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In diesem Band findest du alles, was du zur Vorbereitung auf Referat, Klausur, Abitur oder Matura benötigst – ohne das Buch komplett gelesen zu haben.
Alle wichtigen Infos zur Interpretation sowohl kurz (Kapitelzusammenfassungen) als auch ausführlich und klar strukturiert.
Inhalt:
- Schnellübersicht
- Autor: Leben und Werk
- ausführliche Inhaltsangabe
- Aufbau
- Personenkonstellationen
- Sachliche und sprachliche Erläuterungen
- Stil und Sprache
- Interpretationsansätze
- 6 Abituraufgaben mit Musterlösungen
NEU: exemplarische Schlüsselszenenanalysen
NEU: Lernskizzen zur schnellen Wiederholung
Layout:
- Randspalten mit Schlüsselbegriffen
- übersichtliche Schaubilder
NEU: vierfarbiges Layout
Das kunstseidene Mädchen ist ein Zeitroman, der die immer härter werdende Lage der Menschen im Deutschen Reich Anfang der 1930er-Jahre schildert: Arbeitslosigkeit, Konkurrenz, Kriminalität, Prostitution nehmen drastisch zu.
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Seitenzahl: 148
KÖNIGS ERLÄUTERUNGEN
Band 447
Textanalyse und Interpretation zu
Irmgard Keun
Das kunstseidene Mädchen
Magret Möckel
Alle erforderlichen Infos zur Analyse und Interpretation plus Musteraufgaben mit Lösungsansätzen
Zitierte Ausgabe: Keun, Irmgard: Das kunstseidene Mädchen. Mit Materialien, ausgewählt von Jörg Ulrich Meyer-Bothling. Leipzig: Klett, 2004.
Über die Autorin dieser Erläuterung:Magret Möckel, geboren 1952 in Lindau an der Schlei (Schleswig-Holstein), Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität in Hamburg. Seit 1979 Lehrerin für Deutsch und Englisch, erst an einem Gymnasium in Vechta, dann in Friesoythe, seit 2003 an der Graf-Anton-Günther-Schule in Oldenburg. Ihr Unterrichtsschwerpunkt liegt auf dem Deutschunterricht in der Oberstufe. Frau Möckel leitete viele Jahre lang die Fachgruppe Deutsch an der Graf-Anton-Günther-Schule und war Mitglied der Kommission zur Erstellung der zentralen Abituraufgaben im Fach Deutsch.
1. Auflage 2024
978-3-8044-7105-4
© 2024 by Bange Verlag GmbH, 96142 Hollfeld Alle Rechte vorbehalten, darunter fällt auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von §44b UrhG! Titelabbildung: Thyra Uhde als Doris in einer Inszenierung des Romans am Jungen Theater Göttingen 2023 © Dorothea Heise
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1. Das Wichtigste auf einen Blick – Schnellübersicht
2. Irmgard Keun: Leben und Werk
2.1 Biografie
2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
Berlin in den 1930er Jahren
Literarische Einordnung des Romans
2.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken
3. Textanalyse und -Interpretation
3.1 Entstehung und Quellen
3.2 Inhaltsangabe
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
3.3 Aufbau
3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken
Charakteristik der Hauptfigur Doris
Doris und ihre Beziehung zu anderen Menschen
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Personenkonstellationen
Frauen
Doris und Therese
Doris und ihre Mutter
Doris und Tilli
Männer
Doris und ihr Vater
Doris und Hubert (Erster Teil)
Doris und Herr Brenner (Zweiter Teil)
Doris und Ernst (Dritter Teil)
3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen
3.6 Stil und Sprache
Die sprachliche Gestaltung des Romans
Merkmale
„Schreiben wie Film“
Auseinandersetzung mit Narration
Leitmotive und Dingsymbole
Der Feh
Glanz
3.7 Interpretationsansätze
Theater, Film, Schlager und das eigene Leben
Rolle und Selbstverständnis der Frau, Beziehung der Geschlechter
Merkmale emanzipatorischen Verhaltens
Doris als „Picara“
Krisen am Ende der Weimarer Republik und ihr Erscheinungsbild im Berlin des Romans
Berlins literarische Verarbeitung im Roman
3.8 Schlüsselstellenanalysen
4. Rezeptionsgeschichte
5. Materialien
Der Begriff der Neuen Sachlichkeit in der Literatur
Irmgard Keun: Dienen lerne beizeiten das Weib
Georg Heym: Die Stadt
Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun?
