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»Ellroy ist der wohl wahnsinnigste unter den lebenden Dichtern und Triebtätern der amerikanischen Literatur.« Süddeutsche Zeitung Lloyd Hopkins, laut psychiatrischem Gutachten schwer angeschlagen, ist vorübergehend vom Dienst suspendiert. Ehe man ihn in den vorzeitigen Ruhestand schickt, wird ihm ein letzter, scheinbar harmloser Fall zugewiesen: ein einfacher Bankraub. Niemand ahnt, dass die Garcia-Brüder dahinterstecken, die zusammen mit Duane Rice ihre blutige Spur quer durch Los Angeles ziehen.
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Hügel der Selbstmörder
James Ellroy, 1948 in Los Angeles geboren, lernte die dunkle Seite der amerikanischen Gesellschaft sehr früh kennen. Als Jugendlicher geriet er aus der Bahn und konnte sich erst durchs Schreiben wieder fangen. Mit »Die schwarze Dahlie« gelang ihm der internationale Durchbruch. Heute gilt er als einer der wichtigsten literarischen amerikanischen Autoren.Von James Ellroy sind in unserem Hause bereits erschienen: Blut auf dem Mond · Blut will fließen · Blutschatten · Browns Grabgesang · Crime Wave · Der Hilliker-Fluch · Die Rothaarige · Die schwarze Dahlie · Ein amerikanischer Albtraum · Ein amerikanischer Thriller · Endstation Leichenschauhaus · Heimlich · Hollywood, Nachtstücke · In der Tiefe der Nacht · L.A. Confidential · L.A. Noir · Perfidia · Stiller Schrecken · White Jazz
Motorradgangs hatten sich dort schon in den Tod gestürzt. Waren in halsbrecherischem Tempo den Hügel hinuntergerast – über den Graben voll Schrott und Verwesungsgeruch hinweg. Oder mitten hinein. Wie Duane Rice und die Garcia-Brüder, die sich quer durch Los Angeles rauben und morden. Jeder auf seiner eigenen Suche: nach Frauen und Erlösung. Und einem Song: »Death was a thrill on Suicide Hill« ...
James Ellroy
Die Lloyd-Hopkins-Trilogie, Band 3
Roman
Aus dem Amerikanischen von Oliver Huzly
Ullstein
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Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2019© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019© 2002 für die deutsche Ausgabe by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München© 1987 der deutschen Ausgabe by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin© 1986 by James EllroyTitel der amerikanischen Originalausgabe: Suicide HillUmschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: getty images / © Bryce Lankard E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-1840-0
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Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
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Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Für Meg Ruley
Du bist allein, und du weißt ein paar Dinge.Die Sterne sind Nadelöhre; Schlitze in derMaske des Henkers.Sie, Ratten, Schlangen;Gehetzte und Henker –
Thomas Lux
NOTIZ AUS DEM PSYCHATRISCHEN GUTACHTEN
Von: Dr. med. Alan Kurland, Psychiater, Personalabteilung;An: Deputy Chief T. R. Braverton, Commander, Detective Division; Captain John A. MacManus, Abteilung Kapitalverbrechen;Betreffend: Hopkins, Lloyd W., Sergeant, Abteilung Kapitalverbrechen.
Sehr geehrte Herren,wie verlangt, habe ich Sergeant Hopkins in meiner Privatpraxis einer Analyse unterzogen. Dies geschah im Laufe von fünf einstündigen Sitzungen, die von 6. November bis zum 10. November 1984 abgehalten wurden. Der Patient machte den Eindruck eines physisch gesunden und geistig regen Mannes von exorbitanter Intelligenz. Er zeigte sich in diesen Sitzungen bereitwillig, beinahe eifrig, und widerlegte so Ihre anfänglichen Befürchtungen hinsichtlich seiner Zusammenarbeit. Seine Antworten auf intime Fragen und aggressive Überraschungsfragen waren unbeirrt ehrlich und offen.Bewertung/Gutachten: Sergeant Hopkins hat eine obsessive-compulsive Persönlichkeit. Er neigt zu Gewalttätigkeit. Diese Störung der Persönlichkeit manifestiert sich hauptsächlich in Akten exzessiver physischer Gewalt durch seine neunzehnjährige Polizeilaufbahn hindurch. An zweiter Stelle, aber doch unmittelbar damit verbunden, folgt ein starker Sexualtrieb, den er sich selbst gegenüber als »Ausgleichsbemühung« erklärt und rechtfertigt, die dazu diene, seine gewalttätigen Impulse abzulenken. Rein verstandesmäßig werden beide Triebe mit den Erfordernissen des »Jobs« und mit dem Wunsch, seinen Ruf als einzigartig brillanter und gefeierter Ermittler in Mordfällen aufrechtzuerhalten, gerechtfertigt; in Wirklichkeit rühren beide her von dem stridenten Pragmatismus der Art, die man bei soziopathischen Persönlichkeiten findet, die in ihrer emotionalen Entwicklung stehen geblieben sind – schlicht und einfach eine präadoleszente Selbstsüchtigkeit.Es ist symptomatisch, dass Hopkins, der sich selbst als »harten Hecht« und dedizierten Sybariten bezeichnet, sowohl seinen Gewaltimpulsen als auch seinen sexuellen Wünschen mit der rücksichtslosen Hingabe des wahren Soziopathen gefolgt ist. Er hat jedoch all die Jahre hindurch tiefe Schuldgefühle wegen dieser Gewaltausbrüche und der außerehelichen Promiskuität empfunden. Dieses Bewusstsein entwickelte sich graduell, was im Widerstand gegen alle Verhaltensmuster und dem Wunsch, diese Muster aufzugeben und so eine Art Seelenfrieden zu erreichen, resultierte. Dieses psychische Dilemma ist der hervorstechende Wesenszug seiner Neurosen. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass dieses Problem allein, durch seine langwierige Anlage, für Sergeant Hopkins’ gegenwärtigen Zustand am Rande eines Nervenzusammenbruchs verantwortlich ist. Hopkins selbst sieht die Gründe für seinen gegenwärtigen Zustand extremer Unruhe, Niedergeschlagenheit, verbunden mit Weinkrämpfen und äußerst untypischen Zweifeln an seinen Fähigkeiten als Polizist, in seiner Teilnahme an zwei aufwühlenden Morduntersuchungen.Im Januar 1983 war Sergeant Hopkins in den Fall des sogenannten »Schlächters von Hollywood« involviert, ein Fall, der offiziell als ungeklärt gilt, obwohl Hopkins behauptet, dass er und ein anderer Beamter den Täter getötet hätten, einen Psychopathen, der im Gebiet von Hollywood drei Menschen getötet haben soll. Sergeant Hopkins (nach dessen Schätzung dem »Schlächter von Hollywood« noch weitere sechzehn junge Frauen zum Opfer gefallen sind) hatte Intimkontakt mit dem dritten Opfer des Psychopathen, einer Frau namens Joan Pratt. Hopkins fühlt sich verantwortlich für den Tod von Miss Pratt und den Tod einer anderen Frau namens Sherry Lynn Shroeder, der in Verbindung mit der Havilland/Goff-Mordreihe stand (Mai 1984). Er hat diese Schuldgefühle transferiert auf die zweifache Obsession, unschuldige Frauen zu »schützen« und seine Frau und seine drei Töchter, die ihn verlassen haben und zurzeit in San Francisco leben, »wiederzubekommen«. Diese Obsessionen, typische Wahnvorstellungen bei psychisch gestörten Menschen mit hoher Intelligenz, sind der wahre Grund für die Patzer bei der Ausübung seines Berufs, die zu Sergeant Hopkins gegenwärtiger Suspendierung vom Dienst führten.Am 17. Oktober dieses Jahres war es Sergeant Hopkins gelungen, einen dritten Verdächtigen des Havilland/Goff-Falles, Richard Oldfield, in New Orleans aufzuspüren. Er hielt Oldfield für bewaffnet und gefährlich und forderte daher Beamte des New Orleans Police Departments an, ihm bei der Verhaftung beizustehen. Hopkins sollte in sicherer Entfernung bleiben, während das Team von N. O. P. D.-Kriminalbeamten den Verdächtigen festsetzte. Er missachtete diesen Befehl und trat Oldfields Tür ein, hielt aber dann inne, als er sah, dass Oldfield mit einer nur teilweise bekleideten Frau zusammen war. Er schrie der Frau zu, sie solle sich anziehen und machen, dass sie wegkomme, und feuerte dann auf Oldfield, verfehlte ihn aber und gestattete ihm so, durch den Hinterausgang zu entkommen, während er die Frau zu trösten versuchte. Die Beamten aus New Orleans fassten Oldfield einige Minuten später. Zwei Kriminalbeamte wurden während der Festnahme verletzt, der eine schwer. Sergeant Hopkins sagte, dass seine Weinanfälle kurz nach diesem Zwischenfall anfingen.Bei der Anklageerhebung wurde Hopkins von Oldfields Anwalt dabei ertappt, wie er Ausflüchte machte. Im Laufe unserer zweiten Sitzung gab er zu, dass er Beweise zurechtgefälscht hatte, um die Auslieferung Oldfields zu erreichen, und dass der Grund für seine Lügen im Gerichtssaal in dem Wunsch lag, eine Frau zu schützen, die in den Havilland/Goff/Oldfield-Fall verwickelt war – eine Frau, mit der er im Verlauf der Ermittlungen Intimkontakt gehabt hatte. An diesem Punkt wurde Sergeant Hopkins ausfallend und brüstete sich damit, dass er den Namen der Frau niemals dem Staatsanwalt oder einer anderen Justizbehörde preisgeben werde.Schlussfolgerungen: Sergeant Hopkins befindet sich im Zustand schwerster kumulativer Stressreaktion. Er leidet unter schwerster nervlicher Erschöpfung, die noch verschlimmert wird durch die unnachgiebige Entschlossenheit, seine Probleme aus eigener Kraft zu lösen – ein Entschluss, der implizit seine Persönlichkeitsstörung verstärkt und eine Weiterführung der Sitzungen praktisch unmöglich macht. Zum jetzigen Zeitpunkt erachte ich es für unmöglich, dass Sergeant Hopkins in Mordfällen ermittelt, ohne sie in irgendeiner Form in sozialem oder sexuellem Kontext auszunutzen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass er andere Beamte effektiv leiten kann; es ist genauso unwahrscheinlich, dass er sich bei seiner grandiosen Selbsteinschätzung jemals mit der Durchführung von Verwaltungsarbeit abfinden wird. Seine psychische Stabilität ist ernstlich beeinträchtigt; seine Belastbarkeit so unwägbar, dass seine Anwesenheit als Waffenträger im Dienst bestenfalls ineffektiv, schlimmstenfalls gemeingefährlich ist. Meiner Meinung nach sollte Sergeant Hopkins vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden, bei vollem Ruhegeld, als Resultat einer dienstbezogenen Disabilität/Invalidität, und der administrative Prozess hinsichtlich seiner Trennung vom L. A. P. D. sollte schnellstmöglich in Gang gesetzt werden.
