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"Ich liebe es, über die amerikanische Geschichte nachzudenken, über die Geschichte L.A.s nachzudenken. Ich liebe es, über Verbrechen zu brüten." James Ellroy In keiner anderen Stadt üben Sex, Ruhm, Geld und Verbrechen eine so magische Anziehungskraft aus wie in Los Angeles. Und kein Autor kann dies brillanter beschreiben als James Ellroy. Von den Skandalen der fünfziger Jahre zum Polizeibericht von heute, vom ungeklärten Mord an seiner Mutter zum gewaltsamen Tod von Nicole Brown Simpson - James Ellroy untersucht skandalöse True Crimes und stellt die Ehre der Toten wieder her.
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Crime Wave
JAMES ELLROY, 1948 in Los Angeles geboren, lernte die dunkle Seite der amerikanischen Gesellschaft sehr früh kennen. Als Jugendlicher geriet er aus der Bahn und konnte sich erst durchs Schreiben wieder fangen. Mit Die schwarze Dahlie gelang ihm der internationale Durchbruch. Heute gilt er als einer der wichtigsten literarischen amerikanischen Autoren.
Von James Ellroy sind in unserem Hause bereits erschienen:Blut auf dem Mond · Blut will fließen · Blutschatten · Browns Grabgesang · Crime Wave · Der Hilliker-Fluch · Die Rothaarige · Die schwarze Dahlie · Ein amerikanischer Albtraum · Ein amerikanischer Thriller · Endstation Leichenschauhaus · Heimlich · Hollywood, Nachtstücke · Hügel der Selbstmörder · In der Tiefe der Nacht · Jener Sturm · L.A. Confidential · Perfidia · Stiller Schrecken · White Jazz
»Ich liebe es, über die amerikanische Geschichte nachzudenken, über die Geschichte L.A.s nachzudenken. Ich liebe es, über Verbrechen zu brüten.« James EllroyIn keiner anderen Stadt üben Sex, Ruhm, Geld und Verbrechen eine so magische Anziehungskraft aus wie in Los Angeles. Und kein Autor kann dies brillanter beschreiben als James Ellroy. Von den Skandalen der fünfziger Jahre zum Polizeibericht von heute, vom ungeklärten Mord an seiner Mutter zum gewaltsamen Tod von Nicole Brown Simpson - James Ellroy untersucht skandalöse True Crimes und stellt die Ehre der Toten wieder her.
James Ellroy
Auf der Nachtseite von L.A.
Aus dem Amerikanischen von Stephen Tree
Ullstein
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Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage April 2022© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022© 2000 für die deutsche Ausgabe by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München© 1999 für die deutsche Ausgabe by Ullstein Buchverlage GmbH & Co.KG, München© 1999 by James EllroyAll rights reserved© der Einführung 1999 by Art CooperTitel der amerikanischen Originalausgabe: Crime Wave (Vintage Crime/Black Lizard, New York)Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: Getty Images Entertainment / © Ulf Andersen / KontributorAutorenfoto: © Marion EttlingerE-Book powered by pepyrus
ISBN 978-3-8437-2668-9
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Titelei
Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Einführung
ERSTER TEIL UNGELÖST
LEICHENFUNDE
DER KILLER MEINER MUTTER
GLAMOUR-DSCHUNGEL
ZWEITER TEIL GETCHELL
HUSH-HUSH
TIJUANA, MON AMOUR
DRITTER TEIL CONTINO
AUS DER VERGANGENHEIT
ERPRESSUNG A LA HOLLYWOOD
VIERTER TEIL L.A.
SEX, GLITZERN UND GIER
DER ZAHN DES VERBRECHENS
BÖSE BUBEN IN DERFILMSTADT
LET’S TWIST AGAIN
Anhang
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
FürCurtis Hanson
von Art Cooper, Chefredakteur des Magazins GQ
Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich bin James Ellroy im Herbst 1993 im Restaurant des »Four Seasons« begegnet, einer Kultkneipe für Verlagsgrößen, wo ein Lunch für zwei Personen ohne weiteres den Vorschuss eines Erstlingsromans aufzehren kann. Das erste Wort von James war »Wuff!« – und damit war der Teufelskerl der amerikanischen Literatur in mein Leben und das von GQ getreten. In den vergangenen fünf Jahren hat James einige der besten journalistischen und novellistischen Arbeiten vorgelegt, die wir je veröffentlicht haben, und sie sind alle im vorliegenden Band enthalten. Normalerweise machen sich Autoren in Zeitschriften einen Namen, bevor sie sich Büchern zuwenden, doch James war bereits ein bekannter Romancier, ehe er beschloss, für Zeitschriften zu arbeiten.
James ist ein mächtiger Mann mit ebensolcher Stimme und Persönlichkeit. Wer ihn nicht gut kennt, empfindet ihn als überwältigend. Seinen Bekannten geht es nicht anders. Und er ist furchtlos wie ein Dobermann, was ich bereits entdeckte, als wir uns darüber klarzuwerden versuchten, was eine vollkommene Geschichte ist. Als Bewunderer seiner The Black Dahlia (»Die Schwarze Dahlie«) gestand ich ein, von den Hollywood-Morden der 40er und 50er Jahre fasziniert zu sein. Das Gespräch verlief etwa so:
ICH: »Wissen Sie, da geht irgendeine Miss Idaho nach Hollywood, um ein Star zu werden, schafft’s nicht, arbeitet als Kellnerin in einer Cocktail Lounge oder als Nutte, und endet schließlich als schreckliches und geheimnisvolles Mordopfer.« JAMES: »Nun, meine Mutter wurde ermordet, als ich zehn war. Sie hat in einer Bar etwas getrunken und ist mit einem Burschen weggegangen. Ihre Leiche wurde auf dem Zufahrtsweg einer Highschool gefunden. Sie ist erwürgt worden. Man hat den Täter niemals gefunden.« ICH (aufgeregt): »Das ist die Geschichte! Schreiben Sie Ihre Besessenheit nieder. Stellen Sie Untersuchungen an. Schreiben Sie sich’s von der Seele. Jetzt.« JAMES: »Ja, Pate.« (Er nennt mich ständig Pate. Was ich mag. Ich komme mir dabei so elegant vor.)
Erst Jahre später sollte ich erfahren, dass James direkt von meinem Büro zu seinem Agenten Nat Sobel gegangen war, einem, bis auf diese eine Ausnahme, weisen und einfühlsamen Menschen. »Art will, dass ich über den Mord an meiner Mutter schreibe«, sagte James. »Lass das«, riet Nat. »Das wird alles Mögliche in dir aufwühlen, an das du nicht rühren möchtest.« »Ich tu’s«, sagte der Dobermann. Sein Artikel »Der Killer meiner Mutter« erschien in unserer Ausgabe vom August 94 und wurde einer der herausragenden Zeitschriftenartikel des Jahres. James arbeitete den Text später zu seinen Bestsellererinnerungen My Dark Places (»Die Rothaarige«) um.
Ich stehe nicht allein mit der Ansicht, dass alles, was James je schrieb, ja auch sein Wesen an sich, durch den Mord an Geneva Hilliker Ellroy geprägt worden ist. So schreibt er selber im »Killer meiner Mutter«: »Die Frau weigerte sich, mir einen Straferlass zu gewähren. Ihre Begründung war schlicht: ›Durch meinen Tod hast du deine Sprache gefunden, und ich will von dir, dass du das nicht nur ausbeutest, sondern mich begreifst.‹« James’ Widmung meiner Ausgabe von My Dark Places lautet denn auch »Sie lebt!«
Der Artikel wurde mit einer Fotografie von James illustriert, die unmittelbar entstand, nachdem er vom Tod seiner Mutter erfahren hatte. Man sehe sich seine Augen an. Sie blicken schockiert, verständnislos. Vom Vater erzogen, einem Lebemann und »Hollywood-Wasserträger« (James’ Worte), der es mit Rita Hayworth getrieben haben könnte oder auch nicht, wuchs James zu einem Teenager-Tunichtgut auf, einem Spanner und Kleinkriminellen, der in Häuser einbrach, um an Höschen zu schnüffeln. Er hielt alles fest, was er im Drogen- oder Billigweinrausch oder während neun Monaten in einer lokalen Arrestzelle erlebte – albtraumhafte, fotografisch exakte Visionen, die Grundlage seiner künftigen Schwarzen Fiktionen.
