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Nichts Geringeres als die Neuprofilierung einer ganzen Bergbau-lndustrielandschaft, das Für und Wider um Entscheidungen über ein Territorium mit Tausenden dort lebender Menschen, wählt Neutsch als Grundlage für sein Schauspiel »Haut oder Hemd«. Neutsch schilderte, wie er auf den Stoff für das Opernlibretto »Karin Lenz« kam. »Ich stieß 1964 auf den Stoff. In Halle wurde damals ein Prozeß geführt, in dem es um eine Frau ging, die am Ende des Krieges unter dem Druck der Goebbelsschen Weltuntergangs-Parolen versucht hatte, sich selbst und ihr Kind zu töten. Sie blieb am Leben, arbeitete dann in unserer Republik auf einer LPG, erlebte, wie ihr für ihre Arbeit Achtung entgegengebracht wurde, wie sie in eine neue Zukunft hineinwuchs. Mit ihrem Problem, der Schuld, die sie sich durch die Tötung ihres Kindes auf sich geladen hatte, wurde sie nie fertig. Sie hat sich 1964, also 19 Jahre nach Kriegsende, selbst dem Gericht gestellt und ein Urteil für sich verlangt.« Der Entwurf eines Szenariums für einen dreiteiligen Fernsehfilm erzählt das Schicksal des 16-Jährigen Jonas Sperber und des Kommunisten Ossi Brandschädel von 1945 bis 1970. »Die Prüfung« ist eine Episode des 4-teiligen DEFA-Films »Geschichten jener Nacht«. Das Mädchen Jutta steht kurz vor den Abiturprüfungen, als ihre Eltern die DDR verlassen. Der Abschnitt »Verse im Vorübergehen«, eine Auswahl über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten entstandener Gedichte beschließt das erstmals 1983 erschienene Buch. INHALT: Haut oder Hemd Karin Lenz Die Prüfung Unser Mann aus Deder, 1. Teil Verse im Vorübergehen
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Seitenzahl: 281
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Erik Neutsch
Da sah ich den Menschen
Dramatische Werke und Gedichte
ISBN 978-3-95655-008-9 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1983 im Verlag Tribüne Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Auf Wunsch des Autors wurde nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt.
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Schauspiel in vier Akten
Personen:
Herbert Uhlenhorst, Professor Dr. Dr., Direktor eines Chemiekombinats, Leiter einer prognostischen Arbeitsgruppe
Ute, seine Tochter, Hochschulabsolventin
Max Broken, Wirtschaftssekretär der Bezirksleitung der SED
Georg Stiller, Wirtschaftssekretär der Kreisleitung der SED
Hans Kolbasser, Direktor des Braunkohlenkombinats Brücktal (Mitarbeiter der Arbeitsgruppe)
Dr. Michael Berg, Leitender Ingenieur in einem Rechenzentrum (Mitarbeiter der Arbeitsgruppe)
Baum, Technischer Direktor eines Maschinenbaukombinats (Mitarbeiter der Arbeitsgruppe)
Herz, Bürgermeister der Stadt Dornberg (Mitarbeiter der Arbeitsgruppe)
Wiedenreuter, Beauftragter des Rates des Kreises (Mitarbeiter der Arbeitsgruppe)
Kalle Simm. Baggerfahrer im Braunkohlenwerk
Hanna, seine Frau
Margot, beider Kind
Peter Beissert, Willi Schwenke, Gustav Holz, Der alte Derbko, Klappenschläger: Bergarbeiter aus dem Brücktal
Mutter Maus, Witwe eines Bergarbeiters
Helfer der Nationalen Front
Totengräber
Säuglingsschwester
Persönlicher Referent von Uhlenhorst
Sekretärin der Arbeitsgruppe
Ein Programmierer
Ein Kellner
Ort: Ein Braunkohlenrevier
Zeit: Gegenwart
Dachboden
Geschmackvoll hergerichtet, mit Liebhaberstücken aus Natur- und Geisteswissenschaften. In der Mitte eine Liege. Tür zu einem Nebenraum. Treppe, die vom Erdgeschoß heraufführt.
Ute und Berg nach einer glücklichen Nacht. Ein Wecker schrillt.