Hochachtungsvoll,Dr. med. Alan D. Kurland,Psychiater
Der Transporter des Sheriffs bog aus dem Tor des Malibu Fire Camp Nr. 7. Geladen hatte er 16 Häftlinge, denen Entlassung, Arbeitsurlaub und Straferlass bevorstanden, und sein Ziel war das Zentralgefängnis von L. A. County. Fünfzehn der Männer brüllten fröhlich Obszönitäten, trommelten gegen die Fenster und klapperten mit den Beinfesseln. Der sechzehnte, dem man in Anerkennung seines Status als Feuerbekämpfer 1. Klasse die Eisen erspart hatte, saß vorn beim Fahrer/Deputy und starrte auf einen Fotowürfel, in dem sich die Aufnahme einer Frau in Punkrock-Outfit befand.
Der Deputy schaltete in den zweiten Gang und stupste den Mann an. »Bist wohl scharf auf Cyndi Lauper?«
Duane Rice sagte: »Nein, Officer, Sie etwa?«
Der Deputy lächelte. »Nein, aber ich trag ja auch ihr Bild nicht mit mir rum.«
Rice dachte, halt dich zurück – er ist nur ein blöder Bulle, der Konversation machen will, und sagte: »Meine Freundin. Sie ist Sängerin. Sie sang Back-up für eine Bar-Band in Las Vegas, als ich das Foto schoss.«
»Wie heißt sie?«
»Vandy.«
»Vandy? Nur ein Name, so wie ›Cher‹?«
Rice blickte auf den Fahrer, dann herum zu den Häftlingen in Drillichzeug. Die meisten davon würden in einem, allerspätestens zwei Monaten wieder im Loch stecken. Ihm fiel ein Versehen des sprücheschmiedenden Dichters ein, der unter ihm gepennt hatte: »L. A. – mach her deine Ferien, geh heim auf Bewährung.« Und im Bewusstsein, jeden Cop, Richter oder Bewährungshelfer, den man ihm draufknallte, austricksen, ausdeichseln und ausmanövrieren zu können, und mit dem Wissen, dass sein Schicksal das exakte Gegenteil von dem jedes anderen Mannes im Bus war, sagte er: »Nein, Anne Atwater Vanderlinden. Ich hab sie’s abkürzen lassen. Ihr voller Name war zu lang. Nicht gut für Plakate.«
»Macht sie alles, was du von ihr willst?«
Darauf gab Rice dem Deputy ein spiegelvollendetes »Jawohl«.
»Ich frag ja nur«, sagte der Deputy. »Solche Pussen sind heute schwer zu finden.«
Die Plauderei war wirkungsvoll im Keim erstickt, und Rice lehnte sich zurück und starrte aus dem Fenster. Er nahm zwar beiläufig Notiz vom Pacific Coast Highway und den im Winter verlassenen Stränden, fühlte aber eigentlich nur das Summen des Busmotors und die Distanz, die es schuf zwischen den sechs Monaten, die er damit zugebracht hatte, Feuergräben zu buddeln, Flammen einzuatmen und zu beobachten, wie sich geistig verarmte Luschen mit billigsten Weinbrand volllaufen ließen, und den kommenden zwei Wochen, die er im New County abzusitzen hatte, wo ihm sein Straferlass wegen Tapferkeit als Häftlingsfeuerwehrmann einen Job als Kapo verschaffen würde, mit unbegrenztem Besuchsrecht. Er sah auf den Plastikstreifen an seinem rechten Handgelenk: Name, achtstellige Gefangenennummer, die Abkürzung des kalifornischen Strafrechts für schweren Fahrzeugdiebstahl und seinen Entlassungstermin – 30/11/84. Die letzten drei Zahlen ließen ihn an Vandy denken. Automatisch streichelte er den Fotowürfel.
Der Bus erreichte East L. A. und das Main County Jail eine Stunde später. Rice ging zur Aufnahme Seite an Seite mit dem Fahrer/Deputy, der seine Dienstwaffe aus dem Halfter zog und sie wie einen Hirtenstab dazu benutzte, die Häftlinge zu den elektrischen Türen zu lotsen. Als sie drinnen und die Türen hinter ihnen geschlossen waren, gab der Fahrer seine Waffe dem Deputy in der Plexiglaswachkabine und sagte: »Unser Kumpel hier geht zur Kapoeinstufung. Er ist Cyndi Laupers Liebchen, also keine Leibesvisitation: Cyndi sähe es nicht so gerne, wenn wir in sein Arschloch reinschielen. Die anderen Kerle haben Arbeitsurlaub und Wochenendfreigang anstehen. Die volle, übliche Prozedur in den verfügbaren Zellen.«
Der Kontrollbeamte deutete auf Rice und sprach in ein am Tisch festgeschraubtes Mikrofon. »Los, Blauer. Nummer vier, vierte Zelle zu deiner Rechten.«
Rice gehorchte. Er steckte den Fotowürfel in seine umgeschlagene Brusttasche und ging den Korridor entlang. Die Gangart, die er einschlug, war eine Art modifizierter Knastschritt, die es ihm erlaubte, seine Würde zu bewahren und so auszusehen, als passe er sich an. Als er den richtigen Rhythmus gefunden hatte, ließ er seine Augen eine Szene in sein Hirn einbrennen, der er sich nie wieder aussetzen würde: Gefangene, wie Sardinen gequetscht in Sicherheitszellen, die auf der Vorderseite von der Decke bis zum Boden mit Kadmiumstahl vergittert waren; geschriene und gedämpfte Gesprächsfetzen, die aus den Zellen herausfluteten und in denen das Wort ›Scheiß‹ vorherrschte. Kapos, die Kakihosen mit Schlitzen am Hintern trugen und lustlos mit Besen den Korridor fegten; eine Gruppe davon stand außen vor dem Schwuchteltrakt und gurrte die Tunten darin an. Das Kreischen und Klirren vergitterter Türen, die auf- und zuflogen. Gewöhnlicher Alltag für institutionalisierte Bullen und Zuchthäusler, die nicht wussten, dass sie aufeinander angewiesen waren. Tod.
Die Tür von Nummer 4 glitt auf. Rice drehte sich kurz und trat ein. Sein Blick blieb auf dem einzigen anderen Häftling in der Zelle haften, einem kräftigen Burschen, der wie ein Rocker aussah, auf dem Schränkchen hockte und einen Groschenwestern las. Als die Tür zuknallte, sah der Mann auf und sagte: »Tag, Grünschnabel. Zur Einstufung hier?«
Rice entschloss sich, höflich zu sein.
