Courting – Be mine through all time - Felicia Kingsley - E-Book

Courting – Be mine through all time E-Book

Felicia Kingsley

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Beschreibung

Er ist alles, was sie will, aber er ist so was von tabu! Rebecca schwärmt für die Regency-Zeit: umwerfende Bälle, hinreißende Kleider und Männer, die noch wissen, wie man um eine Frau wirbt. Denn ganz ehrlich: wer kann heute noch mit Mr. Darcy mithalten? Dann findet sich Rebecca auf einmal völlig unerklärlich im Jahr 1816 wieder. Plötzlich Debütantin der Londoner High Society, zieht sie die Aufmerksamkeit eines Mannes mit, gelinde gesagt, skandalösem Ruf auf sich. Reedlan Knox ist garantiert kein Gentleman, bringt ihre Gefühlswelt aber gehörig durcheinander ... Einmalig witzige spicy Time-Travel-Romance mit einer ordentlichen Portion Mystery und einem Bad Boy, der einfach nur zum Verlieben ist. »Felicia Kingsley lesen ist wie eine Tafel Schokolade essen: Die Endorphine feiern.« LA REPUBBLICA.

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Seitenzahl: 662

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover for EPUB

Über das Buch

Eine Liebe zwischen den Zeiten

Als Studentin der Archäologie kann Rebecca deutlich mehr mit der Vergangenheit anfangen als mit der Gegenwart. Nichts liebt sie mehr, als sich in Tagträumen über das Leben der Regency-Ära zu verlieren – ganz ehrlich: So was wie einen echten Mr. Darcy gibt es heute einfach nicht mehr. Doch dann geschieht etwas Unerklärliches, und plötzlich findet Rebecca sich in einer Welt wieder, von der sie bisher nur in ihren Lieblingsromanen gelesen hat – als Lady, die Bälle und Teepartys besucht, im Hyde Park spazieren geht und hinreißende Kleider trägt. Dann begegnet sie auch noch dem Bad Boy Reedlan Knox – einem Korsaren mit dunklem Charme und fragwürdiger Vergangenheit, der alles andere ist als der Gentleman, von dem sie immer geträumt hat. Und Reedlan stellt ihr Leben zwischen den Zeiten total auf den Kopf ...

Über Felicia Kingsley

Felicia Kingsley arbeitet als Architektin in der Nähe von Modena. Bereits mit zwölf Jahren begann sie zu schreiben und hat seitdem so viele Bestseller veröffentlicht, dass sie heute als Romance-Queen Italiens gilt. Sie ist vielfach preisgekrönt, unter anderem als meistgelesene Autorin Italiens 2023.

@felicia_kingsley | feliciakingsley.com

 

Nina Restemeier begann zunächst, Literaturwissenschaft zu studieren, stellte aber schnell fest, dass sie lieber mit Literatur arbeitet. Sie hat in Düsseldorf Literaturübersetzen für die Sprachen Englisch und Italienisch studiert und ist als freie Übersetzerin und Lektorin tätig.

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Felicia Kingsley

Courting – Be mine through all time

Aus dem Italienischen von Nina Restemeier

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Triggerwarnung

Widmung

Kapitel 1

Mittwoch, 8. Mai

Samstag, 11. Mai

Sonntag, 12. Mai 1816

Kapitel 2

Montag, 13. Mai 1816

Kapitel 3

Kapitel 4

Dienstag, 14. Mai 1816

Kapitel 5

Kapitel 6

Donnerstag, 16. Mai 1816

Kapitel 7

Kapitel 8

Sonntag, 19. Mai 1816

Kapitel 9

Montag, 20. Mai 1816

Kapitel 10

Kapitel 11

Dienstag, 21. Mai 1816

Kapitel 12

Mittwoch, 22. Mai 1816

Kapitel 13

Donnerstag, 23. Mai 1816

Kapitel 14

Kapitel 15

Freitag, 24. Mai 1816

Kapitel 16

Kapitel 17

Samstag, 25. Mai 1816

Kapitel 18

Montag, 27. Mai 1816

Kapitel 19

Mittwoch, 29. Mai 1816

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Donnerstag, 30. Mai 1816

Kapitel 23

Freitag, 31. Mai 1816

Kapitel 24

Samstag, 1. Juni 1816

Kapitel 25

Sonntag, 2. Juni 1816

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Montag, 3. Juni 1816

Kapitel 29

Kapitel 30

Dienstag, 4. Juni 1816

Kapitel 31

Kapitel 32

Mittwoch, 5. Juni 1816

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Donnerstag, 6. Juni 1816

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Freitag, 7. Juni 1816

Kapitel 42

Kapitel 43

Samstag, 8. Juni 1816

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Sonntag, 9. Juni 1816

Kapitel 49

Kapitel 50

Montag, 10. Juni 1816

Kapitel 51

Dienstag, 11. Juni 1816

Kapitel 52

Mittwoch, 12. Juni 1816

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Donnerstag, 13. Juni 1816

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Freitag, 14. Juni 1816

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Samstag, 15. Juni 1816

Kapitel 63

Kapitel 64

Sonntag, 16. Juni 1816

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Montag, 17. Juni 1816

Kapitel 69

Kapitel 70

Dienstag, 18. Juni 1816

Kapitel 71

Mittwoch, 19. Juni 1816

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Donnerstag, 20. Juni 1816

Kapitel 76

Rückkehr in die Gegenwart

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Einige Fun Facts über Courting – Be mine through all time

Danksagung

Playlist

Triggerwarnung

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Triggerwarnung

Liebe Leser:innen,

in Courting – Be mine through all time sind potenziell triggernde Inhalte enthalten.

Hierzu findet Ihr am Ende dieses Buches entsprechende Hinweise.

Wir wünschen Euch ein schönes Leseerlebnis.

Eure Aufbau Verlage

Für Dich,

wenn Du in Deinem Leben jemals

das Gefühl hattest, Dich verstecken zu müssen.

Folge Deinem Licht.

Dein Leben ist ein Buch,

lebe es so, dass es sich zu lesen lohnt.

Kapitel 1

Mittwoch, 8. Mai

Ein Pfund für jedes Mal, das ich mir anhören musste: »Du bist altmodisch.«

Ich bin nicht altmodisch, ich bin vintage. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied. Ich hatte schon immer das Gefühl, in der falschen Epoche geboren zu sein, und jeder einzelne Tag meiner bisher einundzwanzig Lebensjahre bestätigt diese Vermutung.

Ich bin vintage im Leben: Ich verabscheue Hektik und schlechte Manieren. Und vor allem Schimpfwörter. Bevor mir eins rausrutscht, muss ich schon richtig sauer sein. Ich bin vintage bei der Berufswahl: Ich will entweder Geschichtsdozentin werden oder Kuratorin in einem Museum. Und ich bin vintage in der Liebe, weil ich gern langsam umworben werden möchte.

Dieser letzte Punkt ist das Lieblingsthema von May, meiner Kollegin in der Universitätsbibliothek, die mit der Zeit zu einer Vertrauten geworden ist. Sie hat mich sogar dazu überredet, mir eine Dating-App herunterzuladen, damit ich endlich einen Freund finde. Ich bei einer Dating-App. Wenn das nicht das genaue Gegenteil von langsam umworben werden ist.

Bisher hatte MatchMe nur diesen einen Effekt: Ich bin jetzt davon überzeugt, dass ich die Superkraft besitze, einen Traummann mit nur einem einzigen Kuss in eine Vollkatastrophe zu verwandeln.

Nach dem Typen, der meinen Amazon-Account gekapert hat; dem, der nach kurzzeitigem Gedächtnisverlust wieder zu seiner Ex zurückgekehrt ist; und dem, der dafür gesorgt hat, dass wir beide beinahe verhaftet worden wären, weil er mich mit einem gestohlenen Auto zu unserem Date abgeholt hat, ist gestern Abend noch ein weiteres Exemplar hinzugekommen: der, der mit seiner Frau aufgetaucht ist, um mir einen Dreier vorzuschlagen.

»Ich gebe auf«, sage ich und greife nach meinem Handy, um die App zu löschen. May sieht mir über die Schulter.

»Komm schon, gib dir noch eine Chance. Der Füfte«, behauptet sie, »der Fünfte ist der Richtige.« Der Unterschied zwischen mir und May ist: Sie kann nicht allein sein, ich dagegen komme hervorragend mit mir selbst aus, und das versteht sie einfach nicht.

»Vier Vollpfosten sind genug. Ich bin Ägyptologin, keine Sozialarbeiterin.«

»Du bist aber auch schwierig. Du sollst die Typen doch nicht gleich heiraten«, erwidert sie leicht verärgert.

»Ich bin nicht schwierig«, widerspreche ich, »ich bin anspruchsvoll.«

»Wenn du deine Ansprüche nicht langsam mal ein wenig runterschraubst, wirst du nie Sex haben. Du bist längst fällig.«

»Längst fällig? Ich bin doch kein Joghurt, oder habe ich etwa ein Verfallsdatum auf die Stirn tätowiert?«

»Du nicht, aber die Kondome, die ich dir geschenkt habe«, verkündet sie. »Ein erfülltes Sexleben ist entscheidend für das Glück eines Paares, und dessen Erforschung ist der Schlüssel dazu. Du studierst Ägyptologie, du müsstest Spaß am Erforschen haben.«

Ich tue so, als hätte ich sie gar nicht gehört, und konzentriere mich darauf, die zurückgegebenen Bücher auf einen Rollwagen zu stapeln, um sie in die Regale einzusortieren. »Was macht ein Buch aus der Pharmazie-Bibliothek hier bei uns?«

Sie nimmt das Lehrbuch über Anorganische Chemie vom Stapel. »Ich bringe es den Pharmazeuten zurück, und du installierst MatchMe neu.«

May und ich gehen beide aufs University College London und sind seit drei Jahren, seit ich aus Marden, einem Dreitausendsiebenhundert-Seelen-Ort in Kent in die Hauptstadt gezogen bin, Kolleginnen am Ausleihschalter der Main Library. Sie ist für mich das, was einer Freundin am nächsten kommt.

