Wer Ja sagt, muss sich wirklich trauen - Susan Elizabeth Phillips - E-Book
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Wer Ja sagt, muss sich wirklich trauen E-Book

Susan Elizabeth Phillips

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Beschreibung

Wir sagen Ja!

Wo ist die Braut? Ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag flüchtet Lucy in letzter Sekunde, lässt ihren eigentlich so unwiderstehlichen Bräutigam vor dem Altar stehen und ihn – und die komplette Kleinstadt – ratlos zurück. Als sie auf einen bedrohlich aussehenden, aber auch sehr reizvollen Fremden trifft, schwingt sie sich spontan auf den Rücksitz seines Motorrads – mit unbekanntem Ziel. Auf ihrem wilden Roadtrip versucht Lucy, mehr über diesen Mann zu erfahren, der so viel über sie zu wissen scheint, aber nichts über sich selbst preisgeben will …

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Susan Elizabeth Phillips

Wer Ja sagt, muss sich wirklich trauen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Claudia Geng

Die Originalausgabe erschien 2012

unter dem Titel »The Great Escape« bei William Morrow, an imprint of HarperCollinsPublishers, New York

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2012 by Susan Elizabeth Phillips

Copyright © 2013 für die deutsche Ausgabe

by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-09339-6

www.blanvalet.de

FÜRDAWN

Auch wenn du hübscher bist und dich besser kleidest, liebe ich dich immer noch, meine Freundin.

Und trotzdem, zum millionsten Mal, wünschte Lucy sich, eine richtige Familie zu haben. Ihr ganzes Leben lang hatte sie von einem Dad geträumt, der den Rasen mähen und ihr irgendeinen beknackten Kosenamen geben würde, und von einer Mutter, die keine Säuferin war, die nicht jeden Job verlor und mit diversen Männern schlief.

AUS: WERWILLSCHONEINENTRAUMMANN

Kapitel 1

Lucy bekam keine Luft. Das Mieder ihres Brautkleids, das ihr noch in der vergangenen Woche wie angegossen gepasst hatte, quetschte nun ihre Rippen zusammen, als wäre es eine Boa Constrictor. Was, wenn sie erstickte, direkt hier in der Vorhalle der Presbyterian Church von Wynette?

Draußen hinter der Absperrung stand eine internationale Armee von Reportern, der Altarraum in der Kirche war zum Bersten gefüllt mit den Reichen und Berühmten. Nur wenige Schritte entfernt warteten die ehemalige Präsidentin der Vereinigten Staaten und ihr Mann darauf, Lucy zum Altar zu führen, damit sie den perfektesten Mann der Welt heiraten konnte. Den Traummann jeder Frau. Den liebenswürdigsten, rücksichtsvollsten, klügsten… Welche Frau, die ihren Verstand beisammenhatte, würde Ted Beaudine nicht heiraten wollen? Er hatte Lucy von dem Moment an verzaubert, in dem sie sich kennenlernten.

Die Trompeten schmetterten los und verkündeten den Beginn der Prozession der Braut, während Lucy versuchte, ein paar Luftmoleküle in ihre Lunge zu bekommen. Sie hätte sich kein schöneres Wetter für ihre Hochzeit aussuchen können. Es war die letzte Maiwoche. Die Wildblumen des Frühlings im Texas Hill Country mochten bereits verblasst sein, aber die Kreppmyrte stand in Blüte, und draußen vor dem Kirchenportal trieben die Rosen aus. Ein wunderschöner Tag.

Ihre dreizehnjährige Schwester Holly, die jüngste der vier Brautjungfern ihrer altmodisch kleinen Brautgesellschaft, setzte sich in Bewegung. Nach ihr würde die fünfzehnjährige Charlotte losgehen und dann Meg Koranda, Lucys beste Freundin seit dem College. Lucys Trauzeugin war ihre Schwester Tracy, eine achtzehnjährige Schönheit, die so sehr in Lucys Bräutigam verschossen war, dass sie immer noch rot wurde, wenn er sie ansprach.

Lucys Schleier, erstickende Schichten aus weißem Tüll, wehte ihr ins Gesicht. Sie dachte daran, was für ein unglaublicher Liebhaber Ted war, wie großartig, wie liebenswürdig, wie außergewöhnlich. Wie perfekt für sie. Das sagte jeder.

Jeder außer ihrer besten Freundin Meg.

Am Abend zuvor, nach dem Probedinner, hatte Meg sie in die Arme geschlossen und ihr ins Ohr geflüstert: Er ist wundervoll, Luce. Genau, wie du gesagt hast. Und du kannst ihn unmöglich heiraten.

Ich weiß, hatte sie sich selbst zurückflüstern hören. Aber ich werde es trotzdem tun. Es ist zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.

Meg hatte sie kräftig geschüttelt. Es ist nicht zu spät, hatte sie gesagt. Ich werde dir helfen. Ich werde tun, was in meiner Macht steht.

Meg hatte leicht reden. Sie lebte im Gegensatz zu Lucy ein völlig undiszipliniertes Leben. Lucy trug Verantwortung, was Meg nicht nachvollziehen konnte. Schon bevor Lucys Mutter den Amtseid geschworen hatte, war das Land von den Joriks fasziniert gewesen– drei adoptierte Kinder, zwei leibliche. Ihre Eltern hatten die Jüngeren vor der Presse abgeschirmt, aber Lucy war bei Nealys Amtseinführung schon zweiundzwanzig gewesen, was sie unwillkürlich zum Freiwild machte. Die Öffentlichkeit hatte Lucys Hingabe für ihre Familie verfolgt– ihre Bereitschaft, den Geschwistern während Nealys und Mats häufiger Abwesenheit als Ersatzmutter zu dienen, ebenso wie ihre gemeinnützige Arbeit für Kinderrechte, ihren Verzicht auf Dates, sogar ihren weniger als aufregenden Modestil. Und sie würde definitiv diese Hochzeit verfolgen.

