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Zwei Kriminalromane vor der einzigartigen Kulisse der Insel Guernsey in einem E-Book!
Cyrus Doyle und der herzlose Tod.
Wilde Landschaft und grausame Morde. Nach zwanzig Jahren bei der London Metropolitan Police kehrt Detective Chief Inspector Cyrus Doyle in seine Heimat Guernsey zurück. Schon bei der Ankunft wartet eine große Aufgabe auf ihn: Auf der Insel hat es ein Unbekannter auf Polizisten abgesehen. Er tötet sie mit einem Pfeil in den Hals und schneidet ihnen das Herz heraus. Was hat das mit den alten Insellegenden – und mit seinem Vater, einer echten Polizeilegende, zu tun? Dann gerät Cyrus Doyle selbst ins Visier des Pfeilmörders ...
Cyrus Doyle und das letzte Vaterunser.
Chief Inspector Cyrus Doyle – charismatisch und eigenwillig. Cyrus Doyle wird auf der Straße von einem Fremden um Hilfe gebeten. Sein Sohn wurde wegen des Mordes an seiner Geliebten verhaftet – zu Unrecht, wie sein Vater glaubt. Als einige Leute Cyrus Doyle dazu bewegen wollen, den alten Fall nicht neu aufzurollen, wird er misstrauisch. Seine Nachforschungen führen ihn hinein in die Vergangenheit der Guernsey Police und decken jahrelang gehütete Geheimnisse auf. Bei den Ermittlungen steht ihm seine Kollegin Pat zur Seite – bis sie plötzlich spurlos verschwindet …
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Seitenzahl: 825
Zwei Kriminalromane vor der einzigartigen Kulisse Guernseys in einem E-Book.
Cyrus Doyle und der herzlose Tod:
Wilde Landschaft und grausame Morde. Nach zwanzig Jahren bei der London Metropolitan Police kehrt Detective Chief Inspector Cyrus Doyle in seine Heimat Guernsey zurück. Schon bei der Ankunft wartet eine große Aufgabe auf ihn: Auf der Insel hat es ein Unbekannter auf Polizisten abgesehen. Er tötet sie mit einem Pfeil in den Hals und schneidet ihnen das Herz heraus. Was hat das mit den alten Insellegenden – und mit seinem Vater, einer echten Polizeilegende, zu tun? Dann gerät Cyrus Doyle selbst ins Visier des Pfeilmörders …
Cyrus Doyle und das letzte Vaterunser:
Chief Inspector Cyrus Doyle – charismatisch und eigenwillig. Cyrus Doyle wird auf der Straße von einem Fremden um Hilfe gebeten. Sein Sohn wurde wegen des Mordes an seiner Geliebten verhaftet – zu Unrecht, wie sein Vater glaubt. Als einige Leute Cyrus Doyle dazu bewegen wollen, den alten Fall nicht neu aufzurollen, wird er misstrauisch. Seine Nachforschungen führen ihn hinein in die Vergangenheit der Guernsey Police und decken jahrelang gehütete Geheimnisse auf. Bei den Ermittlungen steht ihm seine Kollegin Pat zur Seite – bis sie plötzlich spurlos verschwindet …
Jan Lucas ist das Pseudonym eines Autors zahlreicher erfolgreicher historischer Romane und Thriller. Er lebt in Deutschland, hält sich aber immer wieder gern auf der Kanalinsel Guernsey auf.
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Jan Lucas
Cyrus Doyle und der herzlose Tod&Cyrus Doyle und das letzte Vaterunser
Zwei Kriminalromane in einem E-Book
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Cyrus Doyle und der herzlose Tod
Guernsey
Erster Tag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Zweiter Tag
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Dritter Tag
Kapitel 9
Kapitel 10
Vierter Tag
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Fünfter Tag
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Sechster Tag
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Siebter Tag
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Achter Tag
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Neunter Tag
Epilog
Cyrus Doyle und das letzte Vaterunser
Erster Tag: Dienstag, 14. Oktober
Kapitel 1
Zweiter Tag: Mittwoch, 15. Oktober
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Dritter Tag: Donnerstag, 16. Oktober
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Vierter Tag: Freitag, 17. Oktober
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Fünfter Tag: Samstag, 18. Oktober
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Drei Tage Später: Dienstag, 21. Oktober
Epilog
Impressum
Jan Lucas
Cyrus Doyle und der herzlose Tod
Kriminalroman
Für meine Eltern – danke für allesR.I.P.
Donnerstag, 28. August
Er blickte nach draußen, wo weiße Flecken ohne Zahl am Himmel tanzten. Ganze Scharen von Möwen zeichneten ein sich ständig veränderndes Muster in das Firmament aus kräftigem Blau, das die Insel überspannte wie ein unendlicher Baldachin. Ein Willkommensgruß für die Menschen auf der Fähre, die ihre Geschwindigkeit jetzt stark dosselte. Ein Gruß in einer fremden Sprache, die nur die Möwen verstanden. Schön und zugleich geheimnisvoll wie das Eiland, das sich mit seinen sanften grünen Hängen und den zerklüfteten felsigen Buchten aus den Fluten des Ärmelkanals reckte.
Der Anblick, den Guernsey den Passagieren des Schnellkatamarans bot, war malerisch, aber Cyrus Doyle starrte mit gemischten Gefühlen durch die großen, mit Gischt besprühten Fenster. Früher war er mit leichterem Herzen an den Ort seiner Kindheit und Jugend heimgekehrt – als jemand, der einen unbeschwerten Ausflug in seine Vergangenheit unternimmt, einen Urlaubstrip zu Familie und alten Freunden. Diesmal aber kam er, um zu bleiben, und statt eines unbeschwerten Urlaubs warteten ein neuer Lebensabschnitt und eine neue Verantwortung auf ihn. Viel hatte er dafür aufgegeben. Sein Leben in London. Und Carol. Er sah wieder ihr Gesicht vor sich, das ihn durchdringend anblickte, als er ihr seine Entscheidung mitteilte. Überrascht, enttäuscht, gekränkt. Sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass er sich für Guernsey entschied und nicht für sie. Wahrscheinlich hatte sie zum ersten Mal erlebt, dass ein Mann sie verließ und nicht umgekehrt.
Eine Meute Möwen stieß, wie auf einen geheimen Befehl, nach unten, dem Wasser und einer für Doyle unsichtbaren Beute entgegen, einem Schwarm Heringe oder Makrelen. Er dachte beim Anblick der Möwen daran, dass Weiß in einigen Kulturen die Farbe des Todes war und dass weiße Vögel dort als Todesboten galten. Und er dachte an den grausamen Mord, der eine Woche zuvor Guernsey erschüttert hatte.
Eine Lautsprecherdurchsage mit Hinweisen für die bevorstehende Ankunft in St. Peter Port riss Doyle aus den trüben Betrachtungen. Kein Grund zur Eile. Er hatte noch Zeit genug, um zu seinem Wagen zu gehen. Der Tamora stand nicht in der Parkzone mit den Fahrzeugen, deren Besitzer als Erste aufgefordert wurden, sich zum Verlassen der Fähre bereitzumachen. Er ignorierte die wachsende Unruhe der anderen Passagiere, die in Aufbruchsstimmung waren, und heftete seinen Blick erneut auf die Hauptstadt der Kanalinsel Guernsey, deren einzelne Gebäude immer deutlicher hervortraten.
Doyle kannte kein schöneres Stadtpanorama. Das im klaren Licht der Morgensonne blaugrün schimmernde Meer umspülte die Hafenanlagen mit ihren Fähren, Frachtschiffen und Hunderten von Yachten, die im Wasser schaukelten. Dem beständigen Strom von Autos direkt hinter den Kaimauern gelang es nicht, das Bild weniger pittoresk erscheinen zu lassen. Spaziergänger in leichter Sommerkleidung, trotz der frühen Stunde schon recht emsig unterwegs, schlenderten am Wasser entlang, blickten zu den kreisenden Möwen im fast wolkenlosen Augusthimmel auf oder betrachteten die Auslagen in den zahlreichen Schaufenstern der zum größten Teil noch geschlossenen Läden. Ganze Gruppen von Menschen strebten zu den Ablegeplätzen der Fähren, um einen Ausflug auf eine der kleineren Inseln zu unternehmen.
Auf dem sanft ansteigenden Grund von St. Peter Port reihte sich eine Häuserzeile an die nächste, und der Ort wirkte wie eine Stadt zur Zeit Königin Victorias. Er erspähte die weiße Fassade von Hauteville House, das einst Victor Hugo als Exil gedient hatte und heute ein dem Dichter gewidmetes Museum war. Gleich hinter dem Albert Pier und der großen Prince-Albert-Statue stand die aus grauem Inselgranit erbaute Town Church, die Stadtkirche. Jenseits der alten Kirche begann die High Street, die Haupteinkaufsstraße. Über achtzehntausend Menschen, mehr als ein Viertel der Inselbevölkerung, lebten in St. Peter Port. Der Tourismus und die von der günstigen Steuergesetzgebung angelockte Hochfinanz hatten Fischerei, Schmuggel, Seeräuberei und den alten Seehandel als Haupteinnahmequellen abgelöst. Dabei, schoss es Doyle durch den Kopf, hatten Steuerflüchtlinge und Banker doch eine Menge mit Schmugglern und Seeräubern gemeinsam.