6. Prüfungsaufgaben mit Musterlösungen
Aufgabe 1 ***
Aufgabe 2 ***
Aufgabe 3 **
Aufgabe 4 **
Aufgabe 5 *
Aufgabe 6 *
Lernskizzen und Schaubilder
Literatur
Zitierte Ausgabe
Primärliteratur
Sekundärliteratur zu Irmgard Keun und ihrem Roman Das kunstseidene Mädchen (Auswahl)
Weiterführende Literatur
Verfilmungen
Damit sich alle Leser:innen in diesem Band schnell zurechtfinden und das für sie Interessante gleich entdecken, hier eine Übersicht:
Im 2. Kapitel beschreiben wir Irmgard Keuns Leben und stellen den zeitgeschichtlichen Hintergrund dar:
Irmgard Keun wurde 1905 in Berlin geboren und starb 1982 in Köln.
In ihrem zweiten Roman Das kunstseidene Mädchen steht die Großstadt Berlin im Blickpunkt, eine Metropole, in der sich in den 1930er Jahren politische und gesellschaftliche Umbrüche konzentrierten. Das Buch beleuchtet kritisch die Zeit der Machtergreifung Hitlers, Arbeitslosigkeit, Frauenbewegung und die Probleme einer Großstadt.
Die Protagonistin möchte ein selbstbestimmtes Leben führen und entspricht somit einem neuen Typus von Frau, der sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts etabliert.
Der Roman ist der literarischen Richtung „Neue Sachlichkeit“ zuzuordnen, moderne Leser:innen stellen ihn aber auch als Diskursroman vor. Das Spiel mit Romantypen und neue Erzählweisen wie z. B. „filmisches Erzählen“ machen ihn zum Dokument der Moderne.
Im 3. Kapitel bieten wir eine Textanalyse und -interpretation.
Irmgard Keuns Debütroman Gilgi – eine von uns erschien 1931 und wurde zu einem Verkaufserfolg. Literarisch knüpft sie mit ihrem zweiten Werk Das kunstseidene Mädchen, das zu einem Bestseller wird, 1932 daran an. Dieser Roman nimmt die Zeit und viele Lebenserfahrungen der Autorin selbst auf. Den Vorwürfen, der Roman ähnele sehr Robert Neumanns Karriere, widerspricht Irmgard Keun heftig.
Der Roman ist aus der Perspektive der Protagonistin Doris verfasst, die in einer Kleinstadt als Schreibkraft tätig ist, einen unsittlichen Übergriff ihres Chefs ablehnt, daraufhin fristlos entlassen wird und beim Theater anfängt. Auch hier verwirklicht sie nicht ihren Traum, berühmt, d. h. „ein Glanz“ zu werden. Nach vielen Lügen, Intrigen und dem Diebstahl eines Pelzmantels muss sie fliehen und geht nach Berlin. Dort kommt sie notdürftig unter, macht wechselnde Männerbekanntschaften, von denen sie sich unterschiedlich lange aushalten lässt. Berlin wirkt anfangs stimulierend auf sie, zunehmend erfährt sie aber die Probleme der Arbeits- und Wohnungslosigkeit und der sich zuspitzenden ökonomischen und politischen Verhältnisse. Als sie schon tief gesunken ist, wird sie von einem Mann, Ernst, aufgenommen, mit dem sie allmählich ein eheähnliches Verhältnis beginnt. Am Schluss verzichtet sie aber auf ihn und bringt ihn wieder mit seiner Ehefrau in Kontakt. Der Roman endet ohne Aussicht auf Besserung der Verhältnisse für Doris.
Der Roman besteht aus drei Teilen und bildet die Lebenssituation der Protagonistin ab. Er beginnt Ende des Sommers 1931 in einer mittleren Stadt und konzentriert sich im zweiten und dritten Teil auf die große Stadt (Berlin) im Herbst und Winter 1931/1932.
