Countdown - Spiel um dein Leben - Florian Lafani - E-Book

Countdown - Spiel um dein Leben E-Book

Florian Lafani

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Beschreibung

Ein Spiel auf Leben und Tod – und du entscheidest, wer gewinnt.

Ein Psychopath entführt in London fünf Menschen. Bald darauf tauchen Videos der Geiseln im Netz auf. Sie sind Teil eines grausamen Spiels: Jeder von ihnen wird live im Internet gezeigt, und die Internet-User entscheiden per Mausklick, wer getötet wird. Um zu beweisen, dass er es ernst meint, bringt der Psychopath den ersten Gefangenen vor laufender Kamera um. Als Tom via Facebook einen Hilferuf seines Freundes Erasmus erhält, denkt er zunächst an einen schlechten Scherz. Doch bald wird ihm klar: Wenn er seinen Freund jemals lebend wiedersehen will, muss er sich auf die Jagd nach dem Killer machen …

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Seitenzahl: 367

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Buch

Colin ist Professor an der Universität von Tokio und steht vor dem persönlichen Ruin. Nachdem man ihn des Mordes an einer Studentin verdächtigt hatte, wurde er zwar freigesprochen, doch sowohl seine Ehe als auch seine akademische Karriere sind zerstört. Ohne jegliche Hoffnung, will er sich das Leben nehmen und in den Tod springen. Doch dann kommt alles anders: Nach einem Sturz wacht Colin in einem verspiegelten Raum auf. Er ist alleine und weiß nicht, wo er sich befindet, doch ihm wird schnell klar: Er wurde entführt und wird in dem seltsam stillen Raum, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint, gefangen gehalten. Und irgendjemand beobachtet ihn.

Gleichzeitig wird in London auf Hochtouren nach fünf Geiseln gesucht, die Teil eines Spiels auf Leben und Tod geworden sind: Alle werden im Internet gezeigt und die User sollen per Mausklick entscheiden, wer von ihnen sterben soll. Als die erste Hinrichtung live übertragen wird, ist die Öffentlichkeit geschockt und gleichzeitig fasziniert von dem makabren Schauspiel. Für Clara Capland von der Spezialeinheit für Cyberkriminalität beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn ein weiteres Opfer ist bereits angekündigt …

Autoren

Gautier Renault ist 1981 geboren und lebt in Luxemburg. Seit seinem Studium in den USA ist er ein großer Fan amerikanischer Spannungsliteratur. Countdown – Spiel um dein Leben ist sein zweiter Roman bei Blanvalet.

Florian Lafani, 1980 geboren, hat 2009 seinen ersten Roman, La Toile, online geschrieben. Countdown – Spiel um dein Leben ist sein zweiter Roman bei Blanvalet.

Florian Lafani und Gautier Renault

Countdown

Spiel um dein Leben

Thriller

Aus dem Französischen von Babette Schröder

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Trouble(s) bei Librairie Générale Française/Éditions de l’Epée, Paris.Gedichtauszüge aus: Die Blumen des Bösen von Charles Baudelaire (Übersetzung: Stefan George)

Gedicht: »Soupir« von Stéphane Mallarmé (Übersetzung: Richard von Schaukal)

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2014 bei Librairie Générale Française/Editions de l’Epée

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Alexandra Baisch

BS · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-17201-5

www.blanvalet.de

London – HammersmithEine regnerische Aprilnacht

Alban lief durch den peitschenden Regen und mied die tiefsten Pfützen, hielt jedoch nicht nach einem Unterstand Ausschau. Nach zehn Minuten machte er schließlich unter einem Vordach halt. Es war nach ein Uhr morgens, die letzte U-Bahn bereits gefahren. Nur die Bäume im Ravenscourt Park wiegten sich im Wind.

Alban betrachtete seine Kleidung – klatschnass. Die Tropfen, die aus seinen blonden Haaren fielen, sahen aus, als würde er weinen. Das Handy in seiner Tasche vibrierte. Er wischte sich die rechte Hand direkt am Bauch ab und nahm das Gespräch entgegen, nachdem er einen Blick auf den Namen im Display geworfen hatte.

»Das ist ja die reinste Sintflut. Ich bin in fünfzehn Minuten da. Ihr könnt mit dem Filmen beginnen, es ist alles bereit.« Er klang entschieden, auch wenn nach dieser Nacht nichts mehr sein würde wie zuvor. Es war jetzt nicht mehr angebracht, Fragen zu stellen, außer vielleicht sich selbst.

Albans Brust hob und senkte sich schnell, er fand nicht in seinen normalen Atemrhythmus. Das lag aber nicht etwa an der körperlichen Anstrengung, sondern an seiner Angst. Bevor er erneut loslief, holte er das Handy wieder aus seiner Tasche und nahm zuerst den Akku, dann die SIM-Karte heraus. Er drehte sie einen Augenblick zwischen den Fingern hin und her, dann warf er sie unwiederbringlich in einen Gully.

1

Japan, Steilküste von TojimboEine Nacht im MärzColin, 36 Jahre

Colin war eigentlich nicht dafür prädestiniert, an der Selbstmörderklippe zu stehen, noch dazu mit der Absicht zu springen. Die aufgewühlten Elemente um ihn herum, die heftigen Windböen und sintflutartigen Regenfälle, schienen ihn jedoch nicht abhalten zu können. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte er in die Ferne, die Todesstimmung, die aus jedem Stein sprach, schnürte ihm die Kehle zu. Vor seinen Augen wirbelten Schatten, Zeichen eines anderen Lebens, denen er keine Aufmerksamkeit schenkte. Nach tagelangem Leiden war er so tief gesunken, dass er am Ende seiner selbst, am Ende der Welt angelangt war.