Sein Blick wanderte nach links, wo der Castle Pier hinaus zur meerumbrandeten Burganlage von Castle Cornet führte. Erst im neunzehnten Jahrhundert hatte man diesen Pier gebaut, und bis dahin war die Burg trockenen Fußes nur mit dem Boot oder bei Niedrigwasser zu erreichen gewesen. Über Jahrhunderte ein uneinnehmbares Verteidigungsbollwerk, beherbergte Castle Cornet jetzt mehrere Museen, in denen man gut und gern einen ganzen Tag verbringen konnte. Als Schüler hatte er die Ausflüge dorthin nicht besonders gemocht, waren sie doch unweigerlich mit einem historischen Aufsatzthema verbunden gewesen, aber je älter er wurde, desto mehr faszinierte ihn die Geschichte seiner nur zweiundsechzig Quadratkilometer großen Heimatinsel. Sie lag irgendwo im Niemandsland – oder Niemandsmeer – zwischen England und Frankreich, näher an Frankreich, aber enger mit England verbunden und kulturell von beiden beeinflusst. Französische Namen und Bezeichnungen vermischten sich munter mit englischen, und oft waren sich selbst die Einheimischen – die Gurns – nicht über die richtige Aussprache einig.
Viele Touristen hielten Guernsey und die anderen Kanalinseln wegen der englischen Sprache und der Pfundwährung für einen Teil des Vereinigten Königreichs, aber das stimmte nicht. Sie waren direkter Besitz der britischen Krone mit eigener Gesetzgebung, und sie gehörten nicht einmal zur Europäischen Union. Besonders über Letzteres waren die Einheimischen froh, sonst wäre es mit dem Status als Steuerparadies und Duty-Free-Einkaufsoase sehr schnell vorbei gewesen.
Hinter dem Castle Cornet lag ein alter Tunnel, den man wegen Einsturzgefahr nicht vollendet hatte und in dem jetzt ein großes Aquarium die Touristen anlockte. Darüber, direkt an der Steilküste, erhob sich der klägliche Rest von Fort George, einer Verteidigungs- und Kasernenanlage aus der Zeit um 1800. Ein paar Mauerreste und Kanonen von der Clarence Battery und ein Militärfriedhof waren noch vorhanden, der Rest der alten Befestigung war schon vor mehr als fünfzig Jahren einer Wohnsiedlung für Wohlhabende gewichen: Engländer, die oft aus steuerlichen Gründen auf der Insel ein Refugium suchten. Doyle blinzelte zu den Villen hinüber, die sich über den begrünten Klippen ausbreiteten. Fünf Millionen Pfund war eins der Häuser inzwischen wert, mindestens. Eigentlich ein bisschen zu viel für einen Detective Chief Inspector der Guernsey Police. Der unglückselige Charlie Mourant hatte dort gewohnt, weil er die wohlhabende Tochter eines Londoner Geschäftsmanns geheiratet hatte. Sein Schwiegervater hatte sich stets sehr bedeckt darüber gehalten, mit welchen Geschäften er sein Vermögen erworben hatte.
Charlie hatte schon immer Schlag bei den Frauen gehabt, hatte schon ausgesehen wie George Clooney, als den noch kaum jemand kannte. Sein blendendes Erscheinungsbild und sein immenser Charme, den er nach Belieben anknipsen konnte, hatten es ihm bei Frauen wie bei Vorgesetzten stets leicht gemacht. Aber es stimmte nicht, dass Doyle die Insel verlassen hatte, weil er die Konkurrenz durch Charlie fürchtete. Das war nur ein Gerücht, von Lästermäulern in die Welt gesetzt, als Doyle vor zweiundzwanzig Jahren nach London gegangen war. Er war es einfach leid gewesen, bei seiner Arbeit als Polizist ständig mit seinem Vater verglichen zu werden. Der alte Leonard Doyle war so etwas wie eine Legende auf Guernsey, und mit Legenden – das war die Wahrheit – konnte man nicht konkurrieren. So war Cyrus Doyle bei der Londoner Metropolitan Police zum Detective Chief Inspector aufgestiegen und Charlie Mourant fast zeitgleich bei der Guernsey Police. Eine Frage, die Doyle sich in den letzten Tagen wieder und wieder gestellt hatte, drängte sich ihm erneut auf: Wenn er Charlies Posten innegehabt hätte, hätte man dann ihn statt Charlie auf brutale Weise abgeschlachtet aufgefunden, da oben auf den idyllischen Überresten von Fort George?
Gab es auf Guernsey, der Insel voller Mythen und Legenden, einen uralten heidnischen Schicksalsgott, der sich einen Spaß daraus machte, DCI Mourant zu töten und durch DCI Doyle zu ersetzen? Er versuchte, diesen Gedanken und das damit verbundene schlechte Gewissen zu verdrängen. Für Charlies Tod konnte er nichts – und doch zog er seinen Vorteil daraus. Der gesundheitliche Zustand seines Vaters, der sich seit dem Tod seiner Mutter dramatisch verschlechtert hatte, ließ Doyle keine andere Wahl, als nach Guernsey zurückzukehren. Jedenfalls sagte ihm das sein Gewissen. Auch wenn Carol natürlich recht damit hatte, dass es in London hervorragende Pflegeheime gab. Aber hieß es nicht, dass man alte Bäume nicht verpflanzen solle?
Also hatte er, als überraschend das Telefon klingelte und Colin Chadwick ihn fragte, ob er Charlie Mourants Nachfolge antreten wolle, ohne lange zu überlegen Ja gesagt. Seinen halbherzigen Einwand, die Metropolitan Police würde ihn kaum so kurzfristig aus dem Dienst entlassen, hatte Chadwick in seiner typisch selbstbewussten Art vom Tisch gewischt. »Das lassen Sie mich mal regeln, Cyrus.« Und Chadwick, der bis vor drei Jahren selbst bei der Met gewesen war und dort noch über gute Kontakte verfügte, hatte es geregelt.
Als der große Schnellkatamaran mit deutlich verminderter Geschwindigkeit nach rechts schwenkte und auf den Fährhafen zuhielt, verschwand der Ort, an dem man Charlie Mourant tot aufgefunden hatte, aus Doyles Sichtfeld. Er war darüber nicht unfroh, lehnte sich in dem wuchtigen Kunstledersitz zurück und schloss die Augen. Das dunkle Brummen der Schiffsmotoren und die Stimmen der Passagiere, die ungeduldig und viel zu früh zu den Ausgängen drängten, verschmolzen zu einem undeutlichen, einschläfernden Geräuschbrei. Die Stabilisatoren des Katamarans ließen das Anlegemanöver ähnlich ruhig ablaufen wie die gesamte Überfahrt. Während des Anlegens blieb er entspannt sitzen und wartete auf die Durchsage, die seinen Parkbereich aufrufen würde. Aber stattdessen rief eine dunkle Frauenstimme über das leicht blechern klingende Lautsprechersystem seinen Namen aus: »Mr Cyrus Doyle, bitte dringend zur Information! Mr Cyrus Doyle wird zur Information gebeten, es ist dringend!«
Doyle stemmte sich aus dem Kunstledermonstrum, wischte mit der flachen Hand kurz über seine müden Augen und setzte sich schwerfällig wie ein Roboter in einem alten Science-Fiction-Film in Bewegung. Ein beunruhigender Gedanke ging ihm durch den Kopf: Er war eingeschlafen und hatte überhört, dass man seinen Parkbereich aufgerufen hatte. Ein ungeduldiger Mitreisender, der nicht länger auf ihn warten wollte, hatte ein zu gewagtes Lenkmanöver versucht und dabei seinen Tamora gerammt. Verflucht, er hätte nicht die Augen schließen sollen!
»Ich bin Cyrus Doyle«, rief er, ehe er den Informationsschalter noch ganz erreicht hatte. »Was ist mit meinem Wagen?«
Die etwas zu stark geschminkte Stewardess legte ihre Stirn in Falten. »Ihr Wagen, Sir, wie meinen Sie?«
»Jetzt sagen Sie schon, wie schlimm ist der Schaden?« Doyle schob sich dicht an den Schalter und fixierte die Brünette mit seinem Polizistenblick. Es musste seinen geliebten Tamora wirklich schlimm erwischt haben, wenn sie so um den heißen Brei herumredete.
Nur kurz erlaubte sich die Stewardess einen zweifelnden Blick auf Doyle, dann sah sie wieder rein geschäftsmäßig drein und sagte in professionellem Ton: »Ich weiß leider nicht, was Sie meinen, Sir. Ich habe Sie ausgerufen, weil die Polizei Sie zu sprechen wünscht.«
»Die Polizei? Aber ich bin die Pol…«
»Dieser Herr hier ist von der Guernsey Police und hat mich gebeten, Sie auszurufen«, unterbrach ihn die nun leicht unwillig klingende Brünette und zeigte auf einen mittelgroßen Mann Anfang dreißig, der gut im Futter stand und dessen Jackett mindestens zwei Größen zu eng war.
»Detective Sergeant Baker«, stellte sich der Schwergewichtige mit ausgestreckter Hand vor. »Willkommen auf Guernsey, Sir.«
Doyle schüttelte ihm die Hand und stellte irritiert fest, dass plötzlich etwas am hinteren Glied seines Mittelfingers klebte, offenbar die Reste eines Schokoriegels. Er fischte sein Taschentuch hervor und säuberte die Hand. »Es ist sehr nett, dass Sie mich eigens haben ausrufen lassen, um mich auf Guernsey zu begrüßen. Allerdings bin ich nicht zum ersten Mal hier. Um genau zu sein, bin ich sogar hier geboren.«
Sergeant Baker nickte eifrig. »Das weiß ich, Sir, Sie sind der Sohn vom berühmten Leonard Doyle.«
Jetzt ging das schon wieder los.