Berg erwacht: Funksignale von anderen Sternen. Schrieb die Zeitung. Gestern. Doch gestern ist schon Frühgeschichte. Es kommt drauf an, von wo aus einer denkt. Aus der Tiefe oder aus der Höhe. Ob mit den Füßen, den Transportarbeitern, Saugwarzen eines Wurms aus dem Alluvium... Ob von dieser Erde, Chemiepott Brück, verqualmt und sichtbenommen, Kohletal seit dem Tertiär, umnebelt vom Gestank der Schwelereien... Oder ob vom Weltpunkt Einsteins aus. Vierdimensional, Venussonden. Kybernetische Systeme. — Kaffee! Kaffee? — Vom Weltpunkt Einsteins, Ute. Nacht wird Tag. Sekunden werden zu Äonen. Die Wissenschaft ist ein Aggressor. Unblutig siegt sie, deshalb siegt sie groß. - Ich mach dir gleich den Kaffee. — Morgen schon betritt vielleicht der erste Mensch... Verdammtes Eiweißaufbaudenken! Betritt das erste Lebewesen, das erste Phänomen vom Pegasus, vom Andromedanebel die Erde. Und was dann? Wir müssen unsre Automaten speisen. Unsre Strategien müssen wir entwerfen. Kannst du mir noch folgen, Ute? — Du, ich weiß nicht, wo der Kaffee ist. - Erdöl, ja, Atomkraft bald im Brücktal.
Ute rekelt sich: Guten Morgen.
Berg: Kein kalter Winter mehr. — Guten Morgen. — Energie aus Heliumkernen. Licht im Überfluß. Licht auch in den Köpfen.
Ute: Unsre Zukunft scheint gesichert. Doch nicht gesichert scheint unser Morgenkaffee.
Berg: Du bist profan. Ich schildre dir das Jahr zweitausend... Zweitausendfünfzig... Und du? Denkst schnöde nur an deinen Kaffee. Ahnst du überhaupt, was Kommunismus ist? Ich meine, woran man ihn erkennen würde, woher man wüßte, daß er’s ist, wenn er es wäre... Paß auf. Dicht bei ihr: Ich greif zum Telefon, ruf den Rat des Kreises an und sage: Hallo, hier spricht Berg. Sie wissen doch, Genosse Ratsvorsitzender, wie’s einen packt, wenn man verliebt ist. Mein Mädchen wartet, und ich habe Lust, es weiterzulieben. Ach, bitte, erlassen Sie mir die heutige Sitzung. Und was entgegnet der Genosse? Einverstanden. Selbstverständlich. Der gesamte Rat wünscht Ihnen viel Vergnügen. - Ute, liebst du mich?
Ute: Ja. Doch sie entzieht sich ihm in den Nebenraum.
Berg reißt ein Fenster auf: Komm herein, Gegenwart. Kühler, erfrischender Atem. Sitzungen wieder, Variantendiskussion, kein Ende. Versucht Kniebeugen. Als ob der letzte Winter sich nicht schon längst für meine Diagramme entschieden hätte. Doch ich werd sie überzeugen. Kleinkriegen muß ich sie, besiegen. Deinen Vater, den Taktierer, und Kolbasser, der sich an die Strategie der ersten Dampfmaschine klammert. Mögen sie auch schachern um die Hinterlassenschaft im Brücktal, die Programmierer waren schneller. - Ich glaube, ich verzichte auf den Frühsport. Ute! Ute!
Ute an der Tür: Ich habe den Kaffee ausgegraben, den ich relativ vor tausend Jahren für dich gekauft habe. Wieder von nebenan: Hast du einen Topf zum Kochen?
Berg: Ja.
Ute: Wo?
Berg: Vorn rechts. Neben dem Atomium.
Ute: Den, wo draufsteht: destilliertes Wasser?
Berg: Nein! Halt! Darin hab ich mal Quecksilber erhitzt. Nimm den daneben, der zugedeckt ist mit dem Alten Testament.
Ute: Den mit der Aufschrift: Schwefelsäure?
Berg: Ja, den. Du wirst uns noch vergiften mit deiner Betriebsamkeit. Bist du denn schon nüchtern, Mörderin der Phantasie? Läßt mich allein mit deinem Hemd. Das einzige, was mir von dir noch bleibt, ist Dederon. Chemie auf Kohlebasis. Verdammt, jetzt bin auch ich nüchtern.
Ute zurück, singt:
Ein Licht ist aufgegangen, wir haben es gefangen in einer dunklen Nacht.
Berg: Etwas leiser, Ute. Meine Wirtin ist eine Frühaufsteherin. Besonders sonntags. Da trägt sie immer Blumen auf den Friedhof.
Ute: Ich muß mit meinem Vater sprechen.