Noch vor einem Monat hatte Colin Vorlesungen am Sozialwissenschaftlichen Institut in Tokio gehalten, wo er seit acht Jahren lebte. Der gebürtige Londoner hatte sich von Asien angezogen gefühlt, weil es sich in jeder Hinsicht von seinen europäischen Vorstellungen und Normen unterschied. Er wollte eine neue Kultur kennenlernen. Als er aus dem Flugzeug gestiegen war, hatte sich sein Bild von Japan auf drei »S« beschränkt: Sushi, Sumoringer, Samurai. Keiner dieser Begriffe hatte ihm etwas genutzt, denn japanische Schriftzeichen und Ideogramme konnte er nicht lesen. Da man in Japan kaum Englisch verstand, musste er sich mittels Zeichensprache verständigen, solange er die neue Sprache noch nicht beherrschte. Sich verständlich zu machen, fiel ihm umso leichter, als man ihn überaus herzlich aufnahm. Trotz der fiebrigen Unruhe, die Tag und Nacht in Tokio herrschte, nahmen sich die Japaner Zeit, freundlich zu sein. Ohne Vorwarnung hatten die Liebe und die Kultur sein Herz erobert. Seine Frau hatte er bei einem Abendessen kennengelernt und sich nach und nach in seinem neuen Leben eingerichtet.

Doch durch sein eigenes Verschulden hatte sich sein Dasein als angesehener Universitätsprofessor in ein Martyrium verwandelt. Alles hatte mit den eindringlichen Blicken einer Studentin begonnen, mit denen sich jeder Professor früher oder später einmal konfrontiert sah. Mit Blicken, die eine Mischung aus Verlangen und Bewunderung ausdrückten und bedingungslose Liebe versprachen. Normalerweise wusste Colin derlei Annäherungsversuche abzuwehren und freute sich lediglich im Stillen über den Verführungsversuch. Nicht so dieses Mal. Ohne ersichtlichen Grund, ohne zu begreifen, warum sich seine Prinzipien plötzlich in nichts auflösten, hatte er sich auf ein Abendessen eingelassen. Dann auf einen Kuss. Den Beginn einer Nacht. An einem Abend hatte er seine Grenzen überschritten, sein Gewissen zurückgelassen. Sogar seine Frau schien er völlig vergessen zu haben.

Und genau an jenem Abend war sein Leben aus den Fugen geraten. Als Colin mitten in der Nacht nach Hause gekommen war, hatte er sich bemüht, die Eingangstür ganz leise zu öffnen, dennoch knarrte die Tür in den Angeln. Niedergeschlagen hatte er im Flur verharrt. In der Ferne brummten in regelmäßigen Abständen Autos vorbei. Er hatte die Schuhe ausgezogen und die kühlen Fliesen unter den Fußsohlen gespürt. Mit dem Rücken zur Schlafzimmertür hatte er in der fahlen Dunkelheit gesessen.

Als er Yukios Hand in seinen Haaren gespürt hatte, war er zusammengezuckt, er hatte sie nicht kommen hören. Sie murmelte mit brüchiger, verschlafener Stimme: »What happens to you, honey?« Auch wenn Colin Japanisch verstand, war Englisch stets die Sprache ihrer Liebe, ihrer Intimität geblieben. Als Yukio zarte Tränen in Colins Augen bemerkte, setzte sie sich schweigend neben ihn. Vielleicht wusste sie bereits, was geschehen war. Seine Schuldgefühle machten ihn paranoid, ihn, der meinte, nicht das kleinste Geheimnis vor ihr verbergen zu können. Colin hatte den Kopf auf den Bauch seiner Frau gelegt, der von einem schlichten Nachthemd verhüllt gewesen war. Er hatte den Duft ihres Körpers wahrgenommen und seinen Mund auf ihre Haut gepresst. Sie hatte ihm über die Haare gestrichen, dann seine Hand genommen und ihn sanft ins Schlafzimmer geführt, wo sie in seinen Armen eingeschlafen war, fast wie immer.

Das Erwachen war schweigsam verlaufen, eine seltsame Leere hatte Einzug gehalten. Als er Yukio auf die Stirn küsste, bevor er zur Arbeit ging, hatte er kurz gezögert, denn diese selbstverständliche Geste würde ab jetzt mit einer Lüge behaftet sein.

In der Universität angekommen, informierte ihn die Sekretärin seiner Abteilung, eine strenge Frau, in vorwurfsvollem Ton darüber, dass die Polizei mit ihm reden wolle und man ihn im Büro des Präsidenten erwarte. Erneut meldete sich das Unbehagen der letzten Nacht, doch das war absurd. Seine Untreue machte ihn schließlich nicht zu einem Kriminellen.

Colin betrat das Büro. Drei uniformierte Beamte sowie ein Polizist in Zivil wandten sich ihm mit düsteren Blicken zu. Colin hatte den Eindruck, dass ihn selbst die Figuren auf den beiden Bildern, die über dem Eichenschreibtisch hingen, vorwurfsvoll anblickten. Der Mann in Zivil stellte sich als Kommissar Mastushita vor und teilte Colin ohne Umschweife mit, eine seiner Studentinnen, Asami Myusu, sei am frühen Morgen ermordet worden. Colin reagierte nicht darauf. Etwas kurzatmig, die Arme schlaff am Körper herabhängend, wartete er den nächsten Satz ab. Asami … Tot … Plötzlich begriff er, dass seine intime Beziehung im Mittelpunkt der Befragung stehen würde. Ein Teil von ihm wünschte sich inständig, die Zeit zurückdrehen zu können. Ganz versunken in diese wirre Hoffnung, nahm er nur entfernt wahr, dass das Verhör begann, und er musste den Kommissar bitten, seine Frage zu wiederholen, was dieser etwas ungehalten tat.