»Ja«, seufzte Doyle, »der bin ich.«
»Ich bin nicht nur hier, um Sie zu begrüßen, Chief Inspector. Wir haben einen Einsatz, und ich soll Sie abholen, weil Sie telefonisch nicht zu erreichen waren.«
Doyle tastete zu dem Smartphone in seiner Jacketttasche und dachte an die Nachrichten, die Carol ihm in schneller Reihenfolge geschickt hatte. Du bist ein Narr. – Idiot. – Verräter. – Du läufst in dein Unglück, Dummkopf. – Komm zurück, sonst wirst du es bereuen. – Herzloser Egoist. Herzlos? Wenn ihn ein Vorwurf traf, dann dieser. Es war einfach das Gegenteil der Wahrheit. Als er genug von Carols Ergüssen gehabt hatte, hatte er das Gerät ganz ausgestellt.
Jetzt zog er es halb aus seiner Tasche.
»Muss wohl defekt sein. Aber ich verstehe nicht, was ich bei einem Einsatz soll. Mein Dienst bei der Guernsey Police beginnt am 1. September, also Montag.«
Baker setzte eine ratlose Miene auf.
»Keine Ahnung, Sir. Ich habe nur den Auftrag, Sie abzuholen.«
»Von wem? Von Chadwick?«
»Ich nehme an, dass der Befehl vom Chief Officer stammt. Aber ich habe meinen Auftrag von Inspector Holburn.«
Holburn? Doyle hatte auf Guernsey einst einen Randy Holburn gekannt, Sohn eines sehr erfolgreichen Bauunternehmers. Ein ungehobelter und unangenehmer Kerl, eher gebaut wie ein Bauarbeiter als ein Bauunternehmer. Doyle hatte immer geglaubt, Randy würde eines Tages die Firma seines Vaters übernehmen.
»Inspector Holburn ist Ihr direkter Vorgesetzter, Sergeant?«
»Ja, Chief Inspector.«
»Lautet Inspector Holburns Vorname Randy oder Randolph?«
»Nein, Chief Inspector.«
Weshalb grinste der dickliche Sergeant plötzlich so blöde? Egal, Doyle war erleichtert.
»Was ist jetzt mit diesem Einsatz, zu dem Sie mich holen sollen? Hoffentlich nicht schon wieder ein Mord?«
Baker räusperte sich. »Ich fürchte, doch.«
»Wer ist diesmal das Opfer?«
»Das wissen wir noch nicht. Ein älterer Mann jedenfalls.«
»Auf welche Weise ermordet?«
»Einen Pfeil in den Hals und dann …«
»Das Herz rausgeschnitten, wie bei DCI Mourant?«, fiel Doyle dem Sergeant ins Wort.
»Ja, Sir, genauso.«
Doyle bemerkte aus den Augenwinkeln, dass das Gesicht der Stewardess, die ihre Unterhaltung mitbekommen hatte, unter der dicken Schminkschicht erbleichte. Er konzentrierte sich wieder auf den Sergeant.
»Wo?«
»Nahe dem Klippenpfad beim alten La-Prevote-Wachturm.«
Doyle kannte den Turm. Er war Teil der deutschen Befestigungsanlagen aus dem Zweiten Weltkrieg, als die Kanalinseln von den Nazis besetzt gewesen waren.
»Als Kind bin ich mal mit Freunden in dem Turm herumgeklettert. Ein Special Constable hat uns erwischt. Mein Vater war darüber nicht gerade erbaut.«
»Kann ich mir vorstellen, Sir. Heute kommt man nicht mehr so leicht hinein. Eine Sicherheitstür.«
»La Prevote also, dann müssen wir über die halbe Insel fahren. Eigentlich hatte ich gleich zu meinem Vater gewollt.«
»Heißt das …«
»Nein, Sergeant, keine Angst, ich werde mir die Sache vor Ort ansehen. Ich weiß nur leider nicht, wann ich meinen Wagen von der Fähre bekomme.«
»Das macht nichts, Sir, Sie können mit mir fahren.«
»Und mein Wagen?«
»Wenn Sie den Schlüssel bei sich haben, wird ihn Detective Constable Allisette zu Ihnen nach Hause bringen.«
Baker zeigte dabei auf eine sommersprossige junge Frau, kaum älter als fünfundzwanzig, die bislang wie unbeteiligt in seiner Nähe gestanden hatte.
»Sie wollen meinen Tamora fahren?«, fragte Doyle mit einem plötzlichen Krächzen in der Stimme.
Vor seinem geistigen Auge sah er das Mädchen mit Höchstgeschwindigkeit über die engen Inselstraßen jagen. Das nächste Bild war ein verformter Klumpen blauen Metalls, der einmal sein TVR Tamora gewesen war.
Das sommersprossige junge Ding meldete sich zu Wort: »Ein Sportwagen? Sie fahren einen Roadster, Sir? Einen Tamora mit einem 3,6-Liter-Motor und dreihundertfünfzig PS?«
»Ja«, brachte Doyle nur hervor, erstaunt über ihr Fachwissen.
»Prima!«, strahlte Constable Allisette. »So ein Geschoss wollte ich schon immer mal fahren!« Sie streckte fordernd die rechte Hand aus. »Wenn ich um den Autoschlüssel bitten darf, Sir.«
Wie betäubt begleitete Doyle Sergeant Baker zu dessen Dienstwagen draußen auf dem Pier. Er hätte nicht zu sagen vermocht, was ihm den größeren Schock versetzt hatte: die Nachricht über einen zweiten Mord oder der Umstand, seinen geliebten Tamora in den Händen dieses … Mädchens zu wissen.
»Eins muss man dem Mörder lassen«, sagte Doyle, als er nahe dem La-Prevote-Turm aus Sergeant Bakers metallicsilbernem Škoda stieg. »Er hat Sinn für Kontraste. Blutige Morde an hinreißend-romantischen Schauplätzen, fast wie in einem Fernsehkrimi. Vorausgesetzt, der Fundort der Leiche ist identisch mit dem Tatort.«
»Vermutlich ist er das«, erwiderte der Sergeant. »Im ersten Fall war es jedenfalls so.«
»Dann glauben Sie, dass wir es mit ein und demselben Täter zu tun haben?«
»Sie etwa nicht, Sir?« Bakers rundes Kindergesicht verzog sich zu einer angewiderten Grimasse. »Wäre ich ein Nachahmer, ich würde mir nicht gerade einen Mord aussuchen, bei dem ich meinem Opfer das Herz rausschneiden muss.«
»Das ist ein Punkt für Sie, Baker«, sagte Doyle und versuchte, sich den Sergeant als Mörder vorzustellen: Blut an den Händen, das sich mit klebriger Schokolade vermischte.
Während er Baker folgte, ohne den er mangels Polizeiausweis kaum durch die Absperrung gekommen wäre, ließ Doyle seinen Blick über die Örtlichkeit schweifen. Er hatte fast vergessen, wie schön es an diesen Plätzen nahe den Klippen war, die sich den Touristenströmen zum Trotz einen Hauch von Abgeschiedenheit bewahrt hatten. Brombeersträucher und die bunten Sprenkel wild wachsender Blumen auf den grünen Wiesen schienen in keinem Widerspruch zu dem steinernen Wachturm zu stehen, der stoisch hinaus aufs leicht gischtige Meer blickte. Der Zahn der Zeit hatte an dem verlassenen Bauwerk genagt, und es wirkte wie ein verwunschener Ort aus einer Geschichte von Robert Louis Stevenson oder J. Meade Falkner. Für den Sekundenbruchteil eines melancholischen Gedankens zogen Nebelschwaden rings um den Turm auf, der sich in die Ruine eines alten Herrensitzes verwandelte, und Doyle hieß wieder David Balfour oder John Trenchard.
Baker vertrieb die Nebelschwaden mit der Bemerkung: »Das da ist Inspector Holburn, Sir.«
Er zeigte auf eine Person, die nur von hinten zu sehen war. Jetzt verstand Doyle das blödsinnige Grinsen des Sergeants, als er gefragt hatte, ob Inspector Holburn vielleicht Randy oder Randolph heiße. Der kurze Haarschnitt und der immer etwas plump wirkende weiße Schutzanzug konnten nicht verbergen, dass es sich um eine Frau handelte. Die blonde Polizistin sprach mit zwei Männern, die ebenfalls in weißes Plastik gekleidet waren, vermutlich Mitarbeiter des Erkennungsdienstes.
Mit einem lauten Räuspern machte sich Baker bei ihr bemerkbar.
»Inspector, der Chief Inspector ist da.«
Inspector Holburn drehte sich um und musterte Doyle, der bei ihrem Anblick vermutlich ein ausgesprochen erstauntes Gesicht machte.
»Du? Das habe ich nicht gewusst, Pat. Warum zur Hölle nennst du dich jetzt Holburn?«
Die Frau, die er einst als Patricia Le Mesurier gekannt – und geliebt – hatte, zeigte nur den Anflug eines Lächelns. »Selbst in unserer emanzipierten Zeit soll es nicht unüblich sein, dass eine Frau, wenn sie heiratet, den Namen ihres Mannes annimmt.«
»Natürlich«, sagte Doyle und kam sich wegen seiner Frage dämlich vor. Er versuchte, sich von dem überraschenden Wiedersehen zu erholen und fuhr schnell fort: »Tut mir leid, dass ich einfach so in deine Ermittlungen reinplatze, aber der junge Mann hier« – er deutete auf Sergeant Baker – »hat darauf bestanden, mich herzubringen. Ich bin sicher, du hast die Angelegenheit vollkommen im Griff und brauchst mich gar nicht.«
»Du bist der neue Chef des Kriminaldienstes und damit Leiter der Ermittlungen in dieser Sache, Cy, also ist es gut, dass du vor Ort bist.« Pat sah ihn zweifelnd an. »Ist es in Ordnung, wenn ich dich Cy nenne, oder hörst du DCI Doyle lieber?«
»Von dir höre ich Cy lieber«, sagte Doyle leicht unkonzentriert.
