Kind aller Länder - Irmgard Keun - E-Book

Kind aller Länder E-Book

Irmgard Keun

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Beschreibung

Ein Klassiker der Exilliteratur in neuer Auflage Viel ist nicht geblieben. Die zehnjährige Kully lebt ein Leben im Balancierschritt zwischen den Ländergrenzen. Der Schriftsteller-Vater ist notorisch abwesend und notorischer in Geldnot, die Mutter bemüht sich unglücklich darum, die Welt für Kully zusammenzuhalten. In diesem Exilroman von 1938 erzählt eine früh Erwachsene von einem Leben in Hotelzimmern, von offenen Rechnungen und spontanen Begegnungen mit Tiefe. In einem kindlichen Erzählton eröffnet Kully Einblicke in ihr rastloses Leben und damit auch in die Situationen der Emigrant:innen in Europa. Ein kühner und lebendiger Blick auf die dreißiger Jahre. *** »Ich bin so begeistert von der Sprache dieser Autorin, dass ich beim Lesen immer schwanke zwischen Faszination und Neid. Sie hat Menschen und Zeiten beschrieben, die zugleich weit weg sind und denen ich mich trotzdem eigentümlich nah fühle. Ja, so gut wie sie würde ich gern schreiben können.« Christian Baron »Irmgard Keun war die erfolgreichste deutsche Autorin der dreißiger Jahre, und die Lektüre lohnt noch heute.« Thomas Karlauf, FAZ »Mit Witz und Leichtigkeit schnattert Kully so weiter, nie langweilig, immer scharfblickend, durchsetzt von Seitenhieben gegen Hitlerdeutschland.« Alexander Kosenina, FAZ Es »ist alles andere als abwegig, sich dieses kleinen Meisterwerks zu erinnern.« Ina Hartwig, Süddeutsche Zeitung

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Kind aller Länder

Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren, feierte mit ihren beiden ersten Romanen Gilgi – eine von uns und Das kunstseidene Mädchen sensationelle Erfolge. 1936 ging sie ins Exil und kehrte vier Jahre später mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebte. Im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit konnte sie zunächst nicht an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der Siebzigerjahre von einem breiten Publikum wiederentdeckt wurden. Dazu zählt auch Kind aller Länder, 1938 in den Niederlanden und seit 1981 im Claassen Verlag erschienen.Irmgard Keun starb 1982 und zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.

Viel ist nicht geblieben. Die zehnjährige Kully lebt ein Leben im Balancierschritt zwischen den Ländergrenzen. Der Schriftstellervater ist notorisch abwesend und noch notorischer in Geldnot, die Mutter bemüht sich unglücklich darum, die Welt für Kully zusammenzuhalten. In diesem Exilroman von 1938 erzählt eine früh Erwachsene von einem Leben in Hotelzimmern, von offenen Rechnungen und spontanen Begegnungen mit Tiefe. In einem kindlichen Erzählton eröffnet Kully Einblicke in ihr rastloses Leben und damit auch in die Situationen vieler Emigrant:innen in Europa.»Irmgard Keun war die erfolgreichste deutsche Autorin der Dreißigerjahre, und die Lektüre lohnt noch heute.«Thomas Karlauf, FAZ

Irmgard Keun

Kind aller Länder

Roman

Ullstein

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1. Auflage 2023 © 2016, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln © der Neuausgabe 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Autorenfoto: © ullstein bild | ullstein bildE-Book-Konvertierung powered by PepyrusAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-8437-3009-9

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Kind aller Länder

Über Irmgard Keun

Anmerkung zu dieser Ausgabe

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Cover

Titelseite

Inhalt

Kind aller Länder

Kind aller Länder

In den Hotels bin ich auch nicht gern gesehen, aber das ist nicht die Schuld von meiner Ungezogenheit, sondern die Schuld von meinem Vater, von dem jeder sagt: Dieser Mann hätte nie heiraten dürfen.

