hüften und hingen an ihr herunter, sodass ihre Beine darin noch dürrer aussahen als gewöhnlich. Doch Eitelkeit war eine der wenigen Schwächen, die Honey nicht hatte, deshalb war ihr auch in diesem Augenblick vollkommen egal, wie sie aussah.
Obgleich Honey selbst sich dessen nicht bewusst war, hätte sie durchaus einigen Grund zur Eitelkeit gehabt. Sie besaß von dichten Wimpern gerahmte, leuchtend blaue Augen unter dunklen, sanft geschwungenen Brauen, ein herzförmiges Gesicht mit feinen Wangenknochen und unzähligen Sommersprossen sowie eine kesse kleine Stupsnase. Nur in ihren Mund mit den betörend vollen Lippen war sie noch nicht hineingewachsen, sodass er sie, wenn sie in einen Spiegel blickte, immer an ein breites Fischmaul denken ließ. So lange sie denken konnte, hatte sie ihr Aussehen gehasst, und das lag nicht nur daran, dass die Leute sie, bis sie endlich kleine Brüste bekommen hatte, irrtümlich für einen Jungen gehalten hatten, sondern weil niemand einen Menschen ernst nahm, der aussah wie ein Kind. Doch da es für Honey außerordentlich wichtig war, ernst genommen zu werden, hatte sie jeden ihrer körperlichen Vorzüge stets hinter einem feindseligen Stirnrunzeln und einem kampflustigen Auftreten versteckt.
Sie schob ihre Füße in ein Paar ausgetretener blauer Gummischlappen und fuhr sich mit den Händen durch das kurze, wirre Haar, wenn auch nicht, um es zu glätten, sondern um an einem Moskitostich auf dem Kopf zu kratzen. Ihr Haar war honigfarben, passend zu ihrem Namen. Eigentlich hätten sich die Strähnen gelockt, doch ehe sie Gelegenheit dazu bekamen, säbelte Honey, wann immer sie das Gefühl hatte, das Haar sei im Weg, es mit einem Taschenmesser, einer Zickzackschere oder notfalls auch mit einem Fischmesser ab.
Sie schlüpfte in den kurzen, schmalen Gang, in dem genau wie im Wohn-Ess-Bereich ein abgenutzter Teppichboden mit braun-goldenen Rauten lag, und zog die Tür des Schlafraums leise hinter sich zu. Wie vorhergesehen, lag Sophie schlafend auf der alten Couch, die mit einem abgewetzten rehbraunen, mit verblichenen Tavernen-Schildern, Weißkopfadlern und Sternenflaggen bedruckten Stoffbezug versehen war. Die Dauerwelle, die Chantal ihrer Mutter hatte angedeihen lassen, war ein wenig misslungen, sodass Sophies dünnes, grau meliertes Haar trocken aussah und ihr wirr vom Kopf abstand, als sei es elektrisch aufgeladen. Sie war übergewichtig, und ihre Brüste hingen, dem Gesetz der Schwerkraft folgend, wie zwei mit Wasser gefüllte Ballons unter ihrem Stricktop zu beiden Seiten ihres Körpers schlaff auf die Couch hinab.
Honey bedachte ihre Tante mit dem gewohnten halb ärgerlichen, halb liebevollen Blick. Eigentlich sollte sich Sophie Moon Booker Sorgen um ihre Tochter machen und nicht Honey. Sie war diejenige, die überlegen sollte, wie sie die Rechnungen, die täglich ins Haus flatterten, je bezahlen sollten und wie sich die Familie zusammenhalten ließ, ohne in die Fänge der Sozialhilfe zu geraten. Aber Honey wusste, auf Sophie oder ihre Tochter wütend zu werden war vollkommen sinnlos. Sie würden sich nie ändern.
»Ich gehe noch eine Weile raus.«
Als Antwort kam lediglich ein Schnarchen, sodass Honey ungehindert durch die Tür und über die verfallenen Betonstufen hinaus ins Freie sprang. Das schmerzlich grelle Blau der Außenwände ihres Heims wurde lediglich durch die Mattheit des Alters ein wenig gemildert, doch Honey hatte sich an den Anblick bereits vor einer Ewigkeit gewöhnt. Ihre Schlappen versanken im Sand, und kleine Körnchen knirschten zwischen ihren Zehen, als sie ein paar Schritte in die feuchte Nachtluft machte und schnupperte. Die Juninacht war vom Geruch der Pinien, von Kreosot und dem Desinfektionsmittel, mit dem sie die Toiletten reinigten, vor allem jedoch vom Modergestank des entfernten Silver Lake erfüllt.
Als sie unter einer Reihe verwitterter Stützpfeiler aus Pinienholz hindurchging, schob sie die Hände in die Taschen ihrer Shorts und nahm sich vor, dieses Mal einfach immer weiterzugehen. Dieses Mal würde sie nicht stehen bleiben und sich nicht umsehen. Wenn sie sich umsah, fing sie an zu denken, und wenn sie dachte, riefen ihre Gedanken immer nur das alte Elend in ihr wach. Eine Minute lang marschierte sie entschlossen weiter, dann jedoch blieb sie unwillkürlich stehen, drehte sich um, reckte den Hals und blickte auf die massive hölzerne Silhouette von Black Thunder, die sich wie das Skelett eines prähistorischen Dinosauriers vom dunklen Himmel abhob.
Ihr Blick wanderte die steile Auffahrt hinauf, die Sechzig-Grad-Abfahrt hinunter, bei der ihr regelmäßig das Herz stehen geblieben war, und dann weiter die nächsten beiden Auf-und Abfahrten entlang bis zur letzten Spirale, durch die man in einem albtraumhaften Strudel bis auf den Silver Lake hinausschoss. Ihr Herz zog sich beim Anblick der drei Hügel und der steilen Todesspirale vor Sehnsucht und Bitterkeit zusammen. Das ganze Unglück hatte in jenem Sommer angefangen, als Black Thunder seinen Betrieb eingestellt hatte.
Obgleich sich der Silver-Lake-Freizeitpark im Vergleich zu Parks wie Bush Gardens oder Six Flags drüben in Georgia klein und altmodisch ausnahm, hatte er doch immer eine Besonderheit gehabt. Die größte hölzerne Achterbahn im gesamten Süden, eine Achterbahn, die von ihren Fans als aufregender erachtet wurde als der legendäre Coney Island Cyclone. Seit ihrer Erbauung Ende der zwanziger Jahre hatten Menschen aus dem ganzen Land den Freizeitpark besucht, nur um einmal damit zu fahren. Für unzählige Enthusiasten hatte die Fahrt nach Silver Lake den Status einer Pilgerreise gehabt.
Nach einem Dutzend Fahrten auf der legendären Berg-und-Tal-Bahn hatten sie natürlich auch die banaleren Attraktionen des Freizeitparks genossen und am Ende gewöhnlich für zwei Dollar pro Person eine Fahrt über den Silver Lake auf dem Schaufelraddampfer Robert E. Lee gemacht. Doch inzwischen hatte sowohl die Bobby Lee als auch Black Thunder ein trauriges Schicksal ereilt.
Vor knapp zwei Jahren, am ersten Mai 1978, war eine Aufhängung am letzten Wagen von Black Thunder gerissen, worauf er sich vom Zug gelöst hatte und aus der Bahn geschleudert worden war. Obgleich dabei glücklicherweise niemand zu Schaden gekommen war, hatten die Behörden die Achterbahn noch am selben Tag geschlossen, und keine der Banken hatte die teure Renovierung finanzieren wollen, ohne die die Wiederinbetriebnahme der Bahn nicht gestattet war. Ohne seine größte Attraktion starb der kleine Freizeitpark einen langsamen, schmerzlichen Tod.