Er war damit beschäftigt, seine Gefühlsaufwallung unter Kontrolle zu bringen. Warum brachte ihn das Wiedersehen mit seiner Jugendliebe so aus der Fassung? Wahrscheinlich war es nur die unerwartete Erinnerung an längst vergangene Zeiten, die ihm zu schaffen machte. Nur die dumme Erinnerung.
»Wir müssen uns mal in Ruhe unterhalten, über die alten Zeiten und wie es dir ergangen ist.«
»Selbstverständlich«, sagte Pat ohne jede Begeisterung.
Sie führte ihn zu dem Toten, der rücklings im Gras ausgestreckt lag, als sei er vom Wandern auf dem Klippenpfad erschöpft und wolle ein wenig die Sonne genießen. Schon von weitem sah Doyle den Pfeil.
»Wieder ein Pfeilschuss in den Hals wie bei DCI Mourant«, bemerkte er.
»Ja, und der Pfeil hier ist ein Zwilling des ersten. Ein Carbonpfeil der Firma Beman. Nichts Besonderes, habe ich mir sagen lassen. Auch die Bogenschützen in unserem Polizei-Sportclub verwenden ihn.«
Nur flüchtig streifte Doyles Blick den Pfeil mit dem schwarzen Schaft und der rot-weißen Befiederung. Sein Blick blieb auf dem Gesicht des Ermordeten haften. Ein altes Gesicht, mindestens siebzig, hager, umrahmt von wenigen grauen Haarsträhnen. »Ich kenne den Mann!«
»Douglas Ingram, vormals Chief Inspector der uniformierten Einsatzkräfte. Ich war auf der Abschiedsfeier, als er in den Ruhestand ging.«
Doyle stieß einen leisen Pfiff aus. Der ehemalige Chef der uniformierten Polizei! Er hatte Douglas Ingram noch im aktiven Dienst erlebt, bevor er Guernsey verließ. Damals war sein Gesicht nicht so schmal gewesen, das Haar noch dunkel und voll.
Dann kam ihm ein bedrückender Gedanke: »Ist jetzt nicht Ingrams Sohn auf seinem alten Posten?«
»Dennis Ingram, ja.«
Er warf Pat einen fragenden Blick zu.
»Weiß Chief Inspector Ingram schon, wer das Opfer ist?«
»Nein, wozu? Damit er herkommt und sich das Ganze hier ansieht? Ich dachte, das ersparen wir ihm lieber.«
»Du hast recht. Ich würde es auch nicht sehen wollen, wenn es mein Vater wäre.«
»Und doch würdest du herkommen und es dir ansehen.«
»Würde das nicht jeder tun? Aber jeder wäre zugleich froh, wenn man ihm das ersparte.«
»Ja«, sagte Pat und informierte Doyle über die Einzelheiten.
Klippenwanderer, ein deutsches Touristenehepaar, hatten die Leiche vor knapp zwei Stunden gefunden. Ingram war zu dem Zeitpunkt wohl noch keine halbe Stunde tot gewesen. Der unbekannte Bogenschütze musste das erste Tageslicht ausgenutzt haben.
»Alles lief ähnlich ab wie im Fall Mourant. Douglas Ingram wohnt nicht weit von hier und befand sich vermutlich auf einem Spaziergang. Der Pfeil in den Hals hat ihn zu Fall gebracht, aber nicht getötet.« Angewidert blickte Pat auf die blutige Wunde in der Brust des Opfers. »Dass man ihm das Herz herausgeschnitten hat, hat er natürlich nicht überlebt. Aber er hat es wahrscheinlich miterlebt. Da der Fall Mourant durch die Presse gegangen ist, wusste er wohl, als der Mörder zu ihm trat, was ihn erwartet. Das Herz ist übrigens verschwunden, auch wie bei DCI Mourant.«
Doyle hörte ihr zu, war aber nicht ganz bei der Sache. Ihr Anblick und der Klang ihrer Stimme versetzten ihn in eine lange zurückliegende und fast vergessen geglaubte Zeit. Auch wenn mehr als zwei Jahrzehnte vergangen waren, war Pat noch immer eine sehr attraktive Frau mit einer großen Anziehungskraft. Ihre Figur, die sich unter dem weißen Plastik nur undeutlich abzeichnete, war üppiger geworden. Er fand das nicht schlecht, im Gegenteil.
»Woran denkst zu, Cy?«
»An Charlie Mourant und den armen Douglas Ingram hier«, log er und zwang sich, seine Gedanken wieder auf den Fall zu richten. »Ein aktiver Polizist und ein Polizist im Ruhestand, beide vom mutmaßlich selben Täter ermordet. Der Beginn einer ganzen Mordserie?«
»Sprichst du von einer Serie von Polizistenmorden?«
»Das liegt doch auf der Hand, Pat. Oder hältst du die Zugehörigkeit der beiden Opfer zu unserem Verein für einen Zufall?«
»Du wohl nicht«, wich sie seiner Frage aus, von dem Gedanken an eine Serie von Polizistenmorden offenbar wenig angetan.
»Je länger ich bei der Polizei bin, desto weniger glaube ich an Zufälle.«
Doyle wandte den Blick von der Leiche ab und sah hinaus aufs Meer, wo ein kleiner Fischkutter vorbeituckerte. Es wirkte so unendlich friedlich.
Das große vierstöckige Gebäude an der Hospital Lane im Herzen von St. Peter Port war in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als Armenhaus erbaut worden und hatte schließlich eine Geriatrische Klinik beherbergt, bevor die Guernsey Police es auf der Suche nach größeren Räumlichkeiten vor knapp dreißig Jahren zu ihrem neuen Hauptquartier gemacht hatte. Das finster wirkende Bauwerk hätte auch eine Kaserne oder ein Gefängnis sein können, dachte Cyrus Doyle, als er aus dem Škoda stieg.
»Ich fahr dann wieder los nach La Prevote«, sagte Sergeant Baker mit fragendem Ton. »Inspector Holburn kann mich dort bestimmt gut gebrauchen.«
»Sicher, Sergeant, tun Sie das.«
Doyle winkte ihm zu und überquerte den Parkplatz. Kurz vor dem überglasten Haupteingang blieb er stehen und wandte den Kopf. Er sah gerade noch, wie Baker vom Hof fuhr, die eine Hand auf dem Lenkrad, in der anderen einen Schokoriegel.
Keine fünf Minuten später saß Doyle in dem geräumigen Büro des Chief Officers. Die Aussicht auf die Grünanlagen von Candie Gardens, wo Touristen ebenso wie Einheimische gern flanierten, war herrlich. Colin Chadwick hatte ihn herzlich wie einen alten Freund begrüßt und strahlte ihn an, als befände Doyle sich hier auf einem reinen Höflichkeitsbesuch. Der Mann musste wirklich über ein heiteres Gemüt verfügen angesichts der beiden Morde und der öffentlichen Kritik an seiner Amtsführung, die ihn seit drei Jahren begleitete und nicht verstummen wollte. Aber da war Guernsey eben eine Insel, eine abgeschlossene Gemeinschaft, die allen Neuerungen zunächst einmal ablehnend gegenüberstand. Und allen Fremden, sofern sie hier mehr wollten, als ihr Geld steuergünstig zu deponieren oder ihren Urlaub im subtropischen Klima zu verbringen. Höchstens mittelgroß, mit einem rötlichen Bürstenhaarschnitt und einem spitzen Gesicht, wirkte Chadwick auf Doyle wie ein Fuchs, der in seinem Bau hockt und weiß, dass er nicht so leicht daraus zu vertreiben ist.
»Es tut wirklich gut, Sie hier zu haben, Cyrus«, sagte Chadwick, der ihn nie einfach »Cy« nannte, nun schon zum zweiten Mal. »Ein Teil der hiesigen Bevölkerung hat sich auf mich eingeschossen, wie Sie vielleicht wissen, da kann etwas Schützenhilfe von einem Mann, der sich mit moderner Polizeiarbeit auskennt, nicht schaden. Aktuelle Technik und Gerätschaften haben nun mal ihren Preis. Aber gewisse Leute wollen das nicht einsehen und werfen mir doch tatsächlich vor, ich wolle ihre geliebte Insel in einen Polizeistaat verwandeln. So ein Quatsch! Stellen Sie sich vor, Cyrus, schon seit einem halben Jahr kämpfe ich um die Bewilligung eines Polizeihubschraubers. Eine Insel wie Guernsey und kein eigener Polizeihubschrauber – unglaublich! Was sagen Sie dazu?«
»Wie ich Sie kenne, Sir, werden Sie Ihre Überzeugungskraft richtig einzusetzen wissen.«
Doyle zog es vor, in dieser Frage Zurückhaltung an den Tag zu legen. Er war auch der Meinung, dass sich ein Polizeihubschrauber als nützlich erweisen konnte, aber er vermochte nicht zu sagen, ob ein Helikopter so oft zum Einsatz kam, dass die Anschaffung gerechtfertigt war. Auch der gepanzerte Land Rover und die beiden als bewaffnete Einsatzfahrzeuge ausgerüsteten BMWs, um die Chadwick den Polizeifuhrpark erweitert hatte, schienen so gut wie gar nicht gebraucht zu werden. Damit die neuen BMWs überhaupt einmal bewegt wurden, setzte Chadwick sie jetzt als normale Streifenwagen ein. Das wiederum hatte ihm die Kritik eingebracht, er lasse gefährliche Feuerwaffen kreuz und quer über die Insel fahren und leiste damit einem Waffenmissbrauch Vorschub. Da die Polizei auf Guernsey in der Regel unbewaffnet ihren Dienst verrichtete, waren die Menschen in diesem Punkt besonders empfindlich. Wenn Doyle so darüber nachdachte, sah er sich darin bestätigt, dass seine Landsleute es Fremden wirklich nicht immer leicht machten.
