Gilgi - eine von uns - Irmgard Keun - E-Book

Gilgi - eine von uns E-Book

Irmgard Keun

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Beschreibung

Gilgi, ein Mädchen im Köln der 1920er Jahre, kündigt ihre Stelle als Sekretärin und zieht von Zuhause aus, weil sie das bevormundete Dasein bei den Eltern satt hat. Doch auch das »weiche, zerflossene, bedenkenlose« Leben mit dem Schriftsteller Martin ist keine Alternative, und aus ihrem Leben, sagt Gilgi, »soll nicht so'n Strindberg-Drama werden«. Und da nimmt sie es wieder in die eigenen Hände und macht sich wirklich auf den Weg in die Selbständigkeit. Der erste Roman über eine junge Frau, die für ihre Unabhängigkeit die vertrauten Pfade verlässt.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gilgi - eine von uns

Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren, feierte mit ihren beiden ersten Romanen, Gilgi – eine von uns und Das kunstseidene Mädchen, sensationelle Erfolge. 1936 ging sie ins Exil und kehrte vier Jahre später mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebte. Im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit konnte sie zunächst nicht an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der Siebzigerjahre von einem breiten Publikum wiederentdeckt wurden. Irmgard Keun starb 1982 und zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.

Irmgard Keun

Gilgi - eine von uns

Roman

Ullstein

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Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch  1. Auflage März 2025  © Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 Berlin 2006 © 2002 by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG © 1993 by Claassen Verlag GmbH, Hildesheim © 1979 by Claassen Verlag GmbH, Düsseldorf Erstveröffentlichung 1931  Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor. Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected]. Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München  Titelabbildung: © xnova / shutterstock (Schreibmaschine) Autorinnenfoto: ullsteinbild Gesetzt aus der Albertina powered by pepyrus Druck und Bindearbeiten: ScandBook, LitauenISBN 978-3-548-07392-7

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

1

2

3

4

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1

Motto

Dieses Ausgabe wurde in neue Rechtschreibung übertragen und behutsam orthografisch angepasst.

Manche der verwendeten Ausdrucksweisen sind heute nicht mehr zeitgemäß und müssen in ihrem historischen Kontext verstanden werden.

1

Sie hält es fest in der Hand, ihr kleines Leben, das Mädchen Gilgi. Gilgi nennt sie sich, Gisela heißt sie. Zu schlanken Beinen und kinderschmalen Hüften, zu winzigen Modekäppchen, die auf dem äußersten Ende des Kopfes geheimnisvollen Halt finden, passt ein Name mit zwei i. Wenn sie fünfundzwanzig ist, wird sie sich Gisela nennen. Vorläufig ist es noch nicht so weit.

Halb sieben Uhr morgens. Das Mädchen Gilgi ist aufgestanden. Steht im winterkalten Zimmer, reckt sich, dehnt sich, reibt sich den Schlaf aus den blanken Augen. Turnt vor dem weit geöffneten Fenster. Rumpfbeuge: auf – nieder, auf – nieder. Die Fingerspitzen berühren den Boden, die Knie bleiben gestreckt. So ist es richtig. Auf – nieder, auf – nieder.

Das Mädchen Gilgi macht die letzte Kniebeuge. Streift den Pyjama ab, wirft sich ein Frottiertuch um die Schultern und rennt zum Badezimmer. Begegnet auf dem dunklen Flur einer morgendlich unordentlichen Stimme: »Aber Jilgi, mit nackten Füßen aufem eisijen Linoljum! Wirst dir noch ’en Tod holen.«

»Morgen, Mutter«, ruft Gilgi und überlegt, ob sie heute ausnahmsweise erst warm und dann kalt brausen soll. Fort mit der Versuchung. Ausnahmen gelten nicht. Gilgi lässt sich das eiskalte Wasser auf die mageren Schultern, den kleinen konvexen Bauch, die dünnen, muskelharten Glieder prasseln. Sie presst die Lippen zu einem schmalen, festen Strich zusammen und zählt in Gedanken bis dreißig.

Eins – zwei – drei – vier. Nicht so schnell zählen. Langsam, ganz langsam: fünfzehn – sechzehn – siebzehn. Sie zittert ein bisschen und ist wie allmorgendlich ein bisschen stolz auf ihre bescheidene Tapferkeit und Selbstüberwindung. Tagesplan einhalten. Nicht abweichen vom System. Nicht schlapp machen. In der kleinsten Kleinigkeit nicht.