Diese komplexen Geschichten aus der Schattenwelt von Los Angeles geben die Sozialgeschichte der Stadt in den 40er und 50er Jahren am zutreffendsten wieder, einer Epoche »wo böse Weiße Böses im Namen der Staatsmacht trieben«. Ellroys Geschichten sind vollgepackt wie ein überbelegtes Gefängnis, aber der synkopische Stil täuscht: kurze, stakkatohafte, oft alliterierende Salven, Nur sind sie alles andere als unbestimmt. Auf den einen muskulösen Satz folgt der nächste und treibt die Geschichte gezielt voran. Seine Protagonisten sind tief verletzte Männer auf beiden Seiten des Gesetzes, die durch ihre Erfahrungen entstellt und verdorben sind.
James stand bereits im Ruf des Schöpfers der besten knallharten Krimis der amerikanischen Literatur, als sein Roman L.A. Confidential (»Stadt der Teufel«) kritisch und kommerziell erfolgreich verfilmt und er einem größeren Publikum nahegebracht wurde. Eine Erfahrung, die er in »Böse Buben in der Filmstadt« beschreibt. Die drei Kurzgeschichten dieses Bandes machen dort weiter, wo L.A. Confidential aufhörte: »Erpressung à la Hollywood«, »Hush-Hush« und »Tijuana, mon Amour«. James greift die Figur von Danny Getchell wieder auf, dem gerissen-korrupten Starautor der Zeitschrift Hush-Hush, der über fast jedes Mitglied der Filmstadt schlimme Dinge weiß und vor keiner Erpressung zurückschreckt, um an die schmutzige Wäsche anderer heranzukommen. Eine ganze Bande munterer Missetäter, darunter Jack Webb, Mickey Cohen, Frank Sinatra, Lana Turner, Johnny Stompanato, Dick Contino, Sammy Davis Jr., Oscar Levant und Rock Hudson werden von Ellroy genüsslich durch den Kakao gezogen. Ellroy lässt sie auf rüde Weise wahrhaftig, bizarr und glaubhaft erscheinen.
Vor zwei Jahren gab ich im »The Four Seasons« eine Dinnerparty für eine andere Ikone der 50er Jahre, den 71-jährigen Tony Curtis. Der in rüschenbesetztem weißem Hemd und aufschlaglosem Smoking erschien, eine Medaille der französischen Regierung an der Brust und seine umwerfend schöne, 1,85 große, 26-jährige Freundin Jill Van Den Berg am Arm. Auch James nahm teil, ebenso Tom Junod, der für GQ einen brillanten Artikel über Curtis geschrieben hatte, sowie ein Redakteur, dessen Name mir gleich einfallen wird. Als ich vorschlug, Tony solle einen geschützten Extratisch bekommen, meinte James, er solle mit den übrigen Gästen speisen. Natürlich hatte James recht. Tony wurde den ganzen Abend von Vorstadt-Matronen angehimmelt, die ihn um ein Autogramm baten, berührten und ihn als den bestaussehenden Star aller Zeiten feierten.
Wir tranken überaus guten Wein, lachten viel und hörten entzückt zu, wie Tony und James sich die Bälle zuspielten und sich wilde Geschichten aus dem Hollywood der 50er Jahre erzählten. Mir wurde klar, dass es niemanden gibt, der heute mehr über diese spezielle Zeit und diesen speziellen Ort weiß als James. Er scheint alles zu wissen, was es über die Berühmten, die beinahe Berühmten und die berühmt Infamen zu wissen gibt. Insbesondere, was deren Penis-Größe betrifft. Seine Romane sind ebenso mit entsprechenden Anspielungen gespickt wie seine Konversation. Manche Figuren sind »bestückt wie ein Esel«, andere »wie ein Cashewnüsschen.« Warum er davon so besessen ist, soll den Freudianern überlassen bleiben, aber für Ellroy ist die Anatomie besonders schicksalsbestimmend.
Ellroy selbst hat das Zeug zum Moralisten. Nur dass ihm die Moral kein zahmes Steckenpferd ist. Wenn ihn eine Untat aufregt, gerät er echt in Rage. Kurz nachdem O. J. Simpson seine Ex-Frau Nicole und ihren Freund Ron Goldman umgebracht hatte, fragte ich bei James an, ob er einen Aufsatz über das »Verbrechen des Jahrhunderts« schreiben wolle. »Und ob«, antwortete er. Bei der Lektüre bekam ich eine Gänsehaut. »Sex, Glitzern und Gier: Die Verführung des O. J. Simpson« ist ein leidenschaftlicher, starker Text, der mit Simpson ebenso scharf ins Gericht geht wie mit dem scheußlichen Berühmtheitskult Hollywoods, der ihn hervorgebracht hat. Vor einigen Monaten war James einmal mehr in hochmoralischer Hochform, diesmal wegen Bill Clintons sexueller Eskapade mit Monica Lewinsky und dessen recht bizarrer Behauptung, ein »blow job« sei eigentlich gar kein Sex. James juckte es, »Bubba« in der Luft zu zerreißen, doch ich lehnte, vielleicht unklugerweise, ab.
Sieht man von seinem glühenden Moralismus und seiner einmaligen erzählerischen Begabung ab, ist James allein deswegen zu einem der besten Autoren unserer Zeit geworden, weil er der disziplinierteste Schriftsteller ist, dem ich jemals begegnet bin. Er steht früh auf und verbringt jeden Tag zehn Stunden mit Schreiben. Er ist nie blockiert gewesen. Er scheint gleichzeitig an einem Roman, einer Kurzgeschichte und an einem Zeitschriftentext arbeiten zu können. Erstaunlicherweise hat er nie einen Termin versäumt. Er besitzt die Konzentration – und das Selbstvertrauen – eines Einstiegdiebs; allein das Konzept seines gegenwärtigen Romans beläuft sich auf 343 Seiten.
Genie wird belohnt. Ellroy erhält nun Vorschüsse, die solide genug sind, ihn zum Stammgast des »Four Seasons« werden zu lassen. Letzten Oktober flog er von seinem Zuhause in Kansas City nach New York, wo er, in hocheleganter Abendgarderobe (James hat eine Schwäche für Herrenschneider) den Preis als »Mann des Jahres« auf dem Gebiet der Literatur entgegengenommen hat, den ihm unsere superintelligenten Leser zugestanden haben. Die beiden bisherigen Gewinner sind Norman Mailer und John Updike. Die Herren Mailer und Updike sollten sich geschmeichelt fühlen.
Detective Division/Morddezernat/Sheriff’s Department Los Angeles County (Police Department El Monte beigezogen). Opfer: Scales, Betty Jean. Gest.: 29.01.73. Verdacht: Mord/§ 187 PC. Aktennr. 073–01 946–2010–400 (Ungelöst)
Das Opfer war eine 24-jährige Weiße. Sie wohnte an der Cogswell 2633, El Monte. Eine schäbige Stadt. Von weißen Versagern und auf Billigabsteigen angewiesenen Latinos bewohnt.
Das Opfer war mit William David Scales verheiratet – einem 26-jährigen Weißen. Sie hatten eine vier Jahre alte Tochter und einen dreimonatigen Sohn. Das Opfer war arbeitslos. Ihr Mann war Isolationstechniker.