»Ja, gewiss«, sagte Chadwick, ohne davon überzeugt zu wirken. »Ach, Cyrus?«
»Ja, Sir?«
»Nennen Sie mich doch bitte Colin und nicht Sir, schließlich sind wir alte Freunde.«
»Ja, S…, Colin, vielen Dank.«
Doyle würde sich wohl erst daran gewöhnen müssen. In London war Chadwick für ihn weder einfach nur »Colin« noch ein Freund gewesen. Ein wohlwollender Vorgesetzter vielleicht, ja, so konnte man es ausdrücken. Offenbar versuchte Chadwick, seine Truppen um sich zu sammeln. Doyle nahm sich vor, auf der Hut zu sein, damit er nicht zwischen die Fronten geriet.
Nachdem Doyle seinen knappen Bericht über den Leichenfund bei La Prevote beendet hatte, sagte Guernseys ranghöchster Polizist: »Wenn der zweite Tote wirklich der Vater von Dennis Ingram ist und damit ein ehemaliger Chief Inspector unserer Einheit, dann deutet alles auf einen Serientäter hin, nicht wahr? Und zwar auf einen, der es auf Polizisten abgesehen hat, aktive und ehemalige.«
»Es sieht ganz so aus, Si…, Colin.«
»Das heißt, jeder Polizist auf Guernsey muss jederzeit damit rechnen, dass ein Wahnsinniger ihm einen Pfeil durch den Hals schießt und ihm anschließend das Herz herausschneidet?«
Chadwicks Gesicht nahm einen angewiderten Ausdruck an.
»Davon müssen wir ausgehen, zumindest bis wir Näheres wissen.«
»Eine üble Sache, Cyrus, aber ich weiß sie bei Ihnen in besten Händen. Oder wollen Sie sich das mit dem neuen Job noch einmal überlegen? Angesichts der Tatsache, dass Sie jetzt nicht nur Ermittler in einer Mordsache sind, sondern auch ein potentielles Mordopfer, könnte ich es Ihnen nicht verdenken.«
Das könnte Carol so passen, schoss es Doyle durch den Kopf.
»Selbstverständlich bleibe ich bei meinem Entschluss und werde ab Montag die Leitung des Kriminaldienstes übernehmen.«
Chadwick beugte sich vor und schob einen kleinen Gegenstand über den Schreibtisch, einen Polizeiausweis mit Doyles Foto.
»Sie befinden sich bereits mitten im Dienst, mein Lieber. Keine Sorge, die Überstunden werden bezahlt, und das nicht zu …«
Ein heftiges Klopfen an der Tür unterbrach den Chief Officer. Ohne ein »Herein« abzuwarten, wurde die Tür geöffnet, und ein breitschultriger Uniformierter mit stark geröteter Gesichtsfarbe trat ein. Seine Rangabzeichen wiesen ihn als Chief Inspector aus, und die Ähnlichkeit der Gesichtszüge mit denen des Toten von La Prevote war unübersehbar, wenn das Gesicht des Eintretenden auch viel breiter und fleischiger war.
»Ist es wahr, dass der zweite Tote mein Vater ist? Stimmt das?«
Chief Inspector Dennis Ingram starrte seinen obersten Vorgesetzten an und schien von Doyle nicht die geringste Notiz zu nehmen.
»So sieht es leider aus, Dennis«, antwortete Chadwick mit einer Stimme voller Mitgefühl und zeigte dann auf den zweiten Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. »Aber nehmen Sie doch erst mal Platz und versuchen Sie, sich etwas zu beruhigen.«
Ingram blieb stehen.
»Beruhigen? Wie soll ich mich beruhigen? Mein Vater ist ermordet worden, und ich werde nicht einmal darüber informiert? Will man mich vom Fundort der Leiche fernhalten? Was bildet Inspector Holburn sich ein? Frauen bei der Polizei, ich war nie dafür. Ich werde Holburn jedenfalls zur Rechenschaft ziehen.«
Doyle erhob sich und baute sich vor dem Leiter der uniformierten Polizei auf.
»Gar nichts werden Sie, Chief Inspector Ingram. Erstens bin ich Holburns Vorgesetzter und nicht Sie. Zweitens«, log er, »habe ich die Entscheidung getroffen, Sie nicht zu benachrichtigen, weil zu befürchten ist, dass Sie in Ihrem aufgebrachten Zustand nichts zur Aufklärung beitragen können. Drittens ist Inspector Holburn in meinen Augen eine sehr fähige Polizistin. Ich habe sie bei der Arbeit erlebt.«
Ingram starrte Doyle an wie einen Außerirdischen.
»Was bilden Sie sich ein? Wenn Sie nicht der Sohn vom alten Leonard Doyle wären, würde ich Ihnen zeigen, was ich von Ihnen halte!«
Doyle hielt seinem bohrenden Blick stand.
»Allzeit bereit. Vor dem Gebäude gibt es einen schönen Parkplatz.«
»Meine Herren, reißen Sie sich bitte zusammen!«, kam es halb erzürnt und halb flehend von Chadwick. »Diese Schlagzeile können wir nun wirklich nicht gebrauchen. Sie, Dennis, sollten sich bei allem verständlichen Schmerz ein wenig abregen, bevor wir den Fall miteinander diskutieren! Und Sie, Cyrus, sollten als erste Amtshandlung auf Guernsey nicht die tätliche Auseinandersetzung mit einem Kollegen suchen!«
»Von mir stammt das ursprüngliche Angebot nicht. Bei allem Verständnis für CI Ingrams Gefühlsaufwallung halte ich es nicht für gerechtfertigt, wie er über Inspector Holburn spricht.«
Doyle setzte sich wieder.
Aber Ingram hatte noch nicht genug. Er warf Doyle einen abschätzigen Blick zu.
»Hatten Sie nicht mal was mit der Holburn?«
Doyle zwang sich, ruhig zu bleiben und tief ein- und auszuatmen, bevor er antwortete: »Mein Privatleben, Chief Inspector, geht Sie genauso wenig etwas an wie die Beurteilung meiner Mitarbeiter.«
Chadwick trat hinter dem wuchtigen Mahagonischreibtisch hervor und schob Ingram mit sanftem Druck zu der noch offenen Tür. »Tun Sie mir einen Gefallen, Dennis, und sammeln Sie sich etwas. Kommen Sie doch in einer halben Stunde noch einmal zu mir, dann sprechen wir über alles. Und mein Beileid für Sie und Ihre Familie natürlich.«
»Meins auch«, sagte Doyle. »Das meine ich aufrichtig.«
Ingram brummte etwas Unverständliches und verschwand auf dem Gang.
Chadwick schloss die Tür hinter ihm und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
»Ich fürchte, Sie haben eben nicht gerade einen Freund gewonnen.«
Doyle hielt den Polizeiausweis hoch.
»Wenn Sie für den Leiter des Kriminaldienstes jemanden suchen, der zu allem Ja und Amen sagt, dann bin ich der falsche Mann. Noch können Sie es sich überlegen, Sir.«
Diesmal gebrauchte er das letzte Wort mit voller Absicht.
»Aber, Cyrus, so war das nicht gemeint.« Chadwick lächelte jetzt wieder, doch es wirkte gezwungen. »Ich habe genau den Mann für den Job, den ich wollte und den ich brauche. Ich fürchte, angesichts dieser Morde müssen wir alle uns ein wenig am Riemen reißen.«
Doyle steckte den Ausweis wieder ein. »Ja, Sir.«
»Colin bitte.«
»Natürlich, Colin.«
Nach dem Gespräch mit dem Chief Officer suchte Doyle die Räumlichkeiten des Kriminaldienstes auf und stieß dort auf Constable Allisette, die ihn mit einem breiten Lächeln empfing.
»Ich habe Ihren Tamora bei Ihnen zu Hause abgeliefert, Sir, in einem Stück. Zurück bin ich mit dem Taxi, weil ich nicht auf den Bus warten wollte. Ist ja schließlich Dienstzeit. Zahlen Sie das Taxi privat, oder geht es auf Staatskosten?«
»Privat«, sagte er und konnte sich die anschließende Bemerkung nicht verkneifen: »Sonst fehlt der Betrag nachher noch im Etat für den Polizeihubschrauber.«
Ihr Lächeln verwandelte sich in ein verschwörerisches Grinsen.
»Das haben Sie gesagt, Sir.«
Sie hielt ihm eine Taxiquittung hin, und er gab ihr das Geld.
»Der Rest ist für Sie, Constable.«
Der Rest war nicht mehr als wenige Pence.
»Danke, sehr großzügig. Aber im Dienst darf ich kein Trinkgeld annehmen.«
Sie war wirklich schlagfertig und gefiel Doyle immer mehr.
»Dann tun Sie doch etwas für das Geld, Constable.«
»Hoffentlich nichts Verruchtes«, sagte sie mit einem überbetonten Augenaufschlag.
Es waren grüne Augen, die gut zu ihrem rötlichen Haar passten.
»Ist es sehr verrucht, wenn ich Sie bitte, mir die Akte im Mordfall Mourant zu bringen?«
Abwägend bewegte sie den Kopf von einer Seite zur anderen.
»Ich halte es für grenzwertig, aber ich werde es niemandem weitersagen.«
Damit verschwand sie, um die Akte zu holen.
Doyle ging in das Büro, das bis vor kurzem Charlie Mourant gehört hatte und das jetzt sein Arbeitsplatz war. Es war nicht ganz so groß wie das des Chief Officers, aber damit hatte er auch nicht gerechnet. Immerhin hatte auch er einen Ausblick auf das Grün von Candie Gardens. Es gab auf dieser Welt wirklich schlechtere Arbeitsplätze. Als er das Fenster öffnete, atmete er die salzige Seeluft, die der auflandige Wind über St. Peter Port verteilte. Das gab ihm das Gefühl, wieder zu Hause zu sein.