Die wichtigste Person ist
Doris:
strebt nach Selbstständigkeit und Luxus, möchte aber keine geregelte Arbeit,
will berühmt werden, glaubt, dass ihr dies möglich ist, weil sie jung, hübsch und attraktiv ist,
setzt körperliche Reize gegenüber Männern konsequent ein, um eingeladen und ausgehalten zu werden,
ihre konservativen Moralvorstellungen halten sie nicht davon ab, mit Männern mitzugehen, wenn ihr dadurch ein Leben in Luxus in Aussicht steht,
stiehlt ohne ein schlechtes Gewissen,
ist bestrebt, Gutes zu tun, insbesondere Frauen zu helfen,
zu ihrem Jugendfreund Hubert, zum blinden Kriegsveteran Brenner und zu Ernst hat sie eine besondere Beziehung.
Wir stellen Doris ausführlich vor und gehen außerdem auf ihre Beziehung zu Therese, ihrer Mutter, Tilli, ihrem Vater, Hubert, Herrn Brenner und zu Ernst ein.
Die sprachliche Gestaltung ist durch die Anpassung an den geringen Bildungsgrad und das niedrige Milieu der Protagonistin geprägt. Gleichzeitig ist der Roman auch in sprachlicher Hinsicht durch den Ort (Berliner Dialekt) und die Zeit (30er Jahre bis 20. Jahrhunderts) bestimmt. Der Text zeichnet sich durch eine Fülle von kreativen und ungewöhnlichen Ausdrücken, Metaphern und Vergleichen aus, die besonders intensive bildliche Vorstellungen erzeugen. Syntaktisch herrschen Ellipsen und additive Reihungen (‚und‘-Verknüpfungen) vor, die einen Eindruck von Unmittelbarkeit und Mündlichkeit erzeugen.
Verschiedene Interpretationsansätze bieten sich zu den thematischen Schwerpunkten dieses Romans an:
Film, Medien und Musik,
die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und die Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau,
die Ausgestaltung der Hauptfigur als weiblicher Schelm, die durch den vordergründig naiven Blick auf die Gesellschaft und zeitlichen Umstände Kritik übt.
Irmgard Keun
(1905–1982) © picture alliance / ullstein bild
Jahr
Ort
Ereignis
Alter
1905[1]
Berlin
6. Februar: Geburt Irmgard Keuns; Vater Eduard Keun, Importkaufmann, Mutter Elsa Charlotte Keun; in der Berliner Zeit drei Umzüge innerhalb Berlins
1913
Köln
Umzug der Familie nach Köln, Besuch einer evangelischen Privatschule
8
1921
Köln
Ende der Schulzeit, Eintritt in eine Kölner Schauspielschule
16
1925
Köln
zweijährige Ausbildung am Stadttheater Köln
20
1927/28
Hamburg
Nebenrollen am Thalia-Theater; Arbeit als Modell (Reklame)
22/23
1928/29
Greifswald
Hauptrollen am Stadttheater Greifswald
23/24
1931
Gilgi – eine von uns (erster Roman)
26
1932
Das kunstseidene Mädchen (zweiter Roman); Heirat mit Johannes Tralow, Theaterregisseur und Schriftsteller; Beziehung zu Arnold Ferdinand Strauss
27
1933
Köln
Verbot der Texte Keuns durch die Nationalsozialisten
28
1936
Ostende, Belgien
Keun verlässt Deutschland und geht ins Exil; Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften (Roman); Verbindung mit dem Schriftsteller Joseph Roth
31
1937
Scheidung von J. Tralow; Nach Mitternacht (Roman)
32
1938–1940
Nizza, Amsterdam, USA, Belgien
Aufenthalte in verschiedenen Ländern; Kind aller Länder (Roman); D-Zug dritter Klasse (Roman)
33
1940
Deutschland
illegale Einreise unter dem Decknamen Charlotte Tralow
35
1947
Köln
Bilder und Gedichte aus der Emigration
42
1950
Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen (Roman)
45
1951
Köln
Geburt der Tochter Martina (Vater unbekannt); Rückzug und Enttäuschung, Alkoholprobleme
46
1954
Wenn wir alle gut wären (kleine Begebenheiten, Erinnerungen und Geschichten)
49
1962
Blühende Neurosen (Satire)
57
1966–1972
Bonn
Unterbringung in der Psychiatrie
61–67
1975
Wiederentdeckung der Werke Keuns in der literarischen Welt
70
1981
Ingolstadt
Verleihung des Marieluise-Fleißer-Preises der Stadt Ingolstadt; Krebserkrankung
76
1982
Köln
5. Mai: Tod der Schriftstellerin
77
Zusammenfassung
Den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Romans Das kunstseidene Mädchen bildet das Berlin der 1930er Jahre:
politisches und kulturelles Zentrum der Zeit
Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit
Ende der Weimarer Republik, Machtergreifung Hitlers
Verschiedene Lesarten des Romans werden zur Diskussion angeboten:
moderner Frauenroman
Roman der Neuen Sachlichkeit
Zeitroman
Roman der Popliteratur
Tagebuch- und Diskursroman
Eine Übersicht wichtiger anderer literarischer Werke der Weimarer Republik schließt das Kapitel ab.
