D-Zug dritter Klasse - Irmgard Keun - E-Book

D-Zug dritter Klasse E-Book

Irmgard Keun

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Beschreibung

Während des »Dritten Reiches« lernen sich sieben Menschen im Zug von Berlin nach Paris kennen. Es kommt zu allerhand Verwicklungen zwischen ihnen ...

Das E-Book D-Zug dritter Klasse wird angeboten von Refinery und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Nationalsozialismus, Drittes, Reich, Roman, Reise, Zug, Klassiker, Deutsch, Weltliteratur, Autorin, Paris, Berlin, Zwanziger, Jahre, Schullektüre, Humor, Zugfahrt, Exil, Literatur, junge, Frau, Liebe, unglücklich, Tragik, Geld, Komik, komisch, Deutschland

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Seitenzahl: 153

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Die AutorinIrmgard Keun, 1905 in Berlin geboren, hat mit ihren beiden ersten Romanen, Gilgi – eine von uns und Das kunstseidene Mädchen (1931 und 1932) sensationelle Erfolge. 1933 beschlagnahmen die Nazis ihre Bücher. 1935 geht sie ins Exil. Der Schriftsteller Joseph Roth wird ihr Lebensgefährte. 1940, nach der Trennung von Roth, kehrt sie mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebt. Im biederen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit kann sie nicht mehr an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der siebziger Jahre von einem breiten (Frauen-)Publikum wiederentdeckt werden. Irmgard Keun stirbt 1982.

Das Buch

Während des »Dritten Reiches« lernen sich sieben Menschen im Zug von Berlin nach Paris kennen. Es kommt zu allerhand Verwicklungen zwischen ihnen ...

Irmgard Keun

D-Zug dritter Klasse

Roman

Refinery by Ullsteinwww.ullteinbucherlage.de/verlage/refinery

Neuausgabe bei Refinery Refinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin September 2017 (1)  © claasen Verlag GmbH, Düsseldorf 1983 Erstveröffentlichung 1938 Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin  ISBN 978-3-96048-100-3  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

An einem späten Nachmittag im Juni verließ ein D-Zug den Anhalter Bahnhof in Berlin. Es war ein rechtschaffen ausgestatteter Zug mit Schlaf- und Speisewagen, mit erster, zweiter, dritter Klasse, mit schönen blanken Klosetts, emsig fegenden Reinmachefrauen, unpraktischen Aschbechern und mühsam zu öffnenden Fenstern.

Würstchen, Schokolade, Erfrischungen, Eau de Cologne, Zeitungen, belegte Brötchen …

Enteilt ist der Zug dem heißen, grauen Lärmgewoge des Bahnsteigs, den bahnhoflich dürftigen Waren, der trüben Betriebsamkeit fliegender Händler mit fliegenden Kunden.

Der Zug fuhr nach Paris. Er fuhr seit einer halben Stunde, und die Reisenden zählten nicht mehr angstvoll ihre Gepäckstücke in den Netzen. Sie hatten Mäntel aufgehängt und Decken ausgebreitet, sie begannen, auf ihren Plätzen zu wohnen.

In einem Abteil dritter Klasse saßen sieben Menschen, vier männliche und drei weibliche.

Eine laue Ruhe füllte den kleinen Raum. Orangenrotes Sonnenlicht flimmerte durch die Scheibe, mischte sich mit den ersten zaghaften und bläulich aufsteigenden Rauchwölkchen einer Zigarette. Im Gepäcknetz lag ein Riesenstrauß aus welkenden Heckenrosen und Jasmin, rosa und weiße Blütenblätter flatterten lautlos tänzelnd herab. Es ging nett und sommerlich zu in diesem Abteil, die Leute fingen bereits an, schweigend miteinander vertraut zu werden.

Ein dicker, mondgesichtiger Herr, Bewohner eines Fensterplatzes, wischte sich mit einem großen, weißen Tuch Schweiß von der Stirn, lächelte dazu freundlich und munter, als wolle er die Mitreisenden auffordern, gemeinsam ein Liedchen zu singen. Er schien sehnsüchtig nach Ansprache, Gemütlichkeit und Verbrüderung. Er öffnete den breitlippigen Mund, vielleicht wollte er ein paar allgemein verständliche Worte über die Hitze sagen.