»Ich denke doch. Ich spekulierte ja auf einen Job als blauer Kapo, aber die Bullen haben offensichtlich andere Pläne.«
Der Rocker legte sein Buch auf den Boden und kratzte sich an den Bartstoppeln. »Offensichtlich, häh? Sei nur froh, dass du nicht so groß bist wie ich. Ich komme zur Ladeabteilung, sicher wie die Hölle. Ich werde also mit Niggern Wäschesäcke rumwuchten, während du irgendwo mit dem Besen fegst. Wofür haben sie dich verknackt?«
Rice lehnte sich an die Gitter. »Schwerer Autodiebstahl. Bekam ein Jahr, saß sechs Monate im Fire Camp und erhielt etwas Straferlass.«
Der Rocker betrachtete Rice mit Augen, in denen Misstrauen stand, aber auch Neugier nach Informationen. Rice entschloss sich, selbst nach Informationen zu wühlen, und sagte: »Kennst du einen Burschen namens Klein? Ein Weißer um die vierzig? Müsste so vor sechseinhalb, sieben Monaten hergekommen sein. Sie hatten ihn wegen Besitz und Verkauf von Kokain am Wickel, machten dann ein kleineres Delikt daraus. Er ist wahrscheinlich jetzt schon wieder draußen.«
Der Rocker stand auf, streckte sich und kratzte seinen Bauch. Rice sah, dass er mindestens 1,90 war, und spürte ein Warnlicht in seinem Kopf aufflackern, »’n Freund von dir?«.
Mit Verspätung registrierte Rice die Intelligenz in seinen Augen. Zu schlau, um ihn anzuschmieren. »Nicht wirklich.«
»Nicht wirklich?« Der große Mann ließ die Worte dröhnen. »Nicht wirklich? Offensichtlich denkst du, ich bin blöde. Offensichtlich denkst du, ich kann zwei und zwei nicht zusammenzählen. Offensichtlich denkst du, ich weiß nicht, dass dieser Klein dich verpfiffen, einen Handel mit der Schmiere gemacht hat und so ungefähr zur selben Zeit, als sie dich geschnappt haben, wieder gehen durfte. Offensichtlich weißt du nicht, dass du dich in Gegenwart eines hervorragenden Gefängnisintellekts befindest, der es nicht mag, wenn man ihn verscheißern will.«
Rice schluckte trocken, hielt Augenkontakt mit dem großen Mann und wartete darauf, dass sich dessen rechte Schulter senkte. Als der Rocker einen Schritt nach hinten machte und lachte, trat Rice zurück und zwang sich ein Lächeln ab.
»Ich habe es sonst nur mit Stumpfköpfen zu tun«, sagte er. »Nach einer Weile passt man sein Denken ihrem Niveau an.«
Der Rocker lachte leise in sich hinein. »Bumst dieser Klein dein Mädchen?«
Vor Rices Augen wurde alles rot. Er vergaß die Warnungen seines Lehrers, niemals eine Attacke zu beginnen, und er vergaß die rituellen Schreie, als er mit dem rechten Fuß durchzog und fühlte, wie der Kiefer des Rockers unter seinem Fuß brach. Blut spritzte durch die Luft, als der große Mann gegen die Gitter krachte; aus den anliegenden Zellen erklangen Rufe. Als der Rocker zu Boden fiel, trat Rice noch einmal zu; durch seinen roten Schleier hindurch hörte er, wie eine Rippe brach. Die Rufe wurden lauter, als die elektrische Tür ruckartig aufging. Rice fuhr herum und sah ein halbes Dutzend Schlagstöcke in hohem Bogen auf sich zukommen. Flüchtige Gedanken an Vandy hielten ihn davon ab anzugreifen. Dann wurde alles dunkelrot und schwarz.
Einheit 2700 des Los Angeles Main County Jail ist bekannt als der Irrentrakt. Sie besteht aus drei Reihen Sicherheitseinzelzellen, die durch enge Gänge und Treppen miteinander verbunden sind, und ist der Unterbringungsort für nicht gewalttätige Gefangene, die psychisch zu gestört sind, um innerhalb der allgemeinen Gefängnisgemeinschaft existieren zu können: Sabberer, Brabbler, Leute, die in der Öffentlichkeit masturbierten, Jesus-Kreischer und mystische Gurus, die ihr Gehirn mit LSD weggeblasen hatten, und die jetzt alle darauf warteten, dass man über ihre Unzurechnungsfähigkeit entschied und sie letztlich nach Camarillo und in vom County unterhaltene Pflegeheime abtransportierte. Auch wenn die »danebenen« Häftlinge an und für sich durch Zwangsverabreichung starker Beruhigungsmittel ruhig und friedlich gehalten werden, so werden sie doch nachts, wenn die Wirkungen der Medikamente nachlassen, buchstäblich lebendig und veranstalten ein Getöse, das man durch das gesamte Gefängnis hört. Als Duane Rice in einer Zelle direkt in der Mitte von Reihe 2 der Einheit 2700 wieder zu sich kam, dachte er, er wäre tot und in der Hölle.
Er brauchte eine ganze Weile, um zu entdecken, dass er es nicht war; dass die gequälten Schreie und klagenden Geräusche nicht Schläge waren, die die Schmerzen und das Pochen an seinem ganzen Körper verursachten. Als er allmählich das volle Bewusstsein wiedererlangte, begann der Schmerz wirklich, und alles kam ihm wieder und übertönte eine Stimme in der Nähe, die brüllte: »Ronald Reagan ist ein Schwanzlutscher!« Automatisch tastete Rice mit den Händen Gesicht und Hals ab. Kein Blut; keine Beulen; keine blauen Flecke. Nur eine Schwellung an seiner Halsschlagader. Bewusstlos gewürgt und zu den Irren geworfen, aber die Abreibung, die die Wachbeamten für gewöhnlich Radaubrüdern verpassten, hatte man ihm erspart. Warum?
Rice machte eine kurze Bestandsaufnahme seiner Person und stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass seine Genitalien unbeschädigt und keine Rippen gebrochen waren. Er zog sein Hemd aus und untersuchte die Striemen und blauen Flecken auf seinem Leib. Schmerzhaft, aber vermutlich kein innerer Schaden.
Da fiel ihm der Fotowürfel wieder ein, und er verspürte einen ersten Anfall von Panik. Er grapschte das Hemd vom Boden und drosch auf die Wand ein, als Plastikscherben aus dem Leinenknäuel fielen. Seine Fäuste wetzten gerade an den Zellengittern, als das unversehrte Foto von Anne Atwater Vanderlinden aus der rechten Tasche purzelte und mit der Bildseite nach oben auf seiner Matratze landete. Vandy. In Sicherheit. Rice sagte die Worte laut vor sich hin, und die Kakofonie des Irrentrakts verebbte zu einem leisen Raunen.
Ihr Raunen.
Rice setzte sich auf den Rand der Matratze und bewegte seine Augen hin und her zwischen der Fotografie und den reingekratzten Graffiti, die die Zellenwände bedeckten. Obszönitäten und Black-Power-Slogans nahmen den Großteil der beschreibbaren Fläche ein, aber in der Nähe der zusammengeknüllten Lumpen, die als Kopfkissen dienten, nahmen mühselig geritzte Liebeserklärungen überhand: Tyrone und Lucy; Big Phil und Lil Nancy; Raul y Inez por vida. Rice tastete die Worte mit seinen Fingern ab, und es gelang ihm, die Schmerzen in seinem Körper niederzuhalten, indem er sich auf die Geschichte von Duane und Vandy konzentrierte.
Er hatte als Pit-Boss in einer Midas-Muffler-Niederlassung im Valley gearbeitet, nebenher Ersatzteile aus dem Lager geklaut und sie zum halben Preis an Louie Calderon verkauft. 26, unter Bewährungsaufsicht der Jugendbehörde wegen Totschlags im Straßenverkehr, ziellos. Er wartete darauf, dass etwas geschah. Louie schmiss eine Party in seiner Bude in Silverlake, versprach drei Frauen pro Mann und lud ihn ein. Vandy war da gewesen. Er und Louie hatten an der Tür gestanden und Kommentare über die ankommenden Frauen abgelassen. Sie kamen zu dem Schluss, dass, was puren Sex anging, das magere Mädchen in den abgewetzten Preppy-Klamotten so ziemlich die unterste auf der Liste war, aber dass sie ein gewisses Etwas hatte. Als Louis nach den richtigen Worten suchte, um es zu erklären, sagte Rice: »Charisma.« Louie schnippte mit den Fingern, stimmte zu und wies dann auf ihre schäbigen Fetzen und die laufende Nase hin und sagte: »Schneevögelchen. Vorher noch nie gesehen. Sieht wohl einfach die offene Tür und kommt rein, vielleicht denkt sie, sie kann etwas Stoff abstauben. Sie mag vielleicht Charisma haben, aber sie hat verflucht noch mal keine Selbstkontrolle.«
Louies letzte Worte trafen zu. Rice ging herüber zu dem Mädchen, das ihn anlächelte. Nervöse Zuckungen ließen ihr Gesicht lebendig wirken. Ihre unmittelbare Verletzlichkeit fraß ihn förmlich auf. Sowie es begonnen hatte, war es auch schon gelaufen.