Das Mädchen Gilgi steht vor dem Spiegel. Zieht einen schwarzen Wildledergürtel über dem dicken, grauen Wolljumper fest zusammen, summt einen melancholischen Schlagertext, ein Zeichen guter Laune, und betrachtet sich mit sachlichem Wohlgefallen.

Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände – good nihight, good nihight … Bisschen Nivea-Creme auf die Brauen schmieren, dass sie schön glänzen, ein Stäubchen Puder auf die Nasenspitze. Schluss. Schminken gibt’s nicht am Vormittag, Rouge und Lippenstift bleiben für den Abend reserviert.

Reich mir zum Abschied noch einmal … Hat was Sympathisches, so ’n Spiegel, wenn man zwanzig Jahre ist und ein faltenloses, klares Gesicht hat. Ein gepflegtes Gesicht. Gepflegt ist mehr als hübsch, es ist eignes Verdienst.

Tieta – tatieta … Überlegender Blick in das nüchtern unpersönliche Zimmer. Weiß lackierte Bettstelle, weißer Wäscheschrank, ein Tisch, zwei Stühle, friedvolle Blümchen­tapete und ein harmlos umrahmtes Genrebildchen, das – blass und reizlos wie ein verlassenes Mädchen – endgültig verzichtet hat aufzufallen. Man hätte ihn schon längst entfernen sollen, diesen sentimentalen Farbfleck. Gilgi hebt angriffslustig den Arm. Lässt ihn wieder sinken. Ach, wozu? Mutter hat’s ihr mal geschenkt, das Ding. Die würde gekränkt sein, wenn man’s fortschmisse. Soll’s hängen bleiben. Stört ja nicht weiter. Geht einen nichts an, das ganze Zimmer. Man wohnt ja nicht hier, schläft nur in diesem weißen Jungfrauenbett. Reich mir zum Abschied noch einmal die Hän … Drei Paar Waschlederhandschuhe, zwei Kragen, eine Hemdbluse waschen. Gilgi rafft die Sachen unter den Arm, will ins Badezimmer. Die Tür ist verschlossen. »Einen Augenblick, Jilgi, kannst jleich rein«, tönt eine raue Stammtischmännerstimme von innen. Gilgi wandert im Flur auf und ab. Und nur weil sie jetzt im Augenblick gar nichts anderes zu tun hat, denkt sie an Olgas Bruder. Netter Junge. Wie war noch sein Vorname? Weiß sie nicht. Geküsst hat er sie gestern Abend im Auto. Heute reist er wieder ab. Schade? Ach wo. Aber nett war es gestern mit ihm. Lange hatte sie nicht mehr geküsst. Es gefällt einem so selten einer. Die Jahre der Wahllosigkeit zwischen siebzehn und neunzehn sind vorbei. Der Junge war nett. Der Kuss war nett. Nicht mehr. Er brennt nicht nach. Gut so.

Lärmend öffnet sich die Badezimmertür. Eine runde Gestalt in weißlichem Unterzeug stürzt an Gilgi vorbei und füllt den Flur mit einer Geruchwolke von Kaloderma-Seife und Pebeco-Zahnpasta.

»Morjen, Jilgi.«

»Morgen, Vater.« Gilgi vergisst augenblicklich Olgas küssenden Bruder und befasst sich hingegeben mit Lux-Seifenflocken, waschledernen Handschuhen, Kragen und Seidenbluse. Reich mir zum Abschied noch einmal die …

Eine Viertelstunde später sitzt Gilgi im Wohnzimmer. Urweltmöblierung. Imposantes Büfett, hergestellt um neunzehnhundert. Tischdecke mit Spachtelstickerei und Kreuzstichblümchen. Grünbleicher Lampenschirm mit Fransen aus Glasperlen. Grünes Plüschsofa. Darüber ein tuchenes Rechteck: Trautes Heim – Glück allein. Epileptisch verkrampfte Stickbuchstaben, um die sich veitstänzerische Kornblumen ranken. Können auch Winden sein. So was ist mal geschenkt worden. Für so was wurde mal »danke« gesagt. Über dem tuchenen Rechteck ein Monumentalbild: Washington. Er steht in einem schwankenden Boot, das sich mühsam einen Weg durch Eisschollen bahnt, und schwenkt eine Fahne von der normalen Größe eines Bettlakens. Bewundernswürdig. Nicht das Bild, sondern Washington. Mach das mal einer nach: in Gladiatorenhaltung, stolz und aufrecht in einem kleinen, sturmbewegten Boot zu stehen und kühn zu blicken und eine Fahne von der normalen Größe eines Bettlakens zu schwenken. Washington konnte das.