»Der Zug wird entgleisen«.

Der Zug fuhr unter einem Viadukt her, sekundenlang flimmerte kein Sonnenlicht durch die Scheibe, im Abteil herrschte knisterndes Schweigen.

Ein junger Mann, er saß auf einem Eckplatz am Gang, hatte den unheilvoll klingenden Satz gesprochen, lächelnd und leise. Eine feine, kleine Verbeugung hatte er dazu gemacht, als stelle er, ein unbedeutender junger Mensch, sich einer würdigeren Gesellschaft vor.

Der junge Mann schien nicht zu ahnen, daß sechs Menschen ihn ansahen, verblüfft, mit Staunen – und daß aus dem Staunen hier und da Zorn wuchs. Seine blauen Kugelaugen blickten kindlich verträumt, aus dem Gepäcknetz fielen rosa Blütenblätterchen in sein helles Haar. Seine gefalteten schmalen Hände ruhten auf seinen mageren Knien und badeten im warmen, milde verglühenden Licht der untergehenden Sonne.

Zwiesprache mit seinem Schutzengel schien der junge Mann zu halten und nicht zu hören, daß eine junge Frau plötzlich seufzte: »Meinetwegen soll er entgleisen. Gott sei Dank.«

Die junge Frau saß am Fenster, dem Mondgesichtigen gegenüber. Sie sah hübsch und etwas zerzaust aus und erschrocken über ihre eigenen Worte. »Sei ruhig Tante«, murmelte sie und strich mit ihrer runden, hellen Hand flüchtig über den Arm eines älteren Fräuleins, das neben ihr saß.

Die Tante war ruhig. Sie lächelte still und listig vor sich hin, als wisse sie manches, das andre nicht wußten.

Sie war seltsam anzusehen und dazu angetan, unter normalen Reiseumständen die Aufmerksamkeit der Mitreisenden zu wecken und eine Zeitlang wach zu halten. Sie war nicht angezogen, sondern verkleidet. Eine große Kappe aus schwarzem Wachstuch hatte sie tief in die Stirne gezogen. Ein paar graublonde Haarsträhnen hingen darunter hervor. Sie hatte einen kläglich verschnittenen schwarzen Lodenmantel mit schwarzem Wachstuch besetzt an; darunter trug sie eine Art Panzer, etwas sich wölbendes Metallenes, das mit einem schwarzen Strickstoff mangelhaft umkleidet war. Das Panzerartige endete in der Taille, wo der Rock begann, ein Rock aus dunkelrotem Plüsch mit eingepreßten Mustern – aus einem Stoff, wie er früher für Sessel und Polsterstühle verwandt wurde. An ihren dünnen, alten Fräuleinhänden trug sie viele Ringe, Amethyste und Opale in altmodischer Fassung. Ihr Gesicht war breit und zerflossen, der Mund auch im Lächeln dünn zusammengezogen. Die kleinen hellbraunen Augen bewegten sich unruhig, unaufhörlich spähend hinauf und hinunter, nach rechts und nach links.

Neben dieser Tante saß ein großer, breitschultriger Mann von ungefähr vierzig Jahren, teuer und geschmackvoll gekleidet. Er sah grimmig und etwas versoffen aus. Die verstörte junge Frau neigte sich über die Tante hinweg ihm zu und legte ihm die Hand auf die Schulter, zaghaft und auch vertraulich. »Sei nicht böse, Karl.« Karl sah noch grimmiger aus als zuvor, streifte die Hand von seiner Schulter und entfaltete eine Zeitung.