Doyle las die Mourant-Akte sorgfältig, um sich jedes Detail einzuprägen. Je länger er über dem Ordner brütete, desto mehr verfestigte sich sein Eindruck, dass sie es in beiden Fällen mit ein und demselben Täter zu tun hatten. Baker hatte recht, ein Nachahmer bei so einer Tat wäre schon etwas Außergewöhnliches. Immer öfter musste er ein Gähnen unterdrücken. Allmählich machte sich bemerkbar, dass er mitten in der Nacht aufgestanden war, um von London nach Weymouth und dort rechtzeitig auf die Schnellfähre zu kommen, die Weymouth pünktlich um sechs Uhr morgens verlassen hatte.
»Einen Kaffee, müder Krieger?« Pat stand plötzlich vor ihm, zwei dampfende Kaffeebecher in den Händen. »Mit nur ganz wenig Milch und ohne Zucker, richtig?«
Er bejahte und nahm dankbar den Kaffee in Empfang.
»Das weißt du noch, nach all den Jahren?«
»Das menschliche Hirn ist eben ein Wunderding und merkt sich manchmal die unwichtigsten Details.«
Doyle trank einen Schluck, der Kaffee war zum Glück heiß.
»Danke, das habe ich jetzt gebraucht.«
Er bot ihr einen der Besucherstühle an, und Pat setzte sich.
»Ich muss mich bei dir bedanken, Cy, deshalb bin ich gekommen.«
»Bedanken? Wofür?«
»Dafür, dass du beim Chief für mich eingetreten bist, als CI Ingram über mich hergezogen ist.«
»Eine Selbstverständlichkeit. Aber woher weißt du davon?«
»Sagen wir, es wurde mir zugetragen.« Sie lachte leise. »Es muss so laut zugegangen sein, dass man euch noch auf Herm gehört hat.«
Herm war eine kleine Insel, sieben Kilometer östlich gelegen, die – wie auch die weiter entfernten Inseln Sark und Alderney – zum Verwaltungsbezirk von Guernsey gehörte.
»Wahrscheinlich hätte ich mehr Rücksicht auf Ingrams Zustand nehmen sollen. Wenn es mein Vater gewesen wäre, ich hätte vielleicht nicht viel anders reagiert.«
»Doch, hättest du«, sagte Pat mit einer Gewissheit, die vollkommen ignorierte, wie lange sie und Doyle sich nicht mehr gesehen und nichts mehr voneinander gehört hatten. »Wie geht es deinem Vater?«
»Schlecht. Manch einer würde mir wohl widersprechen und sagen, im stolzen Alter von vierundneunzig sollte man keine großen Ansprüche mehr stellen. Aber in den vergangenen eineinhalb Jahren ist es mit ihm rapide bergab gegangen. Seit dem Tod meiner Mutter Anfang letzten Jahres. Sie hat ihn jung gehalten.« Doyles Mutter war die zweite Frau seines Vaters gewesen, zwanzig Jahre jünger als er. »Dad baut jetzt immer mehr ab, geistig. Altersdemenz, sagen die Ärzte, und es sei in seinem Alter kein Wunder.«
»Erkennt er dich noch, Cy?«
»Manchmal ja, manchmal nein. Zuweilen hält er mich auch für einen meiner Brüder.«
»Aber die sind doch …«
»Trotzdem«, unterbrach Doyle sie. »Dad hat sie nicht vergessen.«
»Ich habe deinen Vater immer sehr gemocht. Er wird sich jedenfalls freuen, dass du wieder hier bist.«
»Ich hoffe es. Schließlich komme ich seinetwegen.«
Sie blickte ihn über den Rand ihres Bechers hinweg an.
»Du bist seinetwegen zurückgekehrt. Um für ihn da zu sein?«
»Ja. Ich bin jetzt seine ganze Familie.«
»Dann nimm dich bloß in Acht!«, sagte Pat, und es klang ehrlich bekümmert.
»Vor dem Pfeilmörder? Glaubst du wirklich, er hat es auf aktive und ehemalige Polizisten abgesehen?«
»Vielleicht ja sogar nur auf aktive und ehemalige Chefinspektoren.«
Daran hatte er noch gar nicht gedacht, aber solange sie nicht mehr über den Mörder und seine Motive wussten, war das keine abwegige Theorie. Nicht abwegiger als alles andere.
»Wenn du recht hast, Pat, sollte ich dich rasch bei Chadwick als meine Nachfolgerin vorschlagen. Nur für den Fall, dass es mich erwischt.«
Sie schwieg ein paar Sekunden, bevor sie fragte: »Du weißt es also?«
Verwundert hob Doyle die Brauen.
»Was soll ich wissen?«
»Ich hatte mich für den Posten des DCI beworben, aber dann hieß es plötzlich, Chadwick habe den besten Mann für den Posten gefunden, den er sich hätte wünschen können. Dich.«
Doyle hatte es nicht gewusst und benötigte ein paar Sekunden, um die Information zu verarbeiten.
»Es tut mir leid.« Er meinte es aufrichtig. »Ich hatte keine Ahnung, dass ich dir die Tour vermasselt habe. Für mich kam das Angebot einfach zum richtigen Zeitpunkt. Ich wusste nicht einmal, dass du bei der Polizei bist. Als Sergeant Baker mir auf der Fähre sagte, Inspector Holburn habe ihn geschickt, dachte ich erst an diesen ungehobelten Klotz Randy. Randolph Holburn, der Sohn vom Baulöwen, erinnerst du dich noch an ihn?«
»Wie könnte ich ihn vergessen haben, schließlich habe ich ihn geheiratet.«
»Oh.« Verfluchter Mist, jetzt hatte er sich ganz schön in die Nesseln gesetzt. Er hätte nicht so vorlaut vor sich hin plappern sollen. »Verzeih mir, Pat«, stammelte er. »Ich wollte dich und deinen Mann nicht beleidigen. Wahrscheinlich hat sich der ungehobelte Randy, den ich aus Jugendzeiten kenne, in einen hochanständigen Randolph verwandelt.«
»Nein, das hat er nicht. Er hätte sich niemals angeboten, sich mit einem Chief Inspector auf dem Polizeiparkplatz um meine Ehre zu schlagen. Er schlägt lieber die Frauen selbst.«
Für einen Moment war Doyle sprachlos.
»Dich auch?«, fragte er schließlich und spürte, wie Wut und Erschütterung ihm einen dicken Kloß in den Hals schoben.
»Ja. Es war ein Riesenfehler, ihn zu heiraten. Zwei Wochen nach der Hochzeit hatte er auch schon all seinen Charme verbraucht und sah sich bereits nach anderen Frauen um. Wenigstens hat es nicht lange gedauert. Ich bin schneller von ihm weg, als er gucken konnte, und habe zwei Jahre in Cardiff gelebt, wo ich dann zur Polizei gegangen bin. Sie suchten dort damals dringend Leute für eine neue Spezialeinheit, und es war recht einfach, in den Dienst einzusteigen.«
»Bist du von hier weg, um die Scheidung durchzukriegen?«
Doyle erinnerte sich an das Gesetz, demzufolge eine Scheidung nur möglich war, wenn ein Ehepartner Guernsey für ein Jahr verließ. Diese alte Regelung hatte bis in die jüngste Vergangenheit gegolten, bis ins Jahr 2003.
»Ja, und um Abstand zu gewinnen. Inzwischen sind wir seit sechzehn Jahren geschieden. Wahrscheinlich war die Erfahrung mit ihm einer der Hauptgründe, weshalb ich überhaupt zur Polizei gegangen bin.«
»Habt ihr Kinder?«, fragte Doyle.
»Zum Glück nicht. Randy als Vater, das mag ich mir gar nicht vorstellen.«
»Warum hast du nicht wieder deinen alten Namen angenommen?«
»Natürlich ist mir das durch den Kopf gegangen. Ich habe mich ganz bewusst dagegen entschieden. Der Name Holburn soll mich immer an meinen Fehler mit Randy erinnern und mich davor bewahren, noch einmal auf einen treuen Hundeblick und sanftes Gesäusel hereinzufallen.«
Er zögerte ein wenig mit seiner nächsten Frage, stellte sie dann aber doch: »Darf ich fragen, wer jetzt der Glückliche ist?«
»Der Letzte liegt schon ein paar Monate zurück. Bullen und feste Bindungen, das ist so eine Sache. Und bei dir?«
»Sie heißt Carol und liegt erst wenige Tage zurück. Seit sie mich vor die Wahl gestellt hat.«
»Welche Wahl?«
»Guernsey oder sie.«
»Wie dumm!«, entfuhr es Pat.
»Wer? Carol oder ich?«
Sie antwortete nicht, sondern sagte: »Du siehst hundemüde aus, Cy. Kein Wunder, wenn du schon um sechs auf der Weymouth-Fähre sein musstest. Fahr nach Hause, sprich mit deinem Vater und leg dich dann hin. Morgen nutzt du uns ausgeschlafen bei den Ermittlungen mehr, als wenn du hier gleich vor Müdigkeit vom Stuhl kippst.«
Er nahm ihren guten Rat an und saß keine zwanzig Minuten später in einem Taxi, das ihn nach St. Martin brachte. Erst da fiel ihm auf, dass Pat wusste, wo und wann seine Fähre abgefahren war. Hatte sie sich so sehr für seine Ankunft interessiert? Er hielt für den Rest der Fahrt an diesem Gedanken fest, der sein Herz leichter werden ließ. Natürlich nicht, weil er Pat etwa noch geliebt hätte, sondern nur in einem dummen Anfall von Melancholie.