Die Großstadt Berlin in den 1920er und 1930er Jahren ist politisches und kulturelles Zentrum Deutschlands. Sie ist eine der wichtigsten Metropolen der Welt und Dreh- und Angelpunkt neuer Tendenzen und Strömungen. Das im Text angesprochene „Romanische Café“ (vgl. z. B. S. 61, Z. 16 f.) gegenüber der Gedächtniskirche ist Treffpunkt vieler Literaten und Theaterleute.
Die kulturelle Szene mit Theater, Kabarett, Literatur etc. ist außerordentlich vielfältig. Dazu kommen neue Medien wie der Film und Werbung. Glanz und Glamour, modisches Outfit und viele Restaurants und Tanzlokale (Modetanz Tango) gehören zum Stadtbild.
Außenansicht des Romanischen Cafés in Berlin- Charlottenburg um 1935 © picture-alliance / akg-images | akg-images
Die Weltwirtschaftskrise 1929 bedingt allerdings zunehmende Arbeitslosigkeit (1932 nahezu 5 Mio.) und wirtschaftlichen Niedergang. Das betrifft alle Einkommensgruppen und soziale Schichten und hat menschliche Tragödien und Krisen zur Folge. So steigt die Selbstmordrate in dieser Zeit drastisch, im Roman wird die verzweifelte und bedingungslose Suche nach Arbeit in vielen Facetten aufgenommen (vgl. S. 5, 45, 60, 82, 87, 89, 104 etc.). Allein in Berlin suchen etwa 600.000 Menschen nach Arbeit. Da nur etwa die Hälfte der Arbeitssuchenden durch Versicherungen unterstützt wird, sind viele auf die Wohlfahrt angewiesen, die – auch das wird im Roman angesprochen – dann auch noch durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg in Notverordnungen gekürzt wird. Im Roman erfolgen Hinweise auf die Konsequenzen wie Wohnungslosigkeit, körperliches Elend, Verbitterung und Schwarzmarkt, zunehmende Prostitution und Alkoholismus.
Politisches Geschehen bildet den Hintergrund des Romans. Als die Protagonistin Doris 1931 nach Berlin kommt, findet dort gerade der Staatbesuch des französischen Ministerpräsidenten Pierre Laval und des französischen Außenministers Aristide Briand statt (28. 09. 1931). Die Kranzniederlegung am Grab des ehemaligen deutschen Außenministers Gustav Stresemann soll der Aussöhnung von Deutschen und Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg dienen. Außerdem geht es um einen Aufschub der im Versailler Vertrag festgelegten Reparationszahlungen. Im Zusammenhang mit diesem Ereignis kommt es zu Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten.
Das Ende der Weimarer Republik ist mit der Machtergreifung Hitlers 1933 gekommen. Die Zunahme antijüdischer Einstellungen, rassistischer Ideologie und Präsenz gewaltbereiter nationalsozialistischer Gruppen ist ebenfalls im Roman deutlich verfolgbar (vgl. S. 27, 42, 63, 80, 90 u. v. m.).