Honey ging weiter durch den Park. Zu ihrer Rechten erhellte eine mit toten Käfern übersäte nackte Glühbirne das verlassene Innere der Auto-Scooter-Halle, in der die verbeulten Fiberglaswagen wie Schafe zusammengedrängt auf die Öffnung des Parks am nächsten Morgen warteten. Dann ging sie durch das Kinderland, in dem kleine Motorräder und winzige Feuerwehrautos reglos auf den Schienen standen und ihrer Gäste harrten, vorbei an der Krake und am Jumper, die sich von ihrer nicht gerade harten Arbeit auszuruhen schienen, ehe sie schließlich zur Geisterbahn kam, an deren Wand das Bild eines kopflosen Körpers prangte, aus dessen durchtrenntem Hals sich leuchtend rotes Blut über die Eingangstür ergoss.
»Chantal?«
Keine Antwort.
Sie nahm die Taschenlampe vom Haken hinter dem Kartenhäuschen und kletterte zielstrebig über die Rampe in das Gebäude. Tagsüber vibrierte die Rampe, und aus einem Lautsprecher drangen dumpfes Stöhnen und gellende Schreie, doch jetzt war alles ruhig. Sie betrat die Passage des Todes und richtete den Lichtstrahl der Lampe auf den über zwei Meter großen, mit einer Kapuze verhüllten Henker, der eine blutgetränkte Axt in den Händen hielt.
»Chantal, bist du hier drinnen?«
Immer noch hörte sie nichts. Sie schob sich durch die künstlichen Spinnweben, ging vorbei am Hackklotz in die Rattenhöhle und sah sich um. Einhundertundsechs »Ratten« hockten zwischen den Balken oder hingen an unsichtbaren Drähten von der Decke und blitzten sie aus rot glühenden Augen boshaft an.
Honey nickte zufrieden. Die Rattenhöhle war eindeutig der beste Teil der Geisterbahn, denn die Tiere waren echt. Ein Tierpräparator hatte sie 1952 für die Geisterbahn im Palisades Park in Fort Lee ausgestopft, und Ende der Sechziger hatte Onkel Earl sie aus dritter Hand einem Mann aus North Carolina abgekauft, dessen Park in der Nähe von Forest City Pleite gegangen war.
»Chantal?«, rief sie noch einmal, ehe sie, als sie immer noch nichts hörte, das Gebäude durch den Notausgang verließ, über einige Stromkabel kletterte und zurück in Richtung Hauptweg ging.
Die meisten der bunten Glühbirnen, die im Zickzack an mit einstmals farbenfrohen Wimpeln verzierten Schnüren über dem Hauptweg hingen, waren längst kaputt. Die Spielgeräte – das Ringe-Werfen, das Aquarium, das Verrückte Ballspiel und die Eisenklaue in dem gläsernen Kasten voller Kämme, Würfel und Schlüsselanhänger mit den Dukes of Hazzard – waren über Nacht verschlossen, doch der abgestandene Geruch von Popcorn, Pizza und dem ranzigen Öl der Trichterkuchen hing überall in der Luft.
Es war der Geruch von Honeys schnell endender Kindheit, und sie sog ihn tief in ihre Lungen ein. Falls die Disney-Leute den Park übernahmen, würde der Geruch zusammen mit den Spielgeräten, dem Kinderland und dem Geisterhaus für alle Zeit verschwinden. Sie umschlang ihren schmalen Oberkörper fest mit beiden Armen – die einzige Liebkosung dieser Art, da es sonst niemanden mehr gab, der sie in die Arme schloss.
Seit sie ihre Mutter im Alter von sechs Jahren verloren hatte, war dies das einzige Zuhause, das sie kannte. Und aus diesem Grund liebte sie es von ganzem Herzen. An die Leute von Disney zu schreiben war das Schlimmste, was sie jemals hatte tun müssen. Sie war gezwungen gewesen, all ihre Gefühle beiseite zu schieben und den verzweifelten Versuch zu unternehmen, das Geld aufzutreiben, das sie brauchte, um ihre Familie zusammenzuhalten, um sie vor dem Abstieg in die Sozialhilfe bewahren und ein Häuschen in einer netten Gegend für sie kaufen zu können, vielleicht mit ein paar hübschen Möbeln und einem kleinen Garten. Nun jedoch stand sie auf dem menschenleeren Hauptweg ihres kleinen Parks und wünschte sich, sie wäre alt und klug genug, um den Lauf der Dinge zu ändern. Sie konnte den Gedanken, Black Thunder zu verlieren, ganz einfach nicht ertragen, und wenn die Achterbahn noch in Betrieb wäre, hätte sie zweifellos weiter mit Händen und Füßen um den Erhalt des Parks gekämpft.
Die gespenstische nächtliche Stille und der Geruch von altem Popcorn weckten in ihr die Erinnerung an ein kleines Kind, das zusammengekauert, die aufgeschlagenen Knie bis ans Kinn hinaufgezogen, mit weit aufgerissenen Augen in einer Ecke des Wohnwagens gekauert hatte, während sie plötzlich jene zornige Stimme wieder hörte.
»Schaff sie mir aus den Augen, Sophie! Verdammt noch mal, sie macht mich einfach verrückt. Seit du sie gestern Abend hergebracht hast, hat sie sich kaum bewegt. Sie hockt einfach stumm in dieser Ecke und starrt uns alle mit großen Augen an.« Sie hörte, wie Onkel Earl seine fleischige Faust auf den Küchentisch hatte sausen lassen und wie Sophie jämmerlich gefragt hatte: »Aber Earl, wohin soll ich sie denn bringen?«
»Das ist mir scheißegal. Es ist nicht meine Schuld, dass deine Schwester sich ertränkt hat. Diese Sozialheinis aus Alabama hatten kein Recht, dir einfach diese Göre aufzuhalsen. Ich will, verdammt noch mal, in Ruhe essen, ohne dass sie mich dabei blöde anglotzt!«
Sophie war zu ihr in die Ecke gekommen und hatte mit der Spitze ihrer roten Espandrilles gegen die Sohle von einem von Honeys billigen Leinenturnschuhen getreten. »Hör auf, dich so idiotisch zu benehmen, Honey. Geh raus und such Chantal. Du hast den Park noch nicht gesehen. Sie wird ihn dir zeigen.«
»Ich will zu meiner Mama«, hatte Honey gewispert.
»Gottverdammt, Sophie! Schaff sie mir endlich aus den Augen!«
»Jetzt siehst du, was du angerichtet hast«, hatte Sophie geseufzt. »Jetzt ist dein Onkel Earl entsetzlich böse.« Sie hatte Honey am Oberarm gepackt und sie hochgezogen. »Komm. Wir holen dir eine schöne Zuckerwatte, ja?«
Sie hatte Honey aus dem Wohnwagen gezerrt und zwischen den Pinien hindurch hinaus in die gleißende Nachmittagssonne geführt. Honey hatte sich bewegt wie ein kleiner Roboter. Sie hatte keine Zuckerwatte gewollt. Sophie hatte ihr während des Frühstücks ein paar Cornflakes aufgezwungen, gegen die ihr Magen entsetzlich rebelliert hatte.
Sophie hatte ihren Arm längst wieder losgelassen. Honey hatte bereits gespürt, dass ihre Tante, im Gegensatz zu ihrer Mutter Carolann, andere Menschen nicht gerne berührte. Carolann hatte Honey ständig in den Arm genommen, sie gestreichelt und sie ihr kleines Zuckerpüppchen genannt, selbst wenn sie von ihrer anstrengenden Arbeit in der Reinigung in Montgomery völlig erschöpft gewesen war.
»Ich will zu meiner Mama«, hatte Honey abermals gewispert, während sie zwischen zwei Reihen hoher hölzerner Stützpfeiler durch das Gras gegangen waren.