»Wo waren Sie gestern Nacht, Mister Stearl?«

In Colin stiegen die Erinnerungen an die letzten Stunden auf, das Abendessen, der Kuss, seine Frau. Konnte er seine Unschuld am besten beweisen, indem er sein Verhalten erklärte? Verstört und hilfesuchend blickte er sich um. Der Kommissar wurde ungeduldig, doch Colin war verunsichert und nicht in der Lage zu antworten. Sein Schweigen wirkte sich zu seinem Nachteil aus, und auf dem Weg zum Streifenwagen sah er sich den anklagenden Gesichtern von Studierenden und Professoren ausgesetzt. Rücksichtslos drückte man seinen Kopf nach unten, um ihn auf die Rückbank des Wagens zu bugsieren. Er warf einen letzten Blick auf die rote Backsteinfassade der Universität, und die Uhr schlug elf wie bei einem Trauermarsch.

Auf der Fahrt blickte Colin aus dem Fenster, während der Kommissar die Zentrale anwies, einen Verhörraum vorzubereiten. Er erkannte die sprudelnde, quirlige Stadt kaum wieder, die ihn einst so fasziniert hatte. Er sah nur noch Gedränge, Hektik, Lärm und Beton. Vergessen waren der Meji Shrine Garden und die Ginkgos, jene Bäume, deren Höhe und Schönheit ein Gegengewicht zum unaufhörlichen Treiben der Hauptstadt Tokio bildeten. Alles erschien Colin wieder fremd.

Am Ende bin ich nur ein Immigrant.

Was dann folgte, war ein einziger Albtraum. Im Verhörraum gestand Colin die Liaison, bestritt jedoch den Mord. Er konnte seine Empörung darüber, als Sündenbock herhalten zu müssen, weil er sich ideal dafür eignete, nur schwer zügeln. Man musste sich das nur vorstellen: Ein Professor, der eine seiner Studentinnen zuerst missbraucht und dann umgebracht hat – darauf würden sich Zeitungen und Öffentlichkeit nur so stürzen.

Erdrückt von der Flut an Fragen, die alle auf sein Privatleben abzielten, äußerte Colin schließlich einen einzigen Satz zu seiner Entlastung, auch wenn ihm dieser Satz am schwersten fiel:

»Meine Frau wird Ihnen bestätigen, dass ich um 2:45 Uhr zu Hause war.«

»Wir werden sie vorladen, dann sehen wir weiter. Sind Sie schon lange verheiratet?«

»Seit fünf Jahren.«

»Sie sind in Harrogate, in England, geboren. Was hat Sie nach Japan geführt?« Selbst mit seinen Freunden sprach Colin nur wenig über seine Vergangenheit. Das war für ihn nicht wichtig, er konzentrierte sich lieber auf das Leben, das er sich in Japan aufgebaut hatte.

»Ich verstehe nicht, warum …«

»Und ich wiederhole meine Frage.«

Wenn er diese Frage beantwortete, akzeptierte er damit zugleich zahlreiche weitere.

»Weil ich in England nichts mehr zu tun hatte.«

Der Kommissar musterte ihn schweigend, ohne die geringste Regung.

»Mister Stearl, ich habe meine englischen Kollegen um Informationen über Sie gebeten. Von denen werde ich zweifellos weniger sybillinische Antworten erhalten.«

Colin zitterte, als würde ein kalter Lufthauch durch seinen Körper strömen. Bevor er Professor geworden war, hatte er seinem Land gedient. Sein vom Militär geprägter Vater hatte ihn so erzogen, dass er sich nicht drückte, sondern mit achtzehn Jahren freiwillig den Militärdienst antrat. Damals herrschte Krieg in Jugoslawien, und die Schutztruppe der Vereinten Nationen brauchte Verstärkung. Seinem Vater zuliebe hatte sich Colin freiwillig gemeldet, zurückgekehrt war er mit Albträumen, in denen ihn Tod, verirrte Kugeln und Schreie verfolgten. Obwohl man ihn für seinen Mut ausgezeichnet hatte, hatte er sich geweigert, seinem Land weiterhin um diesen Preis zu dienen. Den heftigen Vorhaltungen seines Vaters zum Trotz war er an die Universität gegangen und hatte gehofft, durch die Bücher in eine erträglichere Welt zu finden.

Seit man ihn auf dem Kommissariat verhörte, dachte Colin unablässig an Yukio, an das Leid, das er ihr damit zufügte. Er hatte sich nicht nach den genaueren Umständen zu Asamis Tod erkundigt und so versucht, sich von dem Mord zu distanzieren. Doch wie hatte sie umgebracht werden können? Warum in dieser Nacht?

Nach dem Verhör hatte Colin geduldig in einem verglasten Raum gewartet. Es war keine Zelle, sondern ein Vorzimmer der Scham. Zu Beginn des Nachmittags hatte er seine Frau an ihrem Gang erkannt, an der leichten Unausgewogenheit, die von ihrem Oberkörper ausging, sich jedoch auf harmonische Weise wieder ausglich. Yukio hatte sich vor der Glasscheibe abgewandt und ihn voller Verachtung aus dem Augenwinkel gemustert. Er hatte ihren Blick ertragen und sich über ihre Härte gewundert. Er hatte mit Wut gerechnet, doch ihr Blick drückte etwas Anderes aus, etwas Fremdes.

