In der Tiefe der Nacht - James Ellroy - E-Book

In der Tiefe der Nacht E-Book

James Ellroy

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Beschreibung

»Ellroy ist der wohl wahnsinnigste unter den lebenden Dichtern und Triebtätern der amerikanischen Literatur.« Süddeutsche Zeitung Lloyd Hopkins, der Sergeant mit den ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden, stößt bei seinen Untersuchungen in einem rätselhaften Mordfall auf den Mediziner Dr. John Havilland. Dieser ist nicht nur ein genialer Arzt, sondern auch ein brutaler Mörder …

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In der Tiefe der Nacht

Der Autor

James Ellroy, 1948 in Los Angeles geboren, lernte die dunkle Seite der amerikanischen Gesellschaft sehr früh kennen. Als Jugendlicher geriet er aus der Bahn und konnte sich erst durchs Schreiben wieder fangen. Mit »Die schwarze Dahlie« gelang ihm der internationale Durchbruch. Heute gilt er als einer der wichtigsten literarischen amerikanischen Autoren.Von James Ellroy sind in unserem Hause bereits erschienen: Blut auf dem Mond · Blut will fließen · Blutschatten · Browns Grabgesang · Crime Wave · Der Hilliker-Fluch · Die Rothaarige · Die schwarze Dahlie · Ein amerikanischer Albtraum · Ein amerikanischer Thriller · Endstation Leichenschauhaus · Heimlich · Hollywood, Nachtstücke · Hügel der Selbstmörder · L.A. Confidential · L.A. Noir · Perfidia · Stiller Schrecken · White Jazz

Das Buch

»Willst du jenseits des Äußersten gehen? Willst du durch die grüne Tür?« Wenn Dr. John Havilland seinen Patienten diese Frage stellt, geschieht in Los Angeles Grausames. Denn der Psychiater führt ein Doppelleben: Er ist zugleich genialer Arzt und brutaler Mörder, der als Dr. John the Night Tripper willige Jünger für seinen privaten Rachefeldzug rekrutiert. Als Sergeant Lloyd Hopkins vom Los Angeles Police Department einen rätselhaften Dreifachmord untersuchen soll, stößt er erstmals auf die Spur des verbrecherischen Arztes. Für Hopkins beginnt damit ein wahrer Albtraum …

James Ellroy

In der Tiefe der Nacht

Die Lloyd-Hopkins-Trilogie, Band 2

Roman

Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2019© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019© 2003 für die deutsche Ausgabe by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG© 1987 für die deutsche Ausgabe by Verlag Ullstein GmbH & Co. KG, Berlin© 1984 by James EllroyTitel der amerikanischen Originalausgabe: Because the NightUmschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: getty images / © Ted Thai E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-1845-5

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

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Cover

Titelseite

Inhalt

1

Motto

Muss flüssiges Feuer mir untertan machen,Erstürmen die Städte menschlicher Sehnsucht.

W. H. Auden

1

Der Schnapsladen stand am Ende einer langgestreckten Front von Neonlichtern, wo der Hollywood Freeway den Sunset Boulevard schneidet, an der Trennlinie zwischen hellen Lichtern und der Dunkelheit der Wohnbezirke.

Der Mann mit dem gelben Toyota stieß neben der Auffahrt ins Gebüsch, drehte das Lenkrad zur Straße hin und riss mit derselben fließenden Bewegung den Handbremshebel hoch. Er nahm einen großkalibrigen Revolver aus dem Handschuhfach und steckte ihn so in eine zusammengefaltete Zeitung, dass Griff und Abzugbügel herausragten; dann drehte er den Zündschlüssel auf Parken und öffnete die Wagentür. Flach atmend, wisperte er: »Jenseits des Äußersten«, und er ging auf die blinkende Leuchtschrift des Schnapsladens zu, hinweg über die Grenzlinie zwischen seinem alten Leben der Angst und seinem neuen Leben der Macht.

Als er durch die offene Tür trat, sah der Mann hinter der Theke seine teure Sportkleidung und das zusammengefaltete Wall Street Journal und kam zu dem Schluss, dass er ein Klasse-Scotch-Käufer sei – mindestens Chivas oder Walker Black. Er wollte eben fragen, ob er behilflich sein könne, als der Kunde sich über die Theke lehnte, ihm die Zeitung gegen die Brust hielt und sagte: »Einundvierzig Special. Probier’s nicht aus. Gib mir das Geld.«

Der Ladenbesitzer gehorchte, den Blick auf die Registrier­kasse gesenkt, um zu vermeiden, dass er sich das Gesicht des Räubers einprägte und ihm Grund gäbe, ihn zu erschießen. Er fühlte den Finger des Mannes am Abzug, und aus den Augenwinkeln sah er den Schatten seines Kopfes durch den Laden kreisen, während er mit ungeschickten Fingern das Geld in eine Papiertüte stopfte. Er wollte aufblicken, als er hinter sich, in der Nähe des Kühlschrankes, ein Schluchzen hörte; gleich darauf spannte der Räuber seinen Revolver. Als der Schnapsverkäufer dann den Kopf hob, war das Wall Street Journal verschwunden, ein dicker schwarzer Lauf senkte sich, und dann knackte es hinter seinem Ohr, und er hatte Blut in den Augen.

Der Räuber flankte über die Theke und zerrte den um sich schlagenden und tretenden Mann in den hinteren Teil des Ladens. Dann näherte er sich langsam und vorsichtig der Pappdeckel-Bierreklame neben der Kühltheke. Er trat den Reklameständer beiseite und sah eine junge Frau in einer blauen Jacke, die sich hinter einen alten Mann im Overall duckte.

Der Räuber schwankte auf seinen Beinen; nichts von dem, was ihm beigebracht worden war, hatte ihn darauf vorbereitet, dass es drei sein könnten. Sein Blick huschte hin und her zwischen den beiden wimmernden Gestalten vor ihm und dem Verkäufer zur Linken, und er suchte nach einem neutralen Standpunkt, wo er erkennen könnte, was zu tun war. Ziellos schaute er im Laden umher, er sah geometrisch aufgestapelte Flaschen, Regale mit Fertigmahlzeiten, Pappsilhouetten von Bikinimädchen, die Rum-Punsch und Spanada tranken. Nichts.

Ein Schrei quoll in seiner Kehle auf, als er den beigefarbenen Vorhang sah, der den Laden von der Wohnung dahinter trennte. Als ein Windstoß den Vorhang kräuselte, schrie er wirklich – er sah, wie die Falten des Baumwollstoffs die Form von Gittern und Henkerschlingen annahmen.

Da wusste er es.

Er riss das Mädchen und den Alten hoch und stieß sie zum Vorhang. Zitternd blieben sie davor stehen, und er schleifte den Verkäufer heran und postierte ihn daneben. Er murmelte: »Grüne Tür, grüne Tür«, maß fünf Schritte ab, wirbelte herum und feuerte drei perfekte Kopfschüsse ab. Der grauenhafte beigefarbene Vorhang explodierte hellrot.

2

Detective Sergeant Lloyd Hopkins starrte seinen besten Freund und Mentor Captain Arthur Peltz, genannt Dutch, über den Schreibtisch hinweg an und fragte sich, wann dieser Holländer seine Vorreden beenden und endlich verraten würde, weshalb er ihn hergerufen hatte. Von der Football-Liga des Los Angeles Police Department bis zu den neuesten Raubmeldungen hatten sie jetzt alles durchgekaut. Lloyd wusste, dass Dutch, seit Janice und die Mädchen ihn verlassen hatten, nach Gesprächseröffnungen suchen musste – er schaffte es nie, geradeheraus zu sagen, was er wollte. Bisher hatte stets der familiäre Hintergrund als Eisbrecher dienen können, aber jetzt, da Lloyd keine Familie mehr hatte, brauchte Dutch Gemeinplätze, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Lloyd wurde ungeduldig und schämte sich dessen; er schaute zum Fenster hinaus, wo die Nachtschicht die schwarz-weißen Streifenwagen aufheulen ließ, und sagte: »Du hast was, Dutch. Sag mir, was es ist, und ich helfe dir.«

Dutch legte die Buchstütze aus Quarz, mit der er gespielt hatte, aus der Hand. »Jungle Jack Herzog. Klingelt’s?«

Lloyd schüttelte den Kopf. »Nein.«

Dutch reichte ihm einen braunen Pappdeckelordner und sagte: »Officer Jacob Herzog. Vierunddreißig. Seit dreizehn Jahren dabei. Ein vorbildlicher Cop mit unglaublichem Mumm. Sah aus wie ein Schluck Wasser, aber drückte zweihundertfünfzig im Liegen. Hat bei der Metropolitan Police gearbeitet, als V-Mann bei der nachrichtendienstlichen Abteilung, und als Leihgabe der Sitte solo in jedem Revier der Stadt. Drei Belobigungen wegen Tapferkeit. Bekannt als ›Der Alchimist‹, weil er wirklich alles nachmachen konnte. Er konnte ein alter Krüppel sein, ein betrunkener Ledernacken, ein Schwuler, ein Motorradrocker – was du willst.«