»Deine Mama ist tot. Du kannst nicht ᅳ«
Den Rest von Sophies Antwort hatte Honey nicht mehr verstanden, da in diesem Augenblick direkt über ihrem Kopf das lautstarke Gebrüll eines grässlichen Ungeheuers losgebrochen war.
Honey hatte ebenfalls angefangen zu brüllen. All die Trauer und die Angst, die sich in ihr angestaut hatten, seit ihre Mutter gestorben und sie selbst aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen worden war, fanden in ihrem Entsetzen angesichts des plötzlichen grauenhaften Lärms endlich ein Ventil. Sie schrie und schrie und schrie.
Sie hatte eine ungefähre Vorstellung gehabt, was eine Achterbahn war, hatte jedoch nie in einer gesessen und noch nie eine derart riesige Anlage gesehen, sodass sie gar nicht auf die Idee gekommen war, dass es eine Verbindung zwischen dem schrecklichen Getöse und besagter Bahn gab. Sie hatte nur das Gebrüll eines Ungeheuers gehört, jenes Ungeheuers, das sich in Schränken und unter Betten versteckte und die Mütter kleiner Mädchen mit seinem fürchterlichen Maul packte und davonschleppte.
Sie hatte geschrien wie am Spieß. Nachdem sie während der sechs Tage seit dem Tod der Mutter beinahe stumm gewesen war, hatte sie nicht mehr aufhören können zu schreien, nicht einmal, als Sophie angefangen hatte sie zu schütteln.
»Hör auf. Hör auf mit dem Geschrei, hast du mich verstanden?«
Aber Honey hatte nicht aufhören können. Stattdessen hatte sie sich von der Hand ihrer Tante losgerissen und war mit rudernden Armen, immer weiter schreiend, unter den Gleisen der Achterbahn hindurchgelaufen, bis sie an eine Stelle gekommen war, an der die Gleise zu niedrig gewesen waren, um hindurchzuschlüpfen. Dort hatte sie sich an einem der Holzpfosten festgeklammert. Splitter hatten sich in ihre nackten Unterarme gebohrt, als sie das furchtbare Ungetüm in der wirren Überzeugung, es könnte sie nicht verschlingen, wenn sie es nur fest genug umklammert hielte, mit aller Kraft umschlang.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschrien hatte. All ihre Gedanken waren auf das grauenhafte Monster gerichtet gewesen, das hoch über ihrem Kopf sein Gebrüll erklingen ließ, auf die spitzen Splitter, die sich immer tiefer in die babyweiche Haut ihrer Unterarme gruben, und auf die grausige Gewissheit, dass ihre Mutter für alle Zeiten von ihr fortgegangen war.
»Verdammt, hör endlich mit dem Gebrüll auf!«
Während Sophie hilflos dagestanden hatte, war Onkel Earl von hinten an sie herangetreten und hatte sie mit einem zornigen Bellen von dem Pfosten fortgezerrt. »Was ist mit ihr los? Was zum Teufel ist jetzt schon wieder mit ihr los?«
»Ich habe keine Ahnung«, hatte Sophie gejammert. »Sie hat damit angefangen, als sie Black Thunder gehört hat. Ich glaube, er macht ihr einfach Angst.«
»Tja, das ist bedauerlich. Aber wir werden sie, verdammt noch mal, nicht von Anfang an verhätscheln.«
Er hatte Honey unsanft gepackt, unter dem Gleis hervorgezerrt und mit weit ausholenden Schritten durch das Gedränge der Besucher zum Einstieg in die Achterbahn geschleppt.
Einer der Wagen war gerade leer gewesen, und ohne auf die Proteste der Wartenden zu achten, hatte er sie auf einen Platz gesetzt und die Sicherheitsstange fest in ihren Schoß gepresst. Immer noch hatte sie gellend geschrien und verzweifelt versucht, aus dem Gefährt zu fliehen, doch ihr Onkel hatte sie mit einem seiner behaarten Arme fest in den Sitz gedrückt.
»Earl, was soll das werden?« Chester, der alte Mann, der die Achterbahn bediente, war angelaufen gekommen.
»Sie wird fahren.«
»Sie ist noch viel zu klein. Du weißt, dass sie für dieses Ding noch viel zu klein ist.«
»Das ist Pech. Mach sie fest. Und wage es ja nicht, langsamer zu fahren.«
»Aber, Earl …«
»Tu, was ich dir sage, oder du kannst dir heute Abend deinen Lohn bei Sophie abholen.«
Honey hatte verschwommen die lauten Proteste mehrerer wartender Erwachsener gehört, doch der Wagen hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, und ihr war bewusst geworden, dass man sie genau derselben Bestie, die auch schon ihre Mutter gierig verschlungen hatte, gnadenlos zum Fraß vorwarf.
»Nein!«, hatte sie geschrien. »Nein! Mama!«
Von Schluchzern geschüttelt, hatte sie in Todesangst die Sicherheitsstange umklammert. »Mama … Mama …«
Das Gerüst der Achterbahn hatte laut geknirscht, und der Wagen war die steile Anhöhe hinaufgekrochen, für die Black Thunder so berüchtigt war. Die quälende Langsamkeit des Anstiegs hatte ihr genügend Zeit gelassen, sich das fürchterliche Grauen auszumalen, das sie erwartete. Sie war sechs Jahre alt gewesen und ganz allein auf der Welt, allein mit der Bestie des Todes. Sie war vollkommen wehrlos, zu klein, zu schwach, um sich zu schützen, und es gab keinen Erwachsenen mehr auf Erden, der sie hätte retten können.
Das Entsetzen hatte ihr die Kehle zugeschnürt, und ihr winziges Herz hatte in ihrer Brust gehämmert, als der Wagen gnadenlos immer höher gekrochen war. Höher als bis auf den höchsten Berg der Welt. Höher als bis zu den Wolken. Höher als bis in den Himmel, geradewegs an einen dunklen Ort, an dem nur noch Teufel lauerten.
Der letzte Schrei hatte sich ihrer Kehle entrungen, als sie am höchsten Punkt der Bahn in den grauenhaften Abgrund hatte blicken müssen, in den sie geschleudert werden würde – mitten in die Eingeweide der fürchterlichen Bestie, die sie jeden Augenblick verschlänge, ehe …
… es wieder hinaufging Richtung Himmel.
Und dann abermals hinunter in die Hölle.
Und wieder hinauf in Richtung Himmel.
Nach dreimaligem Absturz in die Hölle und dreimaliger Wiederauferstehung war sie schließlich auf den See hinaus- und die Teufelsspirale hinuntergeschossen. Sie war gegen die Seitenwand ihres Wägelchens geprallt und in einem tödlichen Strudel geradewegs in Richtung Wasser geschleudert worden, ehe es in allerletzter Sekunde, kaum sechzig Zentimeter über der Wasseroberfläche, plötzlich wieder hinaufgegangen war. Schließlich hatte der Wagen seine Fahrt verlangsamt, und sie war am Endpunkt ihrer Reise angekommen.
Sie hatte nicht mehr geweint.
Ihr Onkel Earl war nicht mehr da gewesen, aber Chester, der Bahnführer, war angelaufen gekommen, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Doch sie hatte den Kopf geschüttelt und ihn, obgleich sie kreidebleich gewesen war, flehend angesehen: »Bitte noch einmal«, hatte sie geflüstert.
Sie war noch zu klein gewesen, um ausdrücken zu können, was während der Achterbahnfahrt in ihr vorgegangen war. Sie hatte nur gewusst, dass sie dieses Gefühl noch einmal haben musste – das Gefühl, dass es eine Macht gab, die größer war als sie, eine Macht, die in der Lage war zu strafen, aber auch zu retten. Das Gefühl, dass es ihr dank dieser Kraft irgendwie möglich gewesen war, ihre Mutter zu berühren.