Allerdings studiert sie Psychologie und möchte Paartherapeutin werden (am liebsten für Promis), und sie lebt dafür, andere zu verkuppeln. In den letzten drei Jahren durfte ich miterleben, wie sie zwei Leute aus dem Cafeteria-Team, eine unbestimmte Anzahl von Mitstudierenden und sogar zwei Profs zusammengebracht hat. Sie ist wie Jane Austens Emma Woodhouse, nur mit blauen Haaren.

Seit ich ihr anvertraut habe, dass ich noch Jungfrau bin, hat sie mich zu ihrem neuen Lieblingsprojekt erklärt. Oder Studienobjekt. Ich befürchte, dass sie mich in ihre Abschlussarbeit einbeziehen möchte.

»Du, Rebecca«, wendet sie sich wieder an mich. »Sonntag habe ich einen Termin. Kannst du meine Vormittagsschicht übernehmen?«

»Aber ich habe schon die letzten drei Sonntage durchgearbeitet«, protestiere ich. »Außerdem habe ich auch Samstag Dienst«, füge ich hinzu.

Ich wünschte, ich wäre in der Situation, ihr diese Bitte abzuschlagen, aber das Leben in London ist teuer, und im Gegensatz zu May gibt es bei mir niemanden, der mich mit der Miete unterstützt. Zum Glück habe ich ein Stipendium!

»Bitte«, quengelt sie und klimpert mit den Wimpern. »Ich habe ein Match.«

»Und ich habe schon was vor.«

»Auf Flohmärkten irgendwelchen Krempel zusammenzusammeln ist nicht ›etwas vorhaben‹.«

»Das sind Antiquitäten«, korrigiere ich sie. »Kein Krempel.«

Ich bin Stammkundin an den Ständen in Portobello und Camden, die ich einen nach dem anderen nach Fächern, Siegelstempeln und Sammeltassen mit den Royals darauf durchstöbere. Wenn ich Glück habe, finde ich auch Bänder, Spitze oder Perlen, womit ich Schmuck im Regency-Stil herstelle und bei Etsy verkaufe.

Ich mag die Vergangenheit. Die Vergangenheit ist ein sicherer und vorhersehbarer Ort, perfekt für mich, die ich Überraschungen und Unerwartetes hasse.

»Dann lass uns Schichten tauschen. Ich übernehme den Samstag für dich«, kommt May mir entgegen. »Dann kannst du auch zu diesem Verkleidungsdings gehen.«

»Das Regency Revival!«, rufe ich. Das Regency Revival ist eine Veranstaltung der Regency Society, bei der sich Gleichgesinnte treffen, um einen Nachmittag nach den sozialen Regeln des frühen 19. Jahrhunderts zu verbringen. Selbstverständlich alle in der Epoche entsprechender Kleidung. Dieses Jahr findet sie bei Hatchards statt, Londons ältester Buchhandlung – sie wurde 1797 eröffnet-, und Ehrengast Patricia O’Neal, die Queen der Regencyromance, stellt ihren neuesten Roman vor. »Das ist kein Verkleidungsdings, sondern ein Reenactment.«

»Ist das ein Ja?«

Angesichts des Schichtplans hatte ich die Hoffnung, zum Regency Revival zu gehen, bereits schweren Herzens aufgegeben. Nach dem Tod meiner Eltern waren mir Regencyromane eine sichere Zuflucht – diese Welt mit ihren starren Regeln und der strengen Etikette mein Rettungsanker in einer Zeit, in der alle meine Gewissheiten in sich zusammenfielen.

Es war meine Nachbarin Gwenda Fanning, eine verschrobene pensionierte Professorin für Theoretische Physik, die mir das Genre damals näher brachte. Sie lebt allein, und irgendwann fing sie an, mich abends zu sich einzuladen und mir jedes Mal einen ihrer Romane mitzugeben (natürlich nur geliehen): Georgette Heyer, Mary Balogh, Julia Quinn und natürlich Patricia O’Neal.

Ich kann es kaum erwarten, ihr zu erzählen, dass ich doch beim Reenactment dabei sein kann.

Gwenda hilft mir auch beim Verfassen meiner Abschlussarbeit: Ägyptomanie in der Regency-Zeit: Wie die napoleonischen Kriege die Leidenschaft für das Alte Ägypten wiedererweckten.

»Das ist ein Riesen‑Ja«, nehme ich Mays Tauschvorschlag an.

»Vielleicht findest du sogar einen Mister Darcy, dem du deine Unschuld schenken kannst«, kichert May, glücklich über ihren freien Sonntag.

Ich erledige meine Aufgaben im Rekordtempo, denn ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und mir ein Kostüm zusammenzustellen. »Bis morgen«, rufe ich ihr im Hinausgehen zu.

Normalerweise bleibe ich abends gern länger in der Bibliothek, und die Schichten bis Mitternacht mag ich am liebsten. Es hat etwas Magisches, wenn alles in der Zeit und der Stille wie erstarrt wirkt, ohne die hektischen Beratungen am Nachmittag und den Trubel zwischen den Vorlesungen.

Antike Gebäude und Bücher lieben Ruhe – und ich auch.

»Hey! Rebecca«, ruft May mir nach und folgt mir auf die Straße. »Du hast dein Tagebuch vergessen.« Sie wedelt damit.

»Danke«, seufze ich, nehme es entgegen und drücke es mir ans Herz. »Wenn ich das je verliere, bin ich tot.«

»Übertreib mal nicht, dann kaufst du dir eben ein neues. Vielleicht sogar ein hübscheres.« Und ohne ein weiteres Wort verschwindet sie wieder in der Bibliothek.

Dass es hässlich ist, streite ich nicht ab. Ich habe schließlich absichtlich ein möglichst unansehnliches Notizbuch ausgesucht, damit niemand auf die Idee kommt, darin herumzublättern.

Das Buch an sich kann ich vielleicht ersetzen, nicht aber das, was drinsteht: Auf diesen Seiten habe ich mein Leben niedergeschrieben. Allerdings nicht mein echtes, sondern das, das ich mir wünsche.

Da bin ich, Rebecca Sheridan, ich bin einundzwanzig Jahre alt und lebe in London, nur, dass wir das Jahr 1816 haben und ich eine Lady bin. Ich habe mir einige Freiheiten genommen, mir die Extraportion Glück gegönnt, die mir in der Realität versagt bleibt. Zwar bin ich auch als Lady Rebecca eine Waise, aber ich bin nicht allein auf der Welt: Meiner angenommen haben sich mein Cousin Archie, der von meinem verstorbenen Vater den Titel des Marquess geerbt hat, meine liebevolle Tante Calpurnia und ihr zweiter Ehemann, der grummelige Onkel Algernon, meine Zofe und Vertraute Lucy sowie meine Nachbarin und beste Freundin Emily.

Da ich im echten Leben keine einzige Freundin habe, die Verständnis für mein bizarres Hobby aufbringt, habe ich eben eine erfunden. Emily versteht mich. Wir teilen die Leidenschaft für das Alte Ägypten, für Bücher und das Schreiben. So besteht zum Beispiel das Tagebuch aus Briefen, die wir einander schreiben. Wir haben sogar Freundschaftsbänder ausgetauscht, und eines, das ich selbst entworfen habe, aus einem türkisen Seidenband mit einer tropfenförmigen Perle, dient mir als Lesezeichen.

Emily hat bereits debütiert und eine hervorragende Partie gemacht, und in ihren Briefen erzählt sie mir von ihrem mondänen Leben in der High Society. Sogar eine unerträgliche gemeinsame »Feindin« haben wir: die klatschsüchtige Lady Ausonia Osbourne.

Lady Rebecca wohnt in der Charles Street im vornehmen Viertel Mayfair, in einer dieser riesigen weißen Villen mit Säulen davor, in denen sich heutzutage Dutzende von luxuriösen Eigentumswohnungen befinden, für die man sicher mehr als fünfzehn Millionen Pfund hinlegen muss. Kein Vergleich zu der Besenkammer in Bethnal Green, in der ich hause, und die sich in der Anzeige bei Gumtree als Einzimmerwohnung ausgegeben hat, aber zum Glück hat mein heutiges Ich – sofern es nicht um Männer geht – keine allzu hohen Ansprüche.

In meinem Tagebuch finden sich außerdem gezeichnete Porträts all meiner Freunde und Verwandten (als handele es sich um ein Familienalbum) sowie die Kriminalgeschichten, die Lady Rebecca heimlich für den London Chronicle schreibt, um ihre finanzielle Unabhängigkeit zu sichern.

Schriftstellerische Ambitionen habe ich keine – Lady Rebeccas Abenteuer haben nicht einmal einen Plot, es sind einfach Schnipsel eines Lebens, das ich mir ausdenke und das mir besser gefällt als die Wirklichkeit. Das hört sich vielleicht seltsam an, aber im Grunde ist es nur ein guilty pleasure und tut niemandem weh.

Dieses Tagebuch ist meine eigene Welt, es zu verlieren ist keine Option.

Kaum dass ich zu Hause bin, klopfe ich an Gwendas Tür, um ihr die freudige Nachricht mitzuteilen. Ganz beseelt, weil ich nun doch am Regency Revival teilnehmen kann, wärmt sie eine Suppe für uns auf. Sie ist seit Jahren verwitwet und hat weder Kinder noch Verwandte. In unserer Einsamkeit leisten wir einander Gesellschaft.

Auf meinem Smartphone trudelt eine E‑Mail ein, und ich tippe sie sofort an, um sie zu öffnen.