Zuerst werde ich in den Hotels immer behandelt wie das Lieblingshündchen von einer reichen Dame. Die Zimmermädchen machen mir spitze Lippen und geben küssende Laute von sich. Die Portiers schenken mir Briefmarken, die ich sammle, weil ich sie vielleicht später verkaufen kann. Der Mann im Lift lässt mich den Lift bis zu unserer Etage steuern und legt nur manchmal dabei leicht Hand an mich. Und die Kellner wedeln mich freundlich mit ihren Servietten an. Das hat aber alles ein Ende, wenn mein Vater fortfährt, um Geld aufzutreiben, und meine Mutter und ich allein zurückbleiben müssen, ohne dass bezahlt worden ist. Wir bleiben als Pfand zurück, und mein Vater sagt: wir hätten einen höheren Versatzwert als Diamanten und Pelze.

Die Kellner im Hotel-Restaurant wedeln nicht mehr freundlich mit den Servietten, sie peitschen damit unseren Tisch. Meine Mutter sagt, das diene nur der Reinigung, aber es sieht aus, als schlagen sie nach uns wie nach Katzen, die einen Braten stehlen wollen.

Wir wagen auch kaum noch, ins Restaurant zu gehen, meine Mutter und ich. Doch bleibt uns nichts anderes übrig, wenn wir nicht verhungern wollen. Denn wir haben keinen Franc mehr und können uns keinen billigen Käse kaufen, keinen Apfel und kein Brot, um heimlich im Zimmer zu essen.

Alles Geld hat mein Vater mitgenommen auf die Reise nach Prag.

»Esst und trinkt, ihr habt hier Kredit, macht euch gar keine Gedanken – ich habe vorgesorgt«, hat er gesagt vor seiner Abreise auf dem Bahnsteig in Brüssel.

Wir hatten dünne Mäntel an, weil wir keine dickeren haben. Wir haben gefroren, und meinen Vater haben wir sorgenvoll geküsst. Sein blondes Haar wehte lachend und winkend aus dem Fenster, als der Zug endlich fuhr. Meine Mutter weinte.

Im Hotel-Restaurant wagte meine Mutter nicht, was Billiges zu bestellen, weil Kellner das nicht leiden können, und wir können es uns nicht leisten, die Menschen hier noch mehr zu verärgern. Mit dem Lift fahren wir auch nicht mehr, weil wir kein Trinkgeld geben können, und an den Portiers fliehen wir immer mit einem Ruck vorbei. Wir geben auch unsere Zimmerschlüssel nicht mehr ab, weil wir keine Sekunde stehen bleiben wollen beim Portier, denn er schenkt mir keine Briefmarken mehr. Meine Mutter findet, dass sein Gesicht kein Menschengesicht ist, sondern eine strenge Rechnung.

Seit acht Tagen ist mein Vater fort, wir wissen seine Adresse nicht, er hat noch nicht geschrieben. Nun kam vor drei Tagen aus Budapest ein Paket für mich von ihm, weil ich Geburtstag hatte. Ich bin zehn Jahre alt geworden. Vielleicht hat mein Vater mir eine Puppe geschickt oder ein gesticktes Kleid, wir wissen es nicht, weil das Paket Zoll kostet, den konnten wir nicht bezahlen. Meine Mutter wollte den Portier nicht um das Geld bitten, sie kann so was nicht. Mein Vater kann es. Er hat sogar mal von einem Briefträger hundert Francs geliehen bekommen. Es ist schrecklich, ein Paket zu bekommen und es nicht aufmachen zu dürfen, um zu sehen, was drin ist. Mir gehört das Paket, aber ich kann nicht ran. Denn es hält sich noch einige Zeit in Belgien auf, vielleicht bekomme ich’s später.

Mein Vater treibt ja immer wieder Geld auf. Er kommt auch immer wieder zurück. Ich glaube nicht, dass er uns vollkommen vergisst.

Damals in Ostende hat er mich ja auch nicht vollkommen vergessen, nur beinahe.

Wir waren im Sommer 1936 in Ostende, ich habe viele schöne Muscheln gesucht, Seesterne und kleine Taschenkrebse, von denen ich mir ein Aquarium angelegt habe. Das durfte ich aber nicht mit nach Brüssel nehmen, weil ich schon ständig mit einer sehr großen Puppenküche und einem kleineren Kaufmannsladen reise und mit zwei Schildkröten.