Montag, 29.01.73, 20:00 Uhr:
Das Opfer verlässt die Wohnung. Sie ist allein. Ihre erklärte Absicht: Schecks im Nachtbriefkasten einer Bank hinterlegen und bei »Durfee Drugs« und »Crawford’s Market« einkaufen. Sie fährt den Kleinlaster ihres Mannes. Scales bleibt zu Hause. Er passt auf die Kinder auf und zieht sich am Fernseher Laugh-in rein.
Die Bank liegt einen Block vom Markt entfernt. »Durfee Drugs« gut eineinhalb Kilometer westlich. Ihre Wohnung befindet sich in der Mitte.
Alles in nächster Nähe. Scales geht davon aus, dass seine Frau in einer Stunde wiederkommt.
21:00, 21:30, 22:00 Uhr. Keine Betty Jean. Das Baby hat Hunger. Scales füttert und wickelt das Kind. Er ist verärgert und besorgt. Er wird immer wütender und aufgeregter. Er kämpft mit Verlassenheitsängsten.
Betty hat mich und die Kinder verlassen. Betty hat mir die Kinder angehängt. Betty hat ein Verhältnis. Sie ist beim anderen zu Hause oder im Motel. Die beiden vergnügen sich im »Nashville West«.
Er beruhigte sich. Sah alles anders. Betty musste ein bisschen allein sein.
Um auszuspannen. Um Abstand zu gewinnen. Um Freundinnen zu besuchen.
Er rief Connie, Terry und Glenda an. Sie hatten Betty nicht gesehen. Er überlegte von 22:30 Uhr bis Mitternacht. Er rief bei der Ortspolizei an, beim Police Department El Monte und bei der California Highway Patrol. Er erkundigte sich nach Unfallwagen.
Ohne Ergebnis:
Ihr Kleinlaster ist in keinen gemeldeten Unfall verwickelt.
Bis 02:00 Uhr malte er sich Unfälle aus. Er rief nochmals bei der Polizei von El Monte an. Wieder kein Ergebnis. Der Mann am Telefon riet ihm, die Ruhe zu bewahren und neben dem Telefon zu warten.
Er versuchte die Ruhe zu bewahren. Die Angstvorstellungen wollten nicht aufhören. Er ließ die Kinder allein und ging zu Fuß zu »Crawford’s Market« und zum »Nashville West«. Sie waren geschlossen. Er sah weder seine Frau noch den Kleinlaster. Er ging zu Fuß nach Hause. Er rief nochmals bei den Freundinnen an. Erhielt drei weitere abschlägige Antworten. Er schlief auf der Couch ein und wachte um 05:30 Uhr auf. Er rief beim Vater von Betty Jean in Corona an. Bud Bedford hatte Betty nicht gesehen und nichts von ihr gehört. Er wollte umgehend nach El Monte fahren.
Bill Scales und Bud Bedford taten sich zusammen. Sie fuhren bei »Durfee Drugs«, der Bank und beim »Market« vorbei. Sie sahen weder Betty Jean noch den Kleinlaster. Sie fuhren zur Polizei von El Monte. Sie füllten eine Vermisstenanzeige aus. Scales bezeichnete seine Frau als anständig. Keine Rumtreiberin. Sie rauchte kein Haschisch und stieg keinen Männern nach. Sie würde ihn nicht unangekündigt verlassen.
Die Polizisten rieten Scales und Bedford, die Ruhe zu bewahren. Nicht gleich an Unfälle oder Entführungen zu denken. Wir sind gesetzlich gehalten, abzuwarten, bis Ihre Frau achtundvierzig Stunden verschwunden ist. Dann können Sie immer noch an Unfälle und Entführungen denken.
Das tat Bill Scales schon jetzt. Bud Bedford auch. Sie bewahrten die Ruhe nicht.
Sie fuhren den Freeway Nr. 10 in Ost-West-Richtung ab. Sie fuhren den 605er in Nord-Süd-Richtung ab. Sie hielten bei den Tankstellen an. Sie redeten mit den Tankwarten. Beschrieben Betty Jean und den Kleinlaster. Scales hatte eine Zwangsvorstellung. Er wusste, dass seine Frau entführt worden war. Er wusste, dass der Mann zum Tanken anhielt.
Weitere Nein. Durchgängig nein. Keine Betty Jean – kein Kleinlaster.
Bedford ging nach Hause. Er hatte sich vor Jahren von Bettys Mutter scheiden lassen. Nun musste er ihr Bescheid geben und sie auf das Schlimmste gefasst machen.
Scales gab die Kinder bei einem Babysitter ab. Er borgte sich einen Wagen und fuhr die Freeways systematisch ab. Einschließlich Tankstellen. Zeigte einen Schnappschuss von Betty vor. Ein Nein nach dem anderen.
Mittwoch, 31.01.73:
Die Vermisstenanzeige trat nun legal in Kraft. Die Meldung ging an alle Police Departments. Eine Telexmeldung beschrieb den Kleinlaster und Betty Jean Scales:
WW/GEB. 06.03.49, 1,63, 52, braunes Haar, braune Augen. Zuletzt gesehen in rot-rosa-farb. T-Shirt, braunen Levi’s und weißen Tennisschuhen.
Donnerstag, 01.02.73, 13:30 Uhr:
Eine Polizeistreife von El Monte findet den Kleinlaster. Er steht auf dem Parkplatz von »Vons Market«. Ort: Peck Road, Ecke Lower Azusa. Ort: 3,2 Kilometer nördlich der Cogswell Road 2633. 4 Kilometer nördlich von »Durfee Drugs«, der Bank und »Crawford’s Market«.
Ein Autobahnpolizist beschlagnahmt den Kleinlaster. Er schleppt ihn auf einen Hof in El Monte Süd ab. Er spricht mit einem Verkäufer von »Vons Market«. Der Verkäufer gibt an, der Kleinlaster habe seit mindestens 48 Stunden auf dem Parkplatz gestanden. Er habe ihn um 04:00 Uhr früh bemerkt – am Dienstag, dem 30.01.
Acht Stunden nachdem Betty Jean ihre Wohnung verlassen hatte.
Das Police Department El Monte nimmt Verbindung mit dem Morddezernat vom Sheriff’s Department auf. Der Scales-Fall sieht nach Mord aus. Deputy Hal Meyers und Sergeant Lee Koury fahren zum Sicherstellungsgelände.
Sie untersuchen den Laster.
Auf der Ladefläche: Baugerüste aus Metall, eine Milchkiste, eine leere Pappschachtel, ein lederner Werkzeughalter, ein dazu passender Gürtel, ein Ende Seil. Im Fahrerabteil: Drei Flaschen Babynahrung in einem kleinen Karton. Eine Handtasche, ein weißer Büstenhalter, ein weißer Damenslip, ein linker weißer Tennisschuh und ein paar braune Levi’s.
Die Schachtel befindet sich auf dem Boden. Die Kleidungsstücke liegen zusammengefaltet daneben.
Koury und Meyers schauen unter den Sitz. Sie finden den fehlenden Schuh. Darin einen Schlüsselring. Die Leinwand des Schuhs weist einen Blutfleck auf.
Auf dem Sitz: Ein rot-rosafarbener Sweater. Deutliche Blutflecke. Ein Werkzeugkasten auf dem Trittbrett der Beifahrertür. Blutbespritzt.
Weitere Blutspuren:
Schmieren auf dem Rücksitz. Spritzer innen auf der Beifahrertür.