Sie redeten zwölf Stunden an einem Stück. Er erzählte ihr, wie er in den Wohnblöcken von Hawaian Gardens aufgewachsen war, und von seinen versoffenen Eltern und wie sie eines Abends zum Schnapsladen losfuhren und niemals wiederkamen, von seiner Geschicklichkeit mit Wagen und wie ihn die Schwäche seiner Eltern zu dem Entschluss gebracht hatte, Schnaps und Drogen niemals anzurühren. Darüber schnaubte sie verächtlich und sagte, dass sie und ihr Bruder Drogen nahmen, weil ihre Eltern so verklemmt und spießig waren. Sie fanden keinen rechten Draht zueinander, bis er ihr dann die volle Wahrheit erzählte, weshalb sie ihn wegen Totschlags drangekriegt hatten. Damit verknüpfte er ihrer beider Trotz und Aufmüpfigkeit mit einem hellroten Band miteinander.
Als er 22 war, hatte er bei einer Maserati-Niederlassung in Beverly Hills einen Job, Sportwagen einstellen. Die anderen Mechaniker waren Kiffer, die sich permanent über seine Abneigung gegen Dope lustig machten. Eines Abends bastelten sie einen Speedball aus medizinischem Alkohol und Percodan und mischten ihn ihm in den Kaffee, unmittelbar bevor er sich daranmachte, den Leerlauf am Ferrari eines Kunden zu testen. Die Drogenmischung begann abrupt zu wirken, als er die Doheny herunterfuhr. Er merkte sofort, was los war, und fuhr rechts ran, entschlossen, abzuwarten, bis das High abflaute, um dann ein paar gehörige Abreibungen auszuteilen.
Dann wurde es wirklich schlimm. Er begann wild zu halluzinieren und dachte, er sehe die Kerle, die ihm das Dope untergejubelt hatten, einen halben Block weiter über die Straße gehen. Er ließ den Motor aufheulen, schaltete sofort in den Zweiten und walzte sie mit 120 nieder. Die vordere Stoßstange wurde abgerissen, der Kühlergrill eingedellt, und ein abgerissener Arm flog quer über die Windschutzscheibe. Er schaltete herunter, bog um die Ecke und den Wilshire, stieg aus und rannte wie der Teufel. Ein unglaublicher Adrenalinschub überdeckte die Wirkung der Droge. Als er aus Beverly Hills herausgelaufen war, fühlte er sich wieder Herr seiner Sinne. Er wusste, dass er seine Rache bekommen hatte, und nun musste er sich an die Spielregeln des Gesetzes halten und versuchen, möglichst billig davonzukommen.
Ein zweistündiges Dampfbad im Hollywood Y ließ ihn den Rest des Speedballs aus seinem Kreislauf ausschwitzen. Er nahm ein Taxi zum Polizeirevier von Beverly Hills, bohrte sich mit einem Taschenmesser in den Arm, um Krokodilstränen hervorzurufen, und stellte sich. Man legte ihm zwei Fälle von Totschlag dritten Grades und Fahrerflucht zur Last. Die Kaution wurde auf 20 000 Dollar festgesetzt, und die Anklageerhebung wurde auf den nächsten Morgen festgelegt.
Bei der Anklageerhebung erfuhr er dann, dass die zwei Leute, die er getötet hatte, nicht die Mechaniker gewesen waren, die ihm das Dope verpasst hatten, sondern ein gutbürgerliches Ehepaar. Er plädierte trotzdem auf schuldig, weil er mit maximal zwei Jahren rechnete, also allerspätestens in achtzehn Monaten wieder draußen wäre.
Der Richter, ein freundlich dreinblickender alter Knabe, verpasste ihm einen zehnminütigen Vortrag, fünf Jahre auf Bewährung und sein Urteil: 1000 Arbeitsstunden Papiermüll aus den Gullys der Doheny Avenue zwischen Beverly Boulevard im Norden und Pico Boulevard im Süden aufzulesen. Nachdem Zuschauer im Gerichtssaal dem Urteil gebührenden Applaus gespendet hatten, fragte der Richter Rice, ob er noch irgendetwas zu sagen hätte. Er hatte, sagte »Ja« und fuhr fort, dem Richter kundzutun, dass dessen Mutter in einem Bordell in Tijuana riesige Eselsschwänze lutsche und dass es seine Frau mit den Gorillas im Griffith Park treibe. Der Richter widerrief seine Haftaussetzung und verplättete ihm fünf Jahre in der kalifornischen Jugendstrafanstalt in Soledad – bekannt als »Baby-Bunker« oder »Gladiatorenschule«.
Als Rice seine Geschichte zu Ende brachte, krümmte sich Anne Vanderlinden vor Lachen und startete ihre Erzählung, während der sie zwei volle Packungen in einem wegrauchte, bis alle anderen Gäste entweder gegangen waren oder sich in Paaren in die Schlafzimmer in Louies oberem Stockwerk zurückgezogen hatten. Sie erzählte ihm, wie es war, reich aufzuwachsen in Grosse Pointe, Michigan, und von ihrem knochenharten Vater, einem Steuerberater, ihrer valiumsüchtigen Mutter und ihrem religiösen Wirrkopf von Bruder, der sich mit LSD bedröhnte und auf die Sonne starrte, wo er mystische Synergie suchte, bis er völlig erblindete. Sie erzählte ihm, wie sie das College aufgesteckt hatte, weil es langweilig war, und wie sie ihr Treuhandvermögen von 50 000 Dollar mit Koks und Freunden verpulvert hatte und wie sie den Schnee mochte, aber nicht davon abhängig war. Rice fand ihren Gebrauch von Gossenslang naiv, aber gut gemacht. Es war ihm klar, dass es ihr dreckig ging und dass sie vermutlich kreuz und quer schlief, um einen Platz zum Bleiben zu haben, und er lenkte ihr Gespräch weg von der Gegenwart und auf die Zukunft.
Was wollte sie wirklich tun?
Anne Vanderlindens kleine Zuckungen im Gesicht überschlugen sich, als sie ins Stammeln kam, um zu erklären, wie sehr sie Musik liebte und wie sie vorhatte, mit einer Reihe von Rockvideos die Aufmerksamkeit der Welt auf ihre Tanz- und Singtalente zu lenken: eines für Punk, eines für Balladen, eines für Disco. Rice beobachtete, wie sich ihre Züge beim Sprechen verzerrten, und er wollte ihren Kopf fassen und das Gesicht glatt streichen, bis sie vollendet weich und hübsch war. Schließlich packte er ihr strähniges blondes Haar und ballte es zu einem Knoten, der die Haut um ihre Augen und Wangen straffte, und flüsterte: »Baby, einen Dreck wirst du haben, solange du nicht aufhörst, dir diesen Mist in die Nase zu stopfen, und nicht jemanden findest, der sich um dich kümmert.«
Sie fiel schluchzend in seine Arme. Später, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, erzählte sie ihm, dass es das erste Mal war, dass sie seit dem Erblinden ihres Bruders geweint hatte.
Im Laufe der nächsten Wochen, nachdem Anne Atwater Vanderlinden zu ihm gezogen und Vandy geworden war, wurde es ihm klar: Man wartet nicht darauf, dass Dinge geschehen – man sorgt dafür, dass sie geschehen. Wenn dein Mädchen Rockstar werden will, musst du ihren Koksverbrauch in den Griff bekommen und ihr sexy Bühnenkleidung kaufen und Kontakte zu potenziell nützlichen Leuten im Musikgeschäft herstellen und warmhalten. Vandy konnte genauso gut singen und tanzen wie ein halbes Dutzend weiblicher Rockstars, die er kannte, und sie war zu gut, den alten und schlechtbewährten Weg von Demobändern, Auftritten im Vorprogramm und stumpfen Bar-Engagements einzuschlagen. Sie hatte einen Trumpf im Ärmel. Sie hatte ihn.