Lloyds Blick wurde bohrend. »Und?«

»Und er wird seit drei Wochen vermisst. Erinnerst du dich an Marty Bergen? Den ›alten Angsthasen‹?«

»Ich weiß, dass zwei Bimbos seinen Partner mit ’ner Schrotflinte mitten durchgeschossen haben, und dass Bergen daraufhin die Waffe wegwarf und türmte wie der Blitz. Ich weiß, dass er wegen Feigheit im Feuer ein Verfahren bekam und dass er aus dem Department flog. Ich weiß, dass er ein paar Shortstorys veröffentlicht hatte, als er noch im Streifendienst war, und dass er im Big Orange Insider Anti-Bullen-Scheiße am laufenden Meter absondert, seit er gefeuert wurde. Was hat er damit zu tun?«

Dutch deutete auf die Akte. »Bergen war Herzogs bester Freund. Herzog hat bei dem Verfahren für ihn ausgesagt, mächtig rumgestänkert und das Department herausgefordert, ihn doch auch gleich mitzufeuern. Der Chief selber ließ ihn von der Straße nehmen und ihm irgendeinen Schreibtischjob in der City zuteilen – Personalakten verwalten. Aber Jungle Jack war zu gut, als dass man ihn auf die Weide hätte schicken können. Er hat dann als Undercover-Mann gearbeitet, angefordert von der Hälfte aller Sittenchefs auf dieser Seite des Berges. In den letzten zwei Monaten war er hier in Hollywood; Walt Perkins hat ihn geholt und Cash aus seinem Informantenfonds bezahlt, damit er ihm hilft, Verstöße gegen das Alkoholgesetz zu verfolgen. Jack fasste die Typen auf frischer Tat, während Walts Leute nicht mal mehr einen Fuß in die Tür setzen konnten, ohne erkannt zu werden.«

Lloyd nahm die Akte und schob sie in seine Jacke. »Vermisstenanzeige? Familie? Freunde?«

»Alles negativ, Lloyd. Herzog war ein steinharter Einzelgänger. Keine Familie außer seinem alten Vater. Sein Hauswirt hat ihn seit über einem Monat nicht gesehen, und er hat sich weder hier noch auf seinem Job in der Personalabteilung in der City gezeigt.«

»Schnaps? Drogen? Weiber?«

Dutch seufzte. »Ich würde sagen, er war das, was man einen asketischen Intellektuellen nennt. Und das Department scheint sich nicht drum zu kümmern – Walt und ich sind die ersten, die überhaupt bemerkt haben, dass er nicht da ist. Seit Bergen gefeuert wurde, lief er mit ’nem mürrischen Dickschädel rum.«

Lloyd seufzte zurück. »Du sprichst in der Vergangenheitsform von ihm, Dutchman. Glaubst du, Herzog ist tot?«

»Yeah. Du nicht?«

Lloyds Antwort wurde von Gebrüll im darunterliegenden Bereitschaftsraum unterbrochen. Man hörte Schritte im Gang, und ein paar Sekunden später schob ein uniformierter Cop den Kopf durch die Tür. »Schnapsladen Ecke Sunset und Wilton, Skipper. Drei Leute erschossen.«

Lloyd fühlte ein Kribbeln, und sein Körper wurde abwechselnd heiß und kalt. »Bin schon unterwegs«, sagte er.

3

Der Mann im gelben Toyota bog von der Topanga Canyon Road ab und fuhr auf dem Pacific Coast Highway nach Norden; an den Ampeln trödelte er herum, damit er pünktlich mit der Dämmerung am Strandhaus des Doctors einträfe. Wie immer verschaffte ihm das schwindende Tageslicht Erleichterung, das Gefühl, einen weiteren Spießrutenlauf siegreich hinter sich gebracht zu haben. Mit der Dunkelheit kam der Lohn dafür, dass er der unentbehrliche rechte Arm des Doctors war, der einzige Mensch außer dem Night Tripper, der wusste, in welchem Maße seine lonelies angezapft, geleert, gemolken, ausgebeutet werden konnten.

Der Frühling war ein süßer Feind, dachte er. Qualvoll lange Perioden des Sonnenscheins waren zu überwinden, Durststrecken, die das Hereinbrechen der Nacht umso befriedigender werden ließen. An diesem Morgen war er schon bei Sonnenaufgang aufgestanden und hatte sich acht Stunden lang ans Telefon gehängt, um die Namen aus den Freierlisten, die der Doctor von seinen Hurenpatientinnen hatte, auf ihren Kredit zu überprüfen. Ein ausgefüllter Tag, und hoffentlich lag ein ebenso ausgefüllter Abend vor ihm: seine erste Gruppensitzung, seit er drei Leute zum Totentanz geführt hatte, und später vielleicht noch ein Trip durch die Single-Bars der South Bay, um neue reiche lonelies aufzutreiben.

Das Timing des Mannes war perfekt: Er verließ den Pacific Coast Highway und fuhr die Zufahrtsstraße hinunter, als die Einleitungsmusik des Doctors über den Parkplatz wehte. Sechs Autos – sechs lonelies: ein volles Haus. Er würde sich jetzt beeilen müssen, in den Lautsprecherraum zu kommen, ehe der Night Tripper ungeduldig wurde.

Der Mann betrat das Haus; er ignorierte das Barockquartett, dessen Musik über die Zentrallautsprecher ertönte. Er begab sich in einen kleinen, rechteckigen Raum, der mit schallschluckenden Platten ausgekleidet war. Darin stand ein Hauptaufnahmepult mit sechs Lautsprechern – einem für jedes der Schlafzimmer im Obergeschoss, mit Mikrofonanschlüssen für jeden Kanal und sechs Kopfhörern und einem enormen Tapedeck mit Zwölf-Zoll-Spulen, mit dem man die Aktivitäten in allen Schlafzimmern auf einen einzigen Knopfdruck hin aufzeichnen konnte.

Er machte sich an die Arbeit; zuerst schaltete er den Verstärker ein, dann schob er die Lautstärkeregler für alle sechs Boxen gleichzeitig hoch. Eine Kakofonie von Gesängen bohrte sich in seine Ohren, und er zog die Regler herunter. Die lonelies waren noch dabei, ihre Mantras zu brüllen, und brachten sich damit allmählich in den tranceähnlichen Zustand, der notwendig war, damit der Doctor mit seiner Beratung beginnen könnte. Der Mann zog Notizbuch und Stift hervor, machte es sich vor dem Aufnahmepult in einem Ledersessel bequem und wartete darauf, dass die roten Lampen am Verstärker zu blinken anfingen und ihm so das Zeichen gaben, zuzuhören, aufzuzeichnen und seine Bewertung als Dr. John Havillands leitender Mitarbeiter abzugeben.

Seit zwei Jahren arbeitete er in dieser Position; zwei Jahre verbrachte er jetzt damit, Los Angeles auf der Jagd nach menschlicher Beute zu durchstreifen. Der Doctor hatte ihn gelehrt, seine eigenen zwanghaften Triebe zu beherrschen, und zum Ausgleich für diesen Dienst war er zu dem Werkzeug geworden, das Havillands eigene Obsession verwirklichen half.

Der Doctor hatte ihm erklärt, eine »Bewusstseins-Implosion« sei an die Stelle der »Bewusstseins-Explosion« der sechziger Jahre getreten und habe dazu geführt, dass eine große Zahl von Menschen sowohl dem amerikanischen Evangelium von Heim, Herd und Vaterland als auch den Offenbarungen der Gegenkultur aus den Sechzigern den Rücken kehrten. Drei ausbeutbare Fakten waren geblieben: eines, das der naiven präsechziger Psyche entstammte, zwei, die zur angeödeten postsechziger Psyche gehörten – Gott, Sex und Drogen. Bei den richtigen Leuten würden die Variationsmöglichkeiten zu diesen drei Themen grenzenlos sein.