Mit zitternden Händen kramte die junge Frau aus einer großen, feuerroten Ledertasche eine runde, silberne Puderdose hervor und eine verdrückte Zigarette. Die Puderdose fiel zu Boden, und die junge Frau begann zu weinen. Sie weinte wie ein Schulkind, indem sie die Unterarme auf das kleine Klapptischchen vor sich legte, den Kopf auf die Arme bettete. Sie machte es sich behaglich zum Weinen. Sie schluchzte leise, das blonde Haarknötchen in ihrem Nacken wippte und zitterte, und es wippten die wolkigen Puffärmel ihrer etwas schmuddeligen weißen Seidenbluse.

»Ich kann keine Frau weinen sehen«, seufzte der dicke Mondgesichtige und sah aus, als wolle er gleich mitweinen.

»Mein Gott«, stöhnte neben ihm eine behäbige Frau und ließ ein Ei fallen, das rund und weiß zwischen die blank geputzten und arg geflickten schwarzen Schuhe eines alten, weißhaarigen Herrn rollte. Die junge Frau hob den Kopf und putzte sich die Nase. Karl trommelte mit den Fingerspitzen Marschtakte auf seinem Knie.

Der junge Mann bückte sich, um das Ei aufzuheben. Der magere alte Herr wurde rot, suchte zuerst seine Füße unter der Bank zu verbergen und erhob sich dann schnell, ein wenig zittrig in den Knien. »Sie sind an allem schuld«, rief er zornig. »Ich habe es satt, in einem Irrenabteil zu fahren. Sie sind schuld, jawohl Sie.«

»Ich?« Der junge Mann war grenzenlos erstaunt. »Wieso denn? Woran soll ich denn schuld sein?«

»Sie haben gesagt, der Zug wird entgleisen, das ist grober Unfug, das muß bestraft werden, das ist schlimmer als Unfug, Sie sind ein Verbrecher. Und Sie, junge Frau – Sie können ruhig wieder anfangen zu weinen – was fällt Ihnen ein? Wenn Sie Kummer haben und lebensmüde sind, machen Sie das mit sich ab und wünschen Sie deswegen keine Massenkatastrophe herbei.«

»Ich will in ein anderes Abteil«, schrie die behäbige Frau, die das Ei verloren hatte, »ich bin nicht abergläubisch, ich kenn sowas nicht, meine Schwester glaubt an Spinnen, aber manchmal geht so was in Erfüllung, ich will in ein anderes Abteil.«

»Wofür denn das?« Der dicke Mondgesichtige sprach mit rheinischem Tonfall. »Regt Euch doch nit auf, Frau. Entgleist ist entgleist bei nem Zug, ob Ihr nu hier im Abteil sitzt oder woanders. Meine Frau hat es auch immer mit so abergläubische Dinge, ich halt da nix von, ich laß mich nit jeck mache, aber man könnt ja bei der nächsten Station aussteigen.«

Der grimmige Mann Karl knurrte böse.

»Man sollte den Zugführer rufen«, sagte der alte Herr und öffnete entschlossen die Tür des Abteils.

Dem Abteil gegenüber lehnte ein dünnes männliches Wesen in verstaubtem dunkelblauen Anzug am offenen Fenster und hielt ein kleines Mädchen auf dem Arm. Das hatte ein mohnblumenrotes zerknittertes Kleidchen an, und sein strohiges blondes Haar wehte, als wolle es als fröhliche kleine Fahne der Lokomotive vorausfliegen.

Drei elegante Herren drängten sich durch den Gang, einer von ihnen stieß den älteren Herrn an, sah auf – »Ach, Herr Regierungsrat, wie geht es Ihnen? Hätte Sie beinahe nicht erkannt, prächtig sehen Sie aus. Ja, ja, das Nichtstun kann schon eine ganz gute Sache sein, möchte auch mal ausruhen, wie geht es Ihnen?« »Armen Menschen geht es natürlich glänzend.« Die bitteren Falten um den Mund des älteren Herrn wurden noch schärfer. Der muntere Elegante verabschiedete sich eilig und ohne Wärme. »Alles Gute, vielleicht sehen wir uns im Speisewagen?«