An jenem Tag war sie mindestens ein Dutzend Mal auf Black Thunder gefahren, und auch später hatte sie sich immer wieder in die Achterbahn gesetzt, um im Schutz einer höheren Macht neue Hoffnung zu schöpfen. Black Thunder hatte sie bei jeder Fahrt mit dem Grauen des menschlichen Lebens konfrontiert, ehe die Bahn sie jedes Mal wieder in Sicherheit gebracht hatte.
In ihr Leben mit der Familie Booker hatte sich allmählich eine gewisse Routine eingeschlichen. Ihr Onkel Earl hatte sie nie wirklich gemocht, doch er hatte sich mit ihrer Existenz arrangiert, da sie ihm schon nach kurzer Zeit eine wesentlich größere Hilfe gewesen war als seine Tochter oder Frau. Sophie war so nett zu ihr, wie es einem derart egozentrischen Wesen wie ihr überhaupt möglich war. Sie erwartete nicht viel, nur dass Honey und Chantal mindestens einmal im Monat in die Sonntagsschule gingen.
Doch die große Berg-und-Tal-Bahn hatte Honey mehr über Gott gelehrt als die Baptistenkirche, und ihre Religion war leichter zu verstehen. Als jemand, der für sein Alter ziemlich klein geraten war, als Waise und dazu noch als Mädchen schöpfte sie immer wieder neuen Mut aus der Gewissheit, dass eine höhere Macht als die der Menschen existierte, etwas Starkes, Dauerhaftes, unter dessen Schutz sie stand.
Ein Geräusch aus der Arkade holte Honey in die Gegenwart zurück. Sie schalt sich dafür, dass sie derart ins Träumen geraten war. Nicht mehr lange, und sie wäre ebenso schlimm wie ihre Cousine. Sie machte ein paar Schritte, streckte den Kopf durch die Tür der Arkade und fragte: »He, Buck, hast du Chantal gesehen?«
Buck Ochs blickte von dem Flipperautomaten auf, den er gerade zu reparieren versuchte, weil sie ihm angedroht hatte, sie trete ihm derart in seinen fetten, alten Hintern, dass er geradewegs zurück nach Georgia fliegen würde, wenn er nicht wenigstens einen Teil der Geräte zum Laufen bringen würde. Sein Bierbauch drohte die Knöpfe seines schmutzigen Hemdes zu sprengen, als er sich dümmlich grinsend zu ihr umdrehte.
»Welche Chantal?«
Er lachte grölend über seinen Witz, und sie wünschte, sie könnte ihn auf der Stelle feuern, doch da sie die Löhne nicht immer pünktlich zahlen konnte, waren schon zu viele Männer weggegangen, und sie wusste, dass sie sich den Verlust eines weiteren Angestellten ganz einfach nicht leisten konnte. Außerdem war Buck, auch wenn er die unschöne Angewohnheit hatte, sich in Gegenwart von Damen an Stellen zu kratzen, wo es sich nicht gehörte, nicht bösartig. Er war einfach dämlich.
»Du bist ein echter Witzbold. Also, hast du Chantal hier irgendwo gesehen?«
»Nee. Ich bin hier ganz alleine.«
»Tja, dann sieh zu, dass du möglichst bis morgen früh ein paar dieser verdammten Geräte zum Laufen bringen kannst.«
Mit finsterer Miene verließ sie die Arkade und folgte dem Hauptweg bis zum Ochsenstall, einem heruntergekommenen Holzhaus hinter der Picknickecke zwischen den Bäumen, in dem die ledigen männlichen Angestellten untergebracht waren. Inzwischen lebten außer Buck nur noch zwei andere Männer dort. Durch die Fenster sah sie Licht, doch sie ging nicht näher, da sie sich nicht vorstellen konnte, dass Chantal zu Besuch bei Cliff oder Rusty war. Chantal war niemand, der einfach so herumsaß und sich mit Leuten unterhielt.
Ihr Unbehagen wuchs. Wohin war Chantal verschwunden? Hier stimmte etwas nicht, so viel stand fest. Und Honey fürchtete, ganz genau zu wissen, was es war.
Sie nahm den überwachsenen Betonpfad hinab in Richtung See.
Es war eine dunkle, stille Nacht. Während die alten Pinien, die über ihrem Kopf zusammenwuchsen, sodass nicht einmal das Licht des Mondes hindurchschimmern konnte, fiel ihr plötzlich wieder die alte Dampforgel ein, die immer »Dixie« gespielt hatte.
Ladies and Gentlemen. Kinder jeden Alters. Machen Sie eine Reise zurück in die gute alte Zeit, in der noch König Baumwolle das Land beherrscht hat. Begleiten Sie uns auf einer Fahrt mit dem Schaufelraddampfer Robert E. Lee, und genießen Sie den wunderschönen Silver Lake, den größten See von Paxawatchie in South Carolina …
Die Pinien endeten an einem halb verfallenen Dock. Honey blieb stehen und blickte erschaudernd auf das am Ende des Docks aufragende gespenstische Wrack, das einst die Bobby Lee gewesen war.
Die Robert E. Lee hatte genau dort vor Anker gelegen, als sie in einem Wintersturm ein paar Monate nach dem Achterbahnunglück untergegangen war. Das gesamte Unterdeck lag ebenso wie das einst so stolze Schaufelrad beinahe fünf Meter unter der Oberfläche der abgestandenen schmutzig braunen Brühe. Nur noch das Oberdeck und das Ruderhaus ragten aus dem Morast.
Honey erschauderte erneut und kreuzte die Arme vor der Brust. Fahles Mondlicht streckte seine geisterhaften Finger über den sterbenden See, dem der faulige Geruch nach verrottender Vegetation, toten Fischen und schimmligem Holz entstieg. Honey war alles andere als feige, aber nachts hielt sie sich nicht gerne in der Nähe der versunkenen Bobby Lee auf. Sie krümmte ihre Zehen in den Gummischlappen, um möglichst kein Geräusch zu machen, als sie vorsichtig das Dock hinunterschlich. Einige der Planken waren geborsten, sodass sie das stehende Wasser unter sich sehen konnte. Sie schob sich noch einen Schritt vorwärts, dann blieb sie stehen und öffnete den Mund, um nach Chantal zu rufen. Doch das Unbehagen schnürte ihr die Kehle zu, sodass kein Laut über ihre Lippen kam. Sie wünschte sich, sie hätte Rusty oder Cliff gebeten, sie zu begleiten.
Ihre Feigheit machte sie wütend. Es war auch so schon schwer genug, sich gegen die Männer zu behaupten. Kerlen wie ihnen gefiel es ganz und gar nicht, wenn ihr Boss eine Frau war – und schon gar kein sechzehnjähriges Mädchen. Falls also jemals einer von ihnen herausfände, dass sie vor etwas so Absurdem wie einem alten, versunkenen Schiff Angst hatte, würden sie zweifellos nie wieder auf sie hören.
Hinter ihr wurde lautes Flügelschlagen laut, als sich eine Eule aus Richtung der Bäume über den dunklen See schwang, und Honey atmete, als im selben Augenblick ein gedämpftes Stöhnen an ihre Ohren drang, zischend ein.
Auch wenn sie eigentlich nicht abergläubisch war, die drohende Gestalt des halb versunkenen Schiffes hatte sie erschreckt, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie tatsächlich gedacht, das Geräusch käme vielleicht von einem Vampir, einem Sukkubus oder irgendeinem Zombie. Dann tauchte der Mond wieder hinter den Wolken auf, und ihr gesunder Menschenverstand gewann wieder die Oberhand. Sie wusste genau, dass das Geräusch nicht das Geringste mit Zombies zu tun hatte.