»Sohn des Anubis«, grummele ich.

»Was bedrückt dich, Liebes?«, fragt Gwenda, die den Tisch mit dem edlen Queen-Charlotte-Porzellan deckt.

»Professor Sullys Feedback zu meiner Arbeit«, schnaube ich. »Ich habe ihm die ersten Kapitel geschickt, und er schreibt, ich zitiere: ›Ihre Recherche ist zwar sauber, aber es mangelt Ihnen an Originalität und Mut‹.«

»Kein Wunder«, bemerkt Gwenda, und das überrascht mich.

»Was? Wie meinst du das?«

»Nun ja, du könntest so einige interessante Denkanstöße bekommen, wenn du dich nur aufraffen würdest.«

»Mich aufraffen«, wiederhole ich verdrießlich.

»Reisen«, präzisiert Gwenda. »Du hättest zu dieser Konferenz in Berlin fahren können, oder nach Turin …«

Ich will ihr widersprechen, aber sie kommt mir zuvor. »Dein Argument, dass Reisen teuer ist, zählt nicht, vergiss es. Ich hatte einen supergünstigen Flug nach Kairo für dich gefunden, neunundvierzig neunzig hin und zurück.«

»Ich fliege nicht«, erkläre ich. »Ich mag keine Flugzeuge.«

»Du willst Ägyptologin werden, Rebecca. Wie willst du das schaffen, ohne jemals ägyptischen Boden zu betreten?«

»Irgendwann fahre ich hin.«

»Und wie? Per Teleporter?«

»Ich könnte den Zug nach Dover nehmen«, überlege ich. »Dann durch den Eurotunnel, in Calais steige ich um, fahre quer durch Europa bis nach Istanbul, und dann habe ich es schon fast geschafft: Syrien, Libanon, Jordanien …«

»Heißt du Julia Verne? In achtzig Tagen um die Welt«, ruft sie.

»Ich hab die Reise mal bei Google Maps geplant. Angeblich dauert sie nur zweiundsiebzig Stunden.«

»Deine Kommilitoninnen waren zur Feldforschung in Griechenland, Italien, im Sudan … Und wo warst du? In Wales.«

»Wales ist ausgesprochen interessant«, verteidige ich mich.

»Klar, und in Wales sind ja auch so viele alte Ägypter. Dein Vater war Archäologe, deine Mutter Gemälderestauratorin. Deine Eltern sind ständig gereist, wie kommt es, dass du es so sehr hasst?«

Weil sie, wenn sie das Reisen nicht so sehr geliebt hätten, vielleicht noch am Leben wären, denke ich. »Es ist gefährlich«, antworte ich bloß.

»Du fährst nicht mal Auto.«

»Das stimmt nicht«, erwidere ich. »Ich bin schon gefahren.«

»Nicht auf der Autobahn«, präzisiert sie und füllt Suppe in die Teller.

»Worauf willst du hinaus, Gwenda?«

»Du erlaubst deinen Ängsten, dich aus deinem eigenen Leben auszuschließen. Ständig trägst du ein Notfallset mit dir herum, mit lauter Medikamenten, die du überhaupt nicht brauchst. Hast du das Asthmaspray noch? Wie lange hattest du keinen Asthmaanfall mehr?«

Mindestens ein Jahr. »Man kann nie wissen.«

»Du reist nicht, hast keinen Freund … Selbst in deinem Tagebuch bleibst du die Beobachterin und erzählst vom Leben der anderen«, tadelt sie mit einer Schärfe, die ich von ihr gar nicht kenne. »Du hast keine Freunde.«

»Du bist meine Freundin.«

»Ich meine Leute in deinem Alter, mit denen du Erfahrungen teilst. Mit denen du gemeinsam Fehler machen und wachsen kannst.«

»Ich habe May.«

»May ist eine Kollegin, mit der du dich gut verstehst, aber trotzdem nur eine Kollegin. Außerhalb der Bibliothek trefft ihr euch so gut wie nie.«

»Wir haben eben unterschiedliche Prioritäten, was unser Sozialleben angeht.«

»Zumindest hat sie ein Sozialleben.« Gwenda seufzt, dann schiebt sie den Sarkasmus beiseite. »Seit ich dich kenne, hast du dir nicht einmal die Haare schneiden lassen«, bemerkt sie und zupft spielerisch an einer meiner rotbraunen Locken.

Ich habe Gwenda kennengelernt, als ich nach London gezogen bin – vier Monate nach dem Tod meiner Eltern. »Ich mag lange Haare.«

»Kurze würden dir auch gut stehen, weißt du.«

Ich ahne, worauf sie hinauswill, also wechsle ich schnell das Thema. »Und was mache ich jetzt mit meiner Arbeit?«

»Ganz einfach. Verwirf sie, such dir ein interessanteres Thema und schreib sie neu.«

»Super Idee. Der Professor will nämlich schon – Trommelwirbel! – nächsten Donnerstag die überarbeiteten ersten Kapitel lesen«, erkläre ich ihr. »Also doch kein Regency Revival für mich.«

»Kommt gar nicht infrage!« Gwenda nimmt mir das Handy aus der Hand. »Wir suchen jetzt ein schönes Kostüm für dich aus. Du kommst mit, und wenn ich dich hintragen muss.«

Samstag, 11. Mai

Die Veranstaltung bei Hatchards beginnt um sechzehn Uhr, aber Gwenda ist schon seit heute Vormittag da, zusammen mit dem Organisationsteam der Regency Society. Für das Event ist der ganze Laden reserviert – alle fünf Etagen – und es wimmelt es nur so von Jungfern in pastellfarbenen Kleidern mit Spitzenhauben und Fächern.

Während ich zwischen den Gästen nach Gwenda Ausschau halte, kaufe ich mir ein Exemplar von Die geheimen Tagebücher der Berrington-Schwestern, um es mir signieren zu lassen, und steuere das Büfett an.

Beim Anblick der Etageren, auf denen sich die Cupcakes stapeln, der Platten voller Macarons und der Pyramiden aus glasierten Eclairs läuft mir das Wasser im Mund zusammen, und ich häufe mir gleich zwei Tellerchen voll. Zugegeben, das ist nicht besonders elegant, aber diese Teller sind echt klein. Und ich habe Hunger.

»Der ist für eine Freundin«, verteidige ich mich, als mir eine Cateringmitarbeiterin einen schrägen Blick zuwirft. Und es könnte ja sogar stimmen. Wenn ich nur Gwenda finden würde.

So wie es aussieht, kennen sich die Mitglieder der Regency Society alle untereinander, ich bin jedoch noch außen vor, weil ich erst diesen Februar beigetreten bin. Die Regency Society akzeptiert nur hundert Neuaufnahmen pro Jahr in ganz England, und man darf auch erst Mitglied werden, nachdem man ein strenges Auswahlverfahren samt schwierigem Wissenstest durchlaufen hat. Ich habe vorher mit YouTube-Tutorials Quadrille und Reel tanzen gelernt.

»Ach, da bist du ja«, ruft Gwenda, die urplötzlich hinter mir aufgetaucht ist.

Ich zucke zusammen, so dass mir die Macarons vom Teller springen und ein paar Meter fröhlich über den Boden rollen. »Meine Güte, hast du mich erschreckt. Aber wow, was für ein Kleid.« Man erkennt auf einen Blick, dass es maßgeschneidert ist – wahrscheinlich von einem Atelier – und aus echter Seide.

Im Gegensatz zu meinem aus dem Kostümverleih, das aus Polyester besteht und dessen Etikett mit dem beunruhigenden Warnhinweis Entzündlich. Von Hitzequellen fernhalten versehen ist. Zusammengehalten wird es von strategisch platzierten Sicherheitsnadeln, die sich, sollten sie versehentlich aufgehen, erbarmungslos in meine Haut bohren würden.

»Komm mit, wir sind schon spät dran«, drängt sie mich.

»Spät dran für was? Patricia O’Neal ist doch noch gar nicht da«, wende ich ein.

Nichts. Stattdessen packt sie mich am Ellenbogen und zieht mich, Ladys und Sirs ausweichend, mit sich.

»Wohin gehen wir?«, frage ich, während sie eine Tür öffnet, die offensichtlich zum Lager führt. Herrje, dafür, dass sie so knochig ist, ist sie ganz schön stark.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, gibt sie zurück, ohne meine Frage zu beantworten.

»Ich glaube nicht, dass dieser Bereich öffentlich zugänglich ist«, sage ich, um irgendwie Widerstand zu leisten, während sie mich in einen Raum zerrt, in dem sich Bücherkisten bis unter die Decke stapeln.

Endlich lässt sie mich los, dreht sich um und schaut mich an. »Aufraffen, Rebecca. Los jetzt. Und mach kein Theater.« Danach stößt sie eine Tür mit der Beschriftung Zutritt verboten auf und verschwindet dahinter.

»Also, dieser Raum ist ganz sicher nicht öffentlich zugänglich«, versuche ich es erneut. »Wenn sie uns hier erwischen, kriegen wir bestimmt Ärger.« Ich bin Stammkundin bei Hatchards, ein Hausverbot würde mir gerade noch fehlen.

Aber nichts.

Da hat sie sich ja genau den richtigen Tag ausgesucht, um durchzudrehen. »Na gut«, ergebe ich mich. »Holen wir Gwenda zurück.«

Vorsichtig sehe ich mich um, drückte die Klinke und betrete etwas, das offenbar ein Technikraum ist.

Die Tür auf der gegenüberliegenden Seite ist nur angelehnt. »Wo ist sie hin?«, murmele ich, durchquere den Raum und drücke sie zögernd auf. Sie führt in ein Zimmer, das noch düsterer und noch beengter wirkt. »Gwenda, bitte, ich möchte nicht aus der Regency Society geworfen werden. Ich bin doch gerade erst aufgenommen worden«, flehe ich leise. Ich tappe im Dunkeln, folge dem Geräusch ihrer Schritte, das Buch von Patricia O’Neal immer noch an die Brust gepresst, die Mary-Poppins-Tasche am Handgelenk und das halb leere Tellerchen in der Hand.