Lucy hatte geplant, auf halbem Weg durch die Kirche zu ihren Eltern zu stoßen. Nealy und Mat würden sie zum Altar geleiten, als Symbol dafür, wie sie sie, seit Lucy als rebellischer vierzehnjähriger Teufelsbraten in ihr Leben getreten war, bis zum heutigen Tag begleitet hatten.

Charlotte trat hinaus auf den weißen Läufer. Sie war die Schüchternste von Lucys Geschwistern, diejenige, der es am meisten zu schaffen machte, dass sie ihre älteste Schwester nicht mehr um sich haben würde. Wir können jeden Tag telefonieren, hatte Lucy ihr erklärt. Aber Charlotte war daran gewöhnt, mit Lucy unter einem Dach zu leben, und sie hatte erwidert, das sei nicht dasselbe.

Es war Zeit für Meg loszuschreiten. Sie warf einen Blick über ihre Schulter zu Lucy, und selbst durch Lagen von Tüll sah Lucy die Besorgnis, die an Megs Lächeln zerrte. Lucy wünschte sich sehnsüchtig, mit ihr den Platz zu tauschen, Megs sorgenfreies Leben führen zu können, anstatt mit den Geschwistern von Land zu Land zu reisen, darauf zu achten, den guten Familienruf zu wahren, ständig von Kameras umgeben, die jede ihrer Bewegungen verfolgten.

Meg lächelte, wandte sich wieder nach vorn, hob ihren Blumenstrauß auf Taillenhöhe und schickte sich an, ihren ersten Schritt zu machen.

Ohne zu überlegen, ohne sich zu fragen, wie sie so etwas auch nur in Erwägung ziehen konnte– etwas so Schreckliches, so Selbstsüchtiges, so Unvorstellbares–, und obwohl sie sich zwang, sich nicht zu bewegen, ließ Lucy ihren Brautstrauß fallen, stolperte an ihrer Schwester vorbei und packte Megs Arm, bevor sie losgehen konnte. Sie hörte ihre Stimme wie von einem fernen Ort kommend.

»Ich muss jetzt sofort mit Ted sprechen.«

Tracy, die hinter ihr stand, stöhnte auf. »Was hast du vor, Luce?«

Lucy konnte Tracy nicht ansehen. Ihre Haut glühte, ihr Verstand drehte sich um sich selbst. Sie bohrte die Finger in Megs Arm.

»Hol ihn mir, Meg. Bitte.« Es war ein Appell, ein Gebet.

Durch den Tüllschleier sah sie, dass Megs Lippen sich erschrocken teilten. »Jetzt? Glaubst du nicht, du hättest das vor ein paar Stunden tun sollen?«

»Du hattest recht«, erwiderte Lucy gequält. »In allem, was du gesagt hast. Du hattest absolut recht. Hilf mir. Bitte.«

Die Worte fühlten sich fremd an auf ihrer Zunge. Normalerweise war sie diejenige, die sich um andere kümmerte. Selbst als sie noch ein Kind war, hatte sie nie um Hilfe gebeten.

Tracy drehte sich ruckartig zu Meg um, ihre blauen Augen blitzten vor Empörung. »Ich verstehe das nicht. Was hast du zu ihr gesagt?« Sie griff nach Lucys Hand und sah sie an. »Du hast eine Panikattacke, Luce. Es wird alles gut.«

Aber es würde nicht gut werden. Nicht jetzt. Niemals.

»Nein. Ich… ich muss mit Ted reden.«

»Jetzt?«, hakte Tracy wie ein Echo von Meg nach. »Du kannst jetzt nicht mit ihm sprechen.«

Meg verstand das, auch wenn Tracy es nicht begreifen konnte. Mit einem besorgten Nicken machte sie sich auf den Weg nach vorn, um Ted zu holen.

Lucy kannte die hysterische Person nicht, die ihren Körper übernommen hatte. Sie war nicht fähig, in die entsetzten Augen ihrer Schwester zu blicken. Sie trampelte mit ihren Satinpumps über ihren Blumenstrauß, als sie blindlings durch die Vorhalle in Richtung Ausgang stapfte. Zwei Secret Service Agenten standen vor dem schweren Portal, mit wachsamem Blick. Dahinter wartete die Zuschauermenge, ein Meer von Fernsehkameras, eine Pressemeute…

Heute werden Lucy Jorik, die einunddreißigjährige Tochter von Präsidentin Cornelia Case Jorik, und Ted Beaudine, der einzige Sohn von Golflegende Dallas Beaudine und der Nachrichtensprecherin Francesca Beaudine, sich das Jawort geben. Keiner hatte erwartet, dass die Braut die kleine texanische Heimatstadt des Bräutigams, Wynette, als Trauungsort wählen würde, aber…

Lucy hörte entschlossene Männerschritte auf dem Marmorboden und wandte sich um. Ted eilte auf sie zu. Durch ihren Schleier beobachtete sie einen Sonnenstrahl, der auf seinen dunkelbraunen Haaren tanzte, ein zweiter schien ihm in sein schönes Gesicht. Wo immer Ted auch war, die Sonne folgte ihm. Er war attraktiv, liebenswürdig, alles, was ein Mann sein sollte. Der perfekteste Mann, dem sie je begegnet war. Der perfekteste Schwiegersohn für ihre Eltern, der bestmögliche Vater ihrer zukünftigen Kinder. Lucy sah, dass Teds Blick erfüllt war von Sorge– nicht von Zorn, zu dieser Sorte Mann zählte er nicht.

Ihre Eltern folgten ihm mit bestürzten Mienen auf den Fersen. Gleich würden seine Eltern erscheinen, und dann würden alle herbeiströmen– ihre Schwestern, ihr Bruder Andre, Teds Freunde, ihre Gäste… So viele Menschen, die ihr am Herzen lagen. Die sie liebte.

Lucy hielt verzweifelt nach der einzigen Person Ausschau, die ihr helfen konnte. Meg stand etwas abseits, die Hände in einem tödlichen Griff um ihr Bouquet geklammert. Lucy warf ihr einen flehenden Blick zu, sie betete, dass Meg ihre Not erkannte. Meg kam tatsächlich rasch auf sie zu und blieb dann plötzlich wie angewurzelt stehen und begriff. Es schien wie so oft Gedankenübertragung zwischen den Freundinnen zu sein.