Seine Aufgabe war es, die richtigen Leute zu finden. Havilland beschrieb seine typische Schachfigur so: »Weiß, männlich oder weiblich, Kind reicher Eltern, das sich nie anpassen und nie erwachsen werden konnte; schwächlich, ängstlich, von tödlicher Langeweile erfüllt, ziellos, aber mit einer Neigung zum Mystizismus. Sie sollten entweder verwaist und von einem Legat oder einer Kapitalrente leben, oder sie sollten sich mit der Familie ernsthaft entzweit haben und mit regelmäßigen Geldanweisungen unterstützt werden. Sie sollten sich dem Konzept des ›Spirituellen Meisters‹ bereitwillig öffnen, ohne auch nur zu ahnen, dass sie in Wirklichkeit nur jemanden haben wollen, der ihnen sagt, was sie tun sollen. Sie sollten Rauschgift lieben und über eine ausgeprägte Sexualität verfügen. Sie sollten sich selbst für Rebellen halten, sollten aber ihr rebellisches Empfinden stets nur durch schüchterne Beteiligung an Massenbewegungen ausgelebt haben. Finde solche Leute für mich. Es wird leichter sein, als du glaubst, denn während du nach ihnen suchst, werden sie nach mir suchen.«

Die Suche führte ihn in Single-Bars, Selbstfindungs-Workshops, in die Ashrams eines halben Dutzends von Gurus sowie in Vortragsveranstaltungen zu allen möglichen Themen, von der sozialen Mobilisation der Neuen Linken bis zu makrobiotischem Hebammentum, und dabei fand er sechs Personen, die Havillands Kriterien in jedem Punkt entsprachen und mit Haut und Haaren auf sein Charisma hereinfielen. Nebenher leistete er dem Doctor noch andere Dienste. Er brach in die Wohnungen der regulären Patienten ein, fahndete nach Informationen, die zur Rekrutierung weiterer lonelies führen würden, setzte Sex-Anzeigen in die Untergrundblätter, mit denen er reiche alte Leute suchte, an die er die lonelies verkuppeln könnte, plante die Übungssitzungen und führte die mit komplizierten Querverweisen ausgefüllten Akten.

Er war mit dem Doctor vorangeschritten, unentbehrlich als Beschaffer menschlichen Tons. Bald würde Havilland sein ehrgeizigstes Projekt in Angriff nehmen, und zwar mit ihm an seiner Seite. Gestern Abend hatte er glanzvoll bewiesen, was in ihm steckte.

Aber die Kopfschmerzen …

Das Licht über Lautsprecher Nummer eins blinkte auf und veranlasste den Mann, seinen Stift fallen zu lassen und nach dem Kopfhörer zu greifen. Er hatte sie eben aufgesetzt und eingestöpselt, als er hörte, wie der Doctor hustete – das Zeichen für ihn, aufmerksam zuzuhören und alles zu notieren, was ungewöhnlich oder besonders brauchbar erschiene.

Zuerst kam ein Schwall von Freundlichkeiten, gefolgt von den Lobeshymnen der beiden lonelies über die Ausstattung des Raumes. Der Mann hörte, wie der Doctor mit bescheidenem Naserümpfen über die Rokoko-Gobelins hinwegging und seinen beiden Schützlingen versicherte, dass sie ein Geburtsrecht auf eine solche Umgebung hätten.

»Kommen Sie zur Sache, Doc«, knurrte der Mann am Tonbandgerät.

Wie zur Antwort sagte der Doctor: »Aber jetzt Schluss mit dem leichten Geplauder. Wir sind hier, um das Prosaische zu durchbrechen, nicht, um darin verhaftet zu bleiben. Wie ist es in eurem Haushalt in Santa Barbara gegangen? Habt ihr etwas über euch gelernt? Irgendwelche Dämonen ausgetrieben?«

Eine sanfte Männerstimme antwortete. Der Mann erkannte sie sofort und erinnerte sich an die Rekrutierung: eine Schwulenbar in West Hollywood; ein rundlicher Angestellter, dessen wachsame Haltung fast wie eine Neonleuchtschrift verkündet hatte: »Verschreckter Anfänger auf der Suche nach sexueller Identität.« Ihn zu verführen war einfach gewesen, und der Verführte hatte allen Kriterien des Doctors entsprochen.

»Wir haben das Koks benutzt, um es in Gang zu bringen«, erzählte die sanfte Stimme. »Unser Klient war alt und scheute sich, seinen Körper zur Schau zu stellen, aber das Koks brachte seine Säfte in Wallung, und –«

»Ich habe den alten Knacker in Wallung gebracht«, unterbrach eine Frauenstimme. »Er hatte sich nicht mal bis auf die Unterhose ausgezogen, als ich ihm schon zwischen die Beine griff. Er wollte, dass die Frau die Führung übernahm – das spürte ich gleich, als wir drin waren und ich all die Fantasy-Kunst an den Wänden sah, Amazonen mit Ketten und Peitschen und dieser ganze Scheißdreck. Er –«

Die sanfte Männerstimme nahm einen jammernden Tonfall an. »Ich habe die Einleitung genossen! Der Doctor hat gesagt, wir sollten es langsam angehen; der Kerl war ja nicht vorbereitet. Wir hatten ihn aus den Sex-Anzeigen, und der Doctor hat gesagt –«

»Blödsinn!« kläffte die Frau. »Du wolltest bloß selber koksen, und du wolltest, dass der Alte dich mochte, weil du derjenige mit dem Stoff warst, und wenn wir es auf deine Weise durchgezogen hätten, dann wäre das ganze eine Kokain-Teestunde geworden.«

Der Mann legte seinen Stift aus der Hand, als der Angestelltentyp anfing zu blubbern. Nach kurzem Schweigen flüsterte der Doctor: »Pst, Billy. Pst. Geh hinaus und setz dich in den Gang. Ich möchte mit Jane allein sprechen.«

Man hörte Schritte auf dem Holzboden und wütendes Türenknallen. Der Mann lächelte in der freudigen Erwartung auf einen exquisiten Havilland-Auftritt. Als die Stimme des Doctors aus dem Lautsprecher kam, griff er beinahe liebevoll genüsslich zu seinem Stift.

»Du lässt dich von deinem Zorn leiten, Jane.«

»Ich weiß, Doctor«, sagte die Frau.

»Deine Macht besteht darin, ihn umsichtig einzusetzen.«

»Ich weiß.«

»War der Auftrag eine Erfüllung für dich?«

»Ja. Ich entschied mich für Sex und brachte sie dazu, es zu mögen.«

»Aber danach hattest du ein hohles Gefühl?«

»Ja und nein. Ich war befriedigt, aber Billy und der alte Mann waren so schwach!«

»Psst, Janey. Du verdienst es, mit stärkeren Egos zu verkehren. Ich werde ein Auge auf die hochklassigen Anzeigen haben. Wir werden ein paar streitsüchtige Intellektuelle für dich finden, mit denen du deine Kräfte messen kannst.«

»Und einen Partner mit Mumm?«

»Nein. Beim nächsten Mal gehst du solo.«

Der Mann hörte, dass Jane vor Dankbarkeit weinte. Angewidert den Kopf schüttelnd, hörte er, wie der Doctor zum Gnadenstoß ansetzte: »Er hat die vollen fünftausend gezahlt?«

»Ja, Doctor.«

»Hast du dir mit deiner Prämie etwas Hübsches gegönnt?«

»Ich hab’ mir einen Pullover gekauft.«

»Du hättest großzügiger sein können.«

»Ich – ich wollte, dass Sie das Geld bekommen, Doctor. Ich habe den Pullover nur als symbolischen Lohn für diesen Auftrag genommen.«

»Danke, Jane. Sonst ist alles in Ordnung? Hast du deine Angst-Mantras gesagt? Das Programm befolgt?«

»Ja, Doctor.«

»Gut. Dann lass das Geld bei mir. Ich rufe dich irgendwann in dieser Woche an der Telefonzelle an.«

»Ja, Doctor.«

Die Abschiedslaute zwangen den Mann, sich mit seinen Notizen zu beeilen. Wie auf ein Stichwort hin klatschte der Doctor in die Hände und sagte: »Himmel, was für ein hässliches Geschöpf. Lautsprecher drei, Goff. Effizienztraining.«

Goff schob den Stecker in Lautsprecher drei und drückte auf den Aufnahme-Knopf. Als das Tonband sich drehte, ging er auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, um zuzuschauen. Dies würde seine erste Probenbeobachtung sein, seit er sein »Jenseits« zur Hölle geschossen hatte, und er musste sehen, wie weit der Night Tripper seine Rekruten bringen würde. Nur einer von ihnen war fähig, eine so extreme Entwicklung wie er selbst zu erreichen, und alle seine Instinkte sagten ihm, dass Havilland im Begriff war, ihn jetzt dorthin zu drängen.

Goff irrte sich. Als er durch den Türspalt spähte, sah er den Professor und den Bücherwurm auf Gymnastikmatten vor dem Spiegel knien, der die gesamte westliche Wand bedeckte. Ihre Hände waren wie zum Gebet gefaltet, und Havilland stand bei ihnen und murmelte ermutigende Worte. Billy Boy und die Lesbe hatten ihre Beratung schon hinter sich; das hieß, dass der Doctor die scharfe Rote und den echten Psychopathen für zuletzt auf sparte.