Und er hatte einen mickrig bezahlten Job bei Midas Muffler, einen Bewährungshelfer, der ihn ansah wie etwas, das unter einem Stein hervorkrabbelte, und ein überteuertes Apartment mit weltklasseverdächtigen Küchenschaben. Die Sollseite solchermaßen aufgelistet, überlegte Rice nun, was er zu bieten hatte: Er war ein hervorragender Mechaniker, er wusste, wie man Autoalarmanlagen kurzschloss und Lenksäulen anbohrte, um binnen 40 Sekunden zu starten, mit jedem Wagen, überall, jederzeit; er wusste genug über Industriechemie, um zersetzende Lösungen zusammenzumischen, mit denen man die Seriennummern von Motorblöcken wegätzen konnte. Er hatte noch von Soledad her solide Beziehungen, die ihn mit guten Hehlern zusammenbringen würden. Er würde schon dafür sorgen, dass es geschah: ein Autodieb der Spitzenklasse werden, Vandys Karriere in Gang bringen und sauber dastehen.
Eineinhalb Jahre lang klappte es.
Mit drei strategisch günstig gelegenen angemieteten Garagen und ausgerüstet mit einem batteriebetriebenen Zündungsbohrer, stahl er japanische Importwagen neuesten Modells und verkaufte sie zu zwei Dritteln ihres Wiederverkaufswerts an einen Kumpel, den er aus dem Knast kannte. Er überwachte selbst die chemische Behandlung der Motorblöcke, die es unmöglich machte, ihre Herkunft zu bestimmen, und wechselte sein Klau-Territorium nach dem Rotationsprinzip quer durch die Counties von L. A. und Ventura, um zu vermeiden, dass die näheren Umstände der einzelnen Diebstähle untersucht wurden. Nach zwei Monaten hatte er die Anzahlung für eine noble Eigentumswohnung in West L. A. beisammen. Nach drei Monaten hatte er Vandy für die Welt der Stars in Form gebracht, mit einer Reformhausdiät, täglichen Gymnastikübungen, Koks als gelegentlicher Belohnung sowie drei Wandschränken voller Designerklamotten. Nach vier Monaten hatte er die Urteile von zwei hochbezahlten Gesangslehrern – Vandy war ein schwacher, beinahe stimmloser Sopran mit praktisch keinem Stimmumfang. Sie verfügte über ein anständiges vibrierendes Knurren, das man mit einer guten Gesangsanlage aufmotzen konnte, und sie lutschte das Mikrofon toll ab. Sie hatte den gepeinigten Sex-Appeal eines Punkrockstars – und sehr begrenztes Talent.
Rice akzeptierte die Beurteilungen – er liebte Vandy deshalb noch mehr. Er änderte seinen Plan, den Durchbruch in der Musikszene von L. A. zu erzwingen, und brachte Vandy nach Vegas, wo er drei arbeitslose Musiker aufgabelte und ihnen zwei Scheine die Woche gab, damit sie ihr als Backing Band dienten. Dann schmierte er den Besitzer einer Spielhalle/Bar/Freizeitzentrums, damit er Vandy & Vandals als Hausband engagierte.
Bei vier Auftritten an jedem Abend der Woche knurrte Vandy Vibrato die Punktexte des Schlagzeugers der Gruppe. Sie erntete Pfiffe, wenn sie sang, und stürmischen Beifall, wenn sie die Hüften schwang und das Mikrofon ablutschte. Nachdem er ihre Auftritte einen Monat lang beobachtet hatte, wusste Rice, dass sein Mädchen jetzt so weit war.
Zurück in L. A. und ausgestattet mit professionellen Fotos, erkauften Jubelkritiken und einem aufgemotzten Demoband, machte er sich daran, einen Agenten für Vandy zu finden. Eine Ziegelmauer nach der anderen tat sich vor ihm auf. Wenn er es mal schaffte, über die Sekretärinnen hinauszukommen, verpasste man ihm klare Abfuhren und »Wir melden uns«-Floskeln, und wenn er über die hinauskam und Vandys Fotos zückte, bekam er Kommentare zu hören wie »interessant«, »nette Figur« und »scharfe Pusse«. Im Büro eines Agenten namens Jeffrey Jason Riffkin am Sunset Strip erreichte seine Frustration schließlich ihren Höhepunkt. Als Riffkin die Fotos zurückreichte und sagte: »Niedlich, aber ich habe im Moment genug Klienten«, ballte Rice die Fäuste und visierte den Schädel des Mannes an. Doch da hatte er einen Einfall und sagte: »Na, du Jude, wie würde dir denn ein brandneuer silbergrauer Mercedes 450 zum Nulltarif gefallen?«
Eine Woche später, nachdem er seinen Wagen in Empfang genommen hatte, erzählte Riffkin Rice, dass er ihn einem Haufen Leute vorstellen könne, die etwas für Vandys Karriere tun konnten, und dass ihre Idee, ihr Talent via einer Reihe von Rockvideos zur Geltung zu bringen, eine exzellente »Erfolgsstrategie mit hoher Visibilität« sei, wenn auch teuer: 150–200 Riesen Minimum. Er tat, was er konnte, mit seinen Beziehungen, aber in der Zwischenzeit kannte er eine Menge Leute, die für Benze und andere Statuswagen zu günstigen Preisen sofort hartes Bargeld auf den Tisch legten – Leute aus der »Branche«.
Rice lächelte. Benutze und werde benutzt – ein Arrangement, dem er vertrauen konnte. Er und Vandy hielten Einzug in Hollywood.
Riffkin hielt sein Wort zum Teil. Er besorgte ihnen zwar keine einzige Schallplattenaufnahme – oder Auftrittsmöglichkeit, aber er stellte sie immerhin einer großen Menge halb erfolgreicher Fernsehschauspieler, Regisseure, Koksdealer und niederer Filmproduzenten vor. Viele davon waren interessiert an Spitzenautomobilen mit mexikanischen Nummernschildern und zu fantastisch günstigen Preisen. Im Laufe des nächsten Jahres stahl Rice 206 Spitzenmodelle, wobei ihm ein Cousin von Chula Medina, seinem alten Kumpel aus Soledad, der bei der Zulassungsstelle in Ensenada arbeitete, mit dem Papierkram half. Er hatte so an die hundertfünfzigtausend für die Produktion von Vandys Rockvideo auf die Seite geschafft. Und dann, gerade als er dabei war, die Lenksäule eines schokoladenfarbenen Benz Coupé aufzubohren, fielen vier Bullen vom L. A. P. D. Autodiebstahlsdezernat mit angelegten Schrotflinten über ihn her, und einer von ihnen flüsterte: »Eine Bewegung und du stirbst, Mutterschänder!«
Als er gegen 16 000 Dollar Kaution wieder auf freiem Fuß war, verklickerte ihm sein Showbiz-Anwalt, wie der Hase lief: Für eine bestimmte Geldsumme in bar würde sein Bankkonto nicht beschlagnahmt werden, und er käme mit einem Jahr County-Gefängnis davon. Wenn das Geld nicht gezahlt wurde, würde man ihm einen Verstoß gegen die Bewährungsauflagen und wahrscheinlich noch mindestens fünfzehn weitere Fälle von schwerem Autodiebstahl zur Last legen. Das L. A. P. D. hatte einen Informanten am Wickel und quetschte ihn mächtig aus. Er konnte den Richter nur kaufen, wenn er sofort handelte. Wenn er schnell verurteilt wurde, ließ das L. A. P. D. höchstwahrscheinlich die Untersuchung fallen.
Rice willigte ein. Die Entscheidung kostete ihn glatte 100 000 Dollar. Das Honorar seines Anwalts weitere vierzig. Zehn Riesen für Vandy und das Schmiergeld, das ein Anwalt einem Aktenführer im L. A. P. D. zukommen ließ, um die Identität des Informanten zu erfahren, hatten den Rest seines Bankkontos aufgefressen und den Namen des Spitzels nicht zutage gebracht. Rice hegte den Verdacht, dass der Grund dafür war, dass der Rechtsverdreher die Knete in die eigene Tasche gesteckt hatte, denn er wusste, dass der Singvogel Stan Klein war, ein Koksdealer und Entrepreneur aus der Schickeria von Hollywood, in der sie verkehrten. Als er erfuhr, dass Klein wegen versuchten Verkaufs gefährlicher Drogen hochgenommen und die Anklage später auf ein Offizialdelikt reduziert worden war, wurde er sein Verdächtiger Nummer eins. Aber er musste ganz sicher sein, und der Entschluss, es ganz sicher wissen zu wollen, hatte ihn seinen letzten Heller gekostet und nichts eingebracht.