Der ältere Herr sah ihm einen Augenblick lang nach, kehrte dann mit scharfem Ruck in das Abteil zurück, setzte sich und schwieg vor sich hin. Er war reich gewesen, jetzt war er arm. Dafür waren andere jetzt reich, Dreckkerle, die er nicht ausstehen konnte. Das schlingerte da von der ersten Klasse zum Speisewagen, erwischte ihn als Mitinsassen dieses Kleinbügerabteils. Ekelhaft waren ihm die Leute, die mit ihm fuhren. Alle Menschen waren ihm ekelhaft. Mochte der verrückte Bengel recht behalten mit seiner Prophezeiung, mochte der Zug entgleisen. Ihm lag nichts an einem Leben ohne Geld, und den munteren Herren im Speisewagen war ein kleiner Unfall nur zu gönnen.

Ganz klein zusammengekrochen saß der ältere Herr in seinem sauber gebürsteten abgeschabten Anzug. Er war so blank und sauber vom weißen gescheitelten Haar angefangen bis zu den geflickten Stiefeln, kein Staubkörnchen deckte die Schäbigkeit seiner Kleidung.

Wo blieb der Zugführer? Was war mit dem alten Herrn? Die Reisenden waren bestürzt.

»Wenn ihn der Schlag trifft in diesem Alter und bei dieser Aufregung, dann ist es Ihre Schuld«, rief die behäbige Frau dem jungen Mann zu, »mein Schwager selig …«

»Ist Ihnen nicht wohl?« fragte der grimmige Mann Karl mit herzlicher Stimme, »ich bin Arzt, soll ich …«

»Nein. Mir ist wohl«, knurrte der ältere Herr.

»Also, dann werde ich jetzt den Zugführer holen«, der Mann Karl stand auf.

»Lassen Sie doch«, rief der dicke Mondgesichtige, »wofür soll das gut sein? Wenn wir das Personal vom Zug jetzt nervös machen, entgleist der Zug vielleicht erst recht. Aber es ist en Gemeinheit von Ihnen, junge Mann, die arm Frauen so aufzuregen.« Die behäbige Frau zitterte, und die junge Frau sah aus, als wolle sie gleich wieder anfangen zu weinen.

»Aber ich habe ja gar nicht diesen Zug gemeint«, sagte der junge Mann, freundlich und etwas erstaunt, daß nicht alle das sofort gewußt hatten.

»Na, dann ist ja alles gut.« Der dicke Mondgesichtige jubelte fast. »Warum haben Sie das denn nicht sofort gesagt? Da können wir ja jetzt alle aufatmen.« Er atmete auf, er rieb sich die Hände, klappste die Behäbige auf die Schulter: »Wo fahrt Ihr hin, Frau? Nach Köln? Lieber Gott noch, da müßt Ihr mich aber besuchen kommen, mein Frau wird sich freuen, wir machen en Böwlchen auf em Dachgarten, in der Ehrenstraß wohn ich, gleich am Hohenzollernring, Cornelius Seiffert ist mein Name, Obst und Südfrüchte – warten Sie, ich geb Ihnen meine Geschäftskarte, wir wohnen im gleichen Haus vom Geschäft.« Für den Dicken war das Leben wieder leicht, heiter, problemlos. Der Anfang der Reise war etwas getrübt gewesen, nun war es höchste Zeit, zum gemütlichen Teil überzugehen.

Es schien jedoch schwer, alle Mitreisenden in eine flotte karnevalistische Stimmung zu bringen. Der dicke Mann erzählte laut und gut einen rheinischen Witz, erntete aber nur bei der behäbigen Frau einen leichten Lacherfolg. Die anderen Reisenden hockten teilnahmslos und trübselig auf ihren Plätzen.