Ein feiner Schleier kitzelt mich im Gesicht: ein Spinnennetz.

»Das wird ja immer besser«, schimpfe ich. Je weiter ich mich vorwärts bewege, desto enger werden die Wände um mich herum. Sie münden in so etwas wie einer weiteren Tür, die etwa zwei Handbreit niedriger ist als ich. Eine Lichtspirale dringt heraus.

Kaum habe ich sie geöffnet, passiert etwas Seltsames: Ich spüre einen Sog, und ein gleißend helles Licht, wie von einem Scheinwerfer, strahlt mir direkt in die Augen, so dass ich nicht mehr sehe, wohin ich gehe, und …

Zwei starke Arme umfassen mich, mein Gesicht wird gegen einen breiten Brustkorb gedrückt, und alles, was meine Sinne wahrnehmen, ist gedämpft – abgesehen von diesem berauschenden Duft nach Minze und Lakritze.

»Ich …« Ich mache ein paar Schritte weg von der Person, gegen die ich gestolpert bin, aber ein heftiger Schwindel lässt mich taumeln, und meine Beine geben nach.

Es geht mir gar nicht gut.

Ehe ich es mich versehe, liege ich ausgestreckt auf dem Boden.

»Was zum …« Im nächsten Augenblick wimmelt es um mich herum von Gesichtern.

»Geht es Ihnen gut, Miss?«, fragt mich eine Frau. Ich kenne sie nicht, aber ihrer Kleidung nach zu urteilen, ist eines sicher: Sie gehört auch zur Regency Society.

Sämtliche Teilnehmer des Reenactments stehen um mich herum und betrachten mich verwirrt. Ich weiß nicht, wo Gwenda mich hingeführt hat, und auch nicht wozu, aber ich bin wieder in einem der Verkaufsräume von Hatchards, nur dass mein Kleid völlig verstaubt ist und meine Frisur, die mich ganze zwei Stunden und einen Krampf im Arm gekostet hat, sich aufgelöst hat. Zu allem Überfluss habe ich mir beim Zusammenstoß mit dem Fremden Sahne aufs Dekolleté geschmiert – wohl von einem der Cupcakes. Na super, jetzt muss ich das Kleid in die Reinigung bringen und hoffen, dass die Flecken rausgehen, sonst ist die Kaution futsch.

So verschmiert wie ich aussehe, bin ich nicht mal sicher, ob ich überhaupt hierbleiben darf. Ich wische mir verlegen das Sahnewölkchen vom Kleid und lecke als keiner hinschaut den Finger ab. Auch noch lecker, so eine Schande.

»Sind Sie in Ohnmacht gefallen?«, fragt mich eine Stimme, die ich nicht kenne.

»Hatten Sie einen Schwindelanfall?«, fragt eine andere.

»Vielleicht hat Ihnen die Zofe das Mieder zu eng geschnürt?«

»Welches Mieder? Ich bin schon froh, dass ich an dieses Kleid gekommen bin … Au!« Etwas Spitzes sticht mich in die Seite. »Wusste ich’s doch, dass früher oder später eine der Nadeln aufgehen würde.«

Die Stimmen um mich herum vereinen sich zu einem aufgeregten Gemurmel. »Sie tragen kein Mieder?«

»Skandalös!«

»Die Debütantinnen sind auch nicht mehr, was sie einmal waren.«

Meine Güte, hier bei der Regency Society sind sie ja päpstlicher als der Papst. Wer guckt denn schon unter die Kostüme?

»Und was für ein bizarres Schuhwerk Sie tragen! Das sind aber keine Nachmittagsschuhe«, bemerkt eine Frau um die fünfzig mit einer runden, goldgerahmten Brille auf der Nase.

Ich trage schändlicherweise meine rosa Chucks, denn ich hätte nicht gedacht, dass sie unter dem langen Kleid irgendjemandem auffallen würden.

Ein Mann tritt vor und streckt mir die behandschuhte Hand entgegen. Sein Gesicht kann ich nicht erkennen, weil der Verkaufsraum im Halbdunklen liegt, er im Gegenlicht steht und ich sowieso schon Mühe habe, geradeauszuschauen. Aber er muss sehr groß sein, denn er überragt alle anderen. »Gestatten Sie mir, Ihnen zu helfen.«

Verwirrt setze ich mich auf und komme allein auf die Füße, wenn auch vielleicht etwas zu schnell, denn der Boden schwankt so sehr, dass ich mich an einem der Bücherregale festhalten muss.

Jetzt weiß ich, wie sich meine Wäsche nach dem Schleudergang fühlt. Und warum ständig einzelne Socken verloren gehen.

»Wow, was für eine Achterbahn«, keuche ich und richte mich auf. Ich weiß nicht, wo genau wir uns befinden, aber diese Abteilung von Hatchards habe ich noch nie gesehen. Die ganze Einrichtung wirkt, als wäre sie von vor zweihundert Jahren, sogar die ledergebundenen Bücher in den Regalen sehen antik aus. »Jedenfalls Glückwunsch zu dieser originalgetreuen Nachbildung. Das hier hat wirklich das Flair einer Buchhandlung aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Wer ist für die Ausstattung verantwortlich?«

Aus dem allgemeinen Stimmengewirr dringen einzelne Sätze zu mir durch: »Was sagt sie?«, und: »Sie phantasiert.«

Ja, ich hab’s kapiert, wir müssen so tun, als befänden wir uns tatsächlich in der Regency-Zeit, als wäre uns nicht allen bewusst, dass wir an einem Reenactment teilnehmen.

»Lady Rebecca, hier sind die Bücher, die Sie letzten Monat bestellt haben«, verkündet eine wohlbekannte Stimme.

Als ich mich dem Ladentisch zuwende, sehe ich sie. »Gwenda!«, rufe ich. »Warum hast du denn nicht auf mich gewartet?«

»Gewartet?« Sie sieht mich verwirrt an. »Wann?«

»Gerade eben, als ich dir durchs ganze Lager nachgelaufen bin und wir durch diese Tür gegangen sind.« Ich deute auf die Wand, wo eigentlich der Durchgang sein müsste, durch den wir eben gekommen sind, aber da steht ein Regal.

»Was für eine Tür, Lady Rebecca?«, fragt Gwenda.

Ist sie hier verwirrt oder ich? »Sie war da!«, wiederhole ich und lasse mich vor den Regalen auf den Boden sinken. »Genau hier.«

»Lady Rebecca, an dieser Wand war schon immer ein Bücherregal«, fährt sie mit einem milden Lächeln fort. »Sie haben auf der Trittleiter gestanden und sich die Bücher im obersten Fach angesehen, und ich bin nach hinten gegangen, um Ihre Bestellung zu holen. Hier, schauen Sie, ob es die richtigen sind.«

Benommen tue ich, was sie sagt. Der Korsar, Udolphos Geheimnisse und Das Schloss von Otranto. Lady Rebeccas liebste Schauerliteratur.

Eine Frau hebt mein zerknicktes Exemplar von Die geheimen Tagebücher der Berrington-Schwestern vom Boden auf und betrachtet es verblüfft. »Was ist denn das?«

Ich sehe sie noch verblüffter an. »Deswegen sind wir doch hier. Die Autorin muss jeden Moment eintreffen.«

»Ist diese Patricia O’Neal berühmt?«

»Und hier haben wir Emma, alle drei Bände«, quietscht Gwenda und legt mein Lieblingswerk von Jane Austen auf den Ladentisch.

Diese Ausgaben sind ziemlich beeindruckend, sie sehen tatsächlich aus, als kämen sie direkt aus einer Buchbinderei des neunzehnten Jahrhunderts. Sogar der Ledereinband ist authentisch – und riecht auch so. Hier bei der Regency Society werden keine Kosten gescheut!

»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragt Gwenda und nimmt sie mir aus der Hand. »Sie sind hoffentlich mit der Kutsche gekommen, dann kann sich Ihr Fahrer darum kümmern.«

Kutsche? Fahrer? Ah, na klar, diese kleine Aufführung gehört auch zum Programm. Also gut, ich spiele mit.

»Natürlich«, bestätige ich, als wäre das alles völlig selbstverständlich. »Er wird sie nachher abholen.«

»Das macht dann fünf Guineen, Lady Rebecca«, verkündet der Kassierer.

»Selbstverständlich.« Fünf Guineen sind etwas über fünf Pfund, das scheint mir ein fairer Preis für dieses Andenken. »Ich zahle per App«, sage ich, hole mein Smartphone aus der Tasche und öffne mein Wallet.

Ich strecke es dem Kassierer entgegen, aber er starrt mich bloß wie versteinert an. »Und was soll ich mit diesem Gerät anfangen?«

Ach ja, richtig, heute ist ja keinerlei Technik erlaubt. »Ich hab’s auch in bar«, sage ich beschwichtigend, dann hole ich einen Schein hervor und reiche ihn ihm.

»Wir nehmen leider keine Währungen aus anderen Ländern an«, erwidert er und gibt ihn mir zurück.

»Die werden von der Bank of England ausgegeben. Sehen Sie nicht das Konterfei des Königs?«

»Aber das ist nicht unser König«, wendet er ein.

Ich nehme das Geld zurück und stecke es in die mit Plastikperlen verzierte Nylonhandtasche, in die ich mein Notfallset gestopft habe. »Also gut, schreiben Sie mir eine Rechnung.«

»Lady Rebecca! Da sind Sie ja. Ich dachte, ich hätte Sie schon wieder verloren.« Eine junge Frau im Dienstmädchenkleid, ungefähr in meinem Alter, stürmt in die Buchhandlung. Ich kenne sie nicht, aber ihr Gesicht sieht vertraut aus.