America for ever. Germany wants to see you. Deutschland, Deutschland über alles … Wenn man will, kann man glauben, dass der linealgrade gemalte Washington ein Vertreter deutscher Heldenhaftigkeit ist. Frau Kron glaubt das. Sie hat das Bild geerbt. Washington, Ziethen, Bismarck, Theodor Körner, Napoleon, Peter der Große, Gneisenau verschwimmen für sie zu einem. Sie weiß von einem so viel wie vom andern, nämlich nichts. Aber das Bild ist patriotisch, und darauf kommt es an. Deutschland, Deutschland …

Trautes Heim – Glück allein. Die Familie ist beisammen. Vater, Mutter und Tochter. Sie trinken Kaffee. Hausmischung: ein Viertel Bohnen, ein Viertel Zichorie, ein Viertel Gerste, ein Viertel Karlsbader Kaffeegewürz. Das Getränk sieht braun aus, ist heiß, schmeckt scheußlich und wird widerstandslos getrunken. Von Herrn Kron wegen der Nieren und wegen der Sparsamkeit, von Frau Kron wegen des Herzens und wegen der Sparsamkeit, von Gilgi aus Resignation. Außerdem ist bei allen dreien der Widerstand durch Gewohnheit gebrochen.

Alle drei essen Brötchen mit guter Butter. Herr Kron (Karnevalsartikel en gros) isst als Einziger ein Ei. Dieses Ei ist mehr als Nahrung. Es ist Symbol. Eine Konzession an die männliche Überlegenheit. Ein Monarchenattribut, eine Art Reichsapfel.

Keiner spricht. Jeder ist stumpf beflissen mit sich selbst beschäftigt. Der vollkommene Mangel an Unterhaltung kennzeichnet das Anständige, Legitimierte der Familie. Das Ehepaar Kron hat sich ehrbar bis zur silbernen Hochzeit durchgelangweilt. Man liebt sich und ist sich treu, eine Tatsache, die zur Alltäglichkeit geworden, nicht mehr besprochen und empfunden werden braucht. Sie ruht wohlverpackt und etwas angegilbt zusammen mit dem Hochzeitssilber irgendwo in dem Büfett aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die Langeweile ist die Gewähr für das Stabile ihrer Beziehungen, und dass man sich nichts zu sagen hat, macht einander unverdächtig.

Herr Kron liest im »Kölner Stadt-Anzeiger«. Seine rotbraune, leidlich gepflegte Rechte führt in regelmäßigen Intervallen die Kaffeetasse zum Mund. Sein rundes, frischfarbenes Gesicht hat den betroffenen und sorgenvollen Ausdruck, den der Gewohnheitszeitungsleser anzunehmen hat. Ein anständiger Mensch kann unmöglich ein vergnügtes Gesicht machen, wenn er liest: Polnische Infanteristen auf deutschem Boden. Schweinerei so was. »Europäisches Manifest«: Briand legt der Schlusssitzung des Europaausschusses eine Kundgebung für den europäischen Frieden und Wiederaufbau vor. Die nachfolgende Ausführung begreift Herr Kron nicht ganz, ein Grund, doppelt sorgenvoll zu blicken. Kann man Briand trauen? Man kann keinem trauen. Weiter: Skandal im Haushaltsausschuss – Edelsteinschmuggel nach Polen – Zeugenaufmarsch im Tausend-Prozess – Raubüberfall auf ein Buttergeschäft. Lauter unerquickliche Sachen. Weiß der Himmel, dass der gute Zeitungsleser aus gesundheitlichen Rücksichten traurige Nachrichten mit düsterer Befriedigung aufnehmen und verdauungsanregend auf sich wirken lassen muss. Weitere Kruschensalz-Berichte: Der Bischof von Leitmeritz gestorben – Wieder ein Waffenlager aufgedeckt – und hier … Herr Kron liest laut, mit einer Stimme, die abendlichen Biergenuss verrät: »Trajödije auf der Treptower Brücke, ’ne Frau is mit ihrem Kind ins Wasser jesprungen.«

»Beide tot?«, fragt Frau Kron beinahe hoffnungsfroh. Nicht aus Rohherzigkeit. Sie spürt nur gerne das mitleidsvolle Gruseln, das ihr Todes- und Skandalbotschaften verursachen.