Sie marschierte entschlossen das Dock hinunter, und ihre Gummischlappen schlugen vernehmlich gegen ihre Sohlen, als sie über die verrotteten Planken sprang und aufgetürmte alte Taue umrundete. Das Schiff war ungefähr anderthalb Meter hinter dem Ende des Docks gesunken, und die zerborstene Reling des Oberdecks ragte grinsend wie das Maul eines zahnlosen Riesen aus dem Wasser auf. Sie rannte in Richtung des Sperrholzbretts, das als Rampe diente und unter ihrem Gewicht wie ein Trampolin vibrierte, als sie die Steigung im Laufschritt nahm.
Ihre Fußsohlen brannten, als sie hart auf dem Oberdeck landete, doch sie umklammerte ein Stück Reling, um nicht die Balance zu verlieren, und lief weiter in Richtung der Treppe, über die man hinunter in das schlammige Wasser gelangte. Selbst im Dunkeln sah sie den weißen Bauch eines toten Fisches, der in der Nähe der untergetauchten Stufen in der übel riechenden Brühe trieb.
Sie schwang ein Bein über das abblätternde Holzgeländer und hastete den Teil der Treppe hinauf, über den man halbwegs trockenen Fußes zum Ruderhaus gelangte. Direkt neben der Tür traf sie auf zwei Gestalten, die eng miteinander verschlungen auf dem Boden lagen und derart ineinander versunken waren, dass sie noch nicht einmal gehört zu haben schienen, dass jemand hereingekommen war.
»Du elender Dreckskerl, lass sie sofort los!«, brüllte Honey, als sie das Ruderhaus erreichte.
Eine Fledermaus flatterte durch das zerbrochene Fenster, und die beiden Gestalten fuhren erschrocken auseinander.
»Honey!«, rief Chantal entgeistert. Unter ihrer geöffneten Bluse sahen ihre bloßen Brustspitzen im weißen Licht des Mondes wie zwei Silberdollar aus.
Der junge Mann sprang hastig auf und zerrte am Reißverschluss seiner Shorts, zu denen er ein T-Shirt der University of South Carolina mit dem viel sagenden Aufdruck »Kampfhahn« trug. Einen Moment lang wirkte er benommen, ehe er Honeys wirres Haar, die winzige Gestalt und die gerunzelte Stirn, die ihr das Aussehen eines zornigen zehnjährigen Jungen verlieh, mit einem herablassenden Blick bedachte.
»Verschwinde«, stieß er kampflustig hervor. »Du hast hier nichts zu suchen.«
Chantal erhob sich ebenfalls und begann ihre Bluse zuzuknöpfen, wie üblich in Zeitlupentempo.
Der Junge legte einen Arm um ihre Schulter, und die Vertrautheit dieser Geste, der offenkundige Besitzerstolz, den er damit verriet, brachten das Fass zum Überlaufen. Chantal gehörte genau wie Tante Sophie und der gesamte Park zu Honey und nicht zu diesem Typen! Honey wies mit ausgestrecktem Zeigefinger neben sich auf den Boden. »Chantal Booker, du kommst sofort hierher. Ich meine es ernst. Du kommst auf der Stelle.«
Chantal starrte einen Moment lang auf ihre Sandalen, ehe sie, wenn auch widerwillig, einen Schritt nach vorn trat.
Der Junge packte sie am Arm. »Einen Augenblick. Wer ist das? Was macht sie hier, Chantal?«
»Das ist meine Cousine Honey«, erwiderte Chantal. »Ich schätze, sie hat hier das Sagen.«
Honey streckte noch einmal ihren Zeigefinger aus. »Allerdings. Und jetzt kommst du her.«
Chantal wollte der Anweisung Folge leisten, doch der Junge hielt sie weiter fest. »Also bitte, sie ist doch noch ein Kind. Du brauchst nicht auf sie zu hören.« Er deutete auf das Seeufer. »Los, Kleine, geh schön wieder dorthin zurück, woher du gekommen bist.«
Honeys Augen verengten sich zu zwei gefährlich schmalen Schlitzen. »Jetzt hör mir mal gut zu. Wenn du weißt, was gut für dich ist, packst du auf der Stelle dein kleines Ding da wieder in deine schmutzige Unterhose und siehst zu, dass du Land gewinnst, bevor ich wirklich wütend werde.«
Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Vielleicht sollte ich dich einfach den Fischen zum Fraß vorwerfen, Baby.«
»Das würde ich an deiner Stelle lieber gar nicht erst versuchen.« Honey hasste es, wenn man sie nicht ernst nahm, deshalb reckte sie drohend das Kinn und trat einen Schritt auf den Jungen zu. »Vielleicht sollte ich dir sagen, dass ich erst letzte Woche aus der Besserungsanstalt entlassen worden bin, in der ich gesessen habe, weil ich einen Kerl niedergestochen habe, der wesentlich größer war als du. Eigentlich hatten sie mich auf den elektrischen Stuhl schicken wollen, nur war ich dazu noch zu jung.«
»Ach ja? Und was ist, wenn ich das nicht glaube?«
Chantal entfuhr ein resignierter Seufzer. »Honey, wirst du Mama davon erzählen?«
Doch Honey schenkte ihr keine Beachtung. »Hat Chantal dir überhaupt erzählt, wie alt sie ist?«, fragte sie den Jungen.
»Das geht dich ja wohl einen feuchten Dreck an.«
»Hat sie erzählt, sie sei achtzehn?«
Ein Anflug von Unsicherheit lag in seinem Blick, als er zu Chantal hinübersah.
»Ich hätte es wissen müssen«, stellte Honey angewidert fest. »Dabei ist sie gerade mal fünfzehn. Haben sie euch an der Uni noch nie etwas von Unzucht mit Minderjährigen erzählt?«
Der Junge zog abrupt seine Hand zurück, als wäre Chantal radioaktiv verseucht. »Ist das wahr, Chantal? Du siehst viel älter aus als fünfzehn.«
Ehe Chantal Gelegenheit bekam, etwas zu sagen, ergriff Honey abermals das Wort. »Sie ist für ihr Alter einfach ziemlich reif.«
»Also bitte, Honey …«, protestierte die Cousine.
Trotzdem rückte ihr Verehrer bereits merklich von ihr ab. »Vielleicht sollten wir uns für heute Abend voneinander verabschieden, Chantal.« Er schlenderte in Richtung Treppe. »Ich habe mich wirklich prächtig amüsiert. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann mal wieder.«
»Sicher, Chris. Das wäre wirklich schön.«
Er floh über die Treppe. Sie hörten das Surren der Sperrholzrampe, dann ein lautes Klatschen, als er auf dem Dock aufkam, und beobachteten, wie er zwischen den Pinien verschwand.
Chantal ließ sich seufzend auf den Boden sinken und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand des Ruderhauses. »Hast du eine Zigarette für mich?«
Honey setzte sich neben ihre Cousine, zog eine zerknitterte Packung Salems aus der Tasche und drückte sie ihr in die Hand. Chantal zog die Streichhölzer unter dem Zellophan hervor, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Warum hast du ihm erzählt, ich sei erst fünfzehn?«
»Ich wollte mich nicht mit ihm prügeln müssen.«
»Honey, du hättest keine Chance gegen ihn gehabt. Du hast ihm ja noch nicht mal bis zum Kinn gereicht. Und du weißt genau, dass ich schon achtzehn bin – zwei Jahre älter als du.«
»Vielleicht hätte ich mich trotzdem mit ihm geprügelt.« Honey nahm die Zigarettenpackung entgegen, kam nach kurzem Zögern jedoch zu dem Schluss, das sie sich keine anzünden wollte. Sie versuchte seit Monaten zu lernen, wie man rauchte, aber irgendwie hatte sie den Bogen immer noch nicht raus.