Koury rief beim Polizeilabor an und forderte Unterstützung an. Meyers öffnete die Handtasche. Er fand Kosmetika, drei Schecks, auf William D. Scales ausgestellt, Betty Jean Scales’ Führerschein und ein Scheckbuch. Der letzte eingetragene Scheck: 9,71 Dollar, ausgestellt auf »Durfee Drugs« am 29.01.73. Meyers untersuchte die Schachtel auf dem Wagenboden. Er fand darin eine Quittung über 9,71 Dollar. Koury rief das Police Department El Monte an und forderte die Kollegen auf, mit dem Ehemann Verbindung aufzunehmen.
Das Laborteam erschien. Ein Fingerabdruckspezialist staubte den Kleinlaster innen und außen ab. Er fand keine verborgenen Fingerabdrücke. Er stellte auf dem Steuerrad und dem Armaturenbrett Wischspuren fest. Ein Mann schabte Blutspuren ab und schnitt ein Stück Stoff aus dem Rücksitz. Er fand ein langes braunes Haar, das in einer Blutschmiere verklebt war.
01.02.73, 13:30 Uhr:
Koury und Meyers treffen Bill Scales auf dem Police Department El Monte. Scales wiederholt die Pläne seiner Frau für Montagabend. Er beschreibt seine eigenen Tätigkeiten und bezeichnet seine Ehe als stabil.
01.02.73, 15:30 Uhr:
Koury und Meyers fahren zu »Durfee Drugs«. Sie befragen eine Verkäuferin namens Gloria Terrazas. Mrs. Terrazas identifiziert ein Foto des mutmaßlichen Opfers und gibt an, dass sie Montagabend um 20:30 Uhr vorbeigekommen war.
Sie habe etwas Babynahrung gekauft und mit Scheck bezahlt. Sie kam und ging allein. Sie benahm sich normal.
01.02.73, 16:00 Uhr:
Koury und Meyers fahren zu »Crawford’s Market«. Sie verhören die Leute, die Montag Nachtschicht hatten. Sie halten ihnen ein Foto des mutmaßlichen Opfers vor. Sie fragen: »Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?« Die durchgängig übereinstimmende Antwort: Montagabend kam sie nicht vorbei.
Alles in nächster Nähe. Das mutmaßliche Opfer verlässt sein Zuhause und fährt zu »Durfee Drugs«. Bei »Crawford’s« oder der Bank trifft sie nie ein. Die zur Einzahlung bereiten Schecks befinden sich nach wie vor in der Handtasche. Das sieht nach einer Entführung aus. Der Bursche packt sie vor »Durfee Drugs« oder unterwegs zur Bank und »Crawford’s«. Er entführt den Kleinlaster. Er lässt sie irgendwo liegen und stellt den Laster bei »Vons Market« ab. Der Laster befand sich seit Dienstag, 04:00, auf dem Parkplatz.
Oder es war der Ehemann.
01.02.73, 18:00 Uhr:
Koury und Meyers treffen Bill Scales am Sicherstellungsgelände. Scales identifiziert seinen Laster und die Gegenstände auf der Pritsche. Er weist auf die leere Kiste. Er gibt an, dass sein Tacker fehlt. Er ist sehr schwer. Vielleicht hat der Bursche damit seine Frau totgeschlagen.
Koury und Meyers sehen sich Scales ganz genau an.
Scales schaut im Fahrerhaus nach. Er bemerkt Kies auf dem Boden. Er schlussfolgert.
Ein Knallkopf hat seine Frau entführt. Er hat sie mit dem Tacker totgeschlagen und im Steinbruch von Irwindale liegen lassen.
Das ist eine schlüssige Theorie.
Koury und Meyers empfinden Bill Scales als eiskalte Type.
Die Kiesgruben von Irwindale verliefen nordöstlich von El Monte. Sie stießen an den Freeway 605. Sie deckten vierundzwanzig Quadratmeilen ab. Dazwischen befanden sich Überflutungsbecken und Buschgebiet.
Die Kiesgruben waren bis zu 45 Meter tief. Sie wurden durch asphaltierte Straßen verbunden. Sie waren quer durchs Gelände zu erreichen. Man konnte von westöstlichen Durchgangsstraßen abbiegen und direkt hineinfahren.
Die Gruben wirkten psychedelisch. Schaufelkräne hingen Tag und Nacht darüber. Durch Regen wurden die Gruben zu Fluttümpeln. Das Wasser sammelte sich darin und floss nur langsam ab.
In diesem Winter wurde L.A. von schweren Regenfällen heimgesucht. Der Boden der Kiesgrube war überschwemmt. Die Grubengrenze befand sich 2,4 Kilometer östlich von »Vons Market«.
Im Scales-Fall war wahrscheinlich ein Leichenfund zu erwarten. Die Polizisten gingen davon aus, dass sie sich in den Gruben befand.
Freitag, 02.02.73:
Ein Suchtrupp macht sich an die Arbeit. Im Einsatz: Ein Helikopter vom Sheriff’s Department, drei Männer des Police Department El Monte und drei Männer vom Morddezernat des Sheriffs. Der Helikopter fliegt tief. Die Polizisten stapfen den ganzen Tag durch nassen Kies.
Samstag, 03.02.73:
Die Suche wird fortgesetzt. Im Einsatz: Ein Helikopter, sieben Deputies, zwei Männer vom Police Department El Monte, vier Männer vom Morddezernat des Sheriffs und 103 Reiter der berittenen Truppe des Sheriffs. Die Suchfläche wird stark erweitert. Nun umfasst sie El Monte, Baldwin Park, Irwindale, Azusa, Arcadia und noch nicht eingemeindete Flächen von L.A. County.
Die Helikopter fliegen tief. Die Polizisten, die zu Fuß unterwegs sind, tragen hüfthohe Stiefel. Die Pferde kämpfen sich durch knietiefes Wasser. Um 15:00 Uhr bricht ein Sturm los. Die Suche wird abgebrochen.
Der Sturm hörte nicht auf. Sonntag und Montag schwere Regenfälle. Die Suche wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Sie mussten das Wasser abfließen lassen.
Koury und Meyers bezeichneten den Fall als Entführung, Vergewaltigung und Mord. Sie nahmen sich polizeibekannte Sexualtäter vor. Sie fanden keinerlei Verdächtige.
Sie gingen bei »Durfee Drugs« und »Vons Market« von Tür zu Tür. Sie hatten kein Glück. Niemand hatte etwas gesehen. Sie verhörten Vater, Mutter, Stiefvater, Stiefmutter und den Bruder des wahrscheinlichen Opfers. Vater und Mutter fielen über den Ehemann her:
Er ist ein Prolet. Ein Tyrann. Ein eiskalter Saukerl. Bud Bedford sagte es geradeheraus: Er hat Betty Jean umgebracht.
Mittwoch, 07.02.73:
Bill Scales wird ins Polizeilabor des Sheriffs bestellt. Sergeant Ben Lubon führt einen Lügendetektortest durch. Koury, Meyers und ein Angehöriger des Police Department El Monte schauen zu.
Lubon bezeichnet die Resultate als eindeutig. Der Proband verfügt über kein schuldhaftes Wissen bezüglich des Verschwindens und eventuellen Todes seiner Ehefrau.
Der Fall Scales blieb stecken. Keine Leiche und kein brauchbarer Tatort. Koury und Meyers fingen neue Mörder. Der Regen kam und ging. Die Gruben standen voller Wasser.
Sonntag, 25.02.73, 15:30 Uhr:
Die Randstraße einer großen, von Conrock-Durbin betriebenen Grube. Ein Fünf-Gallonen-Kanister liegt am Straßenrand.
Ein Wachmann hält seinen Wagen an und hebt den Kanister hoch. Sein Hund springt aus dem Wagen und hetzt in die Grube. Der Wachmann pfeift. Der Hund bellt und ignoriert den Befehl. Der Wachmann geht zum Grubenrand und blickt hinein.
Sie war nackt. Sie lag bäuchlings auf dem Grubenboden. Der Tacker lag 1,45 Meter von ihrer linken Hand entfernt.