»Die Mutter hann se jerettet«, berichtet Herr Kron. Er spricht unverfälschten kölnischen Dialekt, teils aus Lokalpatriotismus, teils aus Geschäftsinteresse. Mutter gerettet, Kind tot. Frau Krons mitleidsvolles Gruseln halbiert sich und hinterlässt Unbefriedigtsein. Ausgleich suchend vertieft sie sich in die Annoncen-Beilage. Inventurausverkauf. Üding’s Schuhe – unsere Schaufenster sagen alles. Teppichbursch – die drei letzten Tage – Qualitätsware. Frau Kron liest. Sie ist breit und zerflossen. Das Fleisch ihrer Arme und Brüste ist ehrbar schlaff und müde. Sie ist grau und reizlos und hat nicht den Wunsch, anders zu sein. Sie kann es sich leisten, zu altern. Ihr dunkelblaues Wollkleid hat hellgrauen Kragen- und Manschettenaufputz. Oben am Halsausschnitt steckt eine elfenbeinerne Brosche – Rudimente der Eitelkeit. Sie sitzt auf dem grünen Plüschsofa, liest im Annoncenteil des »Kölner Stadt-Anzeigers«, stippt mit dem breiten, fleischigen Daumen Brötchenkrümel vom Tisch, die sie abwesend zum Mund führt. Über ihr reckt Washington seine Fahne von der normalen Größe eines Bettlakens.

Mit eiligen, aber unhastigen, leichten Bewegungen trinkt Gilgi eine Tasse Kaffee, isst ein mager gestrichenes Brötchen – man will doch nicht dick werden –, zündet sich eine Zigarette an, macht drei, vier, fünf Züge, drückt die Zigarette auf der Untertasse aus und erhebt sich.

»Tschö, Vater.«

»Tschö, Jilgi.« Herr Kron hebt den Kopf, will etwas sagen, irgendetwas Freundliches, Interessevolles, er klappt den Mund auf: es fällt ihm nichts ein. Er klappt den Mund zu und lässt den Kopf wieder sinken.

»Tschö, Mutter.« Gilgi streicht ihr flüchtig über die speckige Schulter und geht aus dem Zimmer.

»Jilgi«, ruft es hinter ihr her, »kommste heut Nachmittag nich mit zum Kaffee zu Jeißlers?« Frau Kron ist gebürtige Hamburgerin, ahmt aber aus ehelicher Anpassungssucht mit gutem Willen und schlechtem Erfolg den rheinischen Dialekt ihres Mannes nach.

»Keine Zeit«, ruft Gilgi und klappt die Flurtür hinter sich zu.

Nein, sie hat keine Zeit zu verlieren, keine Minute. Sie will weiter, sie muss arbeiten. Ihr Tag ist vollgepfropft mit Arbeiten aller Arten. Eine drängt hart an die andere. Kaum, dass hier und da eine winzige Lücke zum Atemholen bleibt. Arbeit. Ein hartes Wort. Gilgi liebt es um seiner Härte willen. Und wenn sie einmal nicht arbeitet, wenn sie sich einmal Zeit zum Jungsein, zum Hübschsein, zur Freude schenkt – dann eben um der Freude, um des Vergnügens willen. Arbeit hat Sinn, und Vergnügen hat Sinn. Mit der Mutter zum Kaffeeklatsch gehen wäre weder Vergnügen noch Arbeit, sondern sinnlos verschwendete Zeit. Es gibt nichts, was Gilgi mehr gegen Natur und Gewissen geht.