»Wie bitte?«, frage ich perplex.

»Ihre Tante sucht Sie überall! Gerade ist sie bei Fortnum & Mason. Wir müssen gehen, es ist schon fast Zeit für die Teestunde.«

»Wohin?«

»Lady Rebecca ist unglücklich von der Leiter gestürzt«, klärt Gwenda sie auf. »Ich fürchte, sie ist ein bisschen durcheinander.«

»Gute Güte, hoffentlich hat sie sich nichts gebrochen, sonst bekomme ich Ärger«, stellt das Mädchen besorgt fest. »Ihr Kleid ist ruiniert, ihre Haare … Diesmal werde ich mir eine ordentliche Strafpredigt anhören müssen.«

»Eine Strafpredigt von wem? Und was geht dich mein Kleid an?«

»Mrs Fanning, hat sich Lady Rebecca den Kopf angeschlagen? Sie erkennt mich nicht mehr«, seufzt die junge Frau. »Ich bin es doch, Lucy!«

»Lucy?«, wiederhole ich verwirrt. Ich kenne keine Lucy, da bin ich mir sicher.

»Ihre Zofe. Wir sind zusammen mit Lady Calpurnia ausgegangen, um Besorgungen zu machen, und gleich müssen wir nach Hause zum Tee mit Ihrem Cousin Archibald und ihrem Onkel Algernon, vorausgesetzt, er ist von seinem Nickerchen aufgewacht.«

Zofe Lucy, Tante Calpurnia und Cousin Archibald: meine »Familie«.

»Und wo ist zu Hause?«, frage ich, eher zur Bestätigung.

»Wo es immer war«, wiederholt sie beunruhigt. »In der Charles Street.«

»In Mayfair«, präzisiere ich.

»Oh, dem Himmel sei Dank, Sie erinnern sich doch an etwas«, jubelt Lucy, nimmt mich am Arm und führt mich unter den spöttischen Blicken der Umstehenden zur Tür hinaus.

Ich erkenne die Straße nicht, das einzig Vertraute ist das Schild über der Tür von Hatchards, aus der wir gerade gekommen sind, und die Schaufenster mit den Rahmen aus glänzend dunklem Holz.

Direkt nebenan befindet sich das Kaufhaus Fortnum & Mason.

Wir müssen in der Piccadilly Street sein, auch wenn diese Straße hier überhaupt nicht nach der Piccadilly Street aussieht: keine roten Doppeldecker, keine schwarzen Taxis oder überhaupt irgendwelche motorisierten Fahrzeuge. Nur Kutschen und Pferde.

»Sind wir noch in London?«, frage ich Lucy.

»Wo sollten wir denn sonst sein?«

Ich schüttele den Kopf und hole mein Smartphone hervor, um mir auf Google Maps unseren Standort anzeigen zu lassen.

Kein Signal. Das Handy hat keinen Empfang, und mir wird auch kein WLAN in der Nähe angezeigt.

»Was ist das für ein Gerät?«

»Lucy, können wir einen Augenblick mit dem Spiel aufhören? Ich möchte wissen, was passiert ist und wie wir hier gelandet sind.«

»Das habe ich Ihnen doch gesagt, Lady Rebecca, wir waren bei Fortnum …«

»Und nenn mich nicht Lady Rebecca. Ich bin keine Lady.«

Der Satz hat nur einen Effekt: Sie muss lachen. »Sie sagen mir ständig, dass ich Sie nicht Lady Rebecca nennen soll, und ich antworte jedes Mal, dass das nicht geht.«

Verwundert sehe ich mich um. Alle sind in bis aufs kleinste Detail originalgetreue Regencykostüme gekleidet, und die vielen Kutschen können unmöglich von den Organisatoren eines Amateur-Reenactments hierhergeschafft worden sein.

»Na klar, wir sind an einem Filmset!«, rufe ich aus. Wie dumm von mir, dass ich daran nicht schon früher gedacht habe. In London finden ständig Dreharbeiten zu irgendwelchen aufwendigen Historienfilmen statt. »Entschuldigung«, spreche ich einen Passanten an. »Welcher Film wird hier gedreht?«

Der Mann in seinem dandyhaften Anzug mustert mich von oben bis unten. »Film?«

»Oder ist es eine Serie?«, füge ich hinzu. »Netflix? Amazon?«

Doch er schüttelt nur den Kopf und wendet sich ab, ohne mir zu antworten.

»Ein bisschen Höflichkeit tut nicht weh, Sie Rüpel«, rufe ich ihm nach.

»Lady Rebecca, ich bitte Sie, es gehört sich nicht, fremde Männer auf der Straße anzusprechen«, rügt mich Lucy. »Das ist wirklich ein abenteuerliches Benehmen«, flüstert sie noch.

»Eilmeldung!«, ruft ein Junge, der höchstens elf Jahre alt ist und einen Stapel Zeitungen im Arm trägt. »Die Preise steigen weiter. Der Weizenpreis klettert von zweiundfünfzig Schilling das Quart auf sechsundsiebzig!«

»Lady Rebecca, ich dränge Sie nur ungern, aber es ist Zeit, nach Hause zu gehen.«

Ich verstehe überhaupt nichts. Ich brauche irgendeinen Bezugspunkt, irgendetwas, das nicht von einer Filmproduktion verändert werden kann. »Der Fluss«, sage ich. »Lass uns zur Westminster Bridge gehen.«

»Aber Ihre Tante …«, protestiert Lucy.

»Westminster Bridge, Lucy. Jetzt.«

Sie seufzt, nickt ergeben und zieht mich in zügigem Tempo in Richtung Haymarket, doch dort, wo ich den Trafalgar Square und die Nelsonsäule erwarte, sehe ich nur andere Gebäude. Das Gleiche, als wir eine Straße hinunterlaufen, die Lucy zufolge die Parliament Street sein soll. Aber der heftigste Schlag trifft mich, als wir an der Brücke über die Themse ankommen.

»Bitte sehr, die Westminster Bridge, Lady Rebecca«, verkündet sie erschöpft.

»Das kann unmöglich die Westminster Brid...«, stammele ich und schaue mich nach all den Londoner Sehenswürdigkeiten um, von denen ich jedoch keine entdecke.

Wo ist das Riesenrad?

Warum fahren auf dem Fluss nur Ruderboote und Segelschiffe?

Das Parlamentsgebäude sieht auch ganz anders aus, als ich es in Erinnerung habe. Es fehlt …

»Was ist aus Big Ben geworden?«, frage ich mit zitternder Stimme.

»Wer soll das sein? Ist er ein respektabler Umgang?«

»Das ist kein Mann. Big Ben ist ein Uhrenturm«, antworte ich.

»Ein Uhrenturm mit einem Namen? Wie außergewöhnlich.«

»Er ist das Wahrzeichen von London, er müsste genau da stehen.« Hektisch deute ich dorthin, wo eigentlich der Big Ben aufragen sollte. »Er wurde im Jahr achtzehnhundert …« Aber der Rest des Wortes 1834 bleibt mir im Hals stecken.

Mein Blick fällt auf mein rechtes Handgelenk. Daran trage ich ein Armband aus verschlungenen blauen und goldenen Fäden, das genauso aussieht wie die, die meine Tagebuch-Lady-Rebecca und ihre Freundin Emily ausgetauscht haben. Als ich mich für das Regency Revival zurechtgemacht habe, hatte ich es noch nicht um.

»Verzeihung, Madam«, frage ich eine Frau, die ein ähnliches Kleid trägt wie ich und von einer jungen Frau begleitet wird, die wie Lucy gekleidet ist. »Welcher Tag ist heute?«

»Heute ist Samstag«, antwortet sie höflich. »Der elfte Mai.«

»Der elfte Mai, aber welches Jahr?«, hake ich nach.

Sie zieht verwundert die Augenbrauen zusammen. »1816 natürlich.«

1816.

Achtzehn. Hundert. Sechzehn.

Sonntag, 12. Mai 1816

Kapitel 2

»Sie wacht auf«, verkündet eine Stimme, als ich mühsam die Augen aufschlage. »Sie hat einen ganzen Tag lang geschlafen, Doktor.«

Ich liege auf einem Bett und bin bis zum Hals mit einem Laken zugedeckt.

»Keine Anzeichen für Verletzungen und kein Fieber, ich würde sagen, es hat sich um einen einfachen Schwächeanfall gehandelt. Lassen Sie ihr ein üppiges Teetablett servieren, und sie wird sich im Handumdrehen erholen«, erklärt ein kahlköpfiger, ernster Mann mit einer runden Brille auf der Nase.

Sie müssen mich ins Krankenhaus gebracht haben.

»Hören Sie, Herr Doktor, ich glaube, es geht mir schon viel besser«, erkläre ich mit piepsiger Stimme. »Stellen Sie sich vor, ich hatte einen verrückten Traum. Plötzlich habe ich mich im Jahr 1816 wiedergefunden: überall Kutschen, Pferde … Es gab noch nicht einmal Big Ben.«

Er schüttelt den Kopf. »Vielleicht verschreibe ich Ihnen auch ein Tonikum. Ein klassischer Fall von Schwäche durch Debütfasten. Ich sehe jede Woche Dutzende von Mädchen, die vor ihrer Einführung in die Gesellschaft hungern.«

Debüt? Einführung in die Gesellschaft? Ruckartig setze ich mich auf und stelle fest, dass das Zimmer, in dem ich mich befinde, ganz und gar nicht nach Krankenhaus aussieht. Es ist mit prächtigen lavendelfarben-weiß-goldenen Stoffen dekoriert, und die Holzmöbel tragen kunstvoll geschnitzte Verzierungen. Um das Himmelbett haben sich abgesehen von dem Arzt eine Frau mit besorgtem Gesicht und ein junger Mann versammelt. Er ist schlank und groß gewachsen, hat zerzauste blonde Haare und scheint unter seinem Schnurrbart zu lachen.