Im beginnenden 20. Jahrhundert entwickeln sich vielfältige Strömungen von Literatur, die einerseits als Gegenbewegung zu literarischen Positionen, wie sie im poetischen Realismus oder Naturalismus vertreten werden, zu verstehen sind. Gleichzeitig entstehen aufgrund veränderter technologischer, medialer, soziologischer, wirtschaftlicher und politischer Bedingungen ganz neue literarische Formen. Die Literaturwissenschaft unterscheidet dabei zwischen „großen“, Epoche machenden[2] und unterhaltenden literarischen Formen. Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen zählt zur letzteren Kategorie. Gleichwohl ist die zeitgenössische Forschung bestrebt, auf die schwindende Grenze zwischen ästhetisch anspruchsvollen und unterhaltenden Texten hinzuweisen. Dem Roman Keuns wird aus modernem Blickwinkel[3] eine hohe literarische Qualität, Dokumentencharakter, stilistisch und ästhetisch hohe Komplexität neben der unterhaltenden Funktion des Textes zugeschrieben. Inhaltlich und stilistisch lässt sich der Roman in Teilaspekten verschiedenen Kategorien zuordnen.
Moderner Frauenroman
Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen ist ein moderner Roman hinsichtlich der Erzählhaltung, der Gestaltung der Hauptfigur und der Struktur. Der Roman ist aus der Ich-Perspektive verfasst und verzichtet auf den traditionellen auktorialen Erzähler. Im Gegensatz zum vorbildhaften Helden des traditionellen Romans erleben wir hier eine Heldenfigur, deren Bewusstsein und Reaktion auf zeitliche Umstände und Erscheinungen im Mittelpunkt stehen. Kennzeichnend für den modernen Roman ist laut Migner
„die Heldenfigur inmitten einer ihr keineswegs mehr selbstverständlich vertrauten Umwelt, die Heldenfigur in unter Umständen keineswegs mehr schlüssig erklärbaren Aktionen, die Heldenfigur in oftmals unvollständiger, beispielsweise auf bestimmte Verhaltensweisen reduzierter Gestaltung“.[4]
Doris ist eine solche Heldin, denn sie begibt sich in die ihr unvertraute Großstadt und gibt ihre Verwirrung offen zu („ich verstehe von nichts, von nichts. Es sind ungeheure Ereignisse auf der Welt, ich verstehe von gar nichts. So dumm“, S. 89 Z. 33 f.). Handlungsweise und Entscheidungen sind durchaus nicht immer nachvollziehbar und erwecken den Eindruck von Sprunghaftigkeit und Irrationalität. Die Gestaltung ihrer Person ist im Wesentlichen auf den ‚Männerfang’ reduziert.
Auch die Auflösung von Raum- und Zeitkontinuum unterscheidet diesen Text vom traditionellen Roman (vgl. dazu die Hinweise zur Romanstruktur in Kap. 3.3 dieser Erläuterung). Trotz der anscheinend naiven und spontanen Perspektive haben wir es in diesem Roman mit einer reflektierenden und konstruierenden Erzählerinstanz zu tun.
Darüber hinaus liegt der Schwerpunkt dieses Romans auf der Gestaltung der Frauenfigur. Das Bild der „Neuen Frau“, das sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bildet, hat verschiedene Facetten. Zum einen gibt es in dieser Zeit zunehmend Frauen, die als Autorinnen, Künstlerinnen, Modeschöpferinnen, Galeristinnen etc. eine neue Form des Selbstverständnisses und der Möglichkeiten von Frauen repräsentieren. Irmgard Keun als Schriftstellerin schafft sich mit Doris eine Romanfigur, die als junge Frau ihr Leben selbst in die Hand nimmt und ebenfalls künstlerische Ambitionen hat. Diese Frauen vertreten eine Generation, die sich von herkömmlichen patriarchalischen Strukturen und Normen lösen, unternehmungslustig sind und selbstbestimmte Wege einschlagen.