Goff presste sich an die Wand und starrte in das Zimmer, als die beiden Männer auf den Matten ihre Unterhemden auszogen und anfingen, ihre Angst-Mantras zu brüllen. »Patria infinitum patria infinitum patria infinitum patria infinitum patria infinitum.« Bei jeder Wiederholung hämmerten sie sich mit der Hand gegen die Brust, jedes Mal heftiger, und ihr Gebrüll wurde mit jedem Schlag lauter. Die ganze Zeit über behielten sie Augenkontakt mit ihren Spiegelbildern, ohne zu zucken, auch als sich an ihren Oberkörpern blutunterlaufene Schwellungen entwickelten.

Goff schaute auf den Sekundenzeiger seiner Uhr. Eine Minute. Zwei. Drei. Er dachte schon, die Schreier müssten jeden Augenblick zusammenbrechen, als er das Wort »Stopp!« hörte.

Havilland kniete auf der Matte nieder, den beiden Männern gegenüber. Goff beobachtete, wie ihre Blicke vom Spiegel zu den Augen des Doctors wanderten. Sie streckten ihre rechten Arme aus und ballten die Fäuste. Havilland griff in die Tasche seines Laborkittels und holte eine Einwegspritze und ein paar Wattetupfer heraus. Die erste Injektion bekam der Bücherwurm; dann wischte er die Nadel ab, und der Professor war als nächster an der Reihe. Die beiden lonelies schwankten auf den Knien, aber sie hielten sich aufrecht.

Der Doctor stand auf, lächelte und sagte: »Denkt an nichts als Effizienz. Robert, du hast einen Auftrag in einem sehr reichen Haus. Ein älteres Ehepaar, Mann und Frau, lechzt nach deinen Freundlichkeiten. Das Telefon klingelt. Beide gehen hin. Wohin gehst du?«

Robert stammelte. »I-ins B-badadezimmer? Nach Drogen suchen?«

Havilland schüttelte den Kopf. »Nein. Du hast den Kopf voller Drogen; da liegt deine Schwäche. Monte, was würdest du tun?«

Monte wischte sich den Schweiß von der Brust und verrenkte sich, um sich im Spiegel anzustarren. »Ich würde mich fragen, was an diesem Anruf so verdammt wichtig sein kann, dass sie beide zum Telefon rennen mussten, vor allem, wenn ich da bin, um sie aufzugeilen. Also würde ich zu einem Nebenanschluss gehen und den Hörer genau gleichzeitig mit dem alten Wichser abnehmen, und dann würde ich zuhören, um festzustellen, ob das Gespräch irgendwelche bemerkenswerten Informationen enthält.«

Havilland lächelte. »Bravo.« Er schlug Monte ins Gesicht und flüsterte: »Bravo – aber du musst mich immer ansehen, wenn du mir antwortest. Wenn du dich selbst ansiehst, bekommst du das Gefühl, du könntest unabhängig denken. Begreifst du, welcher Irrtum darin liegt?«

Monte senkte den Blick; dann schaute er wieder auf und sah Havilland in die Augen. »Ja, Doctor.«

»Gut. Robert. Eine hypothetische Frage für dich. Denke effizient, und antworte mir offen. Mein Vorrat an legal erworbenen pharmazeutischen Drogen geht zu Ende, weil einem neuen Gesetz zufolge Hypnotika und dergleichen nur noch an Krankenhausärzte ausgegeben werden dürfen. Du hast großes Verlangen danach und begreifst, dass sie es sind, was dir in meiner Obhut hier am besten gefällt. Was tust du?«

Der Bücherwurm sann über die Frage nach, und sein Blick huschte zwischen dem Spiegel und dem Doctor hin und her. Goff grinste, als ihm klar wurde, dass der Doctor den beiden eine Ladung Pentothal verpasst hatte.

Schließlich wisperte Robert: »Das würde Ihnen nie passieren. Es könnte einfach nicht sein.«

Havilland legte Robert die Hände auf die Schultern und drückte sie sanft. »Die perfekte Antwort. Monte hätte eine intellektuelle Analyse angestellt, aber deine Antwort ist reine Offenheit aus reinem Herzen. Und natürlich hattest du recht. Ich möchte, dass ihr beide jetzt eure Mantras singt. Haltet Augenkontakt mit euch selbst, aber denkt an mich.«

Als Havilland auf die Tür zukam, sprang Goff die Treppe hinunter und zurück in den Lautsprecherraum. Er spulte das Band vom Effizienztraining zurück und steckte die Spule in einen großen braunen Umschlag. Dann schloss er den Kopfhörer an die mittlere Box an, und augenblicklich hörte er männlich/weibliches Sexualgegrunze, das in ersticktes Stöhnen und kindisches Kichern überging. Das Kichern verwandelte sich in ein schrilles Raucherkeuchen, und Goff musste selber lachen. Es war die enge kleine Rote, die er im Lingerie-Klub aufgelesen hatte und die ihn mit ihren Kundalini-Yoga-Stellungen fertiggemacht hatte. Er hatte von Glück sagen können, dass er lebendig aus ihrer Wohnung in den Bunker Hill Towers entkommen war.

Der Doctor sprach als Erster. »Bravo. Bravo.« Seine monotone Stimme stürzte die Frau in neuerliche Lachkrämpfe. Der Mann, mit dem sie sich gepaart hatte, mühte sich noch immer, wieder zu Atem zu kommen. Goff hatte den Eindruck, er müsse am Rande eines Herzanfalls auf dem Bett liegen.

Wieder sprach der Doctor. »Später, Helen. Ich möchte den Puls des Opfers kontrollieren. Es kann sein, dass du diesmal zu weit gegangen bist.«

»Jenseits des Äußersten«, sagte Helen. »Ist das nicht unser Motto, Doctor?«

»Touché«, antwortete der Doctor. »Ich rufe dich am Donnerstag an.«

Klein Helen schlüpfte munter zur Tür hinaus, und danach war es fünf Minuten lang völlig still. Goffs Eingeweide krampften sich zusammen. Er wusste, dass der männliche Liebhaber da oben ein echter Psychopath war und dass der Night Tripper dabei war, ihn einen großen Schritt näher an den Rand zu führen. Daher kamen das Klirren von Glas und der Strom von Obszönitäten im Kielwasser der Stille nicht unerwartet, ebenso wenig wie die fürsorglichen Worte des Doctors. »Es ist gut, Richard, es ist alles gut. Manchmal bedeutet Jenseits des Äußersten auch Hass. Zuerst musst du dies als Wirklichkeit akzeptieren, und dann musst du dich hindurcharbeiten. Du kannst dich nicht für das, was du bist, hassen. Im Grunde bist du gut und stark, denn sonst wärest du jetzt nicht bei mir. Du hast einfach zufällig eine ungewöhnlich hohe Gewaltschwelle zu überwinden, um zu deinem Selbstsein zu finden.«

Thomas Goff versank in die Erinnerung daran, wie er Richard Oldfield rekrutiert hatte; angefangen hatte es mit der verkrüppelten Hure, die täglich für dreihundert Dollar Koks verbrauchte. Sie war ihm in »Plato’s Retreat West« über den Weg gelaufen und hatte ihm von einem Börsenmakler/Bodybuilder/Scheckempfänger erzählt, der ihr fünf Hunderter pro Nummer zahlte, um sie zu verprügeln, weil sie solche Ähnlichkeit mit der Gouvernante hatte, die ihn als Kind gequält hatte. Der Kontakt im Fitness-Center hatte die Wucht eines Albtraums gehabt: Oldfield sah Goff so ähnlich, dass man ihn für seinen Zwillingsbruder hätte halten können, und er stemmte vierhundert Pfund. Aber der Bodybuilder hatte vor den Manipulationen des Doctors kapituliert wie ein Säugling, der an die Titten seiner Mutter will.

Wieder splitterte Glas. Oldfield weinte. Goff hörte, wie Havilland abwechselnd ein Liedchen pfiff und murmelte: »Na, na.« Er wusste, dass der Umschwung bevorstand.

Er kam in Gestalt einer Ohrfeige, deren Klatschen den Lautsprecher mit statischem Knistern erfüllte. »Du Schwächling«, zischte Dr. Havilland. »Du mickriger Poseur. Du speichelleckender Hurenbock. Ich besorge dir den besten Fick in unserem Programm, verspreche dir, dich zu führen, wohin dein Pipi-Gewissen dich niemals gehen lassen würde, und dafür schlägst du hier die Fenster ein und flennst.«

»Doctor, bitte«, wimmerte Richard Oldfield.