Alles bekannte Gesichter, auch wenn ich bisher keinem von ihnen begegnet bin.

»O Gott«, rufe ich und lasse mich wieder rückwärts in die Kissen fallen.

Der junge Mann tätschelt mir die Hand. »Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Cousine, als sie dich schlaff wie einen leeren Sack hier hereingetragen haben.«

»Archie?«, frage ich schwach.

»Es geht ihr gut, Herr Doktor, sie erkennt mich«, erklärt er, dann deutet er auf die Frau am Fußende. »Und das ist …?«

»Tante …« Ich zögere. Sie muss es sein. »Calpurnia?«

»Sehen Sie? Mit Rebeccas Kopf ist alles in Ordnung.«

»Aber Doktor Winslow«, widerspricht meine Tante. »Rebecca fastet nicht, sie isst wie ein Scheunendrescher, ich muss sie sogar wiederholt ermahnen, damit sie sich bei Tisch anständig benimmt.«

»An Essen mangelt es Rebecca ganz sicher nicht. Wenn überhaupt, dann fehlt ihr Schlaf, schließlich liest sie die ganze Nacht«, erklärt Archie spöttisch.

Doktor Winslow schüttelt missbilligend den Kopf. »Lesen ist nichts für junge Damen. Ihr empfindlicher Verstand ist für eine derartige Konzentration nicht geschaffen, und gewisse Einflüsse können eine Entzündung des Gehirns hervorrufen.«

»Was für ein Quatsch!«, stoße ich zornig hervor. »Wo haben Sie denn Ihren Doktortitel her? Aus irgendeiner Schwurblergruppe bei Facebook?«

Im Zimmer wird es totenstill, und der Doktor versteift sich.

»Ich habe mein Studium an der renommiertesten Universität Londons absolviert, und zu meinen Patienten zähle ich die vornehmsten Mitglieder der Aristokratie. Noch nie in meiner Laufbahn bin ich derartig beleidigt worden. Marquess!«, donnert er an meinen Cousin gewandt, »um meine Berufsehre zu verteidigen, teile ich Ihnen mit, dass ich Ihrer Familie nicht länger zur Verfügung stehe.« Und damit lässt er seinen Koffer zuschnappen und verlässt das Zimmer.

Meine Tante wirft mir einen feurigen Blick zu und rennt dem Quacksalber nach. »Warten Sie, Doktor. Haben Sie Nachsicht mit meiner Nichte, sie ist nicht sie selbst.«

Archie dagegen durchmisst das Zimmer mit großen Schritten. »Rebecca, als Herr des Hauses und dein Vormund muss ich dich für diese unwiederholbaren Worte rügen, die eine junge Dame von Stand niemals hätte aussprechen sollen.« Mit verschränkten Armen bleibt er am Fußende des Bettes stehen. »Aber als dein Cousin kann ich dir nur dafür danken, dass du uns von diesem Scharlatan befreit hast. Beim letzten Mal hätte er mich durch einen Aderlass beinahe umgebracht.«

»Der hat doch selber ein entzündetes Gehirn«, stoße ich trotzig hervor.

»Wahrscheinlich hast du recht, Rebecca.« Archie setzt sich neben mich. »Aber jetzt nimm dich bitte zusammen, sonst denkt Mutter noch, dass du wirklich verrückt geworden bist.«

»Ich bin nicht verrückt, ich bin so bei Sinnen wie noch nie«, versuche ich ihm zu erklären.

»Lass mich raten. Du denkst dir das alles aus, um dein Debüt zu sabotieren, richtig?«, scherzt er, erhebt sich und tritt beiseite, um Lucy Platz zu machen, die mit einem Tablett hereinkommt – voll beladen mit allem, was das Herz begehrt. Sie stellt es neben mir auf dem Nachttisch ab.

»Lucy«, rufe ich panisch. Es ist alles so erschreckend real. Aber das kann es nicht sein. Zur Bestätigung kneife ich mich, und der Schmerz ist ohne jeden Zweifel echt. Ich ersticke. Ich ersticke! »Meine Tasche! Wo ist meine Tasche?«

Lucy nimmt etwas vom Frisiertisch. »Die, die Sie vorhin bei sich hatten?«

»Ja, gib sie mir, ich flehe dich an«, keuche ich atemlos.

Ich wühle durch das Zeug, das ich vor dem Regency Revival hineingestopft habe, bis die Nähte zu platzen drohten, und finde endlich mein Asthmaspray.

Ich bin gerettet.

Archie mustert mich verwundert. »Was machst du mit dem Ding?«

»Ich verhindere, dass ich ersticke«, antworte ich.

Er schüttelt belustigt den Kopf. »Was du dir immer ausdenkst. Iss etwas und ruh dich aus. Morgen steht dir ein weiterer anstrengender Tag voller Einkäufe bevor. Versuch, dich nicht auch noch aus Mrs Triauds Atelier hinauswerfen zu lassen. Das mit Doktor Winslow ist eine Sache, aber Mutter würde dir nie verzeihen, wenn du auch noch die Schneiderin vergraulst.«

»Schneiderin«, wiederhole ich wie in Trance.

»Da gehst du doch so gern hin. Und jetzt schlag zu, was auch immer dich so durcheinandergebracht hat, es ist nichts, was ein warmes Briochebrötchen von Mrs Bry nicht wieder richten könnte.« Archie tätschelt mir liebevoll den Kopf und geht.

Lucy, Archie, Tante Calpurnia, die Charles Street und 1816. Ich befinde mich in meiner Geschichte. In der Geschichte, die ich in mein Tagebuch geschrieben habe.

Aber wie komme ich hier bloß wieder raus?

Montag, 13. Mai 1816

Kapitel 3

Ein Rumpeln, gefolgt von lautem Geschrei, reißt mich aus meinem so tiefen wie unruhigen Schlaf. Gestern Abend nach dem Essen bin ich – in Ermangelung anderer Ideen – wieder schlafen gegangen, oder vielmehr habe ich so lange darüber nachgedacht, was ich machen soll, bis ich darüber eingenickt bin.

Ich schlüpfe aus meinem Zimmer und trete hinaus auf den Flur, der mich mit seinen weißen Flügeltüren rechts und links, der Holzverkleidung an den Wänden und dem samtig glatten Parkett an ein Luxushotel erinnert. Ich folge dem Lärm bis zu einer großen, geschwungenen Treppe, die zur Eingangshalle hinunterführt, halte mich am Geländer fest und spähe hinab.

»Diese neumodischen Teufeleien«, schimpft ein Mann um die fünfzig. Er hat einen ausladenden Bauch, und seine Stimme hallt von den marmornen Wänden der Lobby wider. Die Idee, die Halle Lobby zu nennen, kommt mir spontan, denn zwischen den Brokatvorhängen, den Ölgemälden, den Kristalllüstern und den Pagen in Livree fehlt nur noch ein Check‑in-Schalter, und wir könnten uns im Ritz befinden. Nicht, dass ich dort Stammgast wäre. Genau genommen kenne ich das Ritz nur aus der Szene in Notting Hill, in der Hugh Grant sich als Journalist ausgibt und Julia Roberts für Horse and Hound interviewt.

»Wo soll das noch enden, frage ich dich«, fährt der Mann, den ich nur von hinten sehen kann, fort.

»Eines Tages werden alle Häuser damit ausgestattet sein, Algernon«, erwidert Archie voller Überzeugung und blickt auf drei enorme Holzkisten, die im Atrium lagern.

Algernon! Das ist mein Onkel Algernon.

Jetzt dreht er sich zu mir um, und ich erkenne sein Gesicht. Er ist es tatsächlich, genau wie ich ihn gezeichnet habe. Er hat eine rote Nase, kleine dunkle Augen und trägt eine Herrenperücke.

»Lady Rebecca, wie schön, Sie wieder auf den Beinen zu sehen. Auch wenn Sie nicht gerade angemessen gekleidet sind«, begrüßt mich Lucy in leicht vorwurfsvollem Ton und hängt mir eilig einen schweren Morgenmantel um, durch dessen angenehme Wärme mir erst klar wird, wie kalt mir ist.

»Apropos Kleidung. Wo ist meine Unterwäsche abgeblieben, Lucy?«, frage ich sie. Nachdem sie mich nach Hause gebracht hat, hat irgendjemand mich ausgezogen und in ein Nachthemd gesteckt, aber ich finde meine Sachen nicht mehr.

»Unterwäsche? Diesen unanständigen Stofffetzen habe ich verschwinden lassen, bevor ihn Ihre Tante zu Gesicht bekommen konnte. Ich weiß nicht, woher Sie diese Straßenmädchensachen haben, aber eine junge Dame von Ihrem Stand sollte so etwas nicht tragen. Zum Glück habe ich sie rechtzeitig verbrannt.«

Verbrannt?! Ich muss die Tasche mit all meinen Sachen aus der Zukunft verstecken, bevor sie auch deren Inhalt in die Flammen werfen kann. Denn wenn man bedenkt, was ich dabeihabe – mein Handy, meine Papiere, das Notfallset und meine Tampons –, dann sollte ich es wohl besser nicht drauf ankommen lassen.

»Und gar nichts anzuhaben ist schicklicher?«, rufe ich.

Doch Lucy schert sich nicht um mein Unverständnis. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen beim Ankleiden. Der Frühstückstisch ist gedeckt, der Kamin ist angeheizt, und ich habe Ihnen eine heiße Schokolade zubereitet.« Und damit bedeutet sie mir, ihr zu folgen.