Sie war stark verwest. Das Wasser hatte den Verwesungsvorgang intensiviert. Augen und ein Gutteil des Hautgewebes waren von Maden gefressen worden.
Der Schädel war eingeschlagen. Das Haar war ihr während des Verwesungsprozesses ausgefallen. Durch die Schädelhöhle krabbelten Maden.
Verfilztes Haar auf der Schussseite des Tackers.
Ein Dutzend Polizisten trafen am Tatort ein. Sie durchsuchten die Grube systematisch. Die Grube wurde von einem Helikopter überflogen. Ein Fotospezialist machte einige Weitwinkel-Aufnahmen.
Mit der systematischen Suche hatte man kein Glück. Nichts: Erde, Felsbrocken, Dreck und Kies. Ein Mitarbeiter der Pathologie forderte den Körper an.
Er führte eine Sektion durch. Er erkannte auf Tod durch stumpfes Gewalttrauma infolge sich daraus ergebender Schädelfraktur. Die von ihm entnommene Samenprobe erwies sich als nicht schlüssig. Das Vaginalgewebe hatte unter Wasser gelegen und war stark zersetzt.
Jedermann wusste, wer sie war. Sie bezeichneten sie dennoch als »Unbekannt, weiblich, Nr. 10«. Sie waren auf eine formale Identifizierung angewiesen.
Die mittels ihrer Zahnarztakte erfolgte:
Betty Jean Bedford Scales. Geboren am 06.03.49. Wahrscheinliches Todesdatum: 29.01.73.
Koury und Meyers arbeiteten zeitweise an dem Fall. Sie überprüften die jüngsten Sexualdelikte, deren Täter noch nicht gefasst waren. Ihr geografisches Umfeld: El Monte/Baldwin Park/Irwindale.
16.12.72:
02:00 Uhr. Post Office Baldwin Park. § 220 PC – Tätlicher Angriff mit versuchter Vergewaltigung.
Ein weißer Jugendlicher greift eine 44-jährige weiße Frau an. Er schubst sie mit vorgehaltenem Messer in ihren Wagen. Er reißt ihren Büstenhalter weg, zieht ihr die Hosen herunter und betastet ihr Gesäß. Das Opfer schreit. Der Verdächtige flieht zu Fuß.
17.12.72:
03:45 Uhr. Eine 24-Stunden-Selbstbedienungswäscherei, Peck 4 428, El Monte. § 220 PC – Tätlicher Angriff mit versuchter Vergewaltigung.
Ein männlicher Latino greift eine 56-jährige weiße Frau an. Sie arbeitet in dieser und in einer anderen, vier Blocks entfernten Wäscherei.
Der Verdächtige versucht sie in einen Lagerraum zu drängen. Er erklärt: »Ich will Muschi! Ich will Muschi! Ich will dich nicht bestehlen!« Das Opfer zieht eine Sicherheitsnadel aus dem Mantel. Sie sticht auf den Verdächtigen ein. Der Verdächtige schreit auf und rennt hinaus. Das Opfer ruft das Police Department El Monte an. Eine Streife reagiert. Die Frau teilt den Polizisten mit: »Ich habe denselben Mann heute Morgen um zwei Uhr früh gesehen. Er strich an meiner Wäscherei vorbei und schaute zum Fenster hinein.«
04.01.73:
01:00 Uhr. Eine 24-Stunden-Selbstbedienungswäscherei, Peck 4 851, El Monte. § 207 PC – Entführung, § 261 PC – Vergewaltigung, § 245 PC – Angriff mit einer lebensbedrohlichen Waffe, § 10 851 CVC – Schwerer Raub/Autodiebstahl.
Ein männlicher Latino greift eine 26-jährige weiße Frau an. Er schlägt das Opfer nieder. Er zwingt die Frau in ihren Wagen und übernimmt das Steuer. Er befährt den Freeway 605, den Freeway 210 und den Highway 71. Er hält auf einer Seitenstraße und befiehlt dem Opfer auszusteigen. Er führt die Frau ins Gestrüpp, vergewaltigt sie und zwingt sie, oral mit ihm zu kopulieren. Er zerrt sie zu ihrem Auto und fährt sie nach El Monte zurück. An der Cherrylee, Ecke Buffington, zwingt er sie auszusteigen. Er sagt ihr, er werde den Wagen an der Cherrylee, Ecke Peck, stehen lassen.
Der Verdächtige lässt den Wagen an besagtem Ort stehen. Er wischt Steuerrad und Armaturenbrett ab.
2.2.73:
01:45 Uhr. Unteres Azusa und Peck, El Monte. § 314.1 PC – unanständige Entblößung.
Ein männlicher Latino greift eine 36-jährige weiße Frau an. Das Opfer steht neben der Bank einer Bushaltestelle. Der Verdächtige zeigt seinen Penis. Er erklärt: »Ich kann heute Nacht nicht schlafen, weil ich mit niemandem ficken kann.«
Das Opfer schreit. Der Verdächtige geht fort. Ein vorbeifahrender Streifenwagen hält ihn an. Der Verdächtige trägt drei pornografische Bücher mit sich: Husband and Friend (»Ehemann und Freund«), A Widow’s Hunger (»Witwenhunger«) und Cocker Conqueror (»Cocker Conquistador«).
Der Verdächtige wurde festgenommen. Er wurde wegen des Wäschereivorfalls eingehend verhört. Er wurde entlastet.
Der Wäschereifreak war nach wie vor auf freiem Fuß. Seine Übergriffe waren 42 und 25 Tage vor der Scales-Entführung erfolgt. »Vons Market« befand sich 90 Meter von der Peck Road 4 428 entfernt.
»Durfee Drugs« lag drei Kilometer südlich. Der Killer hatte die Scales um 20:30 Uhr angegriffen. Der Wäschereifreak war in der Nachtschicht aktiv. Für den Scales-Fall kam er nicht so recht in Frage.
Der Übergriff beim Post Office war 43 Tage vor der Scales-Entführung erfolgt.
Koury und Meyers arbeiteten an neuen Morden. Sie gaben die Überprüfung der Akten über sexuelle Übergriffe auf.
08.03.73:
19:15 Uhr. Baldwin Park Post Office. § 207/286/288A PC – Entführung, Analverkehr, Orale Kopulation.
Ein weißer Jugendlicher greift eine 17-Jährige weiße Frau an. Er zieht ein Messer und zwingt sie, in einen nahe gelegenen Park zu fahren.
Ein abgelegener Ort. Das Opfer steht auf dem Parkplatz. Der Verdächtige zwingt sie auf den Rücksitz und befiehlt ihr, sich auszuziehen. Sie gehorcht. Der Verdächtige begibt sich auf den Rücksitz. Er zieht sich die Hosen herunter und betastet die Genitalien des Opfers.
Er bekommt eine Erektion. Er penetriert teilweise den Anus des Opfers. Er zwingt die Frau, oral mit ihm zu kopulieren. Er masturbiert und ejakuliert auf die Brust des Opfers. Er fordert die Frau auf, sich anzuziehen. Sie gehorcht. Er führt sie in den Park und befiehlt ihr, ihre Kleider abzulegen. Sie gehorcht. Der Verdächtige packt ihre Kleider und flieht zu Fuß.
13.03.73:
21:35 Uhr. »Food King Market«. 14 103 Ramona, Baldwin Park. § 242 PC – Tätlicher Angriff.
Ein weißer Jugendlicher greift eine 25-jährige weiße Frau an. Er öffnet die Beifahrertür ihres Wagens. Er packt das Opfer und zerreißt ihm die Jacke. Das Opfer reißt sich los. Die Frau rennt vom Wagen weg. Der Verdächtige flieht zu Fuß.
14.3.73:
19:15 Uhr. »Lucky Market«. 13 940, Ramona, Baldwin Park. § 207/220 PC – Entführung/Versuchte Vergewaltigung.