Ich hatte in Ostende zuerst keine Kinder zum Spielen, weil ich sie ja nicht verstehen konnte, denn sie sprechen französisch. Ich aber konnte nur Deutsch und davon hauptsächlich Kölsch.

Wir sind aus Deutschland fortgefahren, weil mein Vater es nicht mehr ausgehalten hat, denn er schreibt Bücher und für Zeitungen. Wir sind in die allgemeine Freiheit gewandert. Nach Deutschland gehen wir nie mehr zurück. Das brauchen wir auch nicht, denn die Welt ist sehr groß.

Mein Vater bekommt hauptsächlich Geld für seine Bücher aus Holland, aber das hat wenig Sinn, weil das Geld von ihm schon ausgegeben ist, bevor es ankommt. Darum sagt mein Vater, es müssen andere Verbindungen und Quellen gesucht werden.

Meine Mutter und ich sind meinem Vater eine Last, aber da er uns nun mal hat, will er uns auch behalten.

»Meine dicke kleine Goldammer«, sagt er immer zu meiner Mutter, denn sie hat goldene fedrige Haare, eine runde weiche Brust wie so ein Vogel und ängstliche Augen, und immer sieht sie aus, als wollte sie gleich fortfliegen. Sie sitzt auch nie richtig breit und fest wie ein Mensch, sondern wie ein Vogel auf einem Zweig.

Ich sehe meiner Mutter sehr ähnlich, sie hat nur viel blauere Augen als ich und dickere Beine und ist auch sonst viel dicker. Ihre Haare sind sauber gekämmt und hinten am Kopf sanft zusammengeknotet. Meine Haare sind kurz und immer wüst. Meine Mutter ist viel schöner als ich; aber ich weine weniger.

In Ostende gibt es einen feinen Badestrand, dazu noch einen billigen kleinen für ärmere Leute. Auf keinen Fall hat man das Meer umsonst, höchstens ansehen darf man es wie die Wolken am Himmel. Ich würde furchtbar gern mal in einer Wolke liegen, aber das kann man erst, wenn man tot ist. In das Meer kann man lebendig, aber nicht ohne Geld. In Ostende war es so. Man darf wohl umsonst reingehen, aber nur mit Kleidern und nur so weit, wie man die Kleider hochheben kann. Davon hat man natürlich nichts, weil man ein Kleid nicht sehr weit hochheben darf, das ist unanständig. Weil wir auf anständige Art nackt und bis zum Hals und nur mit etwas Badeanzug ins Wasser wollten, bereiteten wir meinem Vater Unkosten. Er findet baden ungesund. Er saß lieber in einem Café am Strand, wo er etwas Braunes trank, das hässlich schmeckte und eigentlich in Belgien nicht getrunken werden darf.

Mein Vater hat auch gesagt, ihm gefalle Brüssel nicht wegen der unvollkommenen Getränke. Dabei gibt es hier so wunderbare Sachen, wie ich sie noch nie erlebt habe. Süße Säfte aus Ananas und Weintrauben und Pampelmusen.

Mein Vater schreibt für unseren Lebensunterhalt. In Ostende hat er ein neues Buch geschrieben, das aber nicht fertig geworden ist, weil wir so viel Sorgen hatten.

Wenn meine Mutter und ich meinen Vater mittags abholten, sahen seine Augen manchmal aus, als seien sie weit ins Meer geschwommen und noch nicht wieder zurück. Meine Mutter und ich können sehr gut schwimmen, aber die Augen von meinem Vater schwimmen noch viel weiter. Er hat uns auch oft fortgeschickt, weil er nicht essen wollte. Ein regelmäßiges Leben stört seine Arbeit und ekelt ihn an. Wir essen immer nur einmal am Tag, weil das billiger ist und vollkommen genügt. Ich habe sowieso immer Hunger, auch wenn ich siebenmal am Tag esse.

Wir waren nur einmal an dem feinen Strand, da zieht man sich aus in einem Schloss, wo der Fußboden und die Wände aus blanken Edelsteinen sind und kleine Springbrunnen blühen wie springende Blumen. Der feine Strand ist aber genauso dreckig wie der arme Strand, man findet auch nicht mehr Muscheln da. Meine Mutter lag jeden Morgen am armen Strand in der Sonne und in fortgeworfenen Orangenschalen. Ihre Haut wurde wie brauner Samt.