»Bitte was, Richard?«

»Bi- – Sie wissen …«

»Du musst es sagen.«

»Bi-bitte bringen Sie mich so weit, wie ich gehen kann.«

Der Doctor seufzte. »Bald, Richard. Ich werde eine große Menge von Informationen sammeln, und dabei sollte eigentlich der Name einer Frau herauskommen, die für dich geeignet ist. Denke daran, wenn du deine Angst-Mantras sagst.«

»Danke, Dr. John.«

»Danke mir nicht, Richard. Deine grünen Türen sind meine grünen Türen. Geh jetzt nach Hause. Ich bin müde, und ich werde die Gruppe heute früh heimschicken.«

Goff hörte, wie der Doctor Oldfield zur Tür brachte. Das Tonband nahm rauschende Stille auf. Der leitende Assistent des Night Trippers stellte sich vor, dass die Stille von ruhenden Albträumen in Gestalt von kühlen braunen Umschlägen bewohnt sei, aus denen Daten hervorquollen, die menschliche Wesen in Schachfiguren verwandeln würden. Der Alchimist und die sechs Opfer waren nur der Anfang. Eine Reihe von Havillands Slogans ließ Goff den Kopfschmerz, der hinter einem beigefarbenen Vorhang in seinem Schädel brannte, schaudernd zurückdrängen. Gestern Abend. Drei. Was, wenn die Datenbewahrer sich nicht kaufen ließen? Der Kopfschmerz drang pochend durch den Vorhang, ein hungriger Wurm, der sein Gehirn auffraß.

Im Obergeschoss wurden Türen geschlagen. Auf Perioden der Stille folgten die stolpernden Abgänge der lonelies. Mercedes und Audis rollten hinaus zum Pacific Coast Highway, dann war es wieder still. Plötzlich hatte Goff Angst.

»Schlimme Gedanken, Thomas?«

Goff fuhr in seinem Sessel herum und warf seinen Stenoblock auf den Boden. Er blickte auf in die hellbraunen Augen von Dr. John Havilland, verankerte seinen Blick in ihnen, genau wie der Doktor es ihn gelehrt hatte. »Bloß Gedanken, Doctor.«

»Gut. Die Zeitungen sind voll von dir. Was ist es für ein Gefühl?«

»Ein dunkles und ruhiges Gefühl.«

»Gut. Beunruhigen dich die Spekulationen über einen psychopathischen Killen?«

»Nein. Sie amüsieren mich, weil sie so weit von der Wahrheit entfernt sind.«

»Du musstest drei ausschalten?«

»Ja. Ich – ich erinnerte mich an Ihr Effizienztraining. Es – es kann sein, dass ich es noch einmal tun muss.«

»Die Waffe war kalt? Man kann sie nicht zurückverfolgen?«

»Eiskalt. Ich habe sie gestohlen.« »Gut. Was machen die Kopfschmerzen?«

»Es geht. Ich singe, wenn sie wirklich schlimm werden.«

»Gut. Wenn du wieder verschwommen siehst, komm sofort zu mir. Ich gebe dir eine Spritze. Träume?«

»Manchmal träume ich vom Alchimisten. Er war gut, nicht wahr?«

»Er war ausgezeichnet, Thomas. Aber er ist fort. Ich habe ihn vom Antlitz der Erde verjagt.«

Havilland reichte Goff einen Zettel. »Sie ist eine reguläre Patientin – hat in der Praxis telefonisch einen Termin vereinbart. Ich habe mich bei einigen Mädchen aus der Szene nach ihr erkundigt. Sie kostet tausend Dollar pro Nacht. Sieh dir ihr Freierbuch an – wer sich sie leisten kann, kann sich auch uns leisten.«

Goff warf einen Blick auf den Zettel: Linda Wilhite, 9819 Wilshire Blvd, 91 W. Er lächelte. »Das Haus macht keine Mühe. Ich war schon mal drin.«

Havilland lächelte zurück. »Gut, Thomas. Fahr jetzt nach Hause und genieße deine Träume.«

»Woher wissen Sie, dass ich sie genießen werde?«

»Ich kenne deine Träume. Ich habe sie gemacht.« Goff sah dem Doctor nach, der sich abwandte und auf die Pergolaterrasse hinausging, von der aus man einen Blick auf den Strand hatte. Er ließ den letzten Satz des Doctors in seinen Gedanken nachklingen; dann stellte er die Aufnahmegeräte ab und ging hinaus zu seinem Wagen. Er wollte die Zündung einschalten, als er das Bündel ausgestopftes Plastik auf der Ablage über dem Armaturenbrett erblickte. Er packte es und schrie, denn er wusste, es war beigefarbenes Plastik, und das bedeutete, dass er es wusste.

Goff riss den Plastikmüllsack in Fetzen und schlug dann mit den Fäusten gegen das Armaturenbrett, bis der Schmerz das Schreien in seinem Kopf betäubte. Als er die Scheinwerfer einschaltete, sah er, dass etwas Weißes unter dem Scheibenwischer klemmte. Er stieg aus und sah nach, was es war. Eine geprägte Visitenkarte von Dr. med. John R. Havilland, Facharzt für Psychiatrie, starrte ihn an. Er drehte die Karte um. Auf der Rückseite, in säuberlichen Druckbuchstaben, standen die Worte: Ich kenne deine Albträume.

4

Nachdem er sechsunddreißig Stunden nonstop an dem Schnapsladen-Fall gearbeitet hatte, schlief Lloyd Hopkins in seinem Zimmerchen im Parker Center ein und träumte von Vernichtung. Geräuschwellen bombardierten ihn, Raubvögel attackierten den absichtsvoll verriegelten Teil seines Gehirns, in dem der Mann, den er bei den Watts-Unruhen getötet hatte, und der Mann, den er letztes Jahr zu töten versucht hatte, wohnten. Die Vögel rissen scharfkantige Löcher in den Himmel und ließen blutrote Kristalle hereinrieseln. Als er erwachte, knüppelte er die Bilder mit ruhigen Stilleben von Janice und den Mädchen in San Francisco nieder und wartete darauf, dass die Zeit diese Wunde heilte oder die Trennung bekräftigte. Dann übernahm die Erinnerung an das Schnapsgeschäft/Schlachthaus das Kommando und drängte die Liebe zur Familie zurück ins Sicherheitsabteil zu den Albträumen. Lloyd war erleichtert.

Der Todesschauplatz expandierte in seinem Kopf, von den Kreide-Rastern der Spurensicherung überzogen. Abseits, zur Linken, stand eine offene Registrierkasse, eine mit Zehnern und Zwanzigern übersäte Theke, und überall auf den unteren Regalen waren zerbrochene Flaschen. Absatzspuren, wo der Besitzer zur Hinrichtung geschleift worden war. Im Raster zur Rechten lag ein umgekippter Reklameständer aus Pappe, Absatzspuren markierten die Stelle, wo die beiden anderen Opfer sich vermutlich vor dem Mörder versteckt hatten. Mitten durch das Raster zog sich eine dunkelrote Bahn in das Hinterzimmer des Ladens, und drei Leichen lagen verdreht auf einem ehedem beigefarbenen Vorhang, der von der Wucht dreier .41er Hohlspitzgeschosse, die drei Schädeldecken durchschlagen hatten, aus dem Türrahmen gerissen worden war. Erkennbare Flugbahn- oder Spritzrichtungen gab es nicht; zerplatztes Gehirn und Knochensplitter hatten den ganzen kleinen Lagerraum in ein Schlachthaus verwandelt.

Lloyd schüttelte sich, um vollends wach zu werden, und dachte: Ein Psychopath. Kommt in den Laden, zieht eine monströse Handflak und verlangt das Geld. Dann sieht oder hört er etwas und flippt aus. Wutentbrannt hüpft er über die Theke, zerrt den Besitzer an den Haaren zur Türöffnung. Das Mädchen und der Alte verraten sich. Er wirft den Pappständer um und lässt sie vor dem Vorhang antreten. Dort macht er sie hin, mit drei Dumdums aus einem vorderlastigen Schießeisen mit monströsem Rückstoß, und lässt das Geld auf der Theke liegen. Ein Vulkan mit Eiswasser-Einspritzpumpe.

Lloyd stand auf und reckte sich. Er fühlte, wie die letzten Reste von Schlaf verwehten, ging den Gang hinunter zur Toilette und blieb vor dem Waschbecken stehen. Abwechselnd starrte er sein Spiegelbild an und ließ sich kaltes Wasser über das Gesicht laufen. Er ignorierte das Gesumm der zum Frühdienst eintrudelnden Officers, die um ihn herum verhalten lachten und alberten, und für einen Sekundenbruchteil war ihm bewusst, dass sie ihre Stimme dämpften, weil sie Respekt vor seinem Ruf und vor seiner wohlbekannten Abneigung gegen allen Lärm hatten. Seine Wut steigerte sich immer mehr, und er definierte den Killer mit selbstgerechten Cop-Schmähungen: Psychopathische Sackratte. Umlegen, bevor er ein zweites Mal ausrastet.