Doyle fühlte sich noch besser, als das Taxi auf dem Weg in den Süden Guernseys Fort George hinter sich gelassen hatte. Der Ort erinnerte ihn an seinen ermordeten Vorgänger und an den geheimnisvollen Mörder, von dem bisher noch jede Spur fehlte. Charlie Mourant war vor genau einer Woche getötet worden, war das ein Zufall? Oder war vielleicht am Donnerstag der kommenden Woche der nächste Mord zu erwarten? Und würde das Opfer dann wieder ein Polizist sein, vielleicht sogar ein Chief Inspector?
Er selbst?
Unsinn, das führte zu nichts. Er schüttelte den Kopf, als könne er damit auch die quälenden, unnützen Überlegungen abschütteln. Ab morgen würde er sich intensiv mit der ganzen Angelegenheit beschäftigen, aber für den Rest dieses Tages wollte er einfach nur ausspannen.
Der Taxifahrer kannte die engen, vielfach gewundenen Inselstraßen wie seine Westentasche und nahm die oft scharfen Kurven mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit. Wer sich hier nicht auskannte, schrammte leicht an einer der Steinmauern am Straßenrand entlang oder landete in einer Hecke. Doyles Fahrer begegnete den anderen Autos furchtlos und hielt hupend auf sie zu, bis sie weit genug an die Seite fuhren. Hin und wieder musste das Taxi oder ein entgegenkommendes Fahrzeug ein Stück zurücksetzen. Anders ging es hier auf Guernsey nicht. Als ihnen einer der grün-gelben Busse begegnete, stieß selbst der abgebrühte Taxifahrer einen leisen Fluch aus. Er musste eine kurvige Strecke von mindestens dreißig Metern rückwärtsfahren, damit der Bus an ihnen vorbeikam.
Sie passierten das malerische Hotel »La Barberie«, das mit seinen vielen Blumen, Hecken und Sträuchern wie aus einem dieser neuen Agatha-Christie-Filme wirkte, die sie dauernd im Fernsehen brachten. Das Hotel mit dem angeschlossenen Restaurant blickte auf eine lange, zuweilen wilde Geschichte zurück. Seinen heutigen Namen verdankte es dem Umstand, dass ein Inhaber des Hauses im siebzehnten Jahrhundert von Piraten aus den Barbareskenstaaten entführt worden war, um Lösegeld zu erpressen. Doyle hatte das Restaurant von einem seiner letzten Besuche auf Guernsey in guter Erinnerung und beschloss, es bald einmal aufzusuchen. Vielleicht mit Pat?
An der nächsten Straßengabelung bezahlte er den unerschrockenen Taxifahrer, um den kurzen Rest des Wegs zu Fuß zurückzulegen. Ganz langsam wollte er heimkehren, Schritt für Schritt. Rechts führte die Rue des Marettes an Feldern vorbei, auf denen ein paar Farmer noch Ackerbau betrieben, obwohl die Landwirtschaft für Guernsey längst nicht mehr die große Rolle spielte wie noch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Insel war einmal berühmt für ihre Tomaten gewesen, die Guernsey Toms, aber mit den billigen Tomaten aus Südeuropa konnten die einheimischen Tomatenzüchter preislich nicht konkurrieren. Inzwischen standen viele der großen Gewächshäuser leer.
Doyle zog das Jackett aus und ging, beschienen von der warmen Augustsonne, geradeaus die Icart Road entlang, an deren Ende der südlichste Punkt Guernseys lag, der Icart Point. Zu seiner Rechten erstreckten sich wiederum Felder, und in einiger Entfernung wirbelte ein Traktor ordentlich Staub auf. Zum Glück kam der Wind von links, von der nahen See, und in der nach Algen, Salz und Jod riechenden Luft über ihm kreisten ein paar Möwen, die immer wieder ihre kurzen, schrillen Schreie hören ließen. Er blieb stehen, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Zu Hause! Er roch, hörte und fühlte es und war plötzlich voller Zuversicht, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte und dass seine Heimkehr für beide gut sein würde, für seinen Vater und auch für ihn.
Nach einer Biegung tauchte, noch halb verdeckt von einer großen, aber sorgsam gestutzten Hecke, links vor ihm »Le Petit Château« auf, und wie von selbst wurden seine Schritte schneller. Hier auf Guernsey hatten die meisten der alten Häuser eigene, oft französische Namen, was mit dem starken Einfluss des nahen Frankreichs im Lauf der Jahrhunderte zusammenhing. Im Mittelalter waren die Kanalinseln Bestandteil des Herzogtums Normandie gewesen, später hatte es immer wieder französische Invasionsversuche gegeben, und nach den Schrecken der Bartholomäusnacht hatten geflohene Hugenotten hier Zuflucht gesucht.
Das Anwesen der Doyles, die »kleine Burg«, war für ein Wohnhaus recht groß. Besonders wenn man bedachte, dass letztlich nur eine dreiköpfige Familie darin gewohnt hatte. Früher, bevor Doyles Vater es gekauft hatte, hatte es einer sehr kinderreichen Kaufmannsfamilie gehört, und auch Leonard Doyle hatte einmal eine größere Familie gehabt. Der Gedanke daran deprimierte Doyle, auch wenn er weder die erste Frau seines Vaters noch seine Halbgeschwister gekannt hatte. Der Schatten dessen, was sich vor über fünfzig Jahren nicht weit von hier entfernt ereignet hatte, lastete noch immer auf der Familie.
Das große Granithaus mit dem kleinen Turm, der ihm tatsächlich das Aussehen einer Burg verlieh, war früher von einer hohen Mauer aus demselben grauen Guernseygranit umgeben gewesen, aber der Zahn der Zeit hatte sie zu einer knie- bis hüfthohen Umfriedung zerbröckeln lassen. Auch wenn »Le Petit Château« längst nicht mehr der fest ummauerte und streng bewachte Sitz eines mächtigen Inselfürsten war, auf dem Turm wehte in der leichten Seebrise stolz die Flagge Guernseys: das rote Georgskreuz auf weißem Grund und über dem roten ein zweites Kreuz, goldfarben. Die Flagge war angelehnt an ein Kreuz Wilhelms des Eroberers, das er in der Schlacht bei Hastings getragen hatte. Jene für ihn siegreiche Schlacht, die ihn zum obersten Lehnsherrn über die Lehnsmänner auf den normannischen Inseln, wie man die Kanalinseln auch nannte, werden ließ. Je kleiner das Land, desto größer der Nationalstolz, diesen Satz hatte Doyle irgendwo einmal aufgeschnappt, und auf Guernsey traf er ganz gewiss zu.
Hinter den Mauerresten blitzte das Metallicblau des Tamoras auf, im Carport neben einem metallicgrünen Rover Streetwise. Beide Fahrzeuge wurden längst nicht mehr gebaut. Die kleine Sportwagenschmiede TVR und der große Autohersteller Rover waren britische Firmen – gewesen. Heute waren sie pleite, und die Markenrechte lagen bei irgendwelchen Russen, Chinesen oder Indern. Die Welt war in einem immer schnelleren Wandel begriffen, was man auf einer beschaulichen Insel wie Guernsey leicht vergessen konnte.
Zögernd blieb Doyle vor dem Hauseingang stehen, der von zwei Blumenkästen mit farbenprächtigen Dahlien geschmückt wurde. Früher hatte seine Mutter dafür gesorgt, dass »Le Petit Château« durch bunten Blumenschmuck stets eine heitere Note wahrte, jetzt war es das Werk von Violet Brehaut. Einem gewiss törichten, aber unwiderstehlichen Impuls folgend, steuerte er mit schnellen Schritten den Carport an. Mit zu Schlitzen verengten Augen musterte er den Lack des Roadsters, ohne die geringste Schramme zu entdecken. Offenbar konnte Constable Allisette tatsächlich mit dem Geschoss umgehen, dachte er erleichtert.
»Jungs und ihre Spielzeuge, es ist das alte Lied!«
Die Frauenstimme kam vom Hauseingang, und Doyle fühlte sich regelrecht ertappt, als er sich umwandte. In der offenen Tür lehnte eine schlanke Enddreißigerin, deren brünettes Haar bis auf ihre Schultern fiel. Sharon Brehaut rümpfte ihre Stupsnase und verzog die Lippen zu einem Lächeln, das fast schon ein Grinsen war. Der Gesichtsausdruck erinnerte ihn an das kleine Mädchen aus der Nachbarschaft, das er vor vielen Jahren gekannt hatte und aus dem schon lange eine attraktive Frau geworden war. So attraktiv, dass er sich oft gefragt hatte, warum sie immer noch unverheiratet war.
Sie drohte spielerisch mit dem Zeigefinger.
»Wir warten auf dich, Cy, aber der Herr bewundert ja lieber seinen Sportwagen.«
»Hallo, Sharon.« Er brachte ein etwas verlegenes Lächeln zustande. »Du hast mich tatsächlich erwischt. Hätte ich gewusst, dass du zum Empfangskomitee gehörst, wäre ich ohne Umschweife ins Haus gegangen.«
»Charmeur! Du wusstest schon als Junge, wie man Mädchen um den Finger wickelt. Aber bilde dir nur nichts ein. Ich bin eher zufällig hier, weil ich etwas vorbeigebracht habe.«
»Eher zufällig? Das nenne ich eine vorsichtige Formulierung.«
»Ihr Polizisten hört wohl immer ganz genau hin. Also gut, ich gebe es zu, ich habe auf den ein oder anderen Tipp von dir gehofft. Schließlich muss man in meinem Job gute Kontakte nutzen.«
»Du arbeitest immer noch als Journalistin für den Spectator?«
»Das tu ich. Und du hast heute Morgen das zweite Opfer des Pfeilmörders in Augenschein genommen, wie ich höre.«
»Pfeilmörder?«, wiederholte Doyle.