Der dicke Mann pfiff plötzlich und holte seinen Koffer herunter. Er entnahm ihm eine große Flasche Steinhäger sowie zwei Wassergläser. »So, jetzt sollen sich erst mal die Damen stärken und wieder zu sich kommen.« Er entkorkte die Flasche, schenkte die beiden Gläser halb voll und reichte eins der Behäbigen, eins der jungen Frau. Die Behäbige schüttelte sich, bevor sie trank und schüttelte sich, nachdem sie getrunken hatte. Die junge Frau sah nach Karl, dann trank sie erst einen kleinen Schluck, dann einen größeren und gab mit leisem Dank das Glas zurück. Munterer war sie immer noch nicht geworden. Schade. Der dicke Mann seufzte. Gerade von einer jungen Frau kann während einer Reise soviel Anregung ausgehen. »Lacht doch, Fräulein, dann seid Ihr viel hübscher.«

Auch sonst hatte der Dicke mit seiner Werbeaktion keinen Erfolg, außer bei dem Mann Karl, dort allerdings einen großen und durchschlagenden. Karl trank ein Glas aus, seine grimmige Miene schwand, er ließ sich dankend noch einmal einschenken, prostete dem Dikken zu und wurde gesellig.

Der Schaffner kam, um die Fahrkarten zu kontrollieren.

Es schien, daß sowohl der ältere Herr wie die behäbige Frau nunmehr Beschwerde über den jungen Mann führen wollten. Die Behäbige erkundigte sich einleitend nach dem Funktionieren der Notbremse, und der ältere Herr sagte: »Sie als Beamter.« Weiter kam er nicht, auch er wurde abgelenkt durch das merkwürdige Verhalten des dicken Mondgesichtigen. Der Dicke begann zu schnaufen, sein Gesicht wurde noch röter, während er die Fahrkarte suchte, seine Hände zitterten.

Er suchte lange, er bat den Schaffner zu gehen und später wiederzukommen. Doch der Schaffner ging nicht. Seine Miene war streng und erwartungsvoll, der Dicke roch nach schlechtem Gewissen.

Der junge Mann war vergessen.

Sehnsüchtig sah der Dicke nach dem spaltbreit geöffneten Fenster, als könne er sich da hinauszwängen. Dann seufzte er resigniert, griff in die Brusttasche und reichte dem Schaffner ein Kärtchen von der Farbe munteren Wiesengrüns.

Die Miene des Schaffners blieb hart und dunkel. »Sie haben zweiter Klasse.« »Aber ich habe Freunde hier«, log der Dicke sanft und bittend.

Zögernd verließ der Schaffner das Abteil. Dieser Fall schien ihm unklar und ungehörig.

»Hoffentlich darf ich sitzen bleiben«, sagte der Dicke. »Ich möchte nicht in die zweite Klasse, ich fühle mich hier gemütlicher. Zweiter Klasse habe ich nur genommen, weil meine Verwandten mich zur Bahn brachten. Die sollten nicht denken, wir hätten vielleicht nur so'n kleinen Gemüsekeller in Köln. Na, jetzt sind wir wieder unter uns. Prost junge Frau! Wie heißt Ihr?«

Die junge Frau schwieg. Sie war weich und blond und roch nach Lavendel. Neben ihr hing ein Mantel aus abgeschabtem hellbraunen Lammfell. Sie legte ihn sich um die Schultern. »Ich möchte etwas auf den Gang gehen«, sagte sie leise. Karl erlaubte es ihr.

Die junge Frau lehnte sich an das Gangfenster. Neben ihr lehnte der dünne ärmliche Mann mit dem blonden kleinen Mädchen auf dem Arm. Er war gut zu dem kleinen Mädchen, er hielt es fest. Die junge Frau bekam Heimweh danach, wieder klein zu sein. Ihr Vater hatte sie einmal während eines Gewitters durch einen Wald getragen. Im Hunsrück war es gewesen. Eine uralte zerknitterte Tante, die in einem winzigen Dorf einsam mit einer Ziege lebte und Kräuter sammelte, hatten sie dort besucht. Sie hieß Magdalene und war die Patin der jungen Frau.

»Lenchen«, hatten die Eltern die junge Frau gerufen. »Lenchen« wurde sie genannt von Bruno Gottlob, von Alfred Lieder, von Karl.

Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und in dem weniger glücklichen als anstrengenden Besitz von drei Männern, von denen keiner die Existenz des anderen auch nur ahnte. Lenchen hatte nicht gewollt, daß alles so kam.