Ted nahm Lucys Arm und führte sie in einen kleinen Nebenraum. Bevor er die Tür schloss, sah Lucy noch, dass Meg tief Luft holte und zielstrebig auf ihre Eltern zumarschierte. Meg war daran gewöhnt, mit chaotischen Situationen umzugehen. Sie würde die anderen lange genug hinhalten, damit Lucy… was tun konnte?

Der schmale Vorraum war gesäumt von Kleiderhaken, an denen blaue Chorgewänder hingen, und von hohen Regalen, die Gesangbücher, Notenmappen und staubige, uralte Kartons beherbergten. Sonnenlicht sickerte durch die verstaubte Glasscheibe in der Tür am anderen Ende. Lucys Lunge kollabierte. Sie war ganz benommen vor lauter Sauerstoffmangel.

Ted musterte sie, die kühlen bernsteinfarbenen Augen überschattet von Sorge. Er war so ruhig, wie sie panisch war.

Bitte, lass ihn das in Ordnung bringen, so wie er immer alles in Ordnung bringt. Lass ihn mich in Ordnung bringen.

Der Tüllschleier haftete an ihrer Wange– durch Schweiß oder Tränen, sie wusste es nicht genau–, während Worte, die sie sich nie zugetraut hätte, aus ihr herauspurzelten.

»Ted, ich kann nicht. Ich… ich kann nicht.«

Er hob ihren Schleier, so wie sie es sich ausgemalt hatte, bloß dass es in ihrer Vorstellung am Ende der Trauungszeremonie geschehen war, unmittelbar bevor er sie küsste.

»Ich verstehe nicht«, sagte er sanft, aber sichtlich perplex.

Sie verstand genauso wenig. Die nackte Panik war anders als alles, was sie jemals empfunden hatte.

Er legte den Kopf schief und sah ihr in die Augen. »Lucy, wir passen perfekt zusammen.«

»Ja… ich weiß.«

Er wartete. Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Wenn sie doch bloß richtig atmen könnte. Sie zwang ihre Lippen, sich zu bewegen.

»Ich weiß. Perfekt. Aber… ich kann nicht.«

Sie wartete darauf, dass er anfing, mit ihr zu diskutieren. Um sie zu kämpfen. Sie zu überzeugen, dass sie sich irrte. Sie wartete darauf, dass er sie in die Arme nahm und ihr sagte, dass dies nur eine Panikattacke sei. Aber seine Miene änderte sich nicht, abgesehen von einem kaum wahrnehmbaren kurzen Zucken eines Mundwinkels.

»Deine Freundin Meg…«, sagte er, »…es hat etwas mit ihr zu tun, nicht wahr?«

War es so? Hätte sie nicht so etwas Unvorstellbares getan, wenn Meg mit ihrer Liebe, ihrem Chaos und ihrem schnellen, brutalen Urteil nicht aufgetaucht wäre?

»Ich…«

Ihre Finger waren eiskalt, und ihre Hände zitterten, als sie an dem Diamantring zog. Er ging schließlich ab, wäre ihr beinahe aus der Hand gefallen, als sie ihn in Teds Smokingtasche stecken wollte.

Ted ließ ihren Schleier fallen. Er bettelte nicht. Er wusste nicht, wie. Und er machte auch nicht den geringsten Versuch, sie umzustimmen.

»In Ordnung, also dann…«

Mit einem kurzen Nicken wandte er sich um und ging davon. Ruhig. Beherrscht. Perfekt.

Als die Tür sich hinter ihm schloss, presste Lucy die Hände gegen den Magen. Sie musste Ted zurückholen. Ihm nachlaufen und ihm sagen, dass sie es sich anders überlegt habe. Aber ihre Füße wollten sich nicht in Bewegung setzen, ihr Verstand wollte nicht funktionieren.

Der Türknauf drehte sich, die Tür ging auf, und ihre Eltern standen da, blass, angespannt vor Sorge. Sie hatten alles für sie getan, und die Heirat mit Ted wäre das beste Geschenk, mit dem sie sich bei ihnen bedanken konnte. Sie konnte sie nicht dermaßen demütigen. Sie musste Ted hinterhergehen und ihn zurückholen.

»Noch nicht«, murmelte sie, fragte sich jedoch gleichzeitig, was sie damit meinte. Sie wusste nur, dass sie einen Moment für sich brauchte, um sich zu sammeln und sich zu erinnern, wer sie war.

Mat zögerte kurz und schloss dann die Tür.

Lucys Universum brach zusammen. Noch bevor der Nachmittag um war, würde die ganze Welt wissen, dass sie Ted Beaudine den Laufpass gegeben hatte. Es war unvorstellbar.

Das Heer von Kameras… Der Presseauflauf… Sie würde nie wieder aus diesem kleinen, muffigen Raum herauskommen. Sie würde den Rest ihres Lebens hier verbringen, umgeben von Gesangbüchern und Chorhemden, als Buße dafür, dass sie den besten Mann gekränkt hatte, der ihr jemals begegnet war, dass sie ihre Familie beschämte.

Ihr Schleier klebte an ihren Lippen. Sie zerrte daran, begrüßte den Schmerz, als die Kämmchen und Strasssteine sich in ihren Haaren verfingen. Sie war verrückt. Undankbar. Sie verdiente Schmerz. Sie riss alles herunter. Den Schleier, das Brautkleid… Die weiße Seide lag wie eine Pfütze um ihre Fußknöchel, und sie stand da und rang nach Luft in ihrem exquisiten französischen BH, ihrem Spitzenhöschen, dem blauen Strumpfband und den weißen Satinpumps.

Lauf!

Das Wort schrillte durch ihr Gehirn.

Lauf!

Sie hörte, dass es draußen vor dem Raum für einen Moment lauter wurde, als hätte jemand die Eingangstüren der Kirche geöffnet und rasch wieder geschlossen.

Lauf!