Manchmal surrten Flugzeuge über uns, so ganz nah und schwer. Ich habe mir gewünscht, dass mal eins runterfallen würde, und hatte doch Angst davor. Gott sei Dank ist es auch nie geschehen. Große Schiffe sind aus dem Hafen geschwommen nach England. Ich habe oft nach ihnen gewinkt. Am besten gefielen mir die weißen Segelboote, denn sie sahen aus wie das kleine Gespann aus Schmetterlingsflügeln, das meine Großmutter hat. Es steht auf ihrem Nähkasten und wird von einem kleinen blauen Prinzen gelenkt.

Manchmal hatte ich Angst, dass meine Mutter totgetreten würde, denn der kleine Strand war so voll von Bällen und Menschen und Hunden, die hin und her rasten. Meine Mutter ist auch einmal von einer Welle umgeschleudert worden, ich nie.

Ich habe im Wasser gespielt und die Wellen angefasst. Zuerst sind sie immer ein kalter Schreck, doch dann machen sie mich wärmer als die Sonne.

Einmal habe ich eine hellblaue Qualle entzweigetreten, weil sie schillerte und weil ich sie kaputt machen wollte, und weil ich wollte, dass auf einmal viele Quallen da sein sollten.

Dann habe ich ins Meer gespuckt, ich habe meine Spucke schwimmen sehen, ich habe mich geschämt und gedacht, ich hätte das Meer schmutzig gemacht. Aber eine Welle hat meine Spucke überschwemmt, auf einmal war sie fort.

Von einem ganz alten grünen Badekarren habe ich ein Rad abgeschraubt, um damit Wellenreiter zu spielen und Rhönrad. Das Rad war vorher schon fast abgefallen. Drei Kinder haben mir geholfen. Bei dieser gemeinsamen Arbeit habe ich auf einmal Französisch gelernt, wir haben gemeinsam aufgeregte Laute ausgestoßen. Ich war zu aufgeregt, mich vor den Kindern zu genieren, plötzlich konnte ich sprechen wie sie. »Ça va«, haben sie gesagt – »ça va, ça va«, habe ich gerufen. Ich weiß jetzt so viel französische Worte, dass ich sie gar nicht zählen kann. Ich weiß nicht bei allen, was sie bedeuten, aber das macht ja nichts.

Belgische Kinder spielen auch. Wir haben das Rad in den Sand gepflanzt und Muscheln hineingelegt und Seepflanzen und gesungen: »Allez, allez au bon marché.«

Viele Kinder kamen und kauften Muscheln und bezahlten mit Muscheln. Und die dicken Pferde, die die Badekarren ziehen, sind um uns herumgetrottet. Sie haben uns nichts kaputt getreten.

Später war Krach, weil mein Vater das Rad bezahlen musste, denn stürmische Wellen hatten es fortgeschwemmt. Mein Vater war furchtbar streng. Er sagte, die ganze Familie würde durch mich untergehen und ich müsste doppelt und dreifach artig sein, um mich in ein fremdes Land gut einzuführen. Ich weiß aber, dass man sich als Kind viel besser in ein fremdes Land einführt, wenn man nicht so furchtbar artig ist. Das können die Erwachsenen natürlich nicht wissen, weil sie ja nicht mit fremdländischen Kindern spielen.

Ich habe geweint über das Rad und wurde von meinem Vater getröstet und ins »Renommé« mitgenommen.

Das »Renommé« ist ein wunderbares Restaurant und so furchtbar teuer, dass immer mehr Kellner als Gäste da sind. Und die Gäste sind auch fast nie so fein angezogen wie die Kellner. Die Wände sind aus Spiegeln, und die Tischtücher sind so starr und weiß, dass ich Angst hatte, sie könnten schmutzig werden, wenn ich auf sie heruntersehe. Viele Gläser und Blumen stehen auf den Tischen, Servietten sind zu Türmen gebaut. Ich habe lieber Tische, auf denen man Platz zum Essen hat. Mein Vater wollte aber besonderen Kaviar essen, eine besondere Flasche Champagner trinken, weil ihm schlecht war; darum mussten wir in das wunderbare Restaurant.