In Godesberg am Rhein war sie aufgewachsen, ihre Eltern hatten dort eine große Gärtnerei. Die Kindheit war friedvoll gewesen, Lenchen liebte ihre Eltern. Sie liebte alles, was ihr freundlich entgegenkam. Sie liebte Blumen, weil sie hübsch aussahen und nicht weh taten; Vögel, weil sie niedlich herumflogen und zwitscherten; Hunde, weil sie bellten und nicht bissen.

Lenchen sah dem ärmlichen jungen Mann nach, der sich vom Fenster gelöst hatte und sein kleines Mädchen sorgsam durch den Gang trug. Sie hätte gern so ein niedliches kleines Kind gehabt und ein braves, ordentliches Leben. Gott mochte wissen, was aus ihr noch würde.

Sie hätte nie Weihnachtsengel werden dürfen.

Bei einer weihnachtlichen Schulfeier war sie zum erstenmal als Weihnachtsengel aufgetreten. Sie hatte einen schimmernden Stirnreif getragen und ein weißes wallendes Gewand. Große weiße Flügel hatte man ihr umgeschnallt, die waren sehr schwer gewesen, und die Träger hatten ihr die Schultern wund gescheuert. Doch ist die Schwere großer Engelsflügel etwas anderes als die Last eines vollgepackten Schulranzens oder eines Rucksacks voll Blumenerde. Damals hatte sie geglaubt, eines Tages in den Himmel fliegen zu können.

Lenchen seufzte und fühlte sich sehr alt geworden. Sie strich mit ihrer weichen hellen Hand über den schmutzigen Rahmen des Zugfensters, sie sah einen schwarzen, schmalen Vogel in rosagoldenes Gewölk fliegen.

Sie war auch einmal geflogen. Als Weihnachtsengel war sie über die Bühne des Konstanzer Stadttheaters geschwebt, gehalten von einem dünnen Draht. Es war schrecklich gewesen, sie hatte Angst gehabt und Brechreiz, und im Zuschauerraum hatte ein kleiner Junge gerufen: sie fliegt ja nicht richtig, sie hängt ja.

Lenchen erinnerte sich lieber der ersten Weihnachtsfeiern in der Schule. Das weiße, wallende Gewand, das sie tragen durfte, hatte ihr noch besser gefallen als die Flügel. Damals hatte sie gewünscht, ihr Leben in weißen, wallenden Gewändern zu verbringen.

Tag und Nacht hatte sie davon geträumt.

Alles, was mit wallenden Gewändern zu tun hatte, war schön, geheimnisvoll, gut und edel. In Märchen wurden diese Gewänder von Elfen und gütigen Feen getragen, Königstöchter trugen sie und liebliche Bräute. Engel waren ohne diese Tracht nicht denkbar, und es gab wunderschöne Bilder von Siegesgöttinnen, Glücksgöttinnen und herrlichen Griechinnen, die an Meeresgestaden wandelten oder an Palmbäume gelehnt sehnsüchtig eines Geliebten harrten. Germanenjungfrauen zogen mit weißen, wallenden Gewändern in die Schlacht, und schlanke Burgfräulein standen weißwallend gekleidet nächtlich auf Altanen, um goldene Lokken im Winde wehen zu lassen und von kühnen Rittern auf weißen Zeltern entführt zu werden.

Arm und kalt war das Leben einer Frau ohne die wallenden Gewänder. Lenchen hatte Jahre hindurch abendliche Stunden damit verbracht, in den weißen baumwollenen Nachthemden ihrer Mutter vor dem blinden Spiegel in ihrem kleinen Zimmer zu stehen, zu knien, zu gehen, die Arme auszubreiten, die Hände zu falten.

Wo war die Welt der wallenden Gewänder? Mit fünfzehn Jahren sah Lenchen kurz hintereinander im Stadttheater Sappho und Iphigenie. Seitdem weinte sie oft, ohne zu wissen, ob aus Schmerz oder aus Freude.