Ein weißer Jugendlicher greift eine 29-jährige weiße Frau an. Er öffnet die Beifahrertür ihres Wagens. Er zieht ein Messer und sagt: »Rutsch rüber.« Das Opfer gehorcht. Der Verdächtige übernimmt das Steuer und fährt vom Parkplatz. Das Opfer fordert ihn auf, seine Absichten zu erklären. Der Verdächtige sagt: »Ich werde mit dir schlafen.«
Der Verdächtige fährt nach Südosten. Er hält an einer roten Ampel an. Das Opfer versucht hinauszuspringen. Der Verdächtige beschleunigt. Das Opfer greift sich die Wagenschlüssel. Der Verdächtige sagt: »Steck sie zurück, oder ich bring dich um.« Das Opfer gehorcht nicht.
Der Wagen wird langsamer. Das Opfer springt heraus. Der Verdächtige springt heraus. Das Opfer packt das Messer des Verdächtigen und sticht ihn damit in den Arm. Der Verdächtige flieht zu Fuß. Das Opfer übernimmt den Wagen und fährt zum Police Department Baldwin Park.
Die Frau erstattet Anzeige. Officer Henry Dock protokolliert. Sie beschreibt ihren Angreifer und die Messerwunde, die sie ihm zugefügt hat. Sie weist selber Schnitt- und Kratzverletzungen auf. Officer Dock fährt sie zum Hartland Hospital. Ein Arzt behandelt ihre Schnitte und Kratzer.
Sergeant J. Morehead ruft Officer Dock im Hartland an. Er teilt ihm mit, dass sich dort ein Patient mit Messerverletzung befindet, der der Täterbeschreibung durch das Opfer entspricht.
Das Opfer sieht sich den Messerpatienten heimlich an. Die Frau kann ihn hundertprozentig identifizieren.
17 Jahre alt. Blond, schlaksig, mit Akne. Er besucht die Highschool und wohnt bei den Eltern.
Officer Dock nimmt den Jungen fest. Ein Arzt behandelt die Wunde. Officer Dock bringt den Jungen zum Police Department Baldwin Park. Ein Detective verhört ihn. Der Junge wird den Eltern übergeben. Eine Anklage nach § 207/220 steht an.
Das Police Department Baldwin Park nimmt Kontakt mit dem Morddezernat des Sheriffs auf. Sie analysieren den Jungen und seine Vorgehensweise. Sie stufen ihn als tatverdächtig bei einer Vergewaltigung und bei drei versuchten Vergewaltigungen ein. Koury und Meyers arbeiten an neuen Fällen. Bezüglich des Scales-Falles schöpfen sie gegen den Jungen keinen besonderen Verdacht.
23.04.73:
13:30 Uhr. »Durfee Drugs«, El Monte. § 220 PC – Tätlicher Angriff mit versuchter Vergewaltigung.
Ein weißer Jugendlicher greift eine 18-jährige weiße Frau an. Das Opfer sitzt im Wagen. Die Beifahrertür ist offen.
Der Verdächtige erscheint an der Tür. Er packt das Steuerrad und fordert das Oper auf, den Platz zu wechseln. Das Opfer sagt Nein. Der Verdächtige wiederholt die Aufforderung. Das Opfer schreit. Der Verdächtige legt der Frau eine Hand auf den Mund und steckt eine Hand vorne in ihren Büstenhalter. Das Opfer stützt sich ab und schiebt ihn weg. Der Verdächtige flieht zu Fuß.
25.04.73:
Der Junge wird festgenommen und wegen des tätlichen Angriffs vom 23.04. angeklagt. Er ist am 12.04. 18 Jahre alt geworden. Er ist jetzt ein strafmündiger Erwachsener.
Vier frühere Opfer identifizieren ihn. Er wird auf der Sheriff’s Station Temple City festgehalten. Ein Detective der Station nimmt mit Koury und Meyers Kontakt auf. Sie verhören den Jungen wegen des Scales-Falles.
Der Junge behauptet, sich an die Vergewaltigung und die Vergewaltigungsversuche nicht mehr erinnern zu können. Er erklärt, an Bewusstseinstrübungen zu leiden. Als er zweimal aus Blackouts wieder zu sich gekommen sei, habe er an Frauen herumgefummelt. Er habe Probleme mit Frauen. Er besuche seit der ersten Festnahme vom 14.03. einen Psychiater. Er könne einiges im Zustand der Bewusstseinstrübung begangen haben.
Der Junge ist mit einem Lügendetektortest einverstanden. Er wird von Sergeant Ben Lubon durchgeführt.
Der Junge streitet ab, Betty Jean Scales ermordet zu haben. Er bestreitet die Vergewaltigungen und die Vergewaltigungsversuche, deren ihn die Opfer bezichtigt haben. Er gibt an, niemals bei »Durfee Drugs« gewesen zu sein. Sergeant Lubon bezeichnet den Test als »nicht schlüssig«.
12.06.73:
Koury und Meyers verhören den Jungen nochmals. Er streitet ab, Betty Jean Scales ermordet zu haben. Er gibt an, niemals bei »Durfee Drugs« gewesen zu sein. Koury und Meyers bohren wegen des Scales-Falles nach. Der Junge beruft sich auf sein Recht zur Aussageverweigerung.
Der Junge bleibt in Haft. Er wird wegen des Vergewaltigungsversuchs vom 14.03. verurteilt. Das Urteil: Verwahrung im Jugendgefängnis auf unbestimmte Zeit.
Der Scales-Fall erhält die Bezeichnung UNGELÖST. Er war der zweite ungelöste Mordfall in der Geschichte El Montes. Er schloss sich an einen anderen Leichenfund vor gut fünfzehn Jahren an.
Das Opfer hieß Geneva Hilliker Ellroy. Sie war meine Mutter.
Es war am 22.06.58. Der Killer ließ meine Mutter auf einer Straße in der Nähe der Arroyo High School liegen. Er kann sie dort getötet haben. Er kann sie anderswo getötet haben. Es geschah am frühen Sonntagmorgen. Die Straße war eine ortsbekannte Knutschecke. Sie entsprach den herkömmlichen Standards für ein schnelles Versteck. Von der Straße her gut erreichbar. Durch Büsche vor straßenseitiger Einsicht geschützt.
Der Killer vergewaltigte sie oder hatte einverständlichen Geschlechtsverkehr mit ihr. Er erwürgte sie mit einer Baumwollkordel und ihrem rechten Nylonstrumpf. Er ließ sie auf einem Flecken Efeu liegen. Sie war vollständig angezogen, ihre Kleidung war in Unordnung.
Morddezernat des Sheriff’s Department, Aktennr. #Z-483–362 (Police Department El Monte beigezogen)
Die Polizei rekonstruierte ihren Samstagabend.
Sie verließ das Haus um 20:00 Uhr. Sie war allein. Sie fuhr zum Five Points Strip in El Monte. Sie sah sich in »Mama Mia’s Pizza« um – »als ob sie jemanden suche«. Sie wurde in der »Manger Bar« gesehen. Sie war allein.
Samstag, 21.6.58, 22:30 Uhr:
Meine Mutter und ein dunkelhäutiger weißer Mann essen bei »Stan’s Drive-In«. Sie sitzen in seinem Wagen – einem 55er oder 56er Olds.
21.06.58, 23:15 Uhr:
Meine Mutter und der Dunkelhäutige treffen im »Desert Inn« ein – einem Nachtklub, der von weißen Wanderarbeitern und Säufern mittleren Alters frequentiert wird. Sie werden von einer blonden Frau begleitet. Die drei trinken, tanzen und reden. Sie gehen um Mitternacht.