Gilgi sitzt in der Straßenbahn. Eigentlich wollte sie zu Fuß gehen, hat aber keine Zeit mehr dazu. Neben ihr, vor ihr die Reihe der Angestellten. Müde Gesichter, verdrossene Gesichter. Alle sehen ei­nander ähnlich. Gleichheit des Tageslaufs und der Empfindungen hat ihnen den Serienstempel aufgedrückt. Jemand zugestiegen – sonst noch jemand ohne Fahrschein? Keiner tut gern, was er tut. Keiner ist gern, was er ist. Kleine Blasse mit den hübschen Beinen, lägst du jetzt nicht lieber im Bett und schliefst dich aus? Braunes Mädchen mit den Wandervogelschuhen, scheint ein schöner Tag heute zu werden – würdest du nicht lieber im Stadtwald spazieren laufen und die zahmen Rehe mit den Kastanien füttern, die du im Herbst gesammelt hast?

Sonst noch jemand ohne Fahrschein – sonst noch jemand ohne Fahrschein? Sie fahren ins Geschäft. Tag für Tag ins Geschäft. Ein Tag gleicht dem andern. Klingelingling – man steigt aus, man steigt ein. Man fährt. Fährt und fährt. Achtstundentag, Schreibmaschine, Stenogrammblock, Gehaltskürzung, Ultimo – immer dasselbe, immer dasselbe. Gestern, heute, morgen – und in zehn Jahren.

Ihr Jungen, ihr unter dreißig, habt auch ihr nur dieses hoffnungsarme Frühmorgengesicht? Morgen ist Sonntag. Werden da nicht am Nachmittag kleine Wunschbilder in euren Augen brennen? Nicht wahr, junger Mann, man kauft sich nicht so eine schöne, strahlend gelbe Krawatte, wenn man nicht heimlich glaubt, eines Tages Chef mit Privatauto und ausländischem Bankguthaben zu sein? Braves Fräulein aus guter Familie, nicht wahr, Sie würden die bunte Halskette nicht umbinden, wenn Sie nicht wünschten, dass einer kommt, der findet, dass sie Ihnen hübsch steht? Kleiner Rotkopf, hättest du die zwanzig Mark für die Dauerwellen ausgegeben, wenn du nicht von Schönheitskonkurrenz und Filmengagement träumtest? Auch Greta Garbo ist einmal Verkäuferin gewesen. Fahrt ins Geschäft. Tag für Tag. Wird etwas kommen, was das Gleichmaß der Tage unterbricht? Was? Der Douglas Fairbanks, der Lotteriegewinn, das Filmengagement, die märchenhafte Beförderung, der Sterntalerregen vom Himmel? Wird das kommen? Nein. Keine Aussicht auf Wechsel und Unterbrechung? Doch. Welche? Krankheit, Abbau, Erwerbslosigkeit. Aber man fährt ja noch. Ja, man fährt. Wie gut.

Gilgi sieht aus dem Fenster. Die Trostlosen da im Wagen – nein, sie hat nichts mit ihnen gemein, sie gehört nicht zu ihnen, will nicht zu ihnen gehören. Sie sind grau und müde und stumpf. Und wenn sie nicht stumpf sind, warten sie auf ein Wunder. Gilgi ist nicht stumpf und glaubt an kein Wunder. Sie glaubt nur an das, was sie schafft und erwirbt. Sie ist nicht zufrieden, aber sie ist froh. Sie verdient Geld.

Ihr da im Wagen, freut ihr euch denn nicht?

Wir sind so müde.

Aber ihr verdient doch Geld?

Es ist so wenig.

Ihr könnt aus dem wenigen mehr schaffen.

Das ist so schwer.

Darum ist es schön.

Es ist nicht schön.

Die Zeiten sind schlecht. Keiner ist gern, was er ist. Keiner tut gern, was er tut.

Ist denn keiner von euch jung wie ich, freut sich keiner wie ich? Doch. Ein – zwei – drei Gesichter. Junge, straffe Züge, harte, kleine Stirnfalten, unternehmungsbereites Kinn, wache Augen.

Gilgi umschließt mit der Hand die äußere Kante ihres Koffers. Hart und fest. Die knappe, kleine Bewegung ist ein Händedruck. Also doch! Nicht ich – sondern wir. Wir! Sie hebt den Kopf und hat frohe Augen. Du – du – du und ich: wir werden es schaffen.

Tick-tick-tick – rrrrrrrr – bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom 18. des … tick-tick-tick – rrrrrrrr … einliegend überreichen wir Ihnen … tick-tick-tick … im Anschluss an unser gestriges Telefongespräch teilen wir Ihnen mit …

Die Stenotypistin Gilgi schreibt den neunten Brief für die Firma Reuter & Weber, Strumpfwaren und Trikotagen en gros. Sie schreibt schnell, sauber und fehlerfrei. Ihre braunen, kleinen Hände mit den braven, kurznäglig getippten Zeigefingern gehören zu der Maschine, und die Maschine gehört zu ihnen.