Die ersten sechsunddreißig Stunden der Ermittlungen hatte er damit verbracht, nachzudenken und Computerprints hinterherzujagen. Er hatte gesehen, dass vor dem Schnapsladen das Parken verboten war und dass dieses Parkverbot für den ganzen Block galt; daraufhin hatte Lloyd die Theorie entwickelt, der Mörder sei entweder zu Fuß gekommen oder habe in den Büschen neben der Auffahrt zum Freeway geparkt. Die zweite These hatte sich als zutreffend erwiesen – unter den Leuchtstoff-Bogenlampen hatte die Spurensicherung frische Reifenabdrücke im weichen Boden und winzige gelbe Lackspuren an den Spitzen abgebrochener Zweige gefunden. Vier Stunden später hatte das Labor des Los Angeles Police Department die Farbanalysen abgeschlossen und auch bekanntgegeben, was die Gipsabdrücke der Reifenspuren, die von der Spurensicherung angefertigt worden waren, hergegeben hatten: Der Wagen war ein japanisches Importfahrzeug, ein neues Modell; die Farbe war ein Standardprodukt, das in allen japanischen Automobilfabriken verwendet wurde; die Reifen waren zur Serienausstattung gehörende Radialreifen, die ausschließlich bei japanischen Automarken Verwendung fanden. Eine Computerüberprüfung der in letzter Zeit verübten bewaffneten Raubüberfälle und Morde ergab, dass keine gelben japanischen Importfahrzeuge auf die Namen überführter und in Freiheit befindlicher Räuber oder Mörder zugelassen waren und dass innerhalb des vergangenen Jahres auch kein solches Fahrzeug bei einem Raubüberfall oder Mord eine Rolle gespielt hatte. Die frustrierendste Information kam von der kalifornischen Kraftfahrzeugzulassungsbehörde: In Los Angeles County waren 311 819 gelbe japanische Autos der Baujahre ’11 bis ’84 registriert, wodurch eine konzertierte Überprüfung auf das Vorhandensein von Strafregistern im Zusammenhang mit diesen Wagen eine verwaltungstechnische Unmöglichkeit wurde. Selbst die »Heiße Liste« von L. A. County ergab null Komma nichts: Insgesamt acht gelbe Toyotas, Subaras und Hondas waren in den vergangenen sechs Wochen als gestohlen gemeldet worden, und alle acht waren wieder aufgetaucht. Der Wagen führte in eine Sackgasse.

Damit blieb die Waffe.

Für Lloyd stand bereits fest, was in dem noch ausstehenden Bericht über die Fingerabdrücke stehen würde: Schmierspuren, Verwischungen, Teilabdrücke und bestenfalls ein paar vollständige von den dort ansässigen Suffköppen, die den Laden frequentierten. Sollten die drei Cops, die er mit Hintergrundermittlungen zur Person der drei Opfer beauftragt hatte, da nur auf eigene Faust losoperieren – die Fingerabdruck-Manie oder der »Drei töten, um einen zu erwischen«-Trick, dem er auf Anweisung seiner Vorgesetzten beim Raub/Mord-Dezernat sein besonderes Augenmerk widmen sollte, waren ebenso tote Hosen wie das Auto. Das sagte ihm jedes Gramm seines Instinkts, ebenso wie ihm jedes Gramm seines Instinkts sagte, was die Dreieinigkeit dieses Falles war: die Psychose des Killers, seine Coolness und seine Waffe.

Aus dem Bericht der ballistischen Untersuchung und dem Autopsieprotokoll sprach unverhohlenes Staunen. Henry McGuire, Wallace Chamales und Susan Wischer waren aus einer Entfernung von vier bis fünf Metern mit einem .41er Revolver erschossen worden. Alle drei Kugeln hatten genau zwischen die Augen getroffen. Der Mörder war ein Scharfschütze, die Waffe eine Anomalie. .41er Revolver waren älter als der Wilde Westen; sie waren schon vor dem Bürgerkrieg nicht mehr produziert worden. Sie waren zu unhandlich, zu schwer und besaßen eine ausgeprägte Neigung zur Ungenauigkeit. Die .41er Munition war noch schlimmer: Ob Hartkernoder Hohlspitzgeschosse, die unberechenbaren Explosionen vermochten einmal dem Schützen fast den Arm auszukugeln und ploppten dann beim nächsten Mal wie nasses Popcorn. Wer immer die drei Leute in dem Schnapsladen am Freeway erschossen hatte, hatte eine schwierig zu handhabende antike Schusswaffe mit antiker Munition beherrscht, und er hatte seine Meisterschaft in dieser Kunst in einer extremen Belastungssituation unter Beweis gestellt.

Lloyd starrte sein eigenes Spiegelbild noch eindringlicher an und überlegte, was er jetzt anfangen sollte, nachdem er sich bei jedem Polizeirevier in Kalifornien nach gestohlenen Waffen erkundigt und persönlich jeden Antikwaffenhändler im Branchenverzeichnis befragt hatte. Überall hatte er negative Antworten bekommen – keine .41er am Lager, keine gekauft. Wahrscheinlich würde es noch rund vierundzwanzig Stunden dauern, bis die Polizeireviere auf seine Anfrage antworteten. Der Papierkram war verdaut, die Fakten waren einsortiert. Jetzt konnte er nur noch warten.

Und Warten stand im Gegensatz zu seiner Natur. Lloyd kehrte zurück in sein Büro und starrte die Wände an. Schnappschüsse von seinen Töchtern umrahmten die zehn Meistgesuchten des FBI wie ein Sternenkranz. Eine mit Stecknadeln übersäte Karte von L. A. County zeigte, dass die Mordrate in Hollywood, South Central und East Valley anstieg. In dem Schnapsladen-Fall lag es nahe, jetzt bei der Kriminalpolizei in Hollywood nachzufragen, ob dort die Informanten irgendetwas angebracht hätten. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, seine Hirnsäfte ein wenig zu erhitzen, griff er nach der Akte, die Dutch Peltz ihm gegeben hatte, bevor die hektischen vierunddreißig Stunden begonnen hatten. Herzog, Jacob Michael,3.5.49, stand in Maschinenschrift auf dem braunen Deckel des Ordners, und darin befanden sich Fotokopien von Statistikformularen, Fitness-Reports, Belobigungsnotizen und ein Sammelsurium von Vermerken seiner Vorgesetzten. Lloyd betrachtete Herzog als einen Verstorbenen und die Akte als seine Grabschrift. Er zog sich einen Stuhl heran und las jedes Wort fünfmal.

Ein einzigartiger Mann kam zum Vorschein. Jungle Jack Herzog hatte einen Intelligenzquotienten von 137; mit knapper Not erreichte er die beim Los Angeles Police Department vorgeschriebene Mindestgröße und das Mindestgewicht. Geboren war er in Beirut im Libanon. Er sprach fließend drei Nahostsprachen; auf dem College hatte er gegen den Vietnamkrieg protestiert, bevor er dann zur National Air Guard gegangen war. Die Ausbildung an der Polizeiakademie hatte er als Zwölftbester seines Jahrgangs abgeschlossen, und er hatte Ehrenurkunden in Allgemeinbildung, Scharfschießen und Sport erhalten. In den ersten vier Jahren bei der Polizei hatte er in Wilshire Streifendienst geschoben und dann dort bei der Sitte gearbeitet. Seine Fitness-Zeugnisse waren erstklassig gewesen und hatten ihm das Lob aller seiner Vorgesetzten eingebracht – mit Ausnahme eines Lieutenants bei der Sitte, der ihn wieder in Uniform gesteckt hatte, weil Herzog sich geweigert hatte, sich in einer öffentlichen Toilette auf die Lauer zu legen, um dort Männer bei homosexuellen Handlungen zu ertappen. Derselbe Lieutenant hatte seine Kritik später widerrufen und beantragt, dass Herzog seine Leute darin unterwies, Wettbüros und Prostituierte zu überwachen, und zwar unter besonderer Berücksichtigung des Einsatzes von Verkleidungstechniken. Herzogs »Seminare« waren so erfolgreich gewesen, dass er schließlich den Status eines Beraters erlangt und die Zivilpolizisten der ganzen Stadt ausgebildet hatte; man hatte ihn auch da noch weiterhin angefordert, als er für vier beziehungsweise drei Jahre nach West L. A. und nach Venice versetzt worden war.