Berg: Über uns? Über meinen Umzug?
Ute: Ja. Und über mich. Noch bevor ich zu ihm in die Forschung gehe. Übermorgen letzte Prüfung. Und übernächste Woche mein Diplom. Mit der Unterschrift von Justus Liebig. Ein Grund, das große Heulen zu kriegen. Singt:
Doch nun beginnt das Bangen, der Tag ist schon verhangen, das Licht verlöscht ganz sacht.
Berg: Ute! Wenn sie dich hört!
Indessen sind Mutter Mäus und ein Helfer der Nationalen Front auf der Treppe erschienen. Die Mäus mit einem Netz voller Brötchen. Der Helfer mit Akten unter dem Arm und einem Zollstock.
Mäus: Hallo! Doktor!
Berg: Da ist sie schon.
Er und Ute flüstern.
Ute: Laß mich untertauchen.
Berg: Du bleibst jetzt bei mir.
Ute: Mach keinen Unsinn.
Berg: Das ist eine Standpunktfrage.
Ute: Bitte, Michael. Deine Wirtin sieht mich zum ersten Mal. Das muß doch nicht gleich nackt sein. Sie flieht nach nebenan.
Mäus: Hallo! Doktor!
Ute übermütig: Liebster!
Berg verbirgt ihre Sachen, wirft ihr einen Bademantel zu: Zieh dir was über.
Ute: Ich liebe dich, Michael!
Mäus und der Helfer: Hallo! Doktor!
Berg nachdem er sich eiligst angekleidet hat: Ja doch, ja, mein Gott. Herein!
Mäus eintretend: Entschuldigen Sie die Störung, lieber Doktor. Hier, Ihre Brötchen. Frisch aus dem Ofen. Hintenherum.
Berg: Was? So viele?
Mäus: Natürlich. Sie haben doch Besuch. In diesem Haus hört man alles, jedes Wort.
Berg: Das war im Radio, Mutter Mäus. Die Märchenstunde.
Mäus: Das wunderbunte Vögelchen, das da eben noch zwitscherte.
Berg zu dem Helfer, der ihm immer noch die Hand schüttelt: Au! Warum lassen Sie denn meine Hand nicht los? Wer sind Sie überhaupt?
Mäus: Der Herr ist von der Wohnungskommission.
Berg: Unsinn. Jetzt erkenn ich ihn. Der Kneiper vom »Willkommenen Deputat«.
Helfer: Gastronom, wenn ich bitten darf. Nicht Kneiper. Fachkraft mit wöchentlicher Weiterbildung. Menschenkenner, Psychologe.
Und wie ich sehe, sind Sie sehr nervös. Und Sie, Frau Mäus, keine Amtsanmaßung. Uns hat die Nationale Front mobilisiert.
Berg: Wer bitte? Was?
Mäus: Wegen der Bestandsaufnahme.
Helfer indem er den Raum zu vermessen beginnt: Gestatten Sie.
Berg: Würden Sie nun endlich mal die Güte haben, mir zu erklären, was das alles zu bedeuten hat?
Mäus: Kohle unter allen Häusern. Das Natürlichste der Welt. Die Stadt wird abgerissen.
Berg: Darüber ist noch nicht entschieden. Ich müßte informiert sein.
Mäus: Ach Sie, Herr Doktor. Sie sind ein Zugezogener. Kennen sich nicht aus im Revier. Schon als Sie mein Kostgänger wurden, hab ich Sie da nicht gewarnt?
Berg: He! Sie! Wer hat das angeordnet?
Helfer zerrt aus einer Nische einen Kinderwagen, Modell endzwanziger Jahre: Ein ganz schönes Gerümpel!
Mäus: Was heißt hier Gerümpel! Hab zwei Kinder drin großgefüttert und in der Arbeitslosenzeit Kartoffeln damit gestoppelt.
Helfer: Ist dort noch ein Raum?
Mäus: Nein, mein Gott.
Berg: Ich hab Sie gefragt, wer das angeordnet hat. Ich verlange eine Antwort.
Helfer: Der Rat der Stadt. Wer sonst.
Ute mit Bergs Bademantel bekleidet, aus dem Nebenraum zurück: Guten Morgen.
Helfer: So. Und was ist das?
Mäus: Das wunderbunte Vögelchen.
Berg: Was heißt hier: Rat der Stadt. Ich will Namen wissen, und zwar sofort.
Helfer: Bürgermeister Herz persönlich, wenn’s beliebt.