Das, was Lucy aus meinem Kleiderschrank holt, hat nicht mal im Entferntesten was mit meinem Regency-Kostüm zu tun. Raffinierte Unterkleider aus Batist, eine Bluse aus Chantilly-Spitze, ein Kleid aus glänzender bestickter Seide, das nach Rosenwasser duftet. Ich habe keine Ahnung, was das alles kostet, aber ganz sicher mehr, als ich mir leisten kann. Auch wenn ich immer noch nicht ganz verstehe, wo ich bin und was ich hier mache.

Und als wäre das alles nicht schon verwunderlich genug, erwartet mich im Speisesaal ein richtiges – anders kann ich es nicht nennen – Spektakel: Das Erkerfenster bietet einen herrlichen Blick auf den Blauregen im Garten hinter dem Haus, und das Sonnenlicht verfängt sich im funkelnden Trompe-l’œil an der Decke. Der Tisch ist gedeckt, und sogar das Frühstück wirkt wie im Hotel. »Vielleicht ist das sogar besser als im Ritz«, murmele ich vor mich hin.

Ich betrachte das Essen hungrig und fasziniert, nehme alles doppelt so deutlich wahr: den durchdringenden Duft nach geröstetem Brot, geschmolzener Butter und knusprig angebratenem Bacon.

»Stürzen Sie sich gar nicht auf die Speisen, so wie sonst immer, noch bevor Ihre Tante herunterkommt?«, fragt Lucy.

»Darf ich … darf ich alles probieren?« Ich zögere. Keine Ahnung, wie lange das alles hier noch andauert, aber es erscheint mir angemessen, mein Trauma mit einem reichhaltigen Büfett zu kompensieren.

»Natürlich, Lady Rebecca. Sie sind doch sonst nicht so zurückhaltend.«

Wenn ich das normalerweise auch so mache, wüsste ich nicht, wieso ich jetzt Verdacht erregen sollte. Als Erstes schenke ich mir eine ordentliche Tasse heiße Schokolade ein. »Es ist ziemlich kalt für Mai«, bemerke ich beiläufig. Lucy antwortet: »Der Frühling will dieses Jahr einfach nicht kommen. Und der Schnee zu Ostern war auch nicht gerade ermutigend.«

Ach, richtig, 1816 war das Jahr ohne Sommer. Was habe ich doch für ein Glück!

Archie kommt in den Salon, gefolgt von einem grummelnden Onkel Algernon.

»Unsinn. Was gibt es Bequemeres als einen schönen Nachttopf, gut versteckt, in jedem Winkel des Hauses einer, immer da, wenn man ihn braucht? Wieso sollte ich zur Erleichterung in ein anderes Zimmer gehen und so einen … so einen Sitz benutzen?«

»Weil wir die Flüssigkeiten in die Kanalisation leiten, anstatt sie in den Garten zu kippen«, erklärt Archie.

»So machen wir es schon immer, ich verstehe nicht, weshalb wir es ändern sollen«, protestiert Onkel Algernon. »Zuerst hast du alle Kerzenleuchter durch Gaslampen ersetzen lassen, und jetzt diese … diese …«

»Wasserklosetts«, souffliert mein Cousin triumphierend mit verschränkten Armen.

Das also ist in den Kisten. Toiletten!

Ich könnte Archie küssen, weil er ausgerechnet jetzt beschlossen hat, sie einbauen zu lassen. Seit gestern Abend habe ich eingehalten, bis ich heute Morgen nachgeben musste und den Porzellantopf unter meinem Bett benutzt habe. Es war demütigend. Und dann wusste ich noch nicht einmal, wohin damit, also habe ich ihn in den Kamin entleert. Immerhin war es nur Pipi.

»Guten Morgen, Rebecca, du siehst heute schon viel besser aus«, begrüßt mich Archie und ignoriert das Gemeckere meines Onkels.

»Und was sollen die Hausangestellten machen, wenn sie keine Nachttöpfe mehr leeren müssen?«, fährt Onkel Algernon ärgerlich fort. »Machst du dir eine Vorstellung, wie viele Burschen und Mädchen ihre Arbeit verlieren werden? Wir haben eine Verantwortung ihnen gegenüber!«

»Du bist so großherzig, Onkel, dass du dir über die sozialen Folgen der Toiletteninstallation Gedanken machst«, bemerke ich mit verschleiertem Sarkasmus, während ich versuche, mein Lachen zu unterdrücken. Auch Onkel Algernon ist genauso, wie ich ihn mir vorgestellt habe, bis hin zu seinem Charakter.

»Siehst du, Archibald, Rebecca stimmt mir zu. Sehr gut, meine Liebe«, sagt mein Onkel, ohne meine Ironie auch nur im Geringsten zu bemerken. »Glaub mir, diese Wasserklosetts haben keine Zukunft«, prophezeit er und schiebt sich eines der süßen Cremeteilchen von der Kristalletagere in den Mund.

»Wer weiß, was für Modernisierungen unser neuer Nachbar im Haus der Frasers vorgenommen hat«, überlegt Archie und späht aus dem Fenster.

»Die Frasers sind umgezogen?«, frage ich Lucy verwundert und so leise, dass niemand sonst mich hört.

»Nach Emilys Hochzeit letzten September haben sie das Haus verkauft und sind in die Nähe des Wohnsitzes ihres Ehemanns am Hanover Square gezogen«, erklärt sie mir und fügt hinzu: »Ein mysteriöser Käufer hat das Haus vor zwei Monaten erworben.«

Diese Neuigkeit überrascht mich. In meiner Geschichte hat Emily Hochzeit mit dem Viscount Maxim Duville gefeiert, aber davon, dass die Familie das Haus verkauft hat, habe ich nichts geschrieben.

»Weiß denn wirklich niemand, wer es gekauft hat?«, erkundige ich mich.

»Abgesehen von den Handwerkern, die es renoviert haben, war dort drüben nie jemand zu sehen«, schaltet sich Archie ein. »Ganz zweifellos handelt es sich um einen fortschrittlichen Mann. Ich hoffe, der neue Eigentümer richtet zum Einzug einen Empfang aus und lädt uns ein. Wer weiß, was es da drinnen alles zu bestaunen gibt.«

»Es ist wohl kein Gentleman mit Titel«, brummelt Onkel Algernon, leckt sich die Finger und greift nach einem Stück Pie. »Sonst hätte ich ihn schon im Parlament kennengelernt.«

»Er hat vielleicht keinen Titel, aber wer sagt, dass er kein Gentleman ist?«, frage ich.

»Wenn er einer wäre, hätte er sich längst bei uns vorgestellt.«

»Wer ist kein Gentleman?«, mischt sich Tante Calpurnia ein, die gerade in den Salon tritt. Ihre Zofe, wie ich annehme, folgt ihr, um ihr in Mantel und Haube zu helfen.

»Der neue Nachbar«, antwortet Archie.

»Wenn er kein Junggeselle ist, interessiert er uns nicht«, gibt sie entschieden zurück. »Rebecca, bist du etwa noch nicht bereit zum Ausgehen? Die Modistin erwartet uns für die letzte Anprobe deiner Ausstattung.« Dann wendet sie sich erneut an ihre Zofe. »Dora, sag dem Fahrer, er soll die Kutsche vorfahren. Wir könnten die Bolton Street zwar zu Fuß erreichen, aber es sieht nach Regen aus, und ich will nicht nass werden. Lucy, hol Rebeccas Mantel, wir sind schon spät dran. Lady Sefton wird uns in Kürze im Atelier von Mrs Triaud treffen. Sie möchte das Kleid für deine Vorstellung bei Hof begutachten.«

Ich verschlucke mich fast an der heißen Schokolade. »Vorstellung b‑b-bei Hof?« Darüber habe ich auch nicht geschrieben.

»Tu nicht so, als hättest du es vergessen, Rebecca«, ermahnt mich Tante Calpurnia. »Nun, da du den Verlust deiner lieben Eltern überwunden und dich vollständig von deiner Krankheit erholt hast, hat es keinen Sinn, es noch weiter aufzuschieben.«

»Debütantin mit einundzwanzig Jahren! Du wirst zweifellos die Älteste sein. Die Schminke wird teurer als die Kleider«, giftet mein Onkel und greift nach dem letzten Baiser, das er mir unter den Fingern wegschnappt. »Das esse besser ich. Niemand will eine gefräßige Ehefrau.«

»Aber ein gefräßiger Ehemann ist in Ordnung?«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich wollte dieses Baiser wirklich probieren, und so, wie mein Onkel hineinbeißt, scheint mir die reinste Vanillewolke entgangen zu sein.

»Lady Sefton hat angeboten, dich als deine Patin der Königin vorzustellen. Diese Gelegenheit darfst du dir nicht entgehen lassen.«

»Kö‑nigin«, huste ich erstickt. Das habe ich definitiv nicht geschrieben. Ich brauche Gwenda, und zwar sofort.

»Ich kann dich nicht in den Palast begleiten, da ich selbst nicht dort vorgestellt wurde.« So weit ist alles korrekt. Die Tante Calpurnia aus meiner Phantasie ist die Tochter reicher Kaufleute ohne Titel. Sie war mit dem jüngeren Bruder meines Vaters verheiratet, von dem sie Archie hat, und nachdem sie vor fünfzehn Jahren zur Witwe wurde, hat sie Algernon Belfort geheiratet. »Dein Vater war der Marquess of Lennox, das Geschlecht der Sheridans verlangt es, dass du Ihrer Majestät vorgestellt wirst. Lady Sefton ist großzügig und liebenswürdig und wird dich meisterhaft einführen. Außerdem ist sie eine gute Freundin des Regenten.«

»Und seine persönliche Kupplerin«, spottet Archie, lässig mit dem Rücken an die Wand gelehnt.

»Archibald, sei nicht so vulgär«, ermahnt ihn seine Mutter.

»Aber es ist doch wahr«, gibt er zurück.

»Was denn?«, frage ich neugierig.