Jungle Jack wurde unter dem Namen »Alchimist« bekannt, ein Hinweis auf sein Talent, sich zu verwandeln und auf der Straße regelrecht unsichtbar zu machen. Zudem hatte er eine spektakuläre Tapferkeit an den Tag gelegt: Zweimal hatte er Geiselnahmen beendet – das erste Mal, indem er sich selbst dem Bewaffneten, der die Bar besetzt hatte, die er, Herzog, wegen möglicher Vorstöße gegen die Alkoholgesetze beobachtete, als Geisel anbot.

Der Bewaffnete hatte sich eine junge Prostituierte gegriffen und presste ihr ein Messer an die Kehle, während sein Komplize die Registrierkasse leerte und Börsen und Brieftaschen der Bargäste kassierte. Herzog, als betrunkener Krüppel verkleidet, forderte den Messermann heraus, das Mädchen laufen zu lassen und ihn an ihrer Stelle festzuhalten, er überschüttete ihn mit lautstarken Obszönitäten und schob sich näher und näher an den Gangster heran, dessen Messerklinge die Kehle des Mädchens bereits blutig ritzte. Als er bis auf einen halben Meter herangekommen war, stieß der Bewaffnete das Mädchen beiseite und wollte Herzog packen. Er schrie noch, als Jungle Jacks Ellbogen sich krachend in seine Luftröhre bohrte. Mit einem Karatehieb setzte Herzog den Mann vollends außer Gefecht und setzte dem Komplizen nach. Fünf Blocks weiter erwischte er ihn.

Die zweite Geiselnahme beendete er auf noch waghalsigere Weise. Ein Mann, der bei der örtlichen Polizei als gewohnheitsmäßiger PCP-User bekannt war, hatte ein kleines Mädchen in seine Gewalt gebracht und drohte, es zu erschießen. Eine Menschenmenge sammelte sich um ihn. Jack Herzog drängte sich in Uniform durch die Menge und ging auf den Mann zu. Der ließ das kleine Mädchen fallen und feuerte dreimal auf ihn. Die Schüsse gingen fehl, und Herzog blies dem Mann aus nächster Nähe das Gehirn aus dem Schädel.

Herzog hatte sich im Police Department einen Namen gemacht; immer häufiger wurde er von Sittendezernaten und den Chefs der zivilen Kriminalpolizei angefordert. Dann beging Sergeant Martin Bergen, Herzogs bester Freund, einen Akt der Feigheit, der ebenso bemerkenswert war wie Herzogs Tollkühnheiten. Ein Verfahren wurde eröffnet, und Herzog ging für seinen Freund von Pontius zu Pilatus, sprach jeden an, der ihm einen Gefallen schuldete, in der Hoffnung, dadurch Bergens Karriere retten zu können; er trat bei dem Verfahren als Leumundszeuge für seinen Freund auf und zog gegen die Heldenmentalität der Polizei als einer ihrer größten Helden zu Felde. Martin Bergen wurde unehrenhaft aus dem Polizeidienst entlassen und Herzog auf einen Schreibtischposten verbannt – eine nicht minder schmähliche Niederlage. Auch ein Held sollte den Bossen nicht ans Knie pissen.

Lloyd legte die Akte aus der Hand, als er merkte, dass ein Schatten über die Seiten fiel. Er blickte auf und sah, dass Officer Artie Cranfield vom Kriminallabor ihn anstarrte.

»Hallo, Lloyd. Wie ist die Lage?«

»Knifflig.«

»Du musst dich mal rasieren.«

»Weiß ich.«

»Was Neues in der Schnapsladen-Sache?«

»Nein. Ich warte auf ein paar Auskünfte. Schon mal von einem Cop namens Jungle Jack Herzog gehört?«

»Yeah. Wer kennt ihn nicht? Ein Revolvermann aus dem Bilderbuch.«

»Schon mal von einem Ex-Cop namens Marty Bergen gehört?«

»Was ist das hier – ein Ratespielchen? Jeder kennt den ›alten Angsthasen‹ und das Scheißhaus-Blättchen, für das er schreibt. Wieso?«

»Herzog und Bergen waren Kumpels. Mr Mumm und Mr Angsthase. Gefällt dir das?«

»Nicht besonders. Du siehst ziemlich verkniffen aus, Lloyd.«

»Wenn ich warte, fühle ich mich verkniffen. Wenn ich nicht schlafe, sehe ich verkniffen aus.«

»Gehst du nach Hause? Schlafen?«

»Nein. Ich gehe Mr Mumm suchen.«

Artie schüttelte den Kopf. »Bevor du gehst, musst du noch irgend ’ne Macho-Bemerkung über das Arschloch aus dem Schnapsladen machen.«

Lloyd grinste. »Wie wär’s damit: ›Sein Arsch ist das Gras, und ich bin der gottverdammte Rasenmäher‹?«

»Gefällt mir! Gefällt mir!«

»Hab’ ich mir gedacht.«

Lloyd fuhr zu Jack Herzogs letzter bekannter Adresse, einem Appart­ment­haus mit zwanzig Wohnungen auf der zum Tal gelegenen Seite der Hollywood Hills. Das pinkfarbene Stuckgebäude war von zwei Einkaufszentren eingerahmt, und der Eingangsflur beherbergte eine Videospielhalle. Ein Blick auf die Bewohnertafel ergab, dass Herzog in Appartement 423 wohnte. Lloyd stieg zu Fuß die vier Treppen hinauf und schaute im Korridor auf und ab, bevor er das Türschloss mit einer Kreditkarte auf drückte und die Tür von innen hinter sich schloss. Beinahe wäre er über den Berg der ungeöffneten Post auf dem Fußboden gestolpert.

Er knipste das Licht an und betrachtete das Erste, auf das sein Blick fiel: eine Trophäenvitrine voller Urkunden und Pokale. Die Tinte auf Herzogs Totenschein waren die weißen Scheuerpulverwischspuren auf allen hölzernen und gläsernen Flächen. Eine rasche Überprüfung des Appartements zeigte, dass die streifigen Scheuerpulverspuren jede glatte Fläche bedeckten, die Fingerabdrücke hätte enthalten können. Hier hatte ein gewissenhafter Profi gearbeitet.

Lloyd blätterte durch die Briefumschläge am Boden. Keine privaten Briefe oder Postkarten – nur Strom- und Wasserrechnungen und Reklamemüll. Er ließ den Blick durch das Wohnzimmer wandern, und was er sah, fügte sich zu einer unpersönlichen Unterkunft zusammen: keinerlei Bildschmuck, keine maskuline Unordnung, und die Möbel gehörten wahrscheinlich zum Mietvertrag. Die Urkunden und Pokale hatten das Aussehen von Erbstücken, und als Lloyd mit zusammengekniffenen Augen die auf ihnen eingeprägten Namen und Daten las, stellte er fest, dass es Renntrophäen waren, die Herzogs Vater gegen Ende der vierziger Jahre im Libanon gewonnen hatte.

Die Küche war noch spartanischer – Geschirr und Besteck waren säuberlich auf der Abtropfplatte gestapelt, und weder im Kühlschrank noch auf den Regalen fanden sich irgendwelche Lebensmittel. Nur das Schlafzimmer zeigte Spuren einer Persönlichkeit: Ein Schrank hing voll mit Polizeiuniformen und einem gewaltigen Vorrat an Zivilkleidern; alle denkbaren Outfits waren vorhanden, von der Jacke eines Lumpensammlers über Zuhälteranzüge mit breiten Revers bis zum Lederdress eines Motorradgangsters. Neben dem Bett stand ein hohes Regal voller Bücher. Lloyd überflog die Rückentitel. Es waren lauter Biografien, vor allem Lebensbeschreibungen von Generälen, Eroberern und religiösen Bilderstürmern. Ein komplettes Bord enthielt ausschließlich Werke über Richard Löwenherz und Martin Luther, ein anderes Bücher über Peter den Großen. Romantische Plünderer, Despoten und wahnsinnige Visionäre. Lloyd verspürte eine Welle der Zuneigung zu Jungle Jack Herzog.