Berg: Bürgermeister Herz? Niemals! Ich sitz mit ihm an einem Tisch.
Helfer: Bitte, meine Vollmacht. Da, die Unterschrift. Überreicht ihm ein Papier und geht in den Nebenraum, um auch dort zu vermessen.
Ute: Verzeihen Sie, Frau Mäus, daß ich mich nicht schon gestern vorgestellt habe. Ich heiße Ute Uhlenhorst.
Mäus: Gestern? Mein liebes Fräulein, ich bin doch nicht von gestern. Seit er hier einzog, warte ich auf den Tag. Dachte schon, nun wird er mäklig und kriegt keine mehr ab. Doch jetzt... So was Hübsches. So was Apartes.
Ute: Danke, Frau Mäus. Wo sind denn meine Sachen?
Mäus: Da ist das Kleidchen. Schick. Ja, ja, der Frühling. – Herr Nationale Front! Nun seien Sie mal menschlich, logisch, wie Sie vorhin sagten. Stören Sie nicht länger.
Helfer von nebenan: Augenblick noch.
Berg mit der Vollmacht zu Ute: Hier. Schau dir das an. Prognose letzter Dreck. Der Zufall wird wieder Methode. Denn wenn ich hier nicht wohnen würde, zufällig, ich hätt’ es nie erfahren. Oder stell dir vor, ich wär schon gestern ausgezogen.
Mäus: Was, Sie wollen ausziehn? Hab ich Sie denn schlecht bewirtet? Waren wir nicht immer ein Herz und eine Seele?
Ute: Natürlich, Frau Mäus, und daran wird sich auch nichts ändern. Doch wir wollen heiraten. Er zieht zu mir.
Mäus: Wenn es so ist... Ach, wie schön, daß ich das noch erlebe.
Helfer kommt zurück: Ich hab den Kaffee aufgebrüht, mein Fräulein. Das Wasser kochte. Dazu der Duft von frisch Gemahlenem. Was soll ich machen? Da bricht der Gastronom in mir durch.
Mäus: Herr Nationale Front, merken Sie denn gar nicht, daß wir stören? Kommen Sie endlich.
Helfer zu Berg: Die Angelegenheit bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Spätestens in einem Monat: räumen.
Berg ihm die Vollmacht in die Hand schlagend: Ich zieh nicht um!
Helfer: Ersatz wird Ihnen zugewiesen. Mit Betonung: Neubau. Auch die Umzugskosten werden Ihnen zurückerstattet.
Mäus: Na los. Drängt ihn aus dem Zimmer.
Berg: Du ahnst nicht, was gespielt wird. will er in Schutt und Asche legen.
Ute: Wer?
Berg: Kolbasser, dieser Maulwurf, dieser Nero. Er gräbt sich durch die Erde und vernichtet ganze Länder. Und dein Vater duldet’s. Dein Vater schweigt.
Ute: Das glaube ich dir nicht. Das ist unmöglich.
Berg: Und die Prognostik? Wird an die frische Luft gesetzt, wird exmittiert.
Ute: Eine Stadt mit zwanzigtausend Menschen steht auf dem Spiel. Dörfer, Gruben und Brikettfabriken. Ein ganzer Landstrich soll sein Gesicht verändern. Dazu darf niemand schweigen. Vor allem mein Vater nicht. Vor allem er nicht.
Berg: Er spricht nur, wenn’s um seine Plastmaschinen geht.
Ute: Das ist nicht wahr. Mein Vater hat noch nie geschwiegen.
Berg reißt den Kinderwagen an sich und holpert mit ihm durch den Raum: Ich packe dies Vehikel voll. Mit meinen Diagrammen. Suche ein Exil. Stürzt den Wagen um. Oder ich bleib hier. Verteidige die Stadt und mach aus jedem Haus eine Barrikade.
Ute jetzt ironisch: Da genügt ein Wind, die grauen Hütten wegzublasen.
Berg: Als ob’s auf dieses Drecknest ankäm, Dornberg. Die Kohle siegt, wenn Dornberg fällt. Darum geht es. Reißt den Wagen wieder hoch. Kommt, liebe Räder, Geniestreich der Neandertaler. Ich setz mich der Prognosegruppe vor die Tür. Da habt ihr mich. Mich und das Rechenzentrum. Umsonst war alle Arbeit.
Ute: Und wolltest du vorhin nicht auf den Weltpunkt Einsteins steigen?