Yukio hatte dem Kommissar die Hand gereicht und sich dann zu einem Gespräch gesetzt, das eine Viertelstunde dauerte. Colin konnte weder etwas hören noch erraten, worum es ging. In das Warten mischte sich beherrschte Unruhe, er ließ sich nur sehr selten anmerken, wenn er unter Stress stand.

Nachdem Yukio gegangen war, ohne Colin eines Blickes zu würdigen, kehrte der Kommissar mit ernster Miene zurück.

»Mr. Stearl, Ihre Frau hat ausgesagt, Sie seien letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Da Sie kein Alibi haben, sind Sie des Mordes an Asami Myusu verdächtig.«

Steilküste von Tojimbo

Während der Wind um die Klippe heulte und das Rauschen der sich an den Felsen brechenden Wellen in Strudeln nach oben stieg, erinnerte sich Colin benommen an die Worte des Kommissars. Yukios Aussage hatte ihn so verletzt, dass er im ersten Moment noch nicht einmal versucht hatte, sich zu verteidigen. Warum hatte Yukio gelogen? Aus Stolz? Aus Rache? Konnte sie ihn einfach so brutal fallen lassen, ohne ein einziges Wort? Nach einigen Stunden war er zu dem Schluss gekommen, dass es nichts zu verbergen gab, und hatte ohne Umschweife alle Fragen beantwortet. Seine Haltung entsprach der überheblichen Haltung eines Mannes, der stets nur die guten Seiten des Regimes kennengelernt hatte. Die ersten Tage im Gefängnis, wenn auch nur in Untersuchungshaft, hatten sich jedoch als Martyrium herausgestellt. Die heruntergekommenen Zellen mit ihren baufälligen Mauern, dem Schimmel, der kühlen feuchten Luft und dem harten, unebenen Steinboden wirkten unheimlich. Man hatte Colin mehrfach durchsucht, ihn gezwungen, sich ganz zu entkleiden, und damit sein Gefühl der Demütigung verstärkt.

Die einzigen Bilder, die ihm in den Sinn kamen, während er in seiner dunklen Zelle schlotterte, waren die von seiner Frau. Trotz Yukios Lüge und seines Verrats vergaß er die glücklichen Momente ihrer fünf gemeinsamen Jahre nicht. Im Grunde verstand er, dass Yukio ihn bestrafen wollte. Er klammerte sich an den Gedanken, sie werde einsehen, dass sie ihre Lüge während des Prozesses nicht aufrechterhalten durfte. Ihm drohten viele Jahre Gefängnis. Konnte man ihn allein aufgrund von Yukios Aussage verurteilen? Sie brauchten doch weitere Beweise, so hoffte er, schließlich bewies ein fehlendes Alibi allein noch kein Verbrechen. Colin hatte Vertrauen in das japanische Rechtssystem bekundet und wollte noch immer an dessen Unparteilichkeit glauben. Die direkte Konfrontation mit den Tücken dieser Macht hinterließ bei ihm einen bitteren Geschmack. Verzweiflung, Enttäuschung. Die Polizisten hatten ihm gegenüber keinerlei Zugeständnisse gemacht. Bereits die ersten Fragen im Büro des Universitätspräsidenten hatten gezeigt, dass es eher darum ging, ihn zu destabilisieren, als die Wahrheit herauszufinden. Colin war ironischerweise das Opfer dessen geworden, worüber er häufig Vorlesungen gehalten hatte: Honne und Tatemae, die persönliche Meinung des Individuums und die gesellschaftliche Pflicht. Die Ehre und die Verschleierung der Wahrheit. Die Polizei wollte diese Angelegenheit so schnell wie möglich regeln, damit sie in ihrer Rolle als Bewahrer des gesellschaftlichen Friedens glaubhaft blieb. Die Gefahr eines Justizirrtums wog weniger schwer als der Stolz auf eine von Abschaum bereinigte Gesellschaft.

Der erste Gerichtstermin war eine Katastrophe gewesen. Anmutig stand Yukio vor dem Richter, die schwarzen Haare umrahmten ihr markantes Gesicht, und wiederholte mit bewegter Stimme ihre Aussage: »Mein Mann ist in jener Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich weiß nicht, wo er gewesen ist. Er hatte mir gesagt, er habe eine wichtige Besprechung an der Universität. Das kommt hin und wieder vor, ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln. Aber ich bin es nicht gewohnt, ohne ihn zu schlafen. Deshalb bin ich mehrmals aufgestanden, doch er war nicht da.« Sie betonte die beiden letzten Worte etwas mehr, als ob seine Abwesenheit seine Schuld bestätigte. Murmeln erhob sich im vollen Gerichtssaal. Wie konnte ein untreuer Ehemann unschuldig sein?

Colin hätte ihr ins Wort fallen, seine Unschuld hinausschreien sollen, doch vor den Zuhörern zu behaupten, dass seine Frau log und sich mit ihr anzulegen, schien seine Kräfte zu übersteigen.

Schließlich begriff Colin, dass man seine Unschuld nicht bewies, indem man einfach nur die Wahrheit erzählte; Gerichte hatten ihre eigenen Regeln und ihre eigene Sprache. Er musste sich Hilfe suchen, um sie zu entschlüsseln und nicht zu ihrem Opfer zu werden. Er musste kämpfen und einen Anwalt engagieren, um seinen fünfunddreißigsten Geburtstag nicht im Gefängnis zu verbringen.