»Irgendeinen Namen musste die Öffentlichkeit dem Mörder schließlich geben.«
»Die Öffentlichkeit oder die Presse? Übrigens tötet er nicht mit dem Pfeil, sondern anschließend mit dem Messer.«
»Messermörder klingt jetzt nicht so sensationell, eher wie Jack the Rippers kleiner Bruder.« Sharon zuckte mit den Schultern. »Namen sind Schall und Rauch. Was ist mit dem zweiten Toten? Stimmt es, dass es sich bei ihm um Chief Inspector Ingrams Vater handelt? Starb er auf dieselbe Art wie DCI Mourant? Wurde auch ihm das Herz herausgeschnitten?«
»Vielleicht wird die Guernsey Police noch im Laufe des Nachmittags eine Presseerklärung veröffentlichen, spätestens aber morgen.«
Doyle sprach jetzt völlig distanziert wie zu einer Fremden.
»Komm schon, Cy, unter Freunden! Außerdem hast du es durch deine Bemerkung, der Mörder töte mit dem Messer, schon angedeutet.«
Er trat auf sie zu. »Wir sollten jetzt besser hineingehen.«
Innen im Eingangsbereich wirkte das Haus ebenso gepflegt wie von draußen. Das durch das einzige Fenster in diesem Raum einfallende Licht erhellte – nicht zufällig – ein Gemälde, das eine Küstenlandschaft mit aufgewühlter See unter einem wolkenverhangenen Himmel zeigte. Es war eine, wie Doyle fand, gelungene Kopie des Gemäldes See bei Guernsey von Auguste Renoir. Der berühmte Maler hatte die Insel im Jahr 1883 besucht und seine Eindrücke in mehreren Gemälden verarbeitet, und er hatte die Stimmung der stürmischen See auf diesem Bild beeindruckend gut getroffen. Das hatte Doyle schon früher oft gedacht, wenn er oben in seinem Turmzimmer gestanden und hinaus aufs Meer geblickt hatte.
»Cy, mein Junge, da bist du ja endlich! Wir hatten dich schon heute Vormittag erwartet.«
Sharons Mutter kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid und darüber eine hellgrüne Schürze. Mit ihren grauen Haaren, die erst vor kurzem einen Friseur gesehen haben mussten, wirkte sie wie eine freundliche Großmutter aus dem Kinderfernsehen. Früher war sie eine enge Freundin seiner Mutter gewesen, und nach deren Tod war sie eine gute Freundin der kleinen Familie geblieben, die jetzt nur noch aus Doyle und seinem Vater bestand. Sie kümmerte sich um das Haus und um Leonard Doyle, unterstützt von einem Pflegedienst und einem Hausmeisterdienst, der die gröberen Arbeiten auf dem Grundstück verrichtete. Doyle hatte auch eine Reinigungskraft engagieren wollen, aber Violet Brehaut war trotz ihres Alters von mehr als siebzig Jahren noch gut bei Kräften und wollte davon nichts wissen. Das Innere von »Le Petit Château« war ihr Reich, und sie kümmerte sich um das große Haus wie auch um ihr eigenes, das höchstens halb so groß war und ebenfalls an der Icart Road lag. Immerhin hatte Doyle sie so lange bedrängt, bis sie einen monatlichen Betrag von zweihundertfünfzig Pfund als Entgelt akzeptiert hatte. Gemessen an dem, was sie hier leistete, war das lächerlich wenig. »Le Petit Château« und Leonard Doyle machten ihr viel mehr Arbeit als ihr eigenes Haus, und seit einem knappen Jahr hatte sie sogar ein Schlafzimmer hier, weil der sich verschlechternde Gesundheitszustand von Doyles Vater auch ihre nächtliche Anwesenheit erforderte.
Sie umarmte Doyle wie ihren Sohn, und er fühlte dabei eine gewisse Dankbarkeit. Niemand konnte seine Mutter ersetzen, aber dank Violet spürte er den Verlust nicht so schmerzlich, wenn er zurück in sein Elternhaus kam.
»Entschuldige die Verspätung, Tante Violet.« Sie waren zwar nicht miteinander verwandt, aber er nannte sie schon seit Kindertagen Tante. »Ich wollte gleich herkommen, aber dann …«
»Ich habe davon gehört, Cy, es kam im Radio. Da habe ich mir schon gedacht, dass du an den Tatort musst. Du warst doch da, oder?«
»Ja, ich war da.«
Sharon schob sich neben ihn.
»Versuch gar nicht erst, ihn über das Opfer oder andere wichtige Dinge auszuhorchen, Mum. Cys Lippen sind versiegelt, zugenäht und verklebt. Dienstgeheimnis.«
Ihr Spott war nicht böse gemeint, das spürte er.
»Du hast sicher einen Bärenhunger, Junge«, sagte Violet. »Ich gehe rasch in die Küche und mache das Irish Stew warm, das ich für dich zubereitet habe. Nach dem Rezept deiner Mutter. Du isst es doch immer noch gern, nicht wahr?«
»Für mein Leben gern.« Doyle lächelte. »Gerade merke ich, wie hungrig ich bin.«
Violet, schon halb auf dem Weg in die Küche, wandte sich zu ihm um.
»Dann mach dich vorher schnell frisch.«
»Ja, aber erst möchte ich Dad sehen.«
Violet fasste sich an die Stirn.
»Ja, natürlich. Er sitzt im Wohnzimmer, aber ich fürchte, heute ist er nicht so gut beisammen.«
Damit verschwand sie in der Küche.
»Ich begleite dich kurz ins Wohnzimmer, Cy, bevor ich mich verabschiede«, sagte Sharon. »Da liegt etwas für dich. Ich bin nämlich wirklich nicht nur hergekommen, um dich auszuhorchen.«
»Bleibst du nicht zum Essen?«
»Leider nicht. Die Pflicht ruft, und morgen muss mein Artikel über den zweiten Mord erscheinen. Ich sehe schon die Überschrift vor mir: DCI Doyle schweigt beredt!«
»Dir traue ich das zu.« Doyle lachte und ging mit ihr in den Salon, wo zwei weitere Renoir-Kopien aus der Guernsey-Phase des Malers hingen: das fröhliche, in warmen Farben gehaltene Kinder am Meer in Guernsey und das verträumtere Nebel auf Guernsey. Das dritte Gemälde war kein Renoir, das sah man auf den ersten Blick. Künstlerisch war es zwar ohne jeden Wert, aber der darauf im Halbporträt abgebildete Mann mit dem strengen Blick, Vizegouverneur Doyle, war von großer Bedeutung für die Geschichte Guernseys im neunzehnten Jahrhundert gewesen. Weitere Blickfänger waren ein großer Kamin und ein paar darüber hängende Waffen aus der Zeit der Freibeuter: ein Entermesser, ein Enterbeil und eine Steinschlosspistole mit auffallend langem Lauf – keine Nachbildungen, sondern alles Originalwaffen der Royal Navy aus der Zeit der Kämpfe gegen Seeräuber und Franzosen, wie Leonard Doyle seinem Sohn vor vielen Jahren nicht ohne Stolz erzählt hatte.
Leonard Doyle selbst fiel dagegen erst auf den zweiten Blick auf, so tief war er in dem alten Ohrensessel neben dem Kamin versunken. Seine in ledernen Hausschuhen steckenden Füße ruhten auf einer Fußbank, deren Polsterbezug mit demselben grün-braunen Muster versehen war wie der Sessel. Das rechte Bein der braunen Cordhose war ein Stück weit nach oben gerutscht, so dass oberhalb der beigen Socke die nackte Haut hervorlugte. Das Bein wirkte erschreckend dünn. Der ganze Mann war nur noch ein Schatten seiner selbst, aber was wollte man erwarten, im stolzen Alter von vierundneunzig? Als Doyle langsam auf seinen gealterten, teilnahmslos blickenden Vater zuging, verglich er ihn unwillkürlich mit dem Mann, der er einmal gewesen war. Zu seiner Zeit hatte Leonard Doyle als groß gegolten, und wenn er den Arm angewinkelt hatte, hatten die Muskeln den Hemdsärmel angespannt. Jetzt aber war er, anders konnte man es nicht bezeichnen, ein Greis.
»Guten Tag, Dad!«, sagte Doyle, und seine Stimme klang dabei ein wenig zu sehr nach angestrengter Heiterkeit.
Langsam wandte sein Vater den Kopf, und der seltsam verklärte Blick aus den leicht wässrigen Augen streifte über Doyle. Glomm in ihnen ein Funke des Erkennens auf? Es schien so.
Leonard Doyle öffnete die Lippen und sagte langsam: »Mein Sohn! Endlich bist du wieder da, ich freue mich.«
»Ich freue mich auch, Dad.«
Doyle streckte die rechte Hand aus. Sein Vater ergriff sie und drückte sie mit einer unerwarteten Festigkeit.
»Schön, dass du wieder daheim bist, Peter!«
Doyle merkte, wie etwas in seiner Brust stach, da, wo das Herz saß.
»Ich bin nicht Peter, Dad, ich bin Cy. Dein Sohn Cyrus!«
Leonard Doyle lächelte schwach.
»Du musst mir erzählen, was du alles erlebt hast, Peter.«
Sharon trat neben Doyle, und erst jetzt bemerkte er den unaufdringlichen Duft ihres Parfums, das ihn an den Geruch von Landregen im Sommer erinnerte: schwer, ein wenig herb, insgesamt sehr angenehm. Sie legte sanft eine Hand auf seine Schulter.
»Im Augenblick wird er es nicht begreifen, Cy, sein Geist ist zu sehr in der Vergangenheit versunken. Später wird er dich erkennen, ganz bestimmt.«
Die Berührung und ihre aufmunternden Worte erfüllten Doyle mit einem tiefen Gefühl der Dankbarkeit. Ohne Sharon und ihre Mutter wäre es im »Petit Château« sehr einsam gewesen, trostlos. Die beiden waren mehr als gute Freunde, eine zweite Familie.