Tick-tick-tick – rrrrrrrr … die Stenotypistin Gilgi geht zum Chef und legt ihm die Briefe zur Unterschrift vor.

»Warten Sie«, sagt Herr Reuter, liest jeden Brief, um dann mit etwas verlogener Energie seinen Namen unter das getippte Hochachtungsvoll zu hauen. Gilgi wartet. Die bleiche Wintersonne malt Kringel auf den gelben Rollschrank, den rauhaarigen Korkteppich und auf Herrn Reuters eiförmigen Plüschkopf.

»Setzen Sie sich«, sagt Herr Reuter. Gilgi geht an dem guten ledernen Kundensessel vorbei, nimmt ein paar Hefte und Blätter von dem einfachen Rohrstuhl und setzt sich. Neugierlos sieht sie vor sich hin und hat ihr ruhiges, abgeschlossenes Berufsgesicht.

»Machen Sie immer so ein böses Gesicht?«, fragt Herr Reuter. So fängt es an.

»Ich mache gar kein böses Gesicht.«

Gilgi ist ein erfahrenes Mädchen. Sie kennt Männer und die jeweiligen Wünsche und Nichtwünsche, die sich hinter dem Ton ihrer Stimme, ihren Blicken und Bewegungen verbergen. Wenn ein Mann und Chef wie Herr Reuter mit unsicherer Stimme spricht, ist er verliebt, und wenn er verliebt ist, will er was. Früher oder später. Bekommt er nicht, was er will, ist er erstaunt, gekränkt und ärgerlich. Seit einiger Zeit schon ist dicke Luft zwischen ihr und Herrn Reuter. Jetzt ist die Sache reif. Kollegin Müller hat erzählt, dass Frau Reuter verreist ist. Das beschleunigt den Gang der Handlung.

Gilgi überlegt. Sie hat keine Lust, mit Herrn Reuter ein Verhältnis anzufangen, und sie hat keine Lust, sich ihre Stellung bei ihm zu vermurksen, sie eventuell zu verlieren. Er ist ein guter Chef. Er bezahlt Überstunden, nutzt seine Angestellten nicht aus, ist freundlich und angenehm. Gilgi hat schlechtere Chefs gehabt.

Sie antwortet Herrn Reuter höflich auf seine Fragen und beschließt, begriffsstutzig zu bleiben, solange es eben geht. Ob sie heute mit ihm zu Mittag essen könne? Sie hätte leider so wenig Zeit. Herr Reuter bittet, und Gilgi verspricht, ihn nach Geschäftsschluss um zwei Uhr im »Schwerthof« zu treffen. Allzu starker Widerstand würde sie vielleicht weniger harmlos erscheinen lassen, als sie möchte.

Ein paar Stunden später sitzt Gilgi mit Herrn Reuter im »Schwerthof«. Sie sind beim Kaffee. Herr Reuter raucht die erste Zigarette. Er zeigt Gilgi Bilder von seiner Frau und seinem Kind nach Art von Ehemännern, die unter leichten Gewissensbissen bereit zur Untreue sind. »Eine entzückende Frau«, lobt Gilgi.

Herr Reuter raucht die zweite Zigarette. Die Bilder von Frau und Kind sind in die Brieftasche zurückgewandert. Er redet viel. Gilgi sagt hin und wieder Ja und Nein.

Herr Reuter raucht die dritte Zigarette und erwähnt beiläufig, dass er sich mit seiner Frau nicht so fabelhaft unterhalten könne wie mit ihr. »Aaach?«, macht Gilgi. »Ja«, sagt Herr Reuter und streicht ein paarmal über ihren Handrücken. »Wie jung Sie sind, ich könnte Ihr Vater sein, Kindchen.« Er erwartet heftigen Protest. Gilgi lächelt nur unschuldsvoll, und Herr Reuter legt sich das Lächeln zu seinen Gunsten aus.