Und das hatte Colin getan. Sein annehmliches Professorengehalt erlaubte es ihm, einen Spezialisten für Strafrecht zu engagieren. Wie aus dem Ei gepellt erschien Herr Nakamura jeden Morgen mit seinem Aktenkoffer, um eine Verteidigungsstrategie zu entwickeln, die den Sitten und Bräuchen der japanischen Justiz entsprach. Colin hatte nicht das Gefühl, dass Nakamura ihm wirklich glaubte. Zwischen ihnen herrschte kein Vertrauen, bestenfalls eine Arbeitsbeziehung, die auf dem eindrucksvollen Honorar basierte, das Colin ihm überwies.

Sie kamen überein, dass Colin sich bei den diversen Gerichtsverhandlungen zurückhalten und seinem Anwalt die Bühne überlassen würde. Der wies noch einmal darauf hin, dass sein Mandant seine Untreue bereue, jedoch nichts mit dem Mord zu tun habe. Colin blickte ins Leere, hörte ein wenig zu, wandte den Kopf ab und senkte rasch den Blick. Ihm war bewusst, dass er in einen dieser unvermeidbaren öffentlichen Prozesse geraten war, in denen es nicht mehr um Wahrheit ging, sondern einzig darum, die Masse zu befriedigen. Auch wenn die Angelegenheit nicht auf der Titelseite erschien, interessierten sich die Medien doch für diesen Fall, in dem Mord mit Ehebetrug einherging. Nach Meinung der Öffentlichkeit war Colin schuldig, und es war nicht leicht, das zu widerlegen. Das ging sogar so weit, dass der Richter den Saal räumen lassen musste, als Colins Anwalt seinen Freispruch forderte, da wütendes Aufbegehren und Proteste im Gerichtssaal laut wurden: »Verbrecher! Mörder! Keine Gerechtigkeit!«

Am Ende des Prozesses blieb dem Richter keine andere Wahl, als das Verfahren einzustellen und Colin aus Mangel an Beweisen freizulassen. Nun war er zwar offiziell unschuldig, doch seine Ehre wurde mit Füßen getreten, da er in den Augen aller ganz eindeutig schuldig blieb. Colin versuchte, darüber hinwegzukommen und wieder ein normales Leben zu führen. Doch vergeblich.

Seine Vorlesungen wurden mit der durchaus gerechtfertigten Begründung gestrichen, dass die Vorschriften keine intime Beziehung zwischen einem Professor und einer seiner Studentinnen tolerierten. Von einem Tag auf den anderen war er ein Ausgestoßener. Außerhalb der Universität hatte er keine Freunde, niemanden, der ihm zuhörte, niemanden, mit dem er sich verabreden konnte. Das Gefühl, ein »Fremder« zu sein, das er seit Jahren nicht mehr gehabt hatte, wurde vorherrschend.

Während er darauf wartete, dass sich die Lage beruhigte, hatte sein Anwalt ihm ein kleines Zimmer vermietet und ihm Schlüssel und Code zu einem drei Quadratmeter kleinen Lagerraum am grauen Stadtrand von Tokio gegeben, in dem seine Sachen lagerten. Nicht in Kartons, alles war auf dem Boden gestapelt – Kleidung, Bücher und Geschirr, versehen mit dem Siegel der Untreue. Das war kein Leben mehr, das waren nur noch Trümmer.

Colin verspürte den Drang, wahllos ein Flugticket zu kaufen und weit wegzureisen. Doch ihm fehlte der Mut, noch einmal bei null anzufangen.

Um seine Ehre wiederherzustellen, überwand er seine Niedergeschlagenheit, denn er wollte verstehen, was wirklich in jener Nacht geschehen war. Er würde die Ermittlung auf seine Weise führen, noch einmal zurückgehen, seinen Spuren folgen und herausfinden, was die Polizei vermutlich übersehen hatte.

Restaurant Kaikaya

An dem Abend, als Asami gestorben war, hatten sie in einem Restaurant in Shibuya gegessen. Die Polizei hatte den zeitlichen Ablauf und die Strecke von Colin rekonstruiert. Sie hatte die Videoaufzeichnungen jener Straßen gesichtet, über die er zu dem Restaurant gelangt war, in dem er sich mit seiner Studentin getroffen hatte. Außerdem hatte die Polizei die Bänder des Restaurants überprüft. Colin hatte jedoch den Eindruck, dass diese Recherchen nachlässig durchgeführt worden waren. Die Videobänder lagen der Akte nicht bei. Sein Anwalt hatte nicht auf einer Kopie bestanden. An diesem Punkt wollte Colin ansetzen. Als er vor der Fensterfront stand, fragte er sich, mit welcher Geschichte er sich Zugang zu den Videoaufzeichnungen verschaffen konnte. Das Restaurant war leer, die Gäste waren bereits gegangen, einige Tische noch nicht abgeräumt.

»Guten Tag, ich wollte mich erkundigen, ob Ihr Restaurant zufällig videoüberwacht wird«, fing Colin an.

»Ja, und ich bin sehr zufrieden mit dem System. Ich möchte kein anderes«, antwortete der Geschäftsführer des Restaurants abwehrend.