Und jetzt, nur zwei Wochen vor der Entlassung, die zu verdienen er Rauch, Feuer und Scheiße gefressen hatte, hatte er es vermasselt und sich vermutlich eine Anklage wegen Körperverletzung ersten Grades sowie mindestens neunzig weitere Tage im County-Gefängnis eingehandelt.
Und Vandy hatte seit einem Monat nicht geschrieben und ihn auch nicht besucht.
»Aufgestanden, Blauer, Armbandzählung.«
Rice drehte den Kopf ruckartig in Richtung der Wörter. »Ich lasse mir von euch keine Medikamente verabreichen«, sagte er. »Ich nehm’s mit dir und dem gesamten Department des Sheriffs von L. A. County auf, bevor ich zulasse, dass ihr mich mit dieser Prolixinscheiße völlig kirre macht.«
»Niemand will dir was verabreichen, Blauer«, sagte die Stimme. »Ein paar der Besten von L. A. County würden dir vielleicht gerne die Hand schütteln, aber das ist auch alles. Abgesehen davon kann ich diesen Wundersirup draußen verkaufen, ein paar schnelle Kröten machen und Gesetz und Ordnung einen Dienst erweisen, indem ich den schwarzen Bevölkerungsanteil sediert halte. Versuchen wir’s noch mal: Kennmarkenabzählung. Geh zum Gitter, streck dein rechtes Handgelenk zu mir raus, sag mir deinen Namen und deine Gefangenennummer.«
Rice stand auf, ging zum vorderen Ende der Zelle und steckte den rechten Arm durch die Gitter. Auf dem Gang trat der Eigentümer der Stimme in sein Blickfeld, ein untersetzter Deputy mit dünnem, von einem Messerschnitt verdorbenem, grauem Haar. Auf seinem Namensschild stand: Gordon Meyers.
»Rice, Duane Richard, 19842040. Wann werde ich wegen der neuen Sache angeklagt?«
Deputy G. Meyers lachte. »Was für eine neue Sache? Dieser Drecksack, den du fertiggemacht hast, saß wegen tätlichen Angriffs auf einen Polizisten und war mehrfach einschlägig vorbestraft, und du hast während des Brandes in Agoura drei Feuerwehrmänner des L. A. County in Sicherheit getragen. Verdammt, meinst du das ernst? Der Commander der Wachmannschaften hat deine Akte gelesen, dann die des Mistkerls und ihm dann einen Handel vorgeschlagen: Zeigt er dich an, erstattet das County Anzeige gegen ihn, weil er nach deinem Pimmel gegrapscht hat. Er wollte nicht zum Schwulen abgestempelt werden, also hat er eingewilligt. Er kann den Rest seiner Strafe auf der Krankenstation verbringen, und du wirst hier im Gummi-Hilton als blauer Kapo Dienst leisten, wo du hoffentlich nicht den Drang verspürst, Prügel auszuteilen. Wo hast du bloß diesen Kung-Fu-Kram gelernt?«
Rice ließ die Neuigkeiten in seinem Kopf hin und her purzeln und versuchtete sich ein Bild zu machen von dem Mann, der sie verkündet hatte. Freundlich und harmlos, war die Einschätzung, zu der er kam; vermutlich kurz vor der Pensionierung und schon völlig ohne das Schwarz-Weiß-Denken von Guten und Bösen. »Soledad«, sagte er. »Die hatten da einen japanischen Corrections Officer, der Kurse abhielt. Er packte noch eine Menge spirituellen Kram drauf, aber da hat keiner zugehört. Schließlich hat er geschnallt, dass er gewalttätigen jugendlichen Kriminellen beibrachte, wie sie bessere gewalttätige jugendliche Kriminelle werden konnten, und es sein gelassen. Was hat ein Kapo im Irrentrakt zu tun?«
Meyers zog einen Schlüssel aus seinem Sam-Browne-Gürtel und schloss die Zelle auf. »Los, komm, lass uns in mein Büro gehen. Ich habe da eine Flasche. Wir zischen ein paar, und ich sage dir, wie du deinen Job zu tun hast.«
»Ich trinke nicht.«
»Ach was? Was für eine verfluchte Sorte Krimineller bist du denn?«
»Einer von der schlauen Sorte. Becherst du etwa im Dienst?«
Meyers lachte und klopfte auf sein Abzeichen. »Hab gestern die Papiere eingereicht. Zwanzig Jahre und neun Tage dabei, die beinharte Staatspension verdient. Ich bleibe nur noch so lange hier, bis sie einen neuen Mann hierher versetzen, der meine Stelle einnimmt. In von heute an zehn Tagen heißt es Tschüss und auf Nimmerwiedersehen, Mutterschänder, und bis dahin lasse ich es einfach auf mich zukommen.«
Wie Gordon Meyers es darstellte, war der Job einfach. Den ganzen Tag schlafen, während die Bekloppten völlig weggekloppt waren von ihrer »Medizin«, die Reste aus dem Dining Room der Beamten essen, seine Kollektion von »Playboy« und »Penthouse« zur freien Verfügung haben, dem Wärter der Tagschicht keinen Ärger bereiten. Nachts begannen seine Pflichten: den Bescheuerten ihre tägliche Mahlzeit verabreichen, sie jeweils einzeln aus den Zellen zu scheuchen und die Böden zu wischen, sie einmal pro Woche zum Duschen zu schaffen.
Die wichtigste Sache war, sie nachts einigermaßen ruhig zu halten, betonte Meyers. Er verwandte seine Dienstzeit darauf, die Kleinanzeigen zu lesen und Bewerbungen zu schreiben, und er wollte nicht, dass die Irren seine Aufmerksamkeit ablenkten. Sprich sanft mit ihnen, wenn sie zu schreien anfingen, und wenn das nichts fruchtete, schrei zurück und sieh zu, dass sie Angst vor dir haben. Wenn’s hart auf hart kommt, verpasse ihnen einen Strahl mit dem Feuerwehrschlauch. Und jeder Bekloppte, der Scheiße auf seine Zellenwände schmierte, bekam fünf Klopfer auf den Arsch mit einem bleigefütterten »Klopper«, den Meyers bei sich trug. Rice versprach, seine Sache gut zu machen, und beschloss fünf Tage zu warten, bevor er den dummschwätzerischen Cop dazu brachte, ihm Gefälligkeiten zu erweisen.
Der Job war in der Tat einfach.
Rice schlief täglich sechs Stunden, aß die qualitativ hochwertige Anstaltskost, die die Wärter aßen, und machte jeden Tag mindestens tausend Liegestütze. Nachts brachte er den Bekloppten ihren Fraß, wischte pflichtgetreu ihre Zellen und schlenderte den Gang entlang, während er durch die Gitter hindurch mit ihnen Worte wechselte. Er fand heraus, dass die Bekloppten weniger schrien, wenn er eine kontinuierliche Kette von Zelle-zu-Zelle-Kommunikation aufrechterhielt, und er weniger an Vandy dachte. Nach ein paar Tagen hatte er einige der Burschen etwas näher kennengelernt und sein Blabla auf ihre individuellen Vorstellungen vom bösen schwarzen Mann abgestimmt.
A-14, ein Schwarzer, den sie eingebuchtet hatten, weil er Hunde aus dem Tierasyl von Lincoln Heights geholt und sie für Rastafari-Festmahle zubereitet hatte. Die Bullen hatten seine Dreadlocks abrasiert, bevor sie ihn ins Loch warfen, und er fürchtete nun, dass durch seine Glatze Dämonen in sein Hirn eindringen konnten. Rice erzählte ihm, dass Dreadlocks »out« waren, und brachte ihm eine Nummer von Ebony, in der Anzeigen für diverse Afroperücken waren. Er wies darauf hin, dass der Reverend Jesse Jackson mit einem verschärften Afroschnitt herumlief und die Weiber buchstäblich mit dem Schubkarren abschleppen konnte. Der Mann nickte zustimmend, griff sich die Illustrierte und grölte von da an jedes Mal, wenn Rice an seiner Zelle vorbeitrabte, »Afroperücke!«.
C-11 war ein alter Mann, der von der Straße herunter und zurück nach Camarillo wollte. Rice meldete ihn drei Nächte hintereinander zu Unrecht als Scheißeschmierer und täuschte dreimal vor, ihm Schläge zu verpassen: Er drosch mit dem Klopper auf die Matratze ein und schrie selbst. In der dritten Nacht hatte Meyers den Lärm satt und übergab den alten Mann dem Vorsteher der Krankenstation, der sagte, der Knabe wäre auf jeden Fall reif für Camarillo.