Nachdem er einen Blick ins Bad geworfen hatte, suchte Lloyd das Telefon und rief Dutch Peltz auf dem Revier Hollywood an. Als Dutch sich meldete, sagte er: »Ich bin in Herzogs Bude. Hier hat ein Profi saubergemacht. Herzog kannst du endgültig streichen, aber sag’s noch nicht weiter. Okay?«

»Okay. Ist die Bude verwüstet worden?«

»Nein. Ich habe das Gefühl, der Mörder war nur vorsichtig. Wollte in jeder Hinsicht auf Nummer sicher gehen. Kannst du mir ein paar Gefallen tun?«

»Schieß los.«

»Wenn die Sitte da ist, frag Walt Perkins, in welchen Bars Herzog gearbeitet hat. Greif dir alle Berichte, die Herzog vielleicht eingereicht hat. Um Marty Bergen kümmere ich mich selber, und heute Abend komme ich noch mal her und frage Herzogs Nachbarn aus. Ich rufe dich dann gegen sieben zu Hause an.«

»Soll mir recht sein.«

»Ach, und – Dutch? Deine Jungs sollen ihre Informanten nach Antikwaffen-Fans ausfragen oder nach irgendwelchen Arschlöchern, die als gewalttätig bekannt sind und die in letzter Zeit angefangen haben, Schusswaffen zu tragen. Auch wenn es bloß Quatsch und Straßentratsch ist – ich will es wissen.«

»Du tappst im Dunkeln, Lloyd.«

»Ich weiß. Ich melde mich um sieben.«

Lloyd durchquerte Jungle Jack Herzogs öde Wohnung. Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, brummte er: »Du armes edles Arschloch – wieso musstest du dich so verdammt gründlich beweisen?«

Lloyd brauchte eine halbe Stunde, um nach West Hollywood in die Redaktion des Big Orange Insider zu fahren. Hitze, Smog und der fehlende Schlaf führten mit vereinten Kräften dazu, dass ein dröhnender Kopfschmerz den Asphalt vor seinen Augen verschwimmen ließ. Um dagegen anzukämpfen, kurbelte er das Fenster hoch und schaltete die Klimaanlage auf volle Kraft, und ihn schauderte, als ihn ein neuer Adrenalinstoß überkam. Zwei neue Fälle, hier drei Tote, da vermutlich einer. Keinen Schlaf für mindestens noch einmal zwölf Stunden.

Der Big Orange Insider hauste im ersten Stock eines Pseudo-Art-déco-Chateaus am San Vicente, einen Block südlich vom Sunset Boulevard. Lloyd trat ein und ging an der Rezeptionistin vorbei; er wusste, dass sie ihn als Cop erkannte und sofort in den Redakteursbüros anrufen würde, um die Leute vor dem nahenden Feind zu warnen. Er kam in einen großen, mit Schreibtischen vollgestopften Raum und grinste, als misstrauische Augen von den Schreibmaschinen aufblickten und ihn abschätzend musterten. Als die Blicke feindselig wurden, verneigte er sich und warf der versammelten Mannschaft eine Kusshand zu. Er fühlte sich wohler, als zwei Frauen zurückwinkten. Dann zupfte ihn jemand am Ärmel. Er drehte sich um. Dicht hinter ihm stand ein hochgewachsener junger Mann.

»Wer hat Sie nach hinten gelassen?«, wollte der junge Mann wissen.

»Niemand«, antwortete Lloyd.

»Sind Sie Polizist?«

»Ich bin ein Überläufer. Ich habe bei den Cops gekündigt und suche Asyl bei der freien Presse der Gegenkultur. Ich möchte meine Memoiren verkaufen. Bringen Sie mich zu Ihrem schlauesten Ghostwriter.«

»Sie haben dreißig Sekunden, um dieses Büro zu verlassen.«

Lloyd trat einen Schritt auf den jungen Mann zu. Der junge Mann wich zwei Schritte zurück. Lloyd sah die Angst in seinen Augen. »Scheiße«, sagte er. »Detective Sergeant Hopkins vom L. A. P. D. Ich möchte Marty Bergen sprechen. Sagen Sie ihm, es geht um Jack Herzog. Ich warte vorn am Empfang.«

Er ging zurück in den Eingangsraum. Die Frau, die dort am Schreibtisch saß, starrte ihn ausdruckslos an, und so vertrieb er sich die Zeit damit, die vergrößerten, gerahmten Leitartikel-Cartoons zu betrachten, die an allen vier Wänden hingen, boshafte Karikaturen, die das L. A. P. D. und den L. A. County Sheriff attackierten. Fette, schweinsgesichtige Polizisten, in die amerikanische Flagge gehüllt, piksten schlafende Betrunkene mit einem Dreizack; Chef Gates baumelte an Marionettenfäden, gehalten von zwei Männern in Ku-Klux-Klan-Gewändern. Wolfsgesichtige Bullen scheuchten schwarze Prostituierte in einen Polizeibus, während der Officer am Steuer an einer Schnapsflasche nuckelte; eine Sprechblase offenbarte seine Gedanken: »Wow! Bei der Polizei ist es aufregend! Ich hoffe bloß, die Bimbos haben Geld bei sich! Die Rate für meinen Wagen ist überfällig!«

»Ich gebe zu, es ist übertrieben.«

Lloyd drehte sich um, als er die Stimme hörte, und musterte offen den Mann, dem sie gehörte. Martin Bergen war über eins achtzig groß und blond, und sein einstmals kräftiger Körper wurde sichtbar schlaff. Sein rotes Gesicht war zu einem Ausdruck von unfroher Heiterkeit verzogen, und seine hellblauen Augen waren wässrig, aber ihr Blick war fest. Sein Atem bestand zu gleichen Teilen aus Whiskey und Pfefferminz-Mundwasser.

»Sie müssen es wissen. Sie waren – wie lange? Dreizehn oder vierzehn Jahre dabei?«

»Sechzehn, Hopkins. Und Sie?«

»Achtzehneinhalb.«

»Und bei zwanzig ist Schluss?«

»Nein.«

»Verstehe. Was ist mit Jack Herzog?«

Lloyd trat zurück, um die Reaktion des ganzen Körpers übersehen zu können. »Herzog ist seit über drei Wochen verschwunden. Seine Bude ist gesäubert worden. Er hat in der Personalverwaltung in der City gearbeitet und war an die Sitte Hollywood ausgeliehen. Weder im Parker Center noch im Revier Hollywood hat ihn jemand gesehen. Was schließen Sie daraus?«

Marty Bergen begann zu zittern. Sein rotes Gesicht wurde bleich, und seine Finger zupften an seinen Hosenbeinen. Er wich rückwärts zurück bis an die Wand und fiel auf einen stählernen Klappstuhl. Die Frau am Empfang brachte ein Glas Wasser, zögerte und verschwand in der Damentoilette, als sie sah, dass Lloyd den Kopf schüttelte.

Lloyd setzte sich auf einen Stuhl neben Bergen und fragte: »Wann haben Sie Herzog zuletzt gesehen?«

Bergens Stimme klang ruhig. »Vor ungefähr einem Monat. Wir haben uns immer noch getroffen; Jack hat mir nicht vorgeworfen, was ich getan habe. Er wusste, dass wir uns in dieser Hinsicht unterschieden. Er hat mich nicht verurteilt.«

»In welcher geistigen Verfassung war er?«

»Ruhig. Nein – ruhig war er immer, aber in letzter Zeit war er launisch: Gerade noch fröhlich, und im nächsten Moment down.«

»Worüber haben Sie gesprochen?«

»Alles Mögliche. Scheiß. Bücher hauptsächlich. Über meinen Roman – den, an dem ich gerade schreibe.«

»Haben Sie mit Herzog über seine Aufträge gesprochen?«

»Über Polizeiangelegenheiten haben wir nie gesprochen.«

»Ich habe gehört, Herzog sei ein eingefleischter Einzelgänger gewesen. Würden Sie das auch sagen?«

»Ja.«

»Können Sie mir andere Freunde nennen, die er hatte?«

»Nein.«

»Frauen.«

»Er hatte eine Freundin, mit der er sich gelegentlich traf. Ich weiß nicht, wie sie heißt.«

Lloyd lehnte sich zu Bergen hinüber. »Was ist mit Feinden? Was ist mit Leuten bei der Polizei, die ihn hassten, weil er zu Ihnen gestanden hat, wie er es getan hat? Sie kennen die Mentalität des Durchschnittsbullen so gut wie ich. Herzog muss bei einigen Ärgernis erregt haben.«

»Der Einzige, bei dem er Ärgernis erregt hat, war ich. Er war so viel besser in allen Dingen als ich, dass ich ihn immer am meisten liebte, wenn ich ihn am meisten hasste. Wir waren so – so verschieden. Als wir das letzte Mal miteinander redeten, sagte Jack, er werde meine Unschuld beweisen. Aber ich bin abgehauen. Ich bin schuldig.«

Bergen fing an zu schluchzen. Lloyd stand auf und ging zur Tür. Bevor er hinausging, sah er sich noch einmal nach dem Lohnschreiber um, der dort weinend unter den gerahmten Schmähungen dessen saß, was er einmal selbst gewesen war. Bergen verbüßte eine lebenslange Strafe, die ihm nicht erlassen werden konnte. Die Last dieses Gedankens ließ ihn schaudern.

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