»Natürlich, ich verstehe. Aber ich bin kein Händler. Ich möchte Ihnen nichts verkaufen. Vielmehr war ich vor zwei Monaten mit meiner Verlobten bei Ihnen zum Abendessen. Ich möchte sie mit etwas überraschen, aber dazu muss ich unbedingt wissen, was sie an jenem Abend getragen hat. Das wird Ihnen sicher seltsam vorkommen, aber es ist äußerst wichtig für mich.«

»Eigentlich ist das nicht der Sinn der Videoüberwachung …«, hob der Chef etwas überrascht an.

Er überlegte einen Moment.

»… aber für Verliebte will ich gern eine Ausnahme machen«, fügte er lächelnd hinzu. »Folgen Sie mir.«

Er führte Colin nach oben in einen Raum, der diverses Computermaterial enthielt. Dort erklärte er ihm rasch, wie man nach Datum und Stunde suchte, dann überließ er ihn sich selbst.

Nach wenigen Minuten fand Colin die entsprechende Datei und startete das Video. Er sah sehr deutlich, wie er mit Asami das Restaurant betrat. Aufmerksam beobachtete er die Gäste in der Umgebung ihres Tisches. Manche standen auf und gingen, andere kamen, die Kellner liefen wie üblich hin und her.

Colin konzentrierte sich auf ein Detail, auf einen strahlenden Punkt unten rechts im Bild.

»Da«, sagte er fiebrig und deutete auf eine Gestalt hinter ihnen.

Colin erkannte eine äußerst ungewöhnliche Spiegelung wieder, die von einem Fehler im Stein herrührte. Der Ring von Yukio! Seine Frau hatte hinter ihnen gesessen! Er erkannte weder ihre Haare noch ihre Kleidung, doch es konnte sich nur um sie handeln. Wie hatte sie von dem Rendezvous erfahren?

Erschüttert verließ Colin das Restaurant und wehrte sich gegen die Idee, die in ihm aufkeimte. Wollte er mehr darüber erfahren? Er fürchtete, dass sich die Wahrheit als noch düsterer erweisen würde. Der Zufall erklärte nichts, doch unversehens verwandelte sich der Mord an Asami in ein Verbrechen aus Leidenschaft. Yukio hatte gehandelt und sich auf unbegreifliche Weise an ihm gerächt.

Wollte er die öffentliche Schande noch durch das Bild eines in Bedrängnis geratenen Mannes vergrößern, der die Schuld seiner Frau anlasten wollte? Nein, die Geschichte war hier zu Ende.

Steilküste von TojimboAm Abgrund

Mit jeder Erinnerung war Colin etwas näher ans Nichts, ans Meer herangerückt. Zentimeter um Zentimeter näherte er sich dem Moment, in dem er schwanken, in dem er, ohne nachzudenken, springen würde, er zählte auf die Hoffnungslosigkeit als Antrieb. Er erinnerte sich an die Gestalten, die aus dem brennenden World Trade Center gesprungen waren. Diese Menschen hatten sich in einer Situation befunden, in der ihnen der Sprung in den sicheren Tod als die weniger grausame Option erschienen war.

Tief im Inneren hoffte Colin vage, dass die Klippe ihn retten würde, denn er erinnerte sich an diesen Schutzengel, der sich an den Felsen herumtrieb und versuchte, Selbstmörder vom Leben zu überzeugen. Unablässig schritt der pensionierte Polizist die wenigen Kilometer am Meer ab, um auf sie einzureden. Er hatte sogar eine Telefonzelle für jene aufgestellt, die Hilfe rufen wollten.

Colin beugte sich vor, und ein Windstoß brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er hörte auf zu atmen, er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Wie in großer Höhe. Waren das Windböen oder Schreie, die er hörte? Einen Moment rangen seine Angst und sein Ehrgefühl miteinander. Der Sieger war eindeutig. Colin sprang mit geschlossenen Augen, dabei hämmerte sein Herz so stark, als würde seine Brust zerspringen. Er spürte das Unumkehrbare, das Ende. Diesmal hatte der Schutzengel der Klippe nichts ausrichten können.

London, einige Tage später, Agentur ArtandcoEin GroßraumbüroTom, 29 Jahre

Tom befand sich noch allein im Großraumbüro. Er hatte sich angewöhnt, die Stoßzeiten der Londoner U-Bahn zu meiden und als Erster in die Agentur zu kommen. So profitierte er von einer ruhigen Stunde, bevor die Betriebsamkeit einsetzte, die den ganzen Tag über anhielt. Auch wenn ihm das hektische Londoner Treiben nichts ausmachte, so kehrte er doch gern in das besinnliche Stapleford bei Nottingham zurück. Seine Eltern hätten ihn gern als Professor gesehen, doch trotz zweijährigem, hervorragendem Kunstgeschichtsstudium besaß Tom eine eher kommerzielle Ader, die er bei den neuen Technologien auslebte. Es reizte ihn, in einer stark expandierenden Branche zu arbeiten, und so war das Internet sein Spielfeld geworden.

Persönliche Mails, Nachrichtenseiten, Pariser Sportler online, Reiseangebote, all das erschien vom frühen Morgen an auf seinem Computer. Er genoss die Momente, in denen er nicht darauf achten musste, was auf seinem Bildschirm zu sehen war. Die Putzfrau, mit der er jeden Tag ein Lächeln tauschte, beendete ihre Arbeit. Mit den ersten Kollegen tauchten auch die ersten arbeitsbezogenen Fragen auf, und es fiel Tom schwer, sich darauf einzustellen.

»Um 9:30 Uhr haben wir eine Besprechung mit einem neuen Kunden. Hast du das noch auf dem Zettel?«, fragte sein Chef, ohne ihm erst Guten Tag zu sagen.