Berg sich besinnend: Ja, du hast recht. Nichts war umsonst. Nichts. Zeigt ihr seine Berechnungen. Unsre Diagramme stehen. Plan für eine neue Landschaft. Waffenarsenal der Partei für den wissenschaftlichen Aufstand. Variante A. Besser die Variante B. Wie auch immer. A bis F. Sechsfach durchgerechnet. Variante C — die Krönung der Vernunft. Die Kohlegruben werden liquidiert und die Chemie genährt mit Erdöl. Und in zehn Jahren spätestens strahlt bei Dornberg eine Sonne. Atomkraft. Das Atomkraftwerk im Brücktal. Jeder Strich nimmt schon die Wirklichkeit voraus.
Ute: Jetzt endlich bist du wieder du.
Berg: Ich giere nach der nächsten Sitzung. Ich werde sie zum Handeln zwingen.
Saal im Rathaus
Ein großer Konferenztisch mit Stühlen. Neugotischer Stil. Weiträumigkeit. An den Wänden die Strukturbilder A bis F.
Berg sitzt bereits auf seinem Platz. Nacheinander kommen die Sekretärin, Baum, nachdem er Berg erblickt hat, seine Uhr überprüfend. Kolbasser, Herz, Wiedenreuter, zuletzt Uhlenhorst. Die Sitzordnung ist sehr streng. Deutlich im Zentrum der Professor. Ihm zur Rechten Wiedenreuter. Daneben die Sekretärin. Links von Uhlenhorst Herz und Baum. Kolbasser Berg gegenüber.
Uhlenhorst Wiedenreuter ein Zeichen gebend: Fangen wir an.
Wiedenreuter: Genossen! Ich eröffne hiermit die Beratung unserer Gruppe. Zur Diskussion stehen die sechs Varianten für die neue Produktionsstruktur im Brücktal...
Berg: Einspruch!
Wiedenreuter: Wie bitte?
Berg: Seit Sonntag wird in Dornberg der Wohnraum registriert. Ich möchte wissen, wer das angeordnet hat, wer sich über unseren Kopf hinwegsetzt, die Stadt abreißen will, ohne daß darüber hier beschlossen wurde.
Kolbasser: Ich.
Berg: Die Kohle. Konnt ich’s mir doch denken.
Kolbasser: Im Einvernehmen mit dem Rat von Dornberg, versteht sich.
Berg scharf: Und wer gibt dir das Recht dazu, Genosse Kolbasser?
Kolbasser schärfer: Der letzte Winter, Genosse Berg. Unsre Planrückstände. Die Republik - jeder kennt die Lage - krümmt sich heute noch vor Hunger nach Energie.
Berg: Mit deiner Kohle machst du sie nicht satt. Mit Erdöl, ja, mit Atomkraft.
Kolbasser: Ich kann mich hier nicht endlos wiederholen. Meine Antwort steht in jedem Protokoll. Sagt ihr doch diesem Phantasten eure Meinung.
Wiedenreuter: Wenn ich bitten darf: Zur Sache.
Berg: Ob das Mittelalter siegt, die Kohle, oder die Prognostik, eine Stadt geschleift wird oder nicht - das gehört zur Sache.
Wiedenreuter jetzt ebenfalls gereizt: Aber nicht zum ersten Punkt der Tagesordnung heute, Doktor. Ihre Diagramme. Variante A oder Variante B. Nicht die Kohle, sondern das, was an die Stelle der Kohle treten soll. Plastmaschinen oder Kälteaggregate. Wer möchte dazu sprechen?
Uhlenhorst für Ruhe sorgend: Einen Augenblick noch. Die Sitzung heute, habe ich den Eindruck, beginnt recht stürmisch. Doch ich bitte Sie, Genossen, es so zu halten wie bisher. Kühler Kopf. Verantwortungsbewußtsein. So unterschiedlich die Meinungen auch sein mögen, ein jeder hier will nur das Beste für die Republik. Deshalb: Trotz aller Streitbarkeit Achtung, Respekt dem Partner gegenüber. Auch wenn wir heute, in unserer siebenten Beratung an einem Punkt angelangt sind, wo die Entscheidung fallen muß. Das ist jedoch kein Grund, nervös zu werden. Zu Wiedenreuter: Bitte, fahren Sie fort.
Wiedenreuter: Wer also möchte sprechen? Zu Variante A oder Variante B?
Herz: Ich.
Wiedenreuter: Bürgermeister Herz.