»Untersteh dich«, warnt ihn Calpurnia mit einer solchen Vehemenz, dass Dora, die ihr gerade die Haube zubindet, zusammenzuckt.

Doch Archie schenkt seiner Mutter keine Beachtung. »Vor einigen Jahren hat Lady Sefton Mary Fitzherbert in die Gesellschaft eingeführt, und zwar derart erfolgreich, dass der Regent sie zu seiner offiziellen Mätresse gemacht hat.«

»Nachdem er Lady Jersey als Bettwärmerin satthatte«, fügt mein klatschgieriger Onkel belustigt hinzu. Der Onkel Algernon, den ich mir ausgedacht habe, ist der dritte Sohn eines verarmten Barons, der dank seines guten Aussehens die reiche Witwe Calpurnia Sheridan erobert und sich so ein gut situiertes Leben in der Gesellschaft gesichert hat. Sein gutes Aussehen ist inzwischen allerdings nur noch eine ferne Erinnerung.

»Ich dulde derartige Gespräche in meiner und Rebeccas Gegenwart nicht«, stößt Tante Calpurnia hervor. »Wir sind hier nicht in einer Spielhölle, ich bitte euch, einen gewissen Anstand zu wahren. Rebecca, es ist Zeit zu gehen.«

»Vor Mrs Triaud muss ich noch kurz bei Hatchards vorbeischauen«, sage ich, weil mir einfällt, dass die Bolton Street nur wenige Minuten von der Piccadilly Street entfernt ist.

»Noch mehr Bücher?«, fragt mein Onkel und versprüht eine Salve von Krümeln. »Vor lauter Lesen fängst du noch an zu schielen, und dann wird dich niemand mehr heiraten wollen!«

»Rebeccas Mitgift ist so üppig, sie könnte ein Horn auf der Stirn haben, kein Verehrer würde sich daran stören«, scherzt Archie, als wir uns bereits zum Gehen wenden.

Ich kann meiner Tante die Erlaubnis abtrotzen, mit Lucy bei Hatchards vorbeizuschauen, während sie schon mal zur Schneiderin geht, damit diese mein Kleid für die Anprobe vorbereiten kann. Für Tante Calpurnia bin ich die Tochter, nach der sie sich immer gesehnt und die sie nie bekommen hat, und sie kann mir keinen Wunsch abschlagen.

Vor der Buchhandlung begegnen wir einem großen, eleganten Mann, der mich grüßt, indem er die Krempe seines Hutes kaum merklich lüpft und mir ein seltsames Lächeln schenkt. Es ist kein formelles Lächeln, sondern wirkt eher so, als würde er mich wiedererkennen.

Er ist erschreckend attraktiv. Ich habe noch nie im Leben einen so schönen Mann gesehen, weder hier noch in der Zukunft.

»Guten Tag«, begrüßt er mich in einem belustigten Tonfall, der klingt, als wolle er eigentlich sagen: »Sieh an, da bist du ja wieder«.

Mein Gehirn ist wie leergefegt, ich bekomme kein einziges Wort heraus.

»Kenne ich ihn?«, frage ich Lucy, sobald er außer Hörweite ist.

»Jemanden mit einem solchen Gaunergesicht? Das will ich doch nicht hoffen, Lady Rebecca.«

»Er hat mich gegrüßt.«

»Diese Gecken sind ständig auf der Suche nach einer leichten Eroberung. Sie sollten sich besser in Acht nehmen. Jetzt beeilen Sie sich, sonst kommen wir zu spät.«

»Warte hier, Lucy«, sage ich, als sie mir ins Geschäft folgen will. »Ich muss das allein erledigen.«

»Aber Lady Rebecca, wenn Ihre Tante erfährt, dass ich Sie nicht begleitet habe …«

»Wird sie nicht«, unterbreche ich sie. »Das ist eine Buchhandlung, keine Opiumhöhle.«

Schockiert von dem Wort »Opiumhöhle« bleibt sie stehen, und ich schlüpfe durch die Tür. Hinter dem Ladentisch entdecke ich Gwenda, die in einem dicken Wälzer blättert.

»Wir müssen reden«, rufe ich und hänge das Geschlossen-Schild in die Tür. »Sofort, Gwenda!«

»Welch schroffes Benehmen«, kommentiert sie und rückt sich die Brille auf der Nase zurecht.

»Vergiss mein Benehmen. Ich habe ein Problem, das du mir eingebrockt hast, also musst du es lösen.« Ich trete an den Tresen und sehe sie an. »Wo sind wir? Was ist beim Reenactment passiert? Warum ist das da draußen nicht das London, das ich kenne? Warum sagen mir alle, dass es das Jahr 1816 ist?«, feuere ich eine Salve von Fragen auf sie ab.

Gwenda hingegen ist die Ruhe selbst. »Weil es das Jahr 1816 ist, Rebecca.«

»Du wusstest ganz genau, wohin du mich bringst, als du mich in diesen Lagerraum gelockt hast. Stell dich nicht dumm. Ich will Antworten, und zwar sofort.« Ich schlage mit der Faust auf den Tresen.

»Könntest du dich erst mal beruhigen?«

»Beruhigen? Ich weiß gar nichts mehr! Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und mit wem.«

»Ach, du weißt doch ganz genau, mit wem: Mit deiner Tante Calpurnia, Onkel Algernon, Archie …«, zählt sie wie selbstverständlich auf.

»Warum bin ich, oder besser gesagt, sind wir in der Geschichte aus meinem Tagebuch? Und warum passieren Dinge, die ich gar nicht geschrieben habe? Wie zum Beispiel mein Debüt oder dass Emilys Familie das Haus verkauft hat?«

»Weil wir hier nicht in deiner Geschichte sind, Rebecca, jedenfalls nicht mehr. Es ist das London von 1816. Das wahre London von 1816.«

Das wahre London? Das ist also nicht meine Geschichte, sondern die Geschichte? »Soll das heißen, das ist alles echt?« Da ist sie wieder, die Panik, die mir die Luft abschnürt. »Wie um alles in der Welt kann das sein?«

»Also gut.« Endlich wird ihr Ton ernst. Sie rückt sich erneut die Brille zurecht und schaut mich feierlich an. »Wenn ich dir erklären soll, was passiert ist, Rebecca, ist es sehr wichtig, dass du mir glaubst.«

Mir kommen fast die Tränen. »Was soll ich glauben?«

»Dass Raum-Zeit-Paradoxa existieren«, antwortet sie nachdrücklich.

»Paradoxa? So was wie Zeitreisen?«, keuche ich. »Aber das ist doch Science-Fiction!«

»Von wegen Fiction. Physik ist Wissenschaft!«, schimpft sie.

»Gwenda, ich will wissen, was hier los ist.«

»Ich erkläre dir, was passiert ist.« Sie nimmt ein Blatt Papier und zieht mit einem Federkiel einen Strich, an dessen Enden sie jeweils einen Punkt malt. »Wenn wir uns die Zeit als gerade Linie vorstellen, die nur in eine Richtung verläuft, sieht es unmöglich aus, sich auf dieser Linie rückwärts zu bewegen. Das ist aber nicht so. Siehst du? Hier haben wir die Gegenwart, wo wir am Samstag waren, und hier«, sie deutet auf den zweiten Punkt, »ist das Jahr 1816.« Gwenda faltet das Papier, so dass die beiden Punkte übereinander liegen. »Und so kann man von der Gegenwart in die Vergangenheit gelangen.«

»Die Zeit hat sich auf sich selbst gefaltet?«, frage ich skeptisch. Für mich klingt das alles völlig absurd.

»Nicht ganz, aber das ist die einfachste Art, dir begreiflich zu machen, dass das, was passiert ist, sehr wohl möglich ist. Wie du siehst, ist es nicht wirklich eine Reise: Wir waren in London, und wir sind immer noch in London. Du bewegst dich nicht durch den Raum, es sind nur die temporalen Koordinaten, die sich überschneiden.«

»Also gut, nehmen wir mal an, es ist so, wie du sagst …«

»Es ist so, wie ich sage«, erwidert sie verärgert.

»Na schön, aber wie komme ich zurück in die Gegenwart? Oder in die Zukunft, wie auch immer.«

»Das Portal muss sich wieder öffnen.«

»Und wie oft öffnet es sich? Einmal in der Woche? Einmal im Monat?« Ich schlucke gequält. »Einmal im Jahr?«

»Es gibt keine Regelmäßigkeit, und es lässt sich auch nicht vorhersagen. Man muss warten, bis eins sich geschlossen hat, um das nächste berechnen zu können.« Bei diesen Worten greift Gwenda nach einem Stapel Papiere voller Formeln, Zahlen und kartesischer Koordinatensysteme, die mir absolut unverständlich sind. »Ich arbeite daran. Es erfordert hochkomplexe Mathematik, das Datum und die genaue Uhrzeit zu ermitteln. Aber keine Sorge, ich sollte nicht länger als drei Monate dafür brauchen.«

»Drei Monate?«, frage ich entsetzt. »Und wer zahlt in der Zeit meine Miete? Was ist mit meinem Job? Ich werde gefeuert! Professor Sully will bis Donnerstag den neuen Entwurf für meine Abschlussarbeit haben … Und überhaupt: Hast du so was schon mal gemacht, eine Reise in die Vergangenheit?«

»Nein«, antwortet sie und lächelt unbekümmert.

»Scheiße!«, rufe ich atemlos, und dann noch einmal lauter: »Oh, Scheiße! Es ist also wahr … es ist alles wahr.« Ich bekomme keine Luft, mein Puls ist mindestens auf zweihundert, mir wird schwindelig. »Ich … ich muss mich hinsetzen.«

Gwenda zieht mir einen Hocker heran, und ich lasse mich darauf sinken, während ich mit einer Hand bereits in der Tasche nach dem Asthmaspray wühle. Ein … aus … ein … aus.