Tom hatte es nicht vergessen. Er öffnete eine PowerPoint-Datei auf dem Bildschirm, die er neben seinen persönlichen Fenstern platzierte: Facebook, Twitter, einige Preisvergleichsseiten sowie die der Daily Sun. Eigentlich nutzte er diese Seiten auch für seine Arbeit, die darin bestand, die neuen Kommunikationsmittel zu beherrschen. Das Unternehmen Artandco war eine Verlagsgesellschaft für Grafikprogramme und zugleich eine Webagentur, die den Ruf ihrer Kunden im Internet lenkte. Im Übrigen war es dieses zweite Standbein, das seit zwei Jahren den meisten Umsatz generierte. Künftig würde es weniger Grafiker als »Webanalysten« geben.

Tom schloss das Dokument, an dem er am Vorabend gearbeitet hatte. An der Besprechung, die sein Chef leitete, würde er nur wenige Minuten als »Spezialist« teilnehmen. Um dem Wunsch nach einem Kostenvoranschlag nachzukommen, hatte er die üblichen Positionen zusammengestellt: falsche Kommentare auf Internetseiten, denen vor Jahren angelegte Konten zugrunde lagen, Werbeanzeigen, Verwaltung der Keywords bei Google – die automatisch zu gezielter Anzeigenschaltung führten –, E-Mailing und Data-Mining (Analyse der persönlichen Daten und des Kaufverhaltens), sperrige Fachbegriffe, auf denen die ganzen, per Internet verschickten Informationen basierten. Es genügte, eine Herrenuhr zu kaufen, um anschließend Angebote für andere Accessoires derselben Marke zu erhalten.

»Tom, es geht los«, rief ihm ein Kollege zu.

Tom zog das Ladekabel aus dem Laptop und trug es wie ein Kellner zum Konferenzraum. Er hatte sich angewöhnt, bei den ersten Geschäftstreffen nur mit halbem Ohr zuzuhören. Der Großteil der Zeit war der Präsentation der Agentur vorbehalten. Es kam sogar häufig vor, dass man ihn gar nicht bat, sein Webkonzept vorzustellen. Nach den üblichen Begrüßungen setzte Tom sich so, dass er dem Kunden nicht gegenübersaß und behielt sein lautlos gestelltes Handy griffbereit.

Sobald sein Chef, der gern jedem, der es hören wollte, erzählte: »Ich bin deine Nummer eins«, seine übliche Präsentation begonnen hatte, öffnete Tom auf seinem iPhone Facebook. Er ging die neuesten Meldungen auf seiner Startseite durch und stutzte bei einer Statusmeldung von Erasmus, einem seiner Freunde. Beide gingen auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Netz um. Tom hatte aufgehört, immer weiter Freunde zu sammeln, da er es nicht mehr ertrug, mit Neuigkeiten von Menschen überhäuft zu werden, die ihn absolut nicht interessierten. Erasmus hingegen hatte mehr als zweitausendfünfhundert Freunde. Sie erklärten sich zum Teil durch seine zahlreichen Reisen um die Welt. Seine Facebook-Kontakte erlaubten es ihm, überall auf der Welt ein Dach über dem Kopf zu finden, in Städten mit den unmöglichsten Namen: Risaralda in Kolumbien, Tscheljabinsk in Russland.

Sie hatten sich im italienischen Perugia kennengelernt, wo die beiden jungen Briten ein Auslandssemester verbrachten. Tom hatte Erasmus sofort gemocht, ein Spitzname, den er einem feuchtfröhlichen Abend verdankte und der quasi sein neuer Vorname geworden war. Anschließend waren sie gemeinsam durch ein paar europäische Länder gereist und hatten sich sehr gut verstanden, bis Tom entschied, Rucksack und Vagabundenleben hinter sich zu lassen und ein solideres Leben zu beginnen.

Erasmus: »Hilfe!«

Die Statusmeldung erschien auf dem Display von Toms Handy. Tom lächelte und vergaß nicht, sie zu »liken«, dann schrieb er einen spöttischen Kommentar:

Tom L.: »Du musst in London sein, du bist es nicht mehr gewohnt, in einer modernen Stadt eingesperrt zu sein. ;-)«

Er schloss das Programm gerade noch rechtzeitig, um in der Besprechung das Wort zu ergreifen.

»Wir verfügen über alle Instrumente, um Ihnen eine starke Webpräsenz zu gewährleisten, vor allem aber, um Ihr Ansehen im Netz zu verbessern und zu kontrollieren. Wir setzen die entscheidenden Hebel, um Ihre Ziele …«

Darin war Tom geübt, er verspürte keinerlei Anspannung, denn die komplexeren Fragen würden erst in den folgenden Treffen zur Sprache kommen.

Sobald sein Auftritt zu Ende war, konzentrierte Tom sich wieder auf sein Handy. Die rote Anzeige der Facebook-Anwendung sagte ihm, dass er fünfzehn Nachrichten hatte. Doch der Kunde schien mehr wissen zu wollen. Tom antwortete mechanisch und war in Gedanken bereits bei der Lektüre seiner Nachrichten. Jedes Mal, wenn er aus dem Augenwinkel sah, dass neue Kommentare gepostet worden waren, verspürte er eine gewisse Aufregung.