Sonntag, 22.06.58, 02:30 Uhr:
Meine Mutter und der Dunkelhäutige erscheinen erneut in »Stan’s Drive-In«. Sie sind allein. Sie sitzen in seinem Wagen. Der Dunkelhäutige bestellt Kaffee. Meine Mutter einen Imbiss.
22.06.58, 10:10 Uhr:
Fußgänger entdecken die Leiche meiner Mutter.
Alles in nächster Nähe.
Das Haus befindet sich 2,4 Kilometer von Five Points entfernt. Der Pizza-Schuppen und die Bar liegen etwas südlich. »Stan’s Drive-In« liegt genau im Zentrum. Das »Desert Inn« sieben Blocks weiter westlich. Die Fundstelle 3,8 Kilometer nordwestlich.
Meine Eltern waren geschieden. Ich verbrachte das Wochenende mit meinem Vater. Ich habe nicht zugeschaut, wie meine Mutter aus dem Haus ging. Ich bin wegen ihres Ausbleibens nicht durchgedreht und habe nicht befürchtet, sie könne nie mehr zurückkommen. Ich war zehn Jahre alt. Ich kannte den Begriff »Fundstelle« nicht. Ich musste keine durch Regen verlängerte Totenwache durchhalten oder mir die verwesten Überreste meiner Mutter ansehen.
Ich war ein eiskalter kleiner Junge. Ich hasste meine Mutter und begehrte sie und machte mich in Autopsiesurrogaten über sie her. Ich begrub sie hastig und entbrannte für andere ermordete Frauen. Der Tod meiner Mutter verdarb und beflügelte meine Phantasie. Er befreite und beengte mich zugleich. Er legte meinen mentalen Lehrplan fest. Ich promovierte in Verbrechen mit vivisezierten Frauen im Nebenfach. Ich wurde erwachsen und schrieb Romane über die Männerwelt, die ihren Tod sanktioniert hatte.
Ich rannte von meiner Mutter weg. Ich legte Jahre und Meilen zwischen uns. 1994 rannte ich wieder zu ihr zurück. Das Schicksal intervenierte. Es zwang mich zur Konfrontation.
Ein Freund rief mich an. Er sagte, dass er an einem Artikel über ungelöste Mordfälle im San Gabriel Valley schreibe. In dem er sich eingehend mit dem Dezernat des Sheriffs für ungelöste Fälle befassen wollte. Mein Freund würde die Akte meiner Mutter einsehen und Dinge wissen, die ich nicht wusste.
Der Anruf eröffnete mir eine Chance. Ich konnte die Akte meiner Mutter einsehen.
Mein Freund besorgte mir ein heißes Blind Date. Ich wusste nicht, dass ich derart auf meine Mutter abfahren sollte.
Ich sah die Akte. Ich las die Berichte und sah meine Mutter tot in der Nähe der Arroyo High School liegen. Das war schockierend und enthüllend. Ich wusste, dass ihr Tod meine Neugier und meine Gabe des Geschichtenerzählens geprägt hatte. Das war mir seit Langem bekannt. Kalt überlegt und ironisch objektiviert. Jetzt empfand ich die volle Tragweite meiner Einsicht. Mir wurde klar, dass damit eine Verpflichtung zur Anerkennung und Ehrung verbunden war. Ich spürte, dass ich auf eine Art und Weise von ihr stammte, die über irgendwelche Blutsbande hinausging. Ich spürte, dass ich sie war.
Ein Detective des Morddezernats zeigte mir die Akte. Er hieß Bill Stoner. Er war 53 und stand vor der Pensionierung. Er hatte 32 Jahre für das Sheriff’s Department gearbeitet. Er hatte den Cotton-Club-Fall und den Mini-Manson-Fall geknackt und arbeitete in der Sonderkommission für nächtliche Spurenaufnahme. Im Morddezernat war er seit 15 Jahren.
Stoner beeindruckte mich. Ich taxierte ihn, während er mich taxierte. Ich spürte einen starken und geordneten Verstand. Ich spürte, dass er tiefes Mitleiden mit strengen Urteilsrichtlinien verband. Ich spürte, dass er mir etwas beibringen konnte.
Stoner zog sich aus dem aktiven Dienst zurück. Er blieb mit vollem Polizeistatus der Reserve des Sheriff’s Department zugeordnet.
Ich beschloss, den Mord an meiner Mutter erneut zu untersuchen. Ich bat Stoner, mir dabei zu helfen. Stoner erklärte sich einverstanden.
Die Untersuchung zog sich über fünfzehn Monate hin. Ich blieb in L.A. und arbeitete ganztags mit Stoner.
Wir studierten jedes Papierfitzelchen der Akte. Wir nahmen mit den überlebenden Zeugen Verbindung auf. Wir rekonstruierten 10 000-mal die letzten Wege meiner Mutter. Wir installierten eine kostenlose Telefonnummer und nahmen Hunderte von wertlosen Hinweisen auf. Wir gingen die Spur des Dunkelhäutigen mittels Rückschlüssen nach.
War er ein Vertreter, der durch El Monte kam? Nahm er im »Desert Inn« Wetten auf? Arbeitete die Blondine mit meiner Mutter zusammen, oder pflegten sie gemeinsam Cocktailbars zu besuchen?
Wir zogen Rückschlüsse. Wir überprüften die lebenslänglichen Straftäter der Gegend und gingen die späten 50er Jahre durch. Wir durchkämmten das San Gabriel Valley. Wir kamen nach El Monte, Baldwin Park, Irwindale, Duarte, Azusa, Temple City, Covina, West Covina und Rosemead. Wir verfolgten meine Mutter bis nach Chicago und ins ländliche Wisconsin. Wir fanden Leute, die sie vor sechzig Jahren gekannt hatten.
Die Blondine oder den Dunkelhäutigen fanden wir nicht. Dafür hörten wir die Geschichte von L.A. County privat. Die Leute gaben Intimes preis. Ich machte mir Stoners fragende Haltung zu eigen und lernte, wo ich zu reden und wo ich zuzuhören hatte. Ich war ein voyeurhafter Beobachter mit gut getarntem Rachedurst. Die Polizisten mochten mich, weil sie wussten, dass ich keiner von ihnen war und keiner sein wollte. Sie mochten mich, weil meine Liebe und mein Hass den Richtlinien ihrer Rechtschaffenheit entsprachen.
Bill Stoner wurde mein engster Freund. Unsere Bindung war gegenseitig und ging über die Grenzen der Untersuchung hinaus. Unsere Weltanschauungen passten sich einander an und öffneten sich, um zwei unterschiedliche Standpunkte aufzunehmen. Wir sprachen stundenlang über Verbrechen. Bill erzählte Polizeigeschichten. Ich beschrieb meine Taten als Kleinkrimineller und meine Aufenthalte in County-Gefängnissen vor zwanzig Jahren. Wir lachten. Wir machten uns über Macho-Absurdität lustig und räumten ein, dass wir uns selber an ihrer Verewigung beteiligten. Ich profitierte von Bill. Er eröffnete mir einen direkten Zugang zum Verbrechen von L.A. Er schmückte es mit großer Verve aus und gab mir die Möglichkeit, meine Mutter in einen Gesamtzusammenhang zu stellen.
Wir sprachen über sie. Wir verbeugten uns nicht vor ihrem Status als Mordopfer oder Mutter. Wir thematisierten ungeschönt ihren Alkoholismus und ihren Hang zu miesen Männern. Wir gingen ihren gesicherten Lebensspuren nach und hielten die Umwege fest. Wir neigten beide dem Männern eigenen, völlig romantisierten Frauenbild zu. Unsere schamlose Vorliebe für das Opfer hätte einer strengen Prüfung auf Unparteilichkeit nicht standgehalten. Bill genoss den Luxus einer durchgehenden Untersuchung mit einem aller Wahrscheinlichkeit nach verstorbenen Verdächtigen und einem voraussehbar negativen Ausgang. Das ermöglichte ihm, mit der Toten zu leben und ihrem Leben und ihrer Ehrenhaftigkeit eingehend nachzuspüren.