Ihre Hand griff nach einem der königsblauen Chorhemden. Sie riss es vom Haken und streifte es über ihre zerzauste Frisur. Der kühle, muffige Stoff rutschte an ihrem Körper herunter. Dann stolperte sie auf die kleine Tür am anderen Ende des Raums zu. Durch die verstaubte Scheibe sah sie einen schmalen, zugewachsenen Pfad, eingeschlossen von Betonmauern. Ihre Hände funktionierten nicht richtig, der Griff ließ sich nicht gleich bewegen, aber schließlich gelang es ihr, die Tür zu öffnen.

Lucy befand sich auf der Rückseite der Kirche. Frühlingsstürme hatten Abfälle in das Kiesbett am Wegrand geweht: platt gedrückte Saftkartons lagen dort, Zeitungsfetzen, eine ausgeblichene gelbe Kinderschaufel. Sie lief los, blieb mit ihren hohen Absätzen im rissigen Pflaster stecken, hielt inne, als der Weg endete. Überall stand Security. Sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte.

Sie hatte ihr Sonderbewachungsrecht durch den Secret Service einige Monate zuvor, als ihre Mutter ein Jahr aus dem Amt geschieden war, verloren, Nealy selbst stand aber weiterhin unter Personenschutz. Da Lucy viel Zeit mit ihr verbrachte, war ihr die Abwesenheit ihrer eigenen Leibwächter kaum aufgefallen. Ted hatte private Sicherheitskräfte beauftragt, um das kleine Polizeirevier der Stadt zu unterstützen. Vor den Türen standen Wachen. Der L-förmige Parkplatz war überfüllt mit Fahrzeugen. Überall waren Leute.

Washington war ihr Zuhause und nicht diese Kleinstadt in Zentraltexas, mit der sie sich von Anfang an so schwer getan hatte, aber sie erinnerte sich, dass die alte Dorfkirche am Rande eines alteingesessenen Wohnviertels lag. Wenn ihre Beine sie über den Weg zu den Hintergärten auf der anderen Seite trugen, könnte sie es schaffen, in einer der Nebenstraßen zu verschwinden, ohne gesehen zu werden.

Und was dann? Dies hier war keine gut vorbereitete Flucht wie jene von Nealy aus dem Weißen Haus viele Jahre zuvor. Es war gar keine Flucht. Es war eine Unterbrechung. Ein Aussetzen. Sie musste einen Ort finden, an dem sie wieder Atem schöpfen, sich in den Griff bekommen konnte. Ein leeres Kinderspielhaus. Eine versteckte Nische in irgendjemandes Garten. Irgendein Ort, fern von dem Presserummel, fern von ihrem verratenen Bräutigam und ihrer verdutzten Familie. Eine vorübergehende Zuflucht, wo sie sich vor Augen halten konnte, wer sie war und was sie den Menschen schuldig war, die sie aufgenommen hatten.

O Gott, was hatte sie getan?

Ein kleiner Tumult auf der anderen Seite der Kirche erregte die Aufmerksamkeit des Wachpersonals. Lucy wartete nicht ab, um zu sehen, was da los war. Hastig umrundete sie das Ende der Mauer, überquerte im Laufschritt eine kleine Straße und kauerte sich dann hinter eine Mülltonne. Ihre Knie zitterten so stark, dass sie sich an der rostigen Tonne, aus der übler Verwesungsgestank drang, abstützen musste. Es gab keine Alarmrufe, Lucy nahm nur aus der Ferne das Geraune der Menge wahr, die sich auf der Tribüne vor der Kirche drängte.

Sie hörte ein leises Wimmern, wie das Miauen eines Kätzchens, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass es von ihr kam. Schnell stand sie auf, schlich an einer Hecke, die als Hausbegrenzung eines viktorianischen Altbaus diente, entlang. Die Hecke endete an einer schmalen Kopfsteinpflasterstraße. Lucy flitzte auf die andere Seite und in einen fremden Garten, dem alte Bäume Schatten spendeten.

Sie zog das Chorhemd enger um sich, schlich zum nächsten Garten und weiter zum nächsten, zwischen frisch bepflanzten Rabatten und Gemüsebeeten hindurch, in denen murmelgroße grüne Tomaten wuchsen. Der Geruch von Schmorbraten wehte aus einem offenen Küchenfenster, aus einem anderen drang die Geräuschkulisse einer Fernseh-Gameshow. Bald würde dasselbe Fernsehen die Meldung von Expräsidentin Cornelia Case Joriks unverantwortlicher Tochter bringen. Innerhalb eines Nachmittags hatte die einunddreißigjährige Lucy siebzehn Jahre gutes Benehmen zunichte gemacht. Siebzehn Jahre, in denen sie Mat und Nealy hatte beweisen wollen, dass ihre Adoption kein Fehler war. Was Ted betraf und das, was sie ihm angetan hatte… Sie hätte ihn nicht schlimmer kränken können.

Ein Hund bellte, ein Baby begann zu weinen. Lucy stolperte über einen Gartenschlauch, kürzte den Weg ab, hastete an einer Schaukel vorbei. Das Hundegebell wurde lauter, gleich darauf sprang eine Promenadenmischung mit rostrotem Fell gegen den Drahtzaun, der das Grundstück von dem des Nachbarn abgrenzte. Lucy drehte um, vorbei an einer Statue der Jungfrau Maria, zurück in Richtung Straße. Kieselsteine in ihren Schuhen ließen sie jeden Schritt schmerzhaft spüren.

Motorengeräusche drangen an ihre Ohren, wurden lauter. Lucy ging zwischen zwei Garagen in Deckung, drückte sich mit dem Rücken flach gegen den abblätternden weißen Putz. Ein verbeultes schwarz-silbernes Motorrad bog mit quietschenden Reifen in die Straße, wurde jäh langsamer. Sie hielt den Atem an und wartete, dass es vorbeifuhr, doch es fuhr im Schritttempo weiter und hielt schließlich auf ihrer Höhe.

Der Fahrer starrte in den Spalt zwischen den Garagen, genau dorthin, wo sie stand. Der Motor tuckerte im Leerlauf, während der Fahrer sie in aller Ruhe musterte.