»Und dann dieser Quatsch von der Besserungsanstalt und dem Mann, den du niedergestochen haben willst. So was glaubt dir doch kein Mensch.«
»Manche schon.«
»Ich glaube nicht, dass es besonders gut ist, so viele Lügen zu erzählen.«
»Das gehört eben dazu, wenn man als Frau in der Geschäftswelt erfolgreich sein will. Andernfalls nutzen einen die Leute nämlich einfach schamlos aus.«
Chantal kreuzte ihre nackten, wohlgeformten Beine, die in knappen weißen Shorts steckten, und Honey musterte die Füße ihrer Cousine mit den sorgfältig lackierten Zehennägeln. Ein hübscheres Wesen als Chantal hatte sie noch nie gesehen. Es war wirklich kaum zu glauben, dass sie die Tochter von Earl und Sophie Booker – zwei bestenfalls mittelprächtigen Exemplaren ihrer Gattung – war. Chantal besaß dichte schwarze Locken, exotische, leicht schräg stehende Augen, einen kleinen roten Mund und eine weiche, weibliche Figur. Mit ihrem dunklen Haar und dem olivfarbenen Teint sah sie aus wie eine temperamentvolle Lateinamerikanerin, was vollkommen falsch war, da sie ungefähr so lebendig war wie ein alter Jagdhund, der mit der Hitze eines Sommertages rang. Honey liebte sie trotzdem.
Zigarettenrauch kräuselte sich über ihrer Oberlippe, als sie ihn durch die Nase wieder einsog. »Ich würde beinahe alles dafür geben, mit einem Filmstar verheiratet zu sein. Wirklich wahr, Honey. Ich würde beinahe alles dafür geben, Mrs. Burt Reynolds zu sein.«
Honeys Meinung nach war Burt Reynolds ungefähr zwanzig Jahre zu alt für ihre Cousine, doch ihr war klar, dass sie sie davon niemals würde überzeugen können, deshalb spielte sie stattdessen ihre Trumpfkarte aus. »Mr. Burt Reynolds ist ein Junge aus dem Süden. Und Jungs aus dem Süden heiraten lieber Jungfrauen.«
»Ich bin immer noch so eine Art Jungfrau.«
»Was du nur mir zu verdanken hast.«
»Ich hätte Chris nicht bis zum Äußersten gehen lassen.«
»Chantal, vielleicht hättest du ihn gar nicht daran hindern können, wenn er erst mal so richtig heiß gewesen wäre. Du weißt, dass du nicht gut darin bist, nein zu sagen.«
»Wirst du es Mama erzählen?«
»Das würde ohnehin nichts nützen. Sie würde einfach einen anderen Sender einschalten und wieder einschlafen. Das war das dritte Mal, dass ich dich mit einem dieser College-Jungs erwischt habe. Sie sind hinter dir her, als würdest du irgendwelche Funksignale an sie aussenden. Und was war mit dem Jungen, mit dem du letzten Monat in der Geisterbahn gewesen bist? Als ich euch entdeckt habe, hatte er seine Hand in deiner Hose.«
»Es fühlt sich einfach gut an, wenn die Jungs das machen. Und er war wirklich nett.«
Honey schnaubte. Es war sinnlos, mit Chantal zu reden. Sie war wirklich lieb, aber leider nicht besonders klug. Nicht dass es Honey zugestanden hätte, sie deshalb zu kritisieren. Immerhin hatte sie die Highschool absolviert, was mehr war, als Honey gelungen war.
Honey hatte die Schule nicht verlassen, weil sie dumm war – sie war eine regelrechte Leseratte und bewies ihre Intelligenz jeden Tag aufs Neue. Sie war abgegangen, weil sie Besseres zu tun hatte, als ihre Zeit mit einem Haufen dämlicher Mädchen zu verbringen, die überall herumerzählten, sie sei lesbisch, nur weil sie Angst vor ihr hatten.
Bei der Erinnerung daran hätte sie sich immer noch am liebsten irgendwo verkrochen. Honey war nicht so hübsch wie die anderen Mädchen. Sie trug keine adretten Kleider und plapperte auch nicht den ganzen Tag unbekümmert daher. Aber deshalb war sie doch noch längst nicht lesbisch, oder? Die Frage machte ihr noch immer zu schaffen, da sie sich über die Antwort nicht ganz im Klaren war. Ganz bestimmt würde sie sich nicht von einem Jungen unter den Shorts berühren lassen wie ihre Cousine.
Chantals Stimme durchbrach die Stille, die inzwischen entstanden war. »Denkst du jemals an deine Mama?«
»Nicht mehr sehr oft.« Honey hob ein zerborstenes Holzstück vom Boden auf. »Aber wenn du schon damit anfängst, würde es vielleicht nicht schaden, darüber nachzudenken, was meiner Mama passiert ist, als sie noch jünger war als du. Sie hat einen College-Jungen an sich herangelassen, und das hat ihr Leben ruiniert.«
»Das kapiere ich nicht. Wenn deine Mama nicht mit diesem College-Jungen geschlafen hätte, wärst du niemals geboren worden. Und wo wärst du dann?«
»Darum geht es nicht. Es geht darum, dass College-Jungs nur eines von Mädchen wie dir und meiner Mama wollen. Sie wollen nur Sex. Und wenn sie ihn bekommen haben, hauen sie einfach ab. Willst du vielleicht irgendwann mal ganz allein mit einem Baby dastehen und von der Sozialhilfe leben?«
»Chris hat gesagt, ich sei hübscher als all die College-Mädchen, die er kennt.«
Es war einfach sinnlos. In Augenblicken wie diesen trieb Chantal sie zur Verzweiflung. Wie sollte sie jemals mit dem Leben zurechtkommen, wenn Honey nicht da war und sich um alles kümmerte? Obwohl Chantal die Ältere von ihnen beiden war, hatte Honey von Anfang an auf sie Acht gegeben und versucht ihr zu erklären, was richtig und was falsch war und wie man in der Welt zurechtkam. Dieses Wissen schien Honey instinktiv zu besitzen, während Chantal jedoch genau wie ihre Mutter war. Sie interessierte sich für nichts, wobei sie sich Mühe geben musste.