Herz: Von Bedeutung für das neue Produktionsprofil im Brücktal ist doch wohl auch, wer von den Nachfolgern der Braunkohlenwerke gewisse Vergünstigungen für die Bergarbeiter übernehmen will. Die Familien planen mit dem Pfennig seit alters her. Fällt die Stadt, fallen auch über tausend werkseigene Wohnungen. Sechzehn Mark Miete monatlich. Wer zahlt dafür den Zuschuß?
Baum zu Berg: Sechzehn Mark? Ich hör wohl schwer. Sind wir die Sozialfürsorge? Die Kälteaggregate können sich das niemals leisten.
Uhlenhorst: Fällt die Entscheidung für die Plastmaschinen, die Chemie macht’s möglich.
Baum laut: Das heißt, ich müßte mit meiner VVB darüber reden. Ein Weg wird sich schon finden.
Berg: Als ob’s um Mieten ginge.
Herz: Ja. Auch darum geht’s. Die höheren Regionen, Doktor, sind das eine, doch die Sorgen der Menschen hier das andere.
Berg: Kohle bis in alle Ewigkeit oder nicht. Das heißt für uns konkret: Fällt Dornberg oder nicht. Ja oder nein.
Herz: Also gut. Ja oder nein. Doch ich möchte, daß auch Sie einmal begreifen, wie denen dort zumute ist, die in Dornberg wohnen. Nehmen Sie mich. Und mein Problem steht nur für das von Tausenden. Einmal, da sehe ich die Stadt versinken, ein andermal habe ich das Gefühl, die Stadt mit ihren stillen Winkeln, frisch renoviert um den Markt, der Friede selber, könnte uns erhalten bleiben. Je nachdem, wer gerade spricht. Kolbasser oder der Doktor. Und Sie, Professor Uhlenhorst, Sie schweigen. Vielleicht bin ich sentimental. Ich hänge an dem Fleckchen Erde, kenne jeden Menschen im Ort. Und darum will ich wissen, im Namen aller Bürger dieser Stadt, was aus Dornberg wird.
Wiedenreuter: Das hängt davon ab, für welche von den sechs Varianten wir uns entscheiden.
Uhlenhorst: Nochmals: Was spricht für die Plastmaschinen... Muß ich Ihnen das wirklich erklären?
Baum: Nein, danke. Mir nicht. Ich kann’s schon singen.
Wiedenreuter ihn ermahnend: Professor Uhlenhorst ergriff das Wort.
Uhlenhorst: Also: Die Chemisierung der Industrie nimmt täglich zu. In aller Welt. In spätestens zehn Jahren wird die Hälfte aller Metalle durch Plaste ersetzt worden sein. Andererseits jedoch - die Parameter beweisen es -, andererseits befindet sich die Republik bereits, gemessen am Weltniveau, zehn Jahre im Rückstand. Uns fehlt es an Maschinen, die Plaste zu verarbeiten, nicht an Plasten. Die kochen wir. Dafür bürge ich. Also: Variante A. Wie von Doktor Berg programmiert. Oder wir geraten hoffnungslos ins Hintertreffen, sabotieren die Chemie. Höflicher: Wir wären Ignoranten.
Baum: Ignoranten wären wir, wenn wir die Kältetechnik unterschätzten ...
Wiedenreuter: Genosse Baum!
Baum heftig: Jetzt präsentiere ich die Rechnung.
Wiedenreuter: Sie sind noch nicht an der Reihe.
Uhlenhorst: Genosse Wiedenreuter. Keinen Formalismus.
Wiedenreuter: Bitte.
Baum: Die Kritik an uns auf dem Parteitag. Ich darf daran erinnern. Wir nehmen sie ernst. Rekonstruktion, Konzentration. Doch in Leipzig sind wir total zersplittert. Hier eine Klitsche, dort eine. Wir müßten dreißig Millionen Mark investieren. Bis neunzehnhundertachtzig. Das Ergebnis aber wäre nur eine Steigerung der Produktion um fünfzig Millionen Mark. Hier, im weiten Tal der Brück dagegen... Noch effektiver als die Variante B die Variante C... Nicht wahr, Genosse Doktor Berg, auf Ihre Resultate kann man sich verlassen...
Kolbasser: Protest. Ich wiederhole: Variante C geht an den Lebensnerv der Wirtschaft, an die Kohle.
Baum: Eines Tages bringt uns doch die Kohle sowieso nicht weiter, Himmelherrgott.