Zurück im Büro schickte er dem Kunden nicht gleich die versprochenen Informationen, sondern stürzte sich auf seinen Computer, um Facebook zu öffnen. Alle Kommentare waren Antworten auf den Status von Erasmus. Seine Freunde hatten Toms ironischen Ton aufgenommen. Einige diskutierten miteinander, obwohl sie sich nicht kannten, und schweiften weit von dem Hilferuf ab. Tom erlaubte es sich, in dieser vertrauten Atmosphäre »unter Freunden« wieder auf das Thema zurückzukommen.

»Meiner Meinung nach will er nur wissen, auf wen von seinen Freunden er zählen kann, wenn er um Hilfe ruft. Ich glaube, den Test haben wir alle bestanden!«

Eine Stunde später, als er in die Planung einer Seite digitaler Bücher zu kleinen Preisen vertieft war, stellte Tom amüsiert fest, dass Erasmus seinen Status erneut geändert hatte:

Erasmus: »Hilfe! Werdet Freunde von Alban M.«

Noch eine Anfrage. Wenn sie von einem Freund kamen, war man zwangsläufig aufmerksamer, auch wenn man auf Facebook schnell von Bitten aller Art überschüttet wurde. Manchmal trugen »Freunde« einen sogar ohne Zustimmung in eine Gruppe ein, schickten einem eine Einladung zu einem Spiel oder dergleichen. Es amüsierte Tom immer, bei derlei Anfragen als Erster zu reagieren, obwohl er genau wusste, wie sie funktionierten. Schließlich befasste er sich den ganzen Tag mit diesen Mechanismen, um Produkte und Dienstleistungen zu verkaufen. Tom bemühte sich erst gar nicht, Genaueres über die neue Statusmeldung herauszufinden, sondern drückte auf »Alban M.«, dann auf »als Freund hinzufügen«. In der darauffolgenden Viertelstunde überprüfte er ständig sein Profil, um zu sehen, ob seine Freundschaftsanfrage angenommen worden war.

Tom und Alban M. sind jetzt Freunde.

Er klickte, um Zugang zum Profil des Unbekannten zu erhalten. Kein Foto, keine näheren Informationen, nur ein Video, das dreißig Minuten zuvor veröffentlicht worden war, und eine einzige, rätselhafte Statusmeldung:

»Alban M. gelingt es, sich in der Dämmerung und im Morgengrauen des Geredes zu halten, gleichzeitig …«

Als das Video abläuft, weicht Toms fröhliche Stimmung starker Beunruhigung. Er überprüft die Lautsprecher – sie funktionieren –, doch das Video ist stumm. Die Person, die filmt, bewegt sich durch einen dunklen Raum, der wie ein Wohnzimmer aussieht. Auf dem dämmerigen und leicht pixeligen Bild sind nur einige Grünpflanzen und an der hinteren Wand ein Gemälde zu erkennen. Die Kamera senkt sich und zeigt sechs auf dem Boden sitzende Personen, deren Hände auf dem Rücken gefesselt sind. Die Kamera verharrt vor jedem Einzelnen. Sie halten die Köpfe gesenkt, als würden sie Buße tun. Am Ende des fünfundvierzig Sekunden langen Videos springt Tom auf, seine Befürchtung wird zur Gewissheit. Hatte Tom den Hilferuf zuvor nicht ernst genommen, wird er jetzt von Scham und Angst ergriffen. Reglos sitzt Erasmus unter den Gefangenen.

2

London – Agentur Artandco11:30 Uhr

Facebook-Freunde von Alban M.: 850

Auf Toms Bildschirm lief das Video in Endlosschleife. Nervös spielte der junge Mann mit seiner Maus, schaffte es jedoch nicht, das Unbehagen, hervorgerufen durch die düsteren Bilder, abzuschütteln. Die Szene war geschickt inszeniert: das fehlende Licht, kein Ton, die knienden Gestalten, die verschlossene Miene von Erasmus … Ein Anblick, der ihn erschütterte, selbst wenn er sich weigerte zu glauben, was dort gezeigt wurde. Die Facebook-Freunde von Erasmus tauschten sich unablässig aus, um zu begreifen, was hier vor sich ging. Die Optimisten unter ihnen hielten es für einen Scherz, die äußerst Besorgten hatten bereits die Polizei verständigt.

Aufgrund seines Berufs suchte Tom nach Hinweisen auf einen Marketing-Gag. Sein Freund hatte nie viel von diesen Tricks gehalten, und Tom bezweifelte ernsthaft, dass er sich auf eine so düstere Werbekampagne eingelassen hätte. Tom kannte Unternehmen, die nicht zögerten, die Öffentlichkeit zu schockieren, um ihre Neugier zu wecken, sie zu überraschen und eine Reaktion hervorzurufen. Noch letzte Woche hatte er selbst eine Analyse von Werbekampagnen vorgestellt, die mit der Neugier der Internetnutzer spielten, indem sie geheimnisvolle Filme im Netz verbreiteten, ohne den kommerziellen Aspekt ihrer Botschaften offenzulegen. Doch auch nachdem er den Film zum zehnten Mal gesehen hatte, gelang es Tom nicht, ein Logo, einen Slogan oder ein Detail auszumachen, durch das sich das von diesem Alban M. gepostete Video einer Marke zuordnen ließe. Welches Unternehmen würde es wagen, einen so beängstigenden Filmausschnitt online zu stellen? Durch diesen Inhalt würde es in enormen Verruf geraten, es sei denn, es würde ein heiteres Ende folgen. Im vorliegenden Fall gab es nichts Derartiges. Blieb die Hypothese, dass es sich um den Teaser einer Fernsehserie handelte, doch Licht und Atmosphäre deuteten nicht auf eine Serie im Stil von »24« hin.

ENDE DER LESEPROBE