»Was ist?«, rief er ihr über das Knattern hinweg zu.

Was ist! Sie hatte ihren zukünftigen Ehemann verstoßen, ihre Familie blamiert, wenn sie nicht rasch etwas unternahm, würde sie die berüchtigtste entflohene Braut im ganzen Land sein, und dieser Kerl wollte wissen, was los war?

Er hatte zu lange Haare, die sich über seinen Kragen lockten, kühle blaue Augen über hohen Wangenknochen und einen Mund, der ihm sadistische Züge verlieh. Nachdem sie so viele Jahre vom Secret Service beschützt worden war, hatte Lucy sich daran gewöhnt, ihre Sicherheit als selbstverständlich zu betrachten, aber jetzt fühlte sie sich nicht sicher, und der Umstand, dass sie in dem Biker vage einen Gast des Probedinners wiedererkannte– jemanden aus Teds illustrem Bekanntenkreis–, beruhigte sie nicht unbedingt. In seinem mäßig sauberen dunklen Anzug, der ihm nicht richtig passte, dem zerknitterten weißen Hemd mit dem offenen Kragen und den Motorradstiefeln, die scheinbar nur flüchtig abgestaubt worden waren, sah er nicht aus wie jemand, dem sie in einer Seitenstraße begegnen wollte. Wo sie sich zufällig gerade aufhielt. Ein zerknitterter Schlips ragte aus der Tasche seines Sakkos. Die lange, wilde Mähne sah aus wie mit schwarzer Tinte dahingekleckst.

Mehr als zehn Jahre, seit Nealys erstem Präsidentschaftswahlkampf, hatte Lucy versucht, das Richtige zu sagen, das Richtige zu tun, immer lächelnd, immer höflich. Nun fiel ihr, die schon so lange die Kunst des Smalltalks beherrschte, nichts ein, was sie sagen konnte. Stattdessen spürte sie den fast unwiderstehlichen Drang, spöttisch zu erwidern: »Und selbst?« Aber natürlich tat sie das nicht.

Er deutete mit einem Nicken auf den Rücksitz seines Gefährts. »Lust auf eine Spritztour?«

Ein Schreck fuhr ihr in die Glieder, schoss durch ihre Adern in die Kapillargefäße, durchdrang Haut und Muskeln bis auf die Knochen. Sie fröstelte, nicht vor Kälte, sondern weil sie wusste, dass sie darauf brannte, auf das Motorrad zu steigen, mehr als alles andere, das sie sich seit langem gewünscht hatte. Einfach aufzusitzen und vor den Folgen dessen zu fliehen, was sie angerichtet hatte.

Der Biker stopfte seinen Schlips tiefer in seine Sakkotasche, und Lucys Füße setzten sich in Bewegung. Es war, als hätten sie sich von ihrem restlichen Körper losgelöst. Sie versuchte, sie aufzuhalten, aber sie weigerten sich zu gehorchen. Sie näherte sich dem Motorrad, sah ein verbeultes texanisches Nummernschild und einen Aufkleber mit Eselsohren, der auf dem abgewetzten Ledersitz haftete. Der Aufdruck war verblasst, aber die Schrift war noch zu entziffern. SPRIT, GRASODERARSCH– NIEMANDFÄHRTUMSONST.

Die Botschaft traf sie wie ein Schock. Eine Warnung, die sie nicht ignorieren konnte. Aber ihr Körper– ihr verräterischer Körper– hatte die Kontrolle übernommen. Ihre Hand raffte das Chorhemd hoch. Ein Fuß hob sich vom Boden, ein Bein schwang sich über den Sitz.

Er gab ihr den einzigen Helm. Sie zog ihn über ihre ruinierte Brautfrisur und schlang die Arme um seine Taille. Sie brausten los durch die kleine Straße, und ihr Gewand bauschte sich, entblößte ihre Knie, ihre Oberschenkel, der schneidende Fahrtwind prickelte auf ihren nackten Beinen. Seine Haare peitschten gegen ihr Visier.

Lucy klemmte den Stoff unter ihre Beine, während der Unbekannte scharf rechts abbog und gleich darauf wieder. Unter dem Sakko spürte sie seine Rückenmuskeln.

Sie verließen Wynette auf einer zweispurigen Schnellstraße, die an einem zerklüfteten Kalksteingebirge entlangführte. Der Helm war ihr Kokon, das Motorrad ihr Planet. Sie passierten blühende Lavendelfelder, eine Olivenölfabrik und Weinberge, die überall im Hill Country aus dem Boden schossen.

Die Sonne versank, und die zunehmende Kühle drang durch den dünnen Stoff des Chorhemds. Lucy begrüßte die Kälte. Sie verdiente es nicht, es warm und gemütlich zu haben.

Sie rollten über eine Holzbrücke, vorbei an einer verfallenen Scheune mit einer aufgemalten texanischen Flagge an der Seitenwand. Werbeschilder, die Höhlentouren und Ferien auf der Ranch anboten, flogen vorbei. Die Meilen glitten dahin. Zwanzig? Mehr? Sie wusste es nicht.

Als sie die Ausläufer einer Kleinstadt erreichten, bremste er vor einem schäbigen Minimarkt und parkte im Schatten neben dem Gebäude. Er machte mit dem Kopf eine ruckartige Bewegung, um ihr zu signalisieren, dass sie absteigen sollte. Sie verhedderte sich mit den Beinen in ihrem Gewand und stürzte beinahe.

»Hunger?«

Der bloße Gedanke, etwas zu essen, verursachte ihr Übelkeit. Sie lockerte ihre steifen Beine und schüttelte den Kopf. Er zuckte mit den Achseln und marschierte zum Eingang.

Durch das staubige Helmvisier sah sie, dass er größer war, als sie gedacht hatte, mindestens eins achtzig. Seine Beine waren im Verhältnis zum Rumpf lang. Mit seiner wilden blauschwarzen Haarmähne, dem olivfarbenen Teint und dem schaukelnden Gang hätte er nicht gegensätzlicher sein können zu den Kongressmännern, Senatoren und Industriebossen, die ihre Welt bevölkerten.