Er raucht die vierte Zigarette. Plötzlich überkommt ihn das Bedürfnis, sich unglücklich zu fühlen. Seine Ehe ist ganz und gar nicht gut, sein Leben ist verpfuscht, man ist ein alter Trottel, festgefahren in einem Krämerberuf. Er arbeitet mit Bitterkeit, Selbstironie und leichtem Pathos. Bei: »man müsste mal raus aus allem« wirft er sich in die Brust, dass die Schulternähte krachen, und bestellt anschließend zwei Liköre. Gilgi lehnt es ab, bereits mittags Alkohol zu trinken.

Herr Reuter raucht die fünfte Zigarette. Seine Hand verirrt sich auf Gilgis Knie und wird von Gilgi sanft entfernt. »Ich fühle mich so allein, könntest du mir nicht ein wenig gut sein, Kind?« Sie könnte ihn ganz gut leiden, sagt Gilgi und betrachtet ihn mit jenem nachsichtigen Mitleid, das Frauen für Männer empfinden, deren Aufmerksamkeit ihnen gleichzeitig lästig und schmeichelhaft ist.

Herr Reuter will die sechste Zigarette anzünden, als Gilgi erklärt, gehen zu müssen. Nein, sie kann nicht mehr bleiben, keine Minute mehr. Um vier Uhr hat sie englischen Unterricht. »Sie sind ein strebsames Mädchen«, findet Herr Reuter enttäuscht und anerkennend.

Ja, sie wird morgen im »Domhotel« mit ihm zu Abend essen. Gilgi ist freundlich, nett und entgegenkommend. Sie hat ihren Plan fertig. Der Kellner kommt, und Gilgi besteht darauf, ihr Mittagessen selbst zu bezahlen. Sie setzt ihren Willen durch, verabschiedet sich von Herrn Reuter und hinterlässt in ihm das angenehme Gefühl, »um seiner selbst willen« geliebt zu werden.

Ein paar Minuten später telefoniert sie mit Olga.

»Guten Tag, Marzipanmädchen, ich möchte gern, dass du zu mir kommst, heut Abend so gegen elf, hab bis dahin zu arbeiten.«

»Gern, Gilgi«, tönt Olgas runde, freundliche Stimme, »ist was Besonderes?«

»Nö, gar nicht. Möcht dich nur um ’ne kleine Gefälligkeit bitten.«

»Na, sag doch gleich, was ist.« Olga ist so neugierig, Olga will immer gleich alles wissen.

»Wart man bis elf, Olga. Wiedersehn.«

»Wiedersehn.«

Wie nett, dass man Olga hat. Olga ist die bunteste Farbe in Gilgis Leben. Und wenn sie nicht solchen Widerwillen gegen das Wort Romantik hätte, könnte man sagen: Olga ist die Romantik für Gilgi. Sie freut sich auf Olga. Aber vorerst darf nicht an sie gedacht werden. Die Stunde Lachen heut Abend um elf muss man sich erst verdienen.

Gilgi sitzt in der Berlitz School. »Lernt fremde Sprachen!« Gilgi lernt Spanisch, Englisch, Französisch. Drei Stunden hintereinander. Ihr schwirrt der Kopf von fremden Worten, als sie endlich in ihrem kleinen Mansardenzimmer auf der Mittelstraße angelangt ist. I want to be happy … sous les toits de Paris … der trockene Unterricht in fremdsprachlicher Handelskorrespondenz löst sich in blumigen Schlagermelodien. I want to be happy … Gilgi wirft begehrliche Blicke auf den breiten, weich gelegenen Diwan. Sie ist ein bisschen müde, soll sie … nur eine halbe Stunde …? Keine Zeit. I want to be happy … Gilgi dreht das Grammophon auf. Tauber als Kolapastille. Ich küsse Ihre Hand, Madame … Sie holt aus dem Schrank einen Samowar und kocht Tee. Zieht Jumper und Rock aus, hängt sie säuberlich an den Türhaken und streift einen gelbseidenen Kimono über. Hier ist sie zu Hause. Dieses Zimmerchen hat sie gemietet, um ungestört arbeiten zu können. Sie bezahlt es, und es gehört ihr. Die Wände hat sie mit braunem Rupfen bespannen lassen. Die Möbel: Diwan, Schreibtisch, Schrank, Stuhl hat sie allmählich Stück für Stück angeschafft. Alles ist eigenst erworbener Besitz. Die kleine Erika-Schreibmaschine und das Grammophon sind mit Überstunden verdient worden.