Die Betonung der Eigenständigkeit, der Kreativität, aber auch der Weiblichkeit gehört zu diesem Typus der „Neuen Frau“. Dabei ist es nach neustem Forschungsstand teilweise schlecht zu unterscheiden, „ob es sich um authentische Selbstäußerungen neuer Weiblichkeit handelt oder nicht doch letztlich um traditionelle Zuschreibungen, die auch von Frauen selbst übernommen werden“[5]. In jedem Fall sind die Texte explizit auf eine weibliche Leserschaft ausgerichtet. Dies lässt sich gleichermaßen thematisch, inhaltlich, sprachlich und medial festmachen. Grundsätzlich zu unterscheiden ist aber zwischen dem vermittelten Bild und der realen Situation von Frauen in den 1930er Jahren. Hier entstehen große Diskrepanzen. Auch Doris kommt im Rahmen des Romangeschehens nicht ans Ziel ihrer Wünsche, sondern erfährt eine konstante Verschlechterung ihrer Lage.
Besonders wichtig ist die Relevanz des Romans für die Auseinandersetzung der zeitgenössischen Leserschaft mit den vorgestellten Frauenbildern. Der Diskurs zwischen insbesondere Leserinnen und dem Roman war lebhaft. Figuren wie Doris, Gilgi oder Helene Willfüer (Hauptfigur des 1928 erschienenen Romans Stud. chem. Helene Willfüer von Vicki Baum) avancierten im Bewusstsein der zeitgenössischen Leserinnen unter verschiedenen Aspekten zu Prototypen der „Neuen Frau“, so dass diesen Romanen ein hoher Gebrauchswert für das Leben zugeschrieben wurde.[6]
Aus Amerika kommt zu Beginn des 20. Jahrhunderts (ca. 1920) eine Unterhaltungskultur, in deren Mittelpunkt junge Mädchen stehen, die als Revuegirls, Zigarettenverkäuferinnen, aber auch in den Cafés und Büros der Großstädte zu finden sind. Sie sind „jung, sportlich, körperbetont, freizügig, aber auch diszipliniert“[7]. Sie werden „als Werbebild der modernen Frau“[8] durch populäre Medien wie Film, Illustrierte, Revue, Romane verbreitet und dienen als Vorbild für eine Kultur, die die Mode, Vorstellungen von Schönheit und Erotik, aber auch Verhaltensweisen der Zeitgenossen beeinflusst. Diese Frauen werden Girls, aber auch Flapper oder Garçonne genannt (junges Mädchen mit jungenhaftem, emanzipiertem Auftreten).
Die Protagonistin Doris entspricht diesem Frauentyp insofern, als die Betonung des Körperlichen und der erotischen Ausstrahlung ihre Beziehung zu Männern prägt und sie sich vorzugsweise in Cafés, Tanzlokalen und Theatern aufhält. Im Gegensatz zu den Revuegirls zeigt sie aber nicht sportlichen Ehrgeiz und Disziplin. Kritiker dieser amerikanischen Erscheinung heben den Gegensatz zwischen erotischer Oberfläche und geradezu neutraler Haltung der „Girlies“ im Hinblick auf Lust und Liebe hervor. Doris jedoch sucht und erfährt auch Nähe und Zuneigung. Gleich am Anfang des Romans erfolgt ein Hinweis auf Colleen Moore, der Ikone des Frauentyps Flapper (S. 4, Z. 7 f.).
Roman der Neuen Sachlichkeit
Mit dem Schlagwort Neue Sachlichkeit wird eine literarische Bewegung bezeichnet, die einer nüchternen und „kühl-distanzierten Betrachtung der Wirklichkeit“[9] huldigt (vgl. dazu die Erläuterungen zum Begriff in Kap. 5 dieser Erläuterung). Sie entsteht in der Zeit um 1920 und prägt die zeitgemäße Form der Kunst, nicht nur der Literatur. Neue Sachlichkeit wird zum Synonym für modernes Kunstschaffen und avantgardistische Stile und findet in popularisierter Form ihren Niederschlag in diversen Bereichen der Metropolen. „Neue Kinopaläste wurden gebaut, neue Verlage, Theater und Museen gegründet, die Theater- und Revueszene differenzierte sich, Zeitschriften, Tageszeitungen, Sachbücher und Romane fanden neue Leserinnen und Leser.“[10] Als Gegenbewegung zum Naturalismus, Expressionismus und alternativ zum Dadaismus und Surrealismus drückt sich die nüchterne, präzise und schmucklose Sichtweise in „Reportagen, Dokumentationen, Zeitstück und Zeitroman, Gebrauchslyrik, Hörspiel etc.“[11]