Meinem Vater war schlecht, weil er mehrere Tage überhaupt nichts gegessen hatte wegen Geldsorgen, und weil er umsonst nach fremden Städten telefoniert hatte.

Am Morgen hatte mein Vater gesagt: »Jetzt ist es aus, jetzt ist keine Hoffnung mehr. Er hatte sich noch hundert Francs vom Portier geliehen, mit dem er befreundet ist, damit konnte er seine Schulden im Café am Place d’Armes, wo er nachmittags immer arbeitet, bezahlen.

Mittags musste er sich noch mal Geld vom Portier leihen für mein fortgeschwommenes Badekarrenrad.

Dann kam mein Vater auf einmal in das Hotelzimmer, wo ich weinte und meine Mutter stöhnte, und sagte zu meiner Mutter: »Also, es geschehen noch Wunder, das kann jetzt die Rettung sein – eben bin ich angerufen worden von Tulpe, du kennst ihn nicht, ich kenne ihn auch nicht, habe ihn nur einmal flüchtig in Berlin gesehen. Er liest meine Bücher, hat gehört, dass ich hier bin, rief an. Er reist mit Trikotagen, glaube ich, hat bestimmt ein Bankkonto, ein tüchtiger Mensch. Mit zweitausend Francs sind wir aus allem raus, ich kann ihm die Rechte an der polnischen Übersetzung abtreten, das Geld muss in den nächsten Wochen reinkommen. Wenn ich dann dem Verlag in Amsterdam wenigstens mal hundert Seiten schicke – wann kannst du sie mir abtippen –, bekommen wir ja auch gleich dreihundert Gulden. Um sechs Uhr treffe ich den Mann, ich rufe dich um acht im Hotel an – mir ist so übel, mir ist alles so ekelhaft, der Mann ist bestimmt schwierig. Ich muss gehen, um mich vorzubereiten, um Kraft zu haben und in guter Verfassung zu sein, gib mir einen Kuss – nein, lass lieber, also um acht –, warum weint das Kind denn? Ich nehme es mit.«

Ich habe Walderdbeeren essen dürfen im »Renommé« mit Schlagsahne und echten Kaffee trinken mit nur ganz wenig Milch drin wie ein Erwachsener. Mein Vater hat Kaviar gegessen, den mag ich nicht, weil er nach Fisch schmeckt, und zwei Flaschen Champagner getrunken. Danach war ihm besser. Er bekam Kraft und ging fort. »Warte hier auf mich«, sagte er zu mir, »ich hole eben Geld, um zu bezahlen – in einer Stunde bin ich wieder da, der Kellner soll dir noch ein Eis bringen, oder möchtest du lieber eine Torte?«

Ich habe Eis gegessen und gewartet, mein Vater ist nicht gekommen. Ich habe mich furchtbar gelangweilt, aus Wut noch eine Torte gegessen und weiter gewartet. Einmal hat sich eine Katze neben mich gesetzt, sie war grau, ich habe sie gestreichelt. Ich war ganz allein im Restaurant, nur einmal hat der Kellner den Tisch abgefegt. Ich habe nachgedacht, wie viel in diesem Restaurant alles gekostet hat und ob es mit einem ungezogenen Kind zu bezahlen wäre.

Der Himmel wurde rot. Meine Mutter sagt dann immer: Die Engel lachen.

Ich mochte aber gar nicht lachen, und meine Mutter konnte mich nicht finden. Sie wusste nicht, wo ich war. Sie war mit der Frau Fiedler verabredet in dem großen Café Wellington.

Wir kennen die Frau Fiedler, weil ihr Mann auch ein Dichter ist, der auch kein Geld hat.

Ich kann den Herrn Fiedler nicht leiden, denn er hat einmal in dem Café am Place d’Armes zu meinen Eltern gesagt: »Gott sei Dank, dass wir keine Kinder haben.« Vielleicht will er, dass meine Eltern mich einfach fortschmeißen sollen. Das ist gemein. Er schenkt mir oft eine Waffeltüte mit Eis drin. Immer will er mir über den Kopf streichen. Das Eis esse ich, aber wenn er über meinen Kopf streichen will, schiebe ich ihn fort.