Sie konnte durch das Schaufenster einen Teil des Verkaufsraums sehen. Er ging nach hinten zu einer Kühlbox. Die Verkäuferin unterbrach ihre Tätigkeit, um ihn zu beobachten. Er verschwand, bevor er wieder auftauchte und ein Sixpack Bier auf die Ladentheke stellte. Die Verkäuferin schüttelte die Haare und flirtete offen mit ihm. Er legte ein paar weitere Artikel neben die Kasse.

Lucys Füße schmerzten. Sie sah, dass ihre Schuhe an den Fersen scheuerten, Blasen hatten sich gebildet. Sie verlagerte das Gewicht und erhaschte ihr Spiegelbild im Schaufenster. Der große blaue Helm verschluckte ihren Kopf und verbarg ihre feinen Gesichtszüge, die sie jünger wirken ließen, als sie tatsächlich war. Das Chorhemd kaschierte den Umstand, dass sie durch den Hochzeitsvorbereitungsstress etwas abgenommen hatte. Sie war eins zweiundsechzig, aber sie kam sich winzig vor, dumm, wie ein selbstsüchtiges, unverantwortliches, heimatloses Kind.

Obwohl niemand in der Nähe war, nahm sie den Helm nicht ab, sondern hob ihn nur leicht an, um den Druck auf die Haarnadeln zu lindern, die sich in ihre Kopfhaut bohrten. Normalerweise trug sie das Haar fast schulterlang, glatt und ordentlich, meist zurückgehalten mit einem dieser schmalen Samtbänder, die Meg verabscheute.

In diesen adretten Klamotten siehst du wie eine Fünfzigjährige aus der Greenwich-Schickeria aus, hatte Meg einmal erklärt. Und lass die doofen Perlen weg, außer du trägst Jeans. Du bist nicht Nealy, Luce. Sie erwartet nicht von dir, so zu sein wie sie.

Meg verstand das nicht. Sie war in LA aufgewachsen, mit denselben Eltern, die sie gezeugt hatten. Sie konnte sich die ausgefallensten Klamotten erlauben, sich mit exotischem Schmuck behängen, sogar ein Drachen-Tattoo auf der Hüfte haben, aber nicht Lucy.

Die Ladentür ging auf, und der Biker kam heraus mit einer Einkaufstüte in der einen Hand und einem Sixpack Bier in der anderen. Sie beobachtete ihn ängstlich, während er stumm die Einkäufe in den abgewetzten Satteltaschen seines Motorrads verstaute. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie so nicht weitermachen konnte. Sie musste jemanden anrufen. Sie würde Meg anrufen.

Aber sie brachte nicht den Mut auf, sich jemandem zu stellen, nicht einmal ihrer besten Freundin, die so viel mehr verstand als alle anderen. Sie würde ihrer Familie mitteilen, dass sie in Sicherheit war. Bald. Nur… jetzt noch nicht. Nicht, bevor sie sich überlegt hatte, was sie sagen sollte.

Sie stellte sich vor den Biker wie ein großes Alien mit einem blauen Kopf. Er starrte sie finster an, und ihr wurde bewusst, dass sie immer noch kein einziges Wort zu ihm gesagt hatte. Wie peinlich. Sie musste endlich etwas sagen.

»Woher kennen Sie Ted?«

Er drehte sich wieder weg, um die Schnallen seiner Satteltaschen zu schließen. Bei dem Motorrad handelte es sich um eine alte Yamaha, auf dem schwarzen Tank stand in silberner Schrift WARRIOR.

»Wir haben in Huntsville zusammen gesessen«, antwortete er. »Bewaffneter Raubüberfall und Totschlag.«

Er stellte sie auf die Probe. Eine Art Test, um sich zu bestätigen, dass sie nicht tough war. Sie müsste verrückt sein, um das hier weiter mitzumachen. Dummerweise war sie von einer schlimmen Art von Verrücktheit befallen. Einer Verrücktheit von jemandem, der sich aus seiner Haut geschält hatte und nicht wusste, wie er wieder hineinkriechen konnte.

Seine umschatteten Augen wirkten bedrohlich. »Bereit umzukehren?«

Alles, was sie tun musste, war, Ja zu sagen. Ein simples Wort. Sie schob ihre Zunge in die richtige Position. Arrangierte ihre Lippen. Schaffte es nicht, es herauszubringen.

»Noch nicht.«

Er runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher, dass Sie wissen, was Sie tun?«

Die Antwort auf diese Frage war so offensichtlich, dass er von selbst darauf kommen konnte. Als es ihr nicht gelang, etwas zu erwidern, zuckte er mit den Achseln und stieg auf seine Maschine.

Während sie vom Parkplatz rollten, fragte Lucy sich, wie ihr die Weiterfahrt mit diesem gefährlichen Typen weniger schrecklich erscheinen konnte, als ihrer Familie gegenüberzutreten, an der sie so sehr hing. Andererseits schuldete sie diesem Mann nichts. Das Schlimmste, was passieren konnte, war… Sie wollte nicht darüber nachdenken, was das Schlimmste war, was passieren konnte.

Wieder riss der Wind an ihrer Robe. Nur ihre Hände blieben warm von seiner Körperwärme, die sich durch den dünnen Jackenstoff auf sie übertrug. Schließlich fuhr er von der Straße ab auf einen Schotterweg. Die Motorradscheinwerfer zeichneten ein unheimliches Muster auf das Gebüsch, und sie klammerte sich enger an ihn, obwohl ihr Verstand sie anflehte, abzuspringen und wegzulaufen. Schließlich erreichten sie eine kleine Lichtung an einem Flussufer, und er schaltete den Motor ab. Aufgrund eines Schilds, das sie an der Straße gesehen hatte, vermutete sie, dass es sich um den Pedernales River handelte. Ein perfekter Ort, um eine Leiche loszuwerden.