Mit dem tätowierten Mann in C-3 war am schwersten umzugehen, denn die weißen Prolls, mit denen Rice in Hawaian Gardens aufgewachsen war, hatten alle Tätowierungen gehabt, und er war schon frühzeitig zu dem Schluss gekommen, dass Tätowierungen das Markenzeichen der absoluten Verlierer dieser Welt waren. C-3 war ein Jugendlicher, der darauf wartete, dass über seine Vormundschaft entschieden wurde. Sein ganzer Leib war mit knurrenden Wildkatzen verziert, und nun versuchte er seine Arme mit einem Stück einer Matratzenfeder und mit Tinte, die er aus in Toilettenwasser eingeweichtem Zeitungspapier gewonnen hatte, zu tätowieren. Er hatte es fertiggebracht, die ersten zwei Buchstaben von »Mama« reinzuritzen, als Rice ihn erwischte und ihm die Feder wegnahm. Darauf brüllte er los, und Rice schrie ihn an, er solle doch gefälligst aufhören, sich wie einer dieser Mistsäcke aus der Gosse zu zeichnen. Schließlich beruhigte sich der junge Mann. Jedes Mal, wenn er an der Zelle vorbeiging, filzte Rice ihn nach Tätowierwerkzeugen. Nachdem er das ein paarmal gemacht hatte, nahm der Jugendliche automatisch eine Durchsuchungshaltung an, sobald er ihn kommen hörte.
Gegen Mitternacht, wenn die Klapsköpfe allmählich wieder einschliefen, ging Rice zu Gordon Meyers ins Büro und hörte sich dessen völlig beklopptes Gebrabbel an. Während er sich auf die Zunge biss, um nicht zu lachen, nickte Rice zustimmend, als ihm Meyers von den großen Dingen erzählte, die er in den sechzehn Jahren, die er hier ja doch gearbeitet hatte, ausbaldowert hatte.
Ein paar davon waren beinahe clever, wie ein Plan, aus seinen Fähigkeiten als Schlosser Kapital zu schlagen – er besorgte sich einen Job als Bankwächter, klaute Wertgegenstände aus den Schließfächern und steckte sie örtlichen Streifenpolizisten zu, die die Bank frequentierten; er blieb jenseits allen Verdachts, weil er ja die Bank nicht verließ und es den Streifenpolizisten überließ, die Ware zu versetzen. Die meisten Pläne waren allerdings Material für »Unglaubliche Geschichten«: Prostitutionsringe mit weiblichen Häftlingen, die in Bussen zu Großbaustellen herumkutschiert werden und dort geilen Arbeitern gegen Straferlass einen blasen sollten; Marihuanafarmen, deren Personal aus Häftlings»erntearbeitern« bestand, die Tonnen von Gras anbauten und es dann in die Hubschrauber des Sheriffs einluden, die es wiederum in den Hinterhöfen hochstehender Polizeipusher abwarfen; Pornofilme mit männlichen und weiblichen Häftlingen als Darstellern, bei denen Meyers selbst Regie führte und die von einem exklusiven »ALL-COP«-Kabelsender, den er aufbauen wollte, ausgestrahlt werden sollten.
Meyers brabbelte drei Nächte lang so weiter. Rice verlegte sein Vorhaben um einen Tag vor und begann ihm von Vandy zu erzählen und wie sie seit Wochen weder geschrieben noch einen Besuch gemacht hatte. Meyers zeigte Mitgefühl und erwähnte, dass er dafür gesorgt hatte, dass ihr Foto nicht vernichtet worden war, als die Bullen ihm den Saft abdrehten. Nachdem er ihm dafür gedankt hatte, ging Rice aufs Ganze: Könnte er wohl das Telefon benutzen, um ein paar Anrufe zu tätigen und herauszufinden, wo sie steckte? Meyers sagte Nein und hieß ihn ihren Namen, Geburtsdatum, eine physische Beschreibung und ihre letzte bekannte Adresse auf einen Zettel zu schreiben.
Rice tat es und saß dann da und presste seine Fingernägel in die Handballen, damit er den völlig bescheuerten Deputy nicht schlug.
»Ich werd’s schon machen«, sagte Gordon Meyers. »Ich hab das drauf.«
Die nächsten 48 Stunden konzentrierte sich Rice darauf, den Bekloppten oder den unbewegten Gegenständen im Loch nicht das nötige »Drauf« zu verpassen. Er erhöhte seine Liegestützquote auf tägliche 2000 und kroch dem Wärter von der Tagschicht im Akkord in den Arsch, weil er hoffte, so zumindest Louie Calderon anrufen zu können, den er vermutlich dazu bringen konnte, sich nach Vandy umzuschauen. Er hielt sich von Gordon Meyers fern und dadurch beschäftigt, dass er lange und ausgiebig die Gänge auf und ab latschte. Und dann erklang kurz nach Mitternacht, als der Lärm im Affenhaus gerade abebbte, auf einmal Gordon Meyers Stimme über die Lautsprecheranlage des Zellenblocks: »Duane Rice, scher dich ins Büro. Dein Anwalt ist hier.« Rice ging ins Büro. Er nahm an, Meyers war bedröhnt und wollte ihn verscheißern. Und dann war sie da, gekleidet in rosa Cordhosen und einem irischgrünen Sweater, eine Aufmachung, die er ihr zu tragen verboten hatte. »Ich hab dir doch gesagt, ich hab’s drauf«, sagte Meyers, als er die Tür hinter ihnen schloss. Rice beobachtete, wie Vandy die Hände an die Hüfte legte und eine Drehung vollführte, um ihm ins Gesicht zu schauen, eine Verführungspose, die er sich für ihre Auftritte in den Bars ausgedacht hatte. Er wollte auf sie zu, als er das erste Mal ihres Gesichts gewahr wurde. Seine Welt stürzte in sich zusammen, als er ihre eingefallenen Wangen und die blauschwarzen Ringe unter ihren Augen sah. Völlig fertig. Er griff nach ihr und hielt sie, bis sie sagte: »Hör auf, Duane, das tut weh.« Dann legte er seine Hände auf ihre Schulter, schob sie eine Armlänge von sich weg und flüsterte: »Warum, Babe? Wir hatten eine gute Sache am Laufen.«
Vandy wand sich aus seinem Griff. »Diese Cops sind zur Wohnung gekommen und haben mir erzählt, du wärst schwer krank, deshalb bin ich gekommen. Und dann erzählt mir dein Freund hier, dass du nicht schwer krank bist, sondern nur mich sehen wolltest. Das ist nicht fair, Duane. Ich wollte es doch absetzen und völlig clean sein, bis du wieder rauskommst. Es ist nicht fair, also sei nicht böse auf mich.«
Rice starrte auf die Wanduhr, um Vandys koksstrapaziertes Gesicht zu meiden. »Wo bist du gewesen? Warum bist du nicht hier gewesen und hast mich besucht?«
Vandy nahm ihr Täschchen von Meyers Tisch und wühlte darin nach Zigaretten und Feuerzeug. Rice sah, wie ihre Hände zitterten, als sie sich Feuer gab. Sie stieß eine Rauchwolke aus und sagte: »Ich habe dich nicht im Lager besucht, weil’s zu deprimierend war, und du weißt, dass ich schreiben hasse.«
Rice ertappte sich dabei, dass seine Hände zitterten, und stopfte sie in die Hosentaschen. »Ja, gut, aber was hast du die ganze Zeit gemacht, außer dass du dir diesen Dreck in die Nase geblasen hast?«
Vandy schwang eine Hüfte in seine Richtung, noch so eine Bewegung, die er ihr beigebracht hatte. »Freunde gemacht. Den richtigen Umgang gepflegt, wie du es von mir verlangt hast. Viel unterwegs gewesen.«
»Freunde? Du meinst Männer?«
Vandy wurde rot und sagte dann: »Freunde halt. Leute. Was ist mit deinen Freunden? Dieser Gordon ist trickfilmreif. Als er mich vom Parkplatz hochgebracht hat, erzählte er mir, er würde eine Killertruppe aus Dobermannpinschern zusammenstellen. Was für Freunde hast du dir gemacht?«
Rice fühlte, wie sein Zorn nachließ; das Feuer in Vandys Augen war Hoffnung.