»Honey, weshalb machst du dich nicht auch ein bisschen hübsch, damit du endlich einen Freund kriegst?«
Honey sprang zornig auf die Füße. »Verdammt noch mal, ich bin nicht lesbisch, falls es das ist, was du mir damit sagen willst.«
»Das wollte ich damit bestimmt nicht sagen.« Chantal blickte gedankenverloren in den Rauch, der am Ende ihrer Zigarette in die Luft stieg. »Ich schätze, wenn du lesbisch wärst, hätte ich als Erste etwas davon gemerkt. Schließlich schlafen wir, seit du zu uns gekommen bist, in einem Bett, und du hast dich nie an mich rangemacht.«
Etwas besänftigt setzte Honey sich wieder auf den Boden. »Hast du heute schon mit dem Stab geübt?«
»Kann sein … ich weiß nicht mehr genau.«
»Also nein, stimmt’s?«
»Es ist wirklich schwer, das Ding zu drehen, Honey.«
»Es ist nicht schwer. Du musst einfach üben, das ist alles. Du weißt, dass ich vorhabe, es dich nächste Woche mit einer Fackel versuchen zu lassen.«
»Warum musstest du auch ausgerechnet etwas so Schwieriges wie Jonglieren aussuchen?«
»Du kannst nicht singen, du kannst kein Instrument spielen, und du kannst nicht steppen. Also war Jonglieren das Einzige, was mir eingefallen ist.«
»Ich kann einfach nicht verstehen, weshalb es dir so wichtig ist, dass ich Miss Paxawatchie County werde. Schließlich kaufen doch angeblich die Leute von Disney unseren Park.«
»Das wissen wir nicht sicher. Bisher ist es nur ein Gerücht. Ich habe ihnen noch einen Brief geschrieben, aber sie haben mir noch nicht geantwortet, und wir können nicht einfach untätig hier herumsitzen und warten, was passiert.«
»Letztes Jahr musste ich nicht an diesem Schönheitswettbewerb teilnehmen. Warum also jetzt?«
»Weil letztes Jahr der erste Preis hundert Dollar und eine Behandlung im Schönheitssalon von Dundees Kaufhaus war. Dieses Jahr hingegen gibt es eine Reise nach Charleston zum Casting für die Dash Coogan Show.«
»Da ist noch was, worüber ich mit dir reden wollte, Honey«, maulte Chantal. »Ich denke, dass du dir in dieser Sache übertriebene Hoffnungen machst. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, im Fernsehen aufzutreten. Mir schwebt als Beruf eher so etwas wie Friseurin vor. Ich habe schon immer gern mit Haaren zu tun gehabt.«
»Du brauchst auch keine Ahnung davon zu haben, wie es ist, im Fernsehen aufzutreten. Sie suchen ein neues Gesicht. Das habe ich dir inzwischen bestimmt schon hundertmal erklärt.«
Honey griff in ihre Tasche, zog den abgegriffenen Prospekt hervor, in dem alles über die diesjährige Wahl zur Miss Paxawatchie County nachzulesen war, und blätterte zur letzten Seite. Im düsteren Mondlicht konnte sie das Kleingedruckte nicht lesen, aber sie hatte das Heft schon so oft studiert, dass sie längst auswendig wusste, was in jeder Zeile stand.
Die Gewinnerin des Titels der Miss Paxawatchie County erhält vom Sponsor des Wettbewerbs, Dundees Kaufhaus, eine Reise nach Charleston, wo sie zum Casting zur Dash Coogan Show, einer mit Spannung erwarteten neuen Fernsehserie, die in Kalifornien gedreht wird, eingeladen ist.
Auf der Suche nach einer Schauspielerin für die Rolle der Celeste, Mr. Coogans Tochter, laden die Produzenten der Dash Coogan Show Südstaaten-Schönheiten in sieben Städten zum Vorsprechen ein. Die Bewerberin muss zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren alt und hübsch sein und einen ausgeprägten Südstaatenakzent haben. Die Castings finden in Charleston, Atlanta, New Orleans, Birmingham, Dallas, Houston und San Antonio statt.
Honey runzelte die Stirn. Der letzte Teil bereitete ihr große Sorgen. Diese Fernsehleute besuchten drei Städte in Texas, aber nur eine in den jeweils anderen Staaten. Man brauchte also nicht allzu viel Grips zu haben, um sich vorstellen zu können, dass sie offenbar am liebsten ein Mädchen aus Texas hätten, was nicht weiter überraschte, denn schließlich war Dash Coogan der König aller Cowboy-Filmstars. Aber trotzdem. Als sie erneut den Prospekt anstarrte, tröstete sie sich mit der Gewissheit, dass es in ganz Texas zweifellos keine einzige junge Frau gab, die so hübsch war wie Chantal.
Die Siegerinnen der Vorauswahl werden zu Probeaufnahmen mit Mr. Coogan nach Los Angeles eingeladen. Kinobesuchern ist Dash Coogan als Star aus über 20 Western-Filmen, darunter Lariat und Alamo Sunset, seinen beiden berühmtesten Streifen, seit Jahren ein Begriff. Dies wird seine erste Fernsehserie werden. Wir alle hoffen, dass unsere Miss Paxawatchie County in die Rolle seiner Tochter schlüpfen wird.
Abermals unterbrach Chantal ihre Gedanken. »Weißt du, das Problem ist – ich will einen Filmstar heiraten. Nicht selber einer sein.«
Honey ging nicht darauf ein. »Was du willst, spielt im Moment nicht die geringste Rolle. Wir stehen kurz vor der endgültigen Pleite, und das heißt, dass wir jede Chance nutzen müssen, die sich uns bietet. Untätigkeit ist der Anfang eines langsamen, aber sicheren Abstiegs in die Sozialhilfe, und dort werden wir enden, wenn wir nicht dafür sorgen, dass etwas passiert.« Sie umschlang ihre dürren Knie mit den Armen und senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Ich habe so ein Gefühl, Chantal. Ich kann es nicht erklären, aber ich habe das sichere Gefühl, dass diese Fernsehleute dich nur einmal anzusehen brauchen, um zu wissen, dass du das Zeug zu einem echten Star hast.«
Chantals Seufzer schien aus dem hintersten Winkel ihres Inneren zu kommen. »Manchmal dreht sich mir der Kopf von deinem Gerede, Honey. Du musst eine Menge von dem College-Jungen geerbt haben, der dein Vater war, denn ganz eindeutig hast du nicht die geringste Ähnlichkeit mit uns.«
»Wir müssen die Familie zusammenhalten«, antwortete Honey mit Nachdruck. »Sophie ist dabei völlig nutzlos, und ich bin zu jung, um einen anständigen Job zu kriegen. Du bist unsere einzige Hoffung, Chantal. Als du angefangen hast, als Model für Dundees Kaufhaus zu arbeiten, ist mir klar geworden, dass unsere größte Chance in deinem Aussehen steckt. Falls die Disney-Leute unseren Park nicht kaufen, brauchen wir einen Ersatzplan. Wir drei sind eine Familie. Wir dürfen nicht zulassen, dass unserer Familie irgendwas passiert.«
Doch Chantal sah zu den leuchtenden Sternen am nächtlichen Himmel empor und war gänzlich in ihrem Traum von der Hochzeit mit einem Filmstar versunken.
2
»Und die Miss Paxawatchie County des Jahres 1980 ist … Chantal Booker!«
Honey sprang begeistert auf die Füße und stimmte ein Geheul an, das über den Applaus des Publikums hinweg zu hören war. Aus dem Lautsprecher drang »Give My Regards to Broadway«, und Laura Liskey, die Miss Paxawatchie County des Vorjahres, drückte Chantal das Krönchen auf den Kopf. Auf Chantals Zügen breitete sich ihr typisches angedeutetes Lächeln aus. Die Krone glitt etwas zur Seite, was sie jedoch nicht zu bemerken schien.
Honey sprang klatschend und johlend auf und ab. Endlich fand die entsetzliche letzte Woche ein glückliches Ende. Chantal hatte den Titel gewonnen, obwohl ihr Auftritt mit dem Stab die schlechteste Darbietung gewesen war, seit Mary Ellen Ballinger drei Jahre zuvor zu »Jesus Christ Superstar« gesteppt hatte. Chantal hatte den Stab bei jeder Doppeldrehung fallen gelassen und die Hälfte des Finales schlicht vergessen, aber sie hatte dabei derart hübsch ausgesehen, dass es allen egal gewesen war. Und bei der Beantwortung der Fragen hatte sie eine für ihre Verhältnisse erstaunliche Eloquenz an den Tag gelegt. Auf die Frage nach ihren Plänen für die Zukunft hatte sie pflichtgemäß erwidert, sie wolle entweder Therapeutin für Sprech- und Hörgeschädigte oder Missionarin werden, wie es ihr von Honey auferlegt worden war. Honey hatte keinerlei Gewissensbisse wegen dieser Lüge, die sich wesentlich besser anhörte, als wenn Chantal verkündet hätte, dass sie am liebsten Burt Reynolds heiraten wollte.