Ohne das Motorengeräusch war die Stille erdrückend. Lucy stieg von der Maschine und trat ein Stück zurück. Er nahm etwas, das einer alten Stadiondecke ähnelte, aus einer der Satteltaschen und ließ es auf den Boden fallen. Sie nahm den schwachen Geruch von Motoröl wahr. Er schnappte sich das Sixpack und die Einkaufstüte.

»Wollen Sie das Ding die ganze Nacht aufbehalten?«

Am liebsten hätte sie den Helm nie wieder abgenommen, aber sie tat es trotzdem. Haarnadeln purzelten heraus, eine steif gesprühte Haarsträhne piekste sie in die Wange. Die Stille war erfüllt vom Rauschen des Flusses. Er hielt das Bier in ihre Richtung.

»Ein Jammer, dass es nur ein Sixpack ist.«

Sie schenkte ihm ein steifes Lächeln. Er öffnete eine Bierflasche, breitete sich auf der Decke aus und setzte den langen Flaschenhals an die Lippen. Er war ein Freund von Ted, nicht? Also hatte sie nichts zu befürchten– trotz seiner bedrohlichen Erscheinung und seiner unzivilisierten Art, trotz des Biers und des ausgeblichenen Aufklebers auf dem Motorrad.

SPRIT, GRASODERARSCH– NIEMANDFÄHRTUMSONST.

»Greifen Sie zu«, sagte er. »Vielleicht macht Sie das ein bisschen lockerer.«

Sie wollte nicht lockerer werden, außerdem musste sie pinkeln. Aber sie humpelte trotzdem zu ihm hinüber und nahm sich ein Bier, damit er es nicht trinken konnte. Sie hockte sich auf den äußersten Zipfel der Decke, wo sie nicht Gefahr lief, seine langen Beine zu streifen oder seine bedrohliche Ausstrahlung zu spüren. Eigentlich sollte sie jetzt im Four Seasons in Austin in der Hochzeitssuite als Mrs. Theodore Beaudine Champagner trinken.

Der Biker zog zwei in Klarsichtfolie verpackte Sandwiches aus der Einkaufstüte. Er warf eins in ihre Richtung und wickelte das andere aus.

»Ein Jammer, dass Sie nicht bis nach dem großen Hochzeitsschmaus gewartet haben, bevor Sie ihm den Laufpass gegeben haben. Das Menü wäre weitaus besser gewesen als das hier.«

Krabbenfleisch-Parfait, gegrilltes Rinderfilet mit Lavendel, Hummer-Medaillons, Risotto mit weißen Trüffeln, eine siebenstöckige Hochzeitstorte…

»Ernsthaft jetzt… Woher kennen Sie Ted?«, fragte sie.

Er biss ein großes Stück von seinem Sandwich ab und antwortete mit vollem Mund. »Wir haben uns vor ein paar Jahren kennengelernt, als ich auf einer Baustelle in Wynette arbeitete. Wir haben uns sofort gut verstanden. Wir treffen uns immer, wenn ich in der Gegend bin.«

»Ted versteht sich mit den meisten Leuten gut.«

»Aber nicht alle sind so anständig wie er.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und nahm geräuschvoll einen Schluck von seinem Bier.

Sie stellte ihre Flasche, aus der sie noch nicht getrunken hatte, weg. »Dann sind Sie nicht hier aus der Gegend?«

»Nein.« Er knüllte die Klarsichtfolie zusammen und warf sie ins Gebüsch.

Sie hasste Leute, die ihren Abfall in die Natur warfen, aber sie wollte das nicht erwähnen. Das Verschlingen des Sandwiches schien seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen, er gab von sich aus keine weiteren Informationen preis.

Lucy konnte es nicht länger hinauszögern, in die Büsche zu verschwinden. Sie nahm sich aus der Einkaufstüte eine Papierserviette und humpelte hinter die Bäume. Als sie fertig war, kehrte sie zu der Decke zurück. Er kippte schon das nächste Bier. Sie brachte von ihrem eigenen Sandwich nichts hinunter und schob es beiseite. »Warum haben Sie mich mitgenommen?«

»Ich wollte eine Nummer schieben.«

Sie bekam eine Gänsehaut. Sie hielt nach einem Indiz Ausschau, dass dies nur ein geschmackloser Scherz war, aber er lächelte nicht. Andererseits gehörte er zu Teds Freundeskreis, und so merkwürdige Gestalten auch darunter waren, sie hatte noch keinen mit einem kriminellen Hintergrund kennengelernt.

»Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte sie.

Sein Blick streifte über sie hinweg. »Es ist nicht ausgeschlossen.«

»Doch, ist es wohl!«

Er rülpste, nicht laut, aber trotzdem widerlich. »Ich war in letzter Zeit zu beschäftigt für Weiber. Hab was nachzuholen.«

Sie starrte ihn an. »Indem Sie die Braut Ihres Freundes abschleppen, die von ihrer Hochzeit weggelaufen ist?«

Er kratzte sich an der Brust. »Man kann nie wissen. Durchgeknallte Weiber sind zu allem fähig.« Er trank sein Bier aus, rülpste wieder und warf die leere Flasche in die Büsche. »Und, wie sieht’s aus? Sind Sie bereit für den Nachhauseweg? Mommy und Daddy warten sicher schon.«

»Nein.« Trotz ihrer wachsenden Beunruhigung war sie nicht bereit zurückzukehren. »Sie haben mir nicht gesagt, wie Sie heißen.«

»Panda.«

»Nein, ernsthaft.«

»Gefällt Ihnen der Name nicht?«

»Schwer zu glauben, dass das Ihr richtiger Name ist.«

»Es ist mir wurscht, ob Sie das glauben oder nicht. Ich heiße eben so.«

»Verstehe.« Sie überlegte kurz, während er eine Chipstüte aufriss. »Das muss schön sein.«

»Was meinen Sie?«

»Mit einem erfundenen Namen von Stadt zu Stadt zu fahren.« Und mit einem großen blauen Motorradhelm, unter dem man sich verstecken kann, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Schon möglich.«

Sie musste das hier beenden, und sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Haben Sie zufällig ein Handy dabei, das ich benutzen könnte? Ich… muss jemanden anrufen.«

Er griff in seine Sakkotasche und warf ihr sein Handy zu. Sie verfehlte es und musste es aus den Falten ihres Chorhemds fischen.