»Gordon ist kein schlechter Kerl, er hat bloß zu lange mit Bekloppten zu tun gehabt. Hör zu, hast du noch genug Kohle? Hast du noch was von dem Geld, das ich dir gegeben habe?«
»Ich komm zurecht.«
Vandy senkte ihre Augen; Rice sah, wie das Feuer erlosch. »Verschweigst du mir was, Babe? Zehn Riesen haben dir unmöglich bis jetzt gereicht, wenn du wieder am Koksen bist. Vielleicht willst du mir ja erzählen, was deine Freu-«
Vandy warf ihr Täschchen an die Wand und kreischte: »Sei nicht so eifersüchtig! Du hast mir selbst gesagt, dass ich mit Leuten aus der Industrie zusammenkommen soll, und das habe ich auch getan! Ich hasse dich, wenn du dich so aufführst!«
Rice griff nach ihrem Handgelenk, aber sie schlug seine Hand beiseite und wich zurück, bis sie an die Wand stieß und die einzige Richtung, in die sie gehen konnte, vorwärts in seine Arme war. Die Ellbogen an sich gedrückt, ließ sie sich von ihm umarmen und das Haar streicheln. »Ganz ruhig, Babe«, gurrte er, »ganz ruhig. In ein paar Tagen bin ich wieder draußen und klemme mich hinter deine Videos. Ich werde es schaffen. Wir werden es schaffen.«
Um ihr Gesicht zu sehen, senkte Rice die Arme und trat zurück. Als sie die Augen zu ihm hob, sah er, dass sie wie die alte Anne Atwater Vanderlinden aussah, nicht wie die Frau, die er formte und die er liebte. »Wie denn, Duane?«, sagte sie. »Du kannst keine Autos mehr stehlen. Mit einem Job bei Midas Muffler?«
Rice ließ die hässlichen Worte zwischen ihnen im Raum stehen. Vandy ging an ihm vorbei und hob ihr Täschchen vom Boden auf. Dann drehte sie sich zu ihm um und sagte: »Die ganze Sache war nicht fair. Ich habe mich mit Leuten angefreundet, die mir helfen können, und ich habe es verdient, mir ab und zu ein bisschen die Nase zu pudern, wenn ich grad will. Dieser Selbstbeherrschungstrip von dir ist wirklich verklemmt. Verklemmte Leute bringen’s zu nichts in der Branche.«
Es klopfte an die Tür, und Meyers streckte seinen Kopf herein und sagte: »Ich störe euch nur äußerst ungern, aber der Watch Commander hat seinen Rundgang begonnen, und ich denke nicht, dass er Vandy hier einen Anwalt abkaufen wird.«
Rice nickte, ging dann auf Vandy zu und drückte ihr Kinn nach oben, sodass sie ihm in die Augen sah. »Geh zurück in unsere Bude, Babe. Versuch clean zu bleiben, und ich sehe dich dann am 30.« Er beugte sich nach vorn und küsste sie auf den Haarscheitel. »Und unterschätze mich niemals«, sagte Rice.
Meyers erwartete ihn auf dem Gang. Er tippelte mit dem Schlagstock an sein Bein. »Hör zu. Nummer acht macht Aufstand. Er hat auf seine Matratze geschissen und Essen an die Wände geschmiert. Du gehst und verpasst ihm ein paar Dinger mit dem Klopper, während ich solange dein Mädchen runterbringe. Wenn du ihn befriedigt hast, komm zurück ins Büro, und wir tun ein bisschen Finger zählen.«
Rice griff sich den Knüppel und ging mit großen Schritten den Gang hinunter. Er konzentrierte sich auf das Lärmwirrwarr, das die Bekloppten veranstalteten, um die Bilder von Vandys Niedergang aus seinem Kopf zu bannen, und wünschte, dass das Gebrabbel und Gebrüll ihn so tief verschlang, bis alle seine Sinne betäubt waren. Während er mit dem Klopper härter und härter in seine Handfläche drosch, ging er durch die offene Vorderseite von A-8 und wunderte sich, warum denn das Licht aus war. Er wollte gerade Meyers zurufen, er solle doch bitte den Strom andrehen, als sich die Tür hinter ihm schloss. Die Dunkelheit verstärkte sich noch, und der Lärm der Bekloppten hörte auf, brach dann von Neuem los. Rice brüllte: »Verflucht, Gordon, schließ Nummer acht auf!«, und warf dann einen kurzen Blick in die Zelle. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, sah er, dass die Zelle leer war. Er donnerte den Knüppel mit voller Wucht gegen die Gitter; einmal, zweimal, dreimal; er hoffte, den Bekloppten Angst einzujagen, damit sie zumindest kurzzeitig Ruhe gaben. Das Krachen von Metall auf Metall drang auf ihn ein, und die Wucht seiner Schläge ließ Schockwellen durch seinen ganzen Körper laufen. Ein gedämpftes Raunen ging durch den Zellblock, gefolgt von Meyers hämischem Lachen und den Worten: »Hab ich dir doch gesagt, dass ich’s draufhabe.«
Als ihm die Bedeutung der Worte voll aufging, prügelte Rice mit dem Knüppel auf die Wand los, vier Schläge auf einmal, und im Nachhall des Lärms hörte er höllisches Geflüster:
»Es ist echter pharmazeutischer Stoff, Baby!«; »Duane hätte es sicher nicht gern, wenn ich …« »Komm schon, Süße, man muss Feste feiern, wie sie fallen.« Als die Stimmen zu Gekichere degenerierten, intensivierte er sein Gedresche, bis die Holzverkleidung aufsprang und die Bekloppten im Einklang mit seinen Schlägen schrien. Dann brachen auf einmal Stücke des Putzes herunter, in seine Augen und in seinen Mund, und sein Kopf begann sich zu drehen. Er ergab sich der Asphyxation und fiel nach hinten in völlige Stille.
Ein abgetrennter Arm, der Blut quer über eine Windschutzscheibe verspritzte; die Sauna in Hollywood Y. Rice kam zu sich mit einem Klingeln in den Ohren und einem verschwommenen roten Vorhang vor seinen Augen. Er registrierte auf der Stelle die Bandage in der Ellbogenbeuge und die Streckpolsterung, die ihn umgab. Kirre gemacht, weil er A-8 zerstört hatte, weil Gordon –
Rice hielt die Luft an, bis er das Bewusstsein verlor, mit dem letzten, halb wachen Gedanken, das Zeug herauszuschlafen und dann abzurechnen.
Er schlief; erwachte; schlief. Stolpernde Abstecher zur Toilette, unberührte Essenstabletts und immer dichter werdende Bartstoppeln kennzeichneten, wie er zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit hin und her trieb. Schwach wusste er, dass sein Entlassungstermin immer näher rückte und die Bullen ihn in Ruhe ließen, weil sie Schiss vor ihm hatten. Aber Vandy … Nein. Wieder und wieder stürzte er sich in Selbstasphyxation.
Schließlich schüttelte der Hunger ihn vollends wach. Er zählte zwölf Tabletts mit abgestandenen Sandwiches und schloss, dass sein Prolixinschuss vier Tage angehalten hatte, was bedeutete, dass er in vier Tagen auf freiem Fuß war.
Heißhungrig aß er, bis er sich erbrach. In dieser Nacht kam ein mexikanischer Deputy zu ihm in die Zelle, um ihm ein frisches Tablett zu bringen, und erzählte ihm, dass er sich im Isolierblock der Krankenstation befand, zwischen dem Irrentrakt und dem Hochsicherheitstrakt, und dass er in zwei Tagen entlassen wurde. Der Wärter trug einen Partyhut aus Pappe. Rice fragte ihn, warum. »Der Nachtschichtler im Irrentrakt hat grad seinen Abschied genommen«, sagte er. »Der Watch Commander hat ihm zu Ehren eine Party geschmissen.«
Rice nickte. Es konnte einfach nicht passiert sein. Vandy hätte sich niemals von einem Laumann wie Meyers anfassen lassen. Aber als der Wärter ging, kamen die Zweifel zurück. Er versuchte sich zum Schlafen zu zwingen, aber es klappte nicht. Der obere Rand seines Blickfeldes wurde auf einmal rot.
Stundenlange Liegestütz- und Klappmesserübungen riefen eine Ermüdung hervor, die sich rein und unchemisch anfühlte. Rice sackte wieder weg und erwachte dann von Neuem, als er gedämpfte Stimmen hörte, die von irgendwoher außerhalb seiner Zelle kamen.
Er folgte den Stimmen bis zu einem vergitterten Lüftungsschacht neben der Toilette. Als er durch den Gitterrost hindurchlinste, sah er zwei Paar Beine in Jeans einander gegenüberstehen. Die weißen Streifen entlang der Hosennähte verrieten es eindeutig – er blickte in eine Zelle des Hochsicherheitstraktes.
Gelächter, dann verschaffte sich eine tiefe Stimme Gehör, und ihre Worte hallten klar verständlich durch den Schacht.
»Neulich hab ich von einem absolut traumhaften Ding gehört, von so ’nem Schwarzen in Folsom. Er und sein Partner wollten’s machen, da haben sie ihn wegen eines Überfalls auf einen Schnapsladen hopsgenommen. Er war ein wahrlich schlauer Nigger. Er hatte sie niedergeschrieben, die ganze Sache.«
Eine andere weichere Stimme: »Schlauer Nigger ist ein Widerspruch in sich selbst.«
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