Ich wusste gar nicht mehr, was ich tun sollte. Wie lange muss ein Kind still sitzen, damit eine Rechnung bezahlt ist?

Ich habe auf einem grünen Sofa gesessen, der Stoff war hart und ribblig. Mein Vater kam nicht, ich würde vielleicht ganz allein nachts auf diesem Sofa schlafen müssen. Damit hätte ich dann alle unsere Schulden bezahlt und könnte am Morgen fortgehen. Wir wären gerettet.

Licht wurde angezündet, es regnete auf einmal Licht. Die Kellner bauten mitten im Lokal eine Weihnachtstafel auf. Tausend Kästen aus hellem Holz wurden aufgestellt mit Pfirsichen, Weintrauben und Äpfeln, und tausend Schüsseln mit braunen und grünen und weißen Saucen, in denen was rumschwimmt, wurden hingestellt. Außerdem zu Quallen gewordene Hühnerbeine und sehr viel Ekliges für Erwachsene, Schinken und furchtbar lange Würste, Erbsen und Blumen.

Ich bin aufgestanden von meinem Platz, bin um die Weihnachtsbescherung herumgegangen, immer den Kellnern im Wege. Ich habe mir eine Mirabelle ausgesucht, die ich gern gehabt hätte. Aber ich habe sie nicht angefasst, ich weiß ja, dass alles Geld kostet. Nur bei meiner Großmutter konnte man alles umsonst haben, aber die ist ja so weit fort.

Eine Frau kam, die war bunt und glitzerte und lachte. Ein schwarzer ernster Mann umringte sie, drei feine Kellner stürzten mit geknicktem Rücken an sie heran, sperrten sie auf einem Sofa ein. Der Tisch wird abgerückt – die Leute krauchen hinter ihn und setzen sich. Kellner rücken den Tisch wieder so, dass die Leute nicht rauskönnen: die Leute sind gefangen.

Es sind noch mehr Gäste gekommen. Ich durfte nicht mehr zusehen und auch nicht auf dem Sofa schlafen.

Kellner führten mich zur Garderobe. Sie sprachen mit mir, aber ich habe sie nicht verstanden. Einer konnte Deutsch, das verstand ich nicht. Ich konnte Französisch, aber das verstanden die nicht. Es waren ja keine Kinder.

Ich habe nur verstanden: »Papa.« Da habe ich auch gesagt: »Papa.« Und dann haben wir zusammen »Papa« gesagt.

Man hat mich an einen kleinen Tisch gesetzt, hinter mir klirrten die Kellner mit Messern und Gabeln, neben mir saß eine schwarze Frau an der Kasse und drehte an ihr. Ich war so müde, dass ich nicht wusste, ob ich schlafen wollte oder weinen. Dann hat ein Kellner mir einen Apfel geschenkt. Ich hätte lieber die Mirabelle gehabt, weil sie weich ist und nicht so anstrengend zu essen. Als ich den Apfel aß, musste ich auf einmal weinen und einschlafen.

Ich habe gar nicht gemerkt, dass man mich in die Garderobe getragen hat. Ein Wunder, dass mein Vater mich gefunden hat, wo er doch keinen Hut und keinen Mantel abgegeben hatte, also auch keine Garderobennummer besaß.

Auf einmal war mein Vater da, hat mich geküsst und gefragt: »Hast du gedacht, dein Vater würde dich vergessen?«

Ich habe gesagt: »Ja.«

»Verstehen Sie, dass man für so was lebt, Herr Tulpe?«, fragte mein Vater. Ein schwarzer kleiner Mann bohrte mir Finger ins Haar, was ich nicht leiden kann. Es war noch ein anderer Mann da, der sagte: »Schlafende Kinder darf man nicht stören.«

»Aber es ist doch erst neun Uhr«, sagte mein Vater und bezahlte die Rechnung, damit ich zu meiner Mutter konnte. Als wir gingen, sagte ein Kellner zu mir: »Au revoir, mademoiselle.«