Die Untersuchung verlor sich. Der Dunkelhäutige wurde weniger wichtig. Wir stellten einem Killer nach und trugen Fakten über sein Opfer zusammen. Ich wollte ein Buch schreiben und meine Mutter der Welt anvertrauen. Ich wollte das, was ich über sie gelernt hatte, nutzen, um ein sichtbares Mal der Anerkennung und der Liebe zu errichten.
My Dark Places (»Die Rothaarige«) schrieb ich in sieben Monaten nieder. Ich ging mit klaren Absichten ans Werk. Ich gab die hässlichsten Fakten aus dem Leben meiner Mutter preis, ohne auf mildernde Umstände zu plädieren. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ich würde sie trotz ihrer Unbedachtheit und ihres willkürlichen und schlampigen Verhaltens lieben. Ich wollte vielmehr klarstellen, dass ich sie deswegen liebte – und dass meine Dankesschuld darauf beruhte, dass sie war, die sie war – und dass die spezifischen Komponenten ihrer vieldeutigen Psyche und ihre sexuelle Macht über mich dazu beigetragen haben, mein Leben zu gestalten und zu retten.
My Dark Places war ein Bestseller und ein kritischer Erfolg. Ich machte Buchtouren in Amerika und Europa. Bill Stoner schloss sich mir in Frankreich und L.A. an. Wir brachten Aufnahmeteams nach El Monte. Wir zeigten ihnen Arroyo High und die Orte, wo das »Desert Inn« und »Stan’s Drive-In« gestanden hatten. Ich fasste die Geschichte meiner Mutter 6 000-mal zusammen. Ich reduzierte sie auf verständliche »Sound Bites«. Ich vermittelte sie der Welt im Geist der Leidenschaft und Freude.
Das Buch hatte eine Reihe wertloser Hinweise zur Folge. Bill überprüfte sie. Ich ging nach Hause nach Kansas City und machte mich an die Vorarbeiten zu meinem nächsten Roman.
Meine Mutter blieb bei mir. Immer wieder nahm sie unerwartet mein Herz in Beschlag. Ich hieß ihre insistierende Gegenwart willkommen.
Ich konnte My Dark Places nicht aufgeben. Ich wollte My Dark Places nicht aufgeben. Ich ging für die Paperbackausgabe auf Tournee. Ich gab weitere Lesungen und weitere Interviews und machte meine Mutter noch einmal publik. Ich erzählte ihre Geschichte mit unverminderter Leidenschaft. Die Wiederholung erschöpfte mich nicht. Ich ging nach Hause und hatte immer noch Hunger nach mehr. Ich ging nach Hause und wollte etwas Neues und dennoch Bekanntes.
Ich vermisste Bill.
Ich vermisste die Welt der Gesetzeshüter – und meine Beobachterrolle darin.
Ich vermisste El Monte.
1958 hatte ich vier Monate dort gelebt. Ich war an dem Tag weggegangen, an dem meine Mutter starb. Ich war sechsunddreißig Jahre weggeblieben.
El Monte war heiß, voller Smog und Staub. Von weißen Proleten und südamerikanischen Illegalen beherrscht. Mein Vater sprach von »Shitsville (Scheißstadt), USA«.
Meine Mutter starb und scheuchte mich nach Westen zu meinem Vater und in die Innenstadt von L.A. Ihr Geist hielt mich draußen fest und zog mich zurück.
Arroyo High war nach wie vor Arroyo High. Mein altes Haus stand nach wie vor. »Stan’s Drive-In« war verschwunden. Das »Desert Inn« war nun »Valenzuela’s Restaurant«.
Ich näherte mich meiner Mutter in der Stadt, die sie umgebracht hatte. El Monte war unsere erste Kommunikationszone. Meine ersten Besuche erschreckten mich. Wiederholte Kontakte lösten diese Angst. Bill und ich freundeten uns mit den Polizisten an und mit dem Mann, dem mein altes Haus gehörte. Wir speisten genau dort, wo meine Mutter mit ihrem Killer getanzt hatte. Wir aßen bei »Pepe’s« gegenüber und spaßten mit Oscar De La Hoya.
Jetzt liebe ich El Monte. El Monte ist SIE in Reinkultur.
Ich wollte El Monte befähigen, mich ein weiteres Mal zu schockieren und anzutreiben. Ich wollte mich, mit den Lehren meiner Mutter versehen, bewusst einer ermordeten Frau zuwenden. Ich wollte einen Fall zum Aufarbeiten finden und darüber schreiben.
Bill gehörte nach wie vor der Reserve des Morddezernats an. Er sagte mir, dass er damit beschäftigt war, alte Akten im Hinblick auf DNA-Untersuchungen zu überprüfen. Der Captain hatte eine umfassende Aktendurchsicht angeordnet. Die DNA-Untersuchungsmethode war brandneu und aktuell. Zahlreiche ungelöste Fälle konnten nun gelöst werden.
Ich unterbreitete Bill meinen Plan. Bill hieß ihn gut. Ich bat ihn, die entsprechenden Akten auf ungelöste Fälle aus El Monte zu überprüfen.
Er rief mich zurück und sagte, er habe einen Fall mit Leichenfund ausgemacht. Ebenso in nächster Nähe wie seinerzeit der Jean-Ellroy-Fall.
Ich bestellte ein Hotelzimmer in der Nähe von Bills Haus und flog nach Orange County. Und schloss mich über Nacht mit der Scales-Akte darin ein.
Sie sah aus wie die Akte meiner Mutter. Tatortfotos und Telexnotizen und Berichte, in einen blauen Hefter geklemmt. Papiere und eine Tonbandkassette. Das erste Verhör von Bill Scales.
Ich spielte die Kassette ab.
Scales sprach langsam und sorgfältig. Das Verschwinden seiner Frau und das letzte Motorradrennen beschrieb er in gleicher Stimmlage. Er lebte fürs Motorradrennfahren. Er hätte vergangene Woche eine Trophäe gewinnen sollen. Er hatte am Montag nicht das Motorrad nehmen und nach Betty Ausschau halten können. Sein Motorrad war nicht straßentauglich.
Ich sah mir einen Packen Identifikationsfotos an. Betty Jean Scales zu Lebzeiten: eine zarte Frau mit langen Haaren und runder Drahtbrille. Ich sah mir die Tatortaufnahmen an. Betty Jean siebenundzwanzig Tage tot: eine aufgedunsene Puppe und Insektenablage.
Ich sah mir die Perspektivaufnahmen an. Die Gruben wirkten wie Mondkrater. Ich stellte mir die LSD-Schlucker der Gegend vor, die den Anblick großartig fanden.
Ich las die Tatort- und Laborberichte. Ich machte mir Notizen. Ich fand eine eigenartige Mitteilung:
»Sweater d. Opf. Fleck O+ – Nonsekretor.«
Eigenartig:
Die Zeile bezog sich offenbar auf einen Samenflecken. Einige Männer scheiden identifizierbare Blutzellen in ihrem Ejakulat aus; andere nicht. »O+ – Nonsekretor« ergab keinen Sinn.
Ich las die Vermisstenanzeigen. Ich erkannte Schauplätze.
Meine Mutter kaufte bei »Crawford’s Market« ein. Wir lebten zwei Blocks westlich der Peck Road. Arroyo High stieß an das untere Azusa. Betty Jean verschwand auf dem Weg nach Five Points.
Ich las die Berichte über sexuelle Übergriffe. Ich strich den Wäschereifreak von der Liste. Er war spätnachts und ausschließlich in El Monte tätig.
Der Junge wirkte HOCHverdächtig.