Kolbasser: Eines Tages, ja. Wann aber ist der Tag? Haben Sie für heute etwas Besseres?
Baum: Nein. Noch nicht. Wir aber müssen heute schon das Bessere für morgen finden. Auch Sie. Auch ich. Die Kohle hilft uns nicht bis in alle Ewigkeit. Sie ist nicht effektiv genug. - Doch zurück zu den Varianten. Wenn nicht C, dann B. Auch dort, was uns betrifft, ein Aufwand nur von siebzehn Millionen Mark für eine Steigerung um hundert Millionen Mark. Der Nutzen liegt doch auf der Hand. Vierhundertundfünfzehn Prozent.
Herz: Noch steht die Variante E zur Diskussion. Polyvinylchlorid an Stelle der Brikettfabriken.
Kolbasser: Das alte Lied. Die Tonleiter rauf, die Tonleiter runter. A, B, C, D... Inzwischen setzen unsere Bagger Rost an.
Baum: Und außerdem: Wir liefern nicht an irgendwen. RGW. Klassensolidarität. Doch was unsere Verpflichtungen betrifft, stecken wir in Schulden bis über beide Ohren. Und der Grund?
Kolbasser: Im Umgang mit der Kälte sind Sie selber eingefroren.
Baum: Ja, nennen Sie es so. Eingezwängt im Packeis einer Großstadt.
Uhlenhorst: Wenn man Sie so hört, Genosse Baum, man könnte meinen, die Plastmaschinen sind ein Luxus, das Allerausgefallenste auf Gottes Erde. Nein. Sie sind ein wucherndes Devisenpfund. Wenn, ja, wenn... Doch zur Zeit sind wir auf Importe angewiesen. Der Klassenfeind teilt sie uns zu, wie er in Laune ist. Also: Entweder wir schlagen ihn mit unseren Neukonstruktionen aus dem Feld oder tragen weiter unsere Haut auf seinen Markt.
Baum: Doktor Berg! So reden Sie doch. Die Diagramme, sie sind Ihre Arbeit. Überlassen Sie mir doch nicht allein den Kampf.
Berg: Unsere Prognosegruppe ist gebildet worden, um das Brücktal neu zu profilieren. Und zwar mit so viel Weitsicht... Steht auf. Und zwar mit so viel Weitsicht, daß sich unsre Arbeit heute auch noch im Jahr zweitausend sehen lassen kann. Deshalb ist die C-Struktur die optimale Variante. Denn erstens garantiert nur sie die höchstmögliche Entlastung des Industriepferchs im Süden unsrer Republik. Zweitens fragt nur sie mit jedem Strich, ob unser Tun von heute auch für die Zukunft nützlich ist. Das heißt drittens, nur sie schließt keine Kompromisse mit der Gegenwart, nur sie räumt konsequent die Kohle aus dem Weg...
Uhlenhorst: Und gerade das, Doktor Berg, Ihre mangelnde Kompromißbereitschaft ist zugleich Ihr größter Irrtum. Da Sie kein Verständnis für die Nöte der Gegenwart aufbringen, zwingen Sie den einen hier, den anderen dort, nach kleineren Lösungen zu suchen.
Berg: Das Ende aller unserer Energie- und Rohstoffnot von heute wäre: Statt Kohle Erdöl und Atomkraft.
Kolbasser: Er begreift nichts. Er will partout die Kohle morden.
Herz: Beginnt jetzt, Berg, die Diktatur der Rechenautomaten?
Berg immer erregter: Nein. Aber unsre Computer sind unbestechlich. Gegen alle: Ihr Denken jedoch ist korrupt, was menschlich ist...
Kolbasser: Wie lange wollen wir uns das noch bieten lassen?
Berg: Besser: Menschlich, daher korrupt. Wir hätten die Entscheidung längst getroffen, unseren Auftrag längst erfüllt, wenn Sie sich nicht, Sie alle, mit Ihren Alltagssorgen als die Nabelschnur betrachten würden, an der die Welt hängt.
Kolbasser: Sag das mal den Kumpeln, Berg. Steig auf eine Förderbrücke. Laß dir mal das Tal der Brück von oben zeigen, die Welt aus dieser Perspektive. Verschlammte Erde. Winterschäden heute noch. Vielleicht kriegst du dann mehr Sinn für die Realitäten.
Berg: Auf dein Angebot komm ich noch zurück, Kolbasser. Und dann erkläre ich dir die Welt, ich sie dir.
Kolbasser steht ebenfalls auf und wendet sich an alle: Ich verlange die Entscheidung.