Während Honey applaudierte, sandte sie ein stummes Dankgebet zum Himmel, dass sie klug genug gewesen war, auf die brennenden Fackeln zu verzichten. Chantal hätte dem Bezirk Paxawatchie damit zweifellos weitaus größeren Schaden zugefügt als William Tecumseh Sherman mit seiner gesamten Armee.
Zehn Minuten später schob sie sich durch das Gedränge hinter die Bühne der Aula ihrer alten Highschool, wobei sie sich nach Kräften bemühte, die Familien, die stolz die Mädchen in den duftigen Kleidern anstrahlten – plumpe Mütter und Väter mit schütterem Haar, Tanten, Onkel und Großeltern – zu übersehen. Der Anblick glücklicher Familien war einfach zu schmerzhaft.
Sie entdeckte Shep Watley, den Sheriff des Bezirks, der mit seiner Tochter Amelia am Rand des Saals stand. Sein bloßer Anblick schmälerte ihre Freude über Chantals Sieg. Am Vortag hatte Shep ein Geschlossen-Schild über den Haupteingang des Parks genagelt und ihr damit einen solchen Schrecken eingejagt, dass sie die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Doch nun, da Chantal den Wettbewerb gewonnen hatte, spielte die Schließung ihres Parks ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass die Disney-Leute keinen ihrer vielen Briefe beantwortet hatten. Wenn die Leute vom Fernsehen Chantal erst sähen, würden sie sich ebenso wie die Jury des Schönheitswettbewerbs umgehend in sie verlieben. Chantal würde anfangen, jede Menge Geld zu verdienen, sodass sie den Park zurückkaufen konnten.
Dies war die Stelle, an der ihre Fantasie sie jämmerlich im Stich ließ. Wenn Chantal ein Filmstar werden und in Kalifornien leben würde, wie könnten sie dann alle zusammen hierher zurückziehen?
Allmählich wurde es zu einer schlechten Angewohnheit, dass sie sich ständig um irgendetwas sorgte. Entschieden schüttelte sie ihre Ängste ab und blickte stolz auf ihre Cousine, die gerade mit Miss Monica Waring, der Organisatorin des Wettbewerbes, sprach. Chantal war einfach wunderschön, wie sie in dem weißen Kleid, das sie zuletzt auf dem Highschool-Abschlussball getragen hatte, und mit der mit Rheinkieseln besetzten Krone neben der Bühne stand, lächelte und zu etwas, was Miss Waring erzählte, nickte. Die Fernsehleute würden ihr bestimmt nicht widerstehen können.
»Kein Problem, Miss Waring«, sagte Chantal, als Honey auf die beiden zuging. »Mich stört diese Änderung nicht im Geringsten.«
»Du bist wirklich ein Schatz, und ich danke dir für dein Verständnis.« Monica Waring, eine schlanke, elegante Frau, die nicht nur diesen Schönheitswettbewerb ins Leben gerufen hatte, sondern gleichzeitig für die PR des Dundee-Kaufhauses zuständig war, wirkte so erleichtert, dass Honey augenblicklich klar war, dass irgendetwas nicht in Ordnung sein konnte.
»Darf man fragen, worum es bei der Unterhaltung geht?«
Chantal blickte nervös zwischen den beiden Frauen hin und her, ehe sie sie, wenn auch nur widerstrebend, einander vorstellte. »Miss Waring, das hier ist meine Cousine, Honey Moon.«
Wie die meisten Menschen riss auch Monica Waring, als sie diesen Namen hörte, überrascht die Augen auf. »Was für ein ungewöhnlicher Name.«
Sophie hatte erzählt, bei Honeys Geburt hätte die Krankenschwester ihrer Mutter Carolann erklärt, sie hätte ein honigsüßes kleines Mädchen, worauf Carolann zu dem Schluss gekommen war, dass ihr der Name Honey außerordentlich gut gefiel. Erst als die Geburtsurkunde vorgelegen und sie den ganzen Namen zum ersten Mal schwarz auf weiß gesehen hatte, war ihr bewusst geworden, dass die Wahl des Vornamens vielleicht ein wenig ungeschickt gewesen war.
Da Honey nicht wollte, dass irgendjemand glaubte, ihre Mutter sei dumm gewesen, gab sie die gewohnte Antwort. »Der Name wird in unserer Familie immer von der Mutter an die älteste Tochter weitervererbt, weshalb es seit der Zeit des Bürgerkriegs immer eine Honey Moon gegeben hat.«
»Ich verstehe.« Falls es Monica Waring ungewöhnlich erschien, dass so viele Generationen schwangerer Frauen niemals ihren Nachnamen geändert hatten, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie wandte sich wieder an Chantal und tätschelte ihr mütterlich den Arm. »Nochmals herzlichen Glückwunsch, meine Liebe. Und ich kümmere mich am Montag um die kleine Änderung.«
»Was für eine Änderung?«, wollte Honey wissen, ehe Miss Waring sich abwenden konnte.
»Äh – da drüben stehen Jimmy McCully und seine Freunde«, erwiderte Chantal nervös. »Ich glaube, ich gehe mal zu ihnen rüber und sage kurz hallo.« Ehe Honey sie daran hindern konnte, war sie verschwunden.
Miss Waring starrte auf einen Punkt neben Honeys Kopf. »Ich habe Chantal bereits erklärt, dass der Preis ein wenig geändert wurde, aber natürlich wollte ich auch noch mit Mrs. Booker persönlich darüber sprechen.«
»Meine Tante Sophie ist leider nicht da. Sie leidet unter … äh … Gallensteinen und ist wegen der Schmerzen zu Hause geblieben. Deshalb vertrete ich sie praktisch.«
Miss Warings sorgfältig gezupfte Brauen schossen in die Höhe. »Bist du dafür nicht noch etwas zu jung?«
»Ich bin neunzehn«, erwiderte Honey.
Miss Waring musterte sie skeptisch, ging jedoch nicht näher darauf ein. »Ich habe Chantal erklärt, dass wir den ersten Preis ein wenig abgewandelt haben. Natürlich gibt es immer noch die Reise nach Charleston, doch statt des Castings für die Fernsehshow mieten wir eine Limousine, in der die Siegerin und eine Begleitung ihrer Wahl eine Stadtrundfahrt, gefolgt von einem wunderbaren Dinner in einem Vier-Sterne-Restaurant, geboten bekommt. Und natürlich bekommt Chantal die übliche Behandlung in unserem Schönheitssalon.«
Hinter der Bühne war es stickig und heiß, doch Honeys Blut gefror zu Eis. »Nein! Der erste Preis ist die Teilnahme am Casting für die Dash Coogan Show!«
»Ich fürchte, das ist leider nicht möglich. Wobei unser Kaufhaus keine Schuld trifft. Offenbar haben die Fernsehleute ihren Terminplan geändert – wobei sie mir ruhig ein wenig früher hätten Bescheid geben können, und nicht erst gestern Nachmittag. Statt wie geplant nächsten Mittwoch nach Charleston zu kommen, fliegen sie direkt nach Los Angeles zurück und wählen unter den bereits ausgesuchten Mädchen eines für die Rolle aus.«
»Sie kommen nicht nach Charleston? Das können sie nicht machen! Wie sollen sie dann Chantal sehen?«

ENDE DER LESEPROBE

Die Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel»Honey Moon« bei Pocket Books,a division of Simon and Schuster Inc., New York.
Blanvalet Taschenbücher erscheinen imGoldmann Verlag, einem Unternehmen derVerlagsgruppe Random House.
Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2003
Copyright © der Originalausgabe 1993 by Susan Elizabeth Phillips
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
Lektorat: Maria DüringRedaktion: Andrea BrandlHerstellung: Heidrun NawrotMade in Germany
eISBN 978-3-641-06028-2V002
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