»Viel Glück mit dem Empfang hier draußen.«

Daran hatte sie nicht gedacht, aber ihre Fähigkeit, logisch zu denken, hatte sie ja auch schon vor Stunden verlassen. Sie humpelte über die Lichtung, bis sie in Ufernähe eine Stelle fand, wo sie ein schwaches Signal empfing.

»Meg, ich bin es«, sagte sie, als Meg sich meldete.

»Luce? Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Das ist Ansichtssache.« Sie stieß ein ersticktes Lachen aus. »Du kennst doch die wilde Seite in mir, von der du immer gesprochen hast? Vermutlich habe ich die jetzt entdeckt.«

Nichts war weiter entfernt von der Wahrheit. Sie war die am wenigsten wilde Person, die man sich vorstellen konnte. Früher einmal vielleicht, aber das war lange her.

»O Schätzchen…«

Das Signal war sehr schwach, aber nicht zu schwach, um die Besorgnis ihrer Freundin zu dämpfen. Sie musste zurück nach Wynette. Aber…

»Ich… ich bin ein Feigling, Meg. Ich kann mich meiner Familie nicht stellen.«

»Sie lieben dich, Luce. Sie werden es verstehen.«

»Sag ihnen, dass es mir leidtut.« Sie kämpfte gegen Tränen an. »Sag ihnen, ich liebe sie und weiß, dass ich einen schrecklichen Schlamassel angerichtet habe und dass ich zurückkommen und alles in Ordnung bringen werde, aber… Nicht jetzt. Ich kann das noch nicht.«

»Ist gut. Ich werde es ihnen sagen. Aber…«

Lucy kappte die Verbindung, bevor Meg weitere Fragen stellen konnte, auf die sie keine Antworten hatte.

Eine erdrückende Müdigkeit übermannte sie. Sie schlief seit Wochen schlecht, und dieser schreckliche Tag heute hatte ihre letzte Energie verbraucht. Panda war verschwunden, und als er hinter ein paar Bäumen wieder auftauchte, beschloss sie, ihn sich in Ruhe betrinken zu lassen. Sie sah auf die Decke, die auf dem harten Boden ausgebreitet war, und dachte an die komfortablen Betten in der Präsidenten-Suite der Air Force One und an die Verdunklungsblenden an den Fenstern, die sich auf Knopfdruck schließen ließen. Zaghaft streckte sie sich am äußersten Rand aus und betrachtete die Sterne.

Sie wünschte, sie hätte einen Biker-Namen, hinter dem sie sich verstecken konnte. Einen, der tough klang. Stark und bedrohlich. All das, was sie nicht war.

Sie döste langsam ein, während sie sich einen Namen überlegte. Schlange… Fangzahn… Gift…

Viper.

Kapitel 2

Die klamme Morgenkälte weckte Lucy. Sie öffnete vorsichtig die Augen und sah pfirsichfarbene Lichtstreifen, die sich zwischen den Wolken hindurchzwängten. Ihr ganzer Körper tat weh, sie fror, fühlte sich schmutzig und noch genauso schlecht wie am Abend zuvor, bevor sie eingeschlafen war. Dies sollte eigentlich der erste Tag ihrer Flitterwochen sein. Sie stellte sich vor, wie Ted aufwachte, mit demselben Gedanken, und sie hasste…

Panda schlief neben ihr in seinem zerknitterten weißen Hemd. Er lag auf dem Rücken, der wilde Haarschopf ein einziges Durcheinander aus Knoten. Blauschwarze Bartstoppeln bedeckten sein Kinn, ein Schmutzfleck verunstaltete seine Nasenspitze. Es widerstrebte ihr, so nah neben ihm zu liegen, also rappelte sie sich umständlich hoch. Sein Sakko rutschte von ihr herunter und landete auf der Decke. Sie zuckte zusammen, als sie die Füße in ihre Brautschuhe steckte, aber sie brauchte die Strafe durch den Schmerz, und so humpelte sie erneut zu den Bäumen hinüber. Auf dem Weg dorthin entdeckte sie sechs leere Bierflaschen im Gebüsch– sie schienen Symbole für das, in was sie sich hineinmanövriert hatte.

Ted hatte eine Strandvilla für Flitterwöchner auf St. Barth gebucht. Vielleicht würde er allein dorthin fliegen… Obwohl, was konnte schlimmer sein, als die Flitterwochen allein zu verbringen? Nicht einmal, an einem Flussufer mitten im Nichts neben einem mürrischen, verkaterten, potenziell gefährlichen Biker aufzuwachen.

Als sie wieder auf die Lichtung trat, stand Panda am Ufer des Flusses, mit dem Rücken zu ihr. Das Hirngespinst Viper aus der vergangenen Nacht, die Bikerin mit der scharfen Zunge, löste sich im Nu auf. Es erschien Lucy auf einmal unhöflich, ihn zu ignorieren.

»Guten Morgen«, sagte sie leise.

Er gab einen unverständlichen Laut von sich.

Sie wandte rasch den Blick ab, aus Angst, dass er beschließen könnte, in den Fluss zu pinkeln, während sie zusah. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche, sauberer Kleidung und einer Zahnbürste, genau dem Komfort, den sie nun genießen würde, wäre sie den Gang entlanggeschritten. Eine Kanne Kaffee. Ein anständiges Frühstück. Teds Hände auf ihrem Körper, die diese herrlichen Orgasmen bei ihr auslösten. Stattdessen war sie umringt von leeren Bierflaschen und einem Mann, der offen zugab, dass er »eine Nummer schieben« wollte.

Lucy hasste das Durcheinander, die Ungewissheit. Sie hasste ihre Panik. Panda hatte sich immer noch nicht umgedreht, aber sie sah ihn nicht an seinem Hosenschlitz herumfummeln, also traute sie sich, eine Frage zu stellen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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