Wiedenreuter: Du mußt dich deutlicher ausdrücken, Genosse Hans. Für welche Variante bist du?
Kolbasser: Nicht für diese, nicht für jene. Ich verlange die Entscheidung für die Kohle. Damit endlich wieder sie die Grundlage jeder Überlegung, jeder Variante wird. Kommt in den Tagebau. Habt den Mut, die Meinung der Arbeiter zu hören.
Berg: Und vorher präparierst du sie für deine Texte, wie?
Kolbasser: Mach dich nicht lächerlich, Genosse Berg. Von mir aus komm schon morgen früh, sofort. Von mir aus komm vor Schichtbeginn. Wieder an alle: Mir setzt man zu, nicht euch. Von oben, unten. Ich stehe zwischen den Feuern. Und ich hätte gern mal eure Argumente gewußt, wie ihr den Kumpels länger noch erklären wollt, warum ihre Bagger stehn, die Entscheidung hier nicht fällt. Das ist ein Antrag.
Zerklüftete Landschaft
Autos fahren an. Motorengeräusche. Türenklappern. Nach und nach versammeln sich die Bergarbeiter und die Mitglieder der Arbeitsgruppe.
Kolbasser im Vorübergehen: Simm!
Simm: Was gibt’s?
Kolbasser: Die hohen Herren persönlich.
Beissert: Was ist los?
Simm: Unser Kohlekommissar hat’s geschafft. Die Prognostiker kommen.
Schwenke: Statt der Kläje heute Autorallje?
Beissert: Der weiße Tatra da. Das ist Chemieboß Uhlenhorst.
Schwenke: Und hinterher die Wolgadeutschen. Dreschen wir ’nen Skat?
Simm: Bist du verrückt, Mensch? Schwenke, jetzt wird Revolution gemacht. Wir oder sie.
Beissert: Wirst du reden, Kalle?
Simm: Und wie! Seit wir hier abgesoffen sind, warte ich auf diesen Augenblick.
Beissert: Ich hol noch ein paar Leute zusammen. Hans Kolbasser den Rücken stärken. Sie gehen ab.
Baum und Herz steigen herab auf die Sohle.
Baum: Miese Gegend. Kahl gehauen, leer geschaufelt. Ich heiße Baum und bin der einzige Baum hier, und ungesehen kann man nicht einmal sein Wasser lassen.
Herz: Wenn es wieder um Dornberg geht, ich steh es nicht mehr durch.
Baum: Dagegen weiß ich was. Zieht eine Flasche. Einen Magenbitter. Streit ist eine sehr komplexe Form von nervlicher Belastung. Er strapaziert den ganzen Organismus. Bietet Herz zu trinken an und trinkt. Das hilft. In den meisten Fällen. Tun wir was für die Gesundheit. Prost. Ich bin der Ansicht Bergs. Die Kohle ist schon heute unrentabel. Maschinenbau muß her.
Herz: Aber was die Stadt angeht, da schweigen auch Sie.
Baum: Ich kenn mich da nicht aus, mein Lieber. Sie vergessen, daß ich aus einer völlig anderen Gegend bin. Ich spreche nur, wenn der Professor spricht. — Noch einen Schluck? — Er will das Brücktal für die Plastmaschinen. Plaste, darauf hat er einen Nationalpreis. Ich aber, weil ich den trainiertesten Hintern, das härteste Sitzfleisch in unserer Direktion hab, bin dazu bestimmt, das Brücktal für die Kälteaggregate zu besetzen. Damit bin ich völlig ausgelastet.
Herz: Ja, ja. Wir sind die ersten.
Baum: Ich bin immer der erste.
Herz: Warten wir auf die anderen.
Baum: Nein, ich geh zurück. Ich habe den Professor schon viel zu lange aus der Kontrolle gelassen. Beide ab.
Kolbasser und Berg stehen sich, aus verschiedenen Richtungen kommend, gegenüber. Berg mit einer Schatulle unter dem Arm. Um Kolbasser sammeln sich nach und nach die Bergarbeiter.
Berg: Guten Morgen.
Kolbasser: Willkommen, Berg, auf unserer Erde. Und Glück auf. Weißt du, seit wann es im Brücktal Kohle gibt?
Berg: Seit dem Tertiär. Ich lernte es in der Schule. Vierte Klasse.
Kolbasser: Und seit wann wird sie gefördert?
Berg: Was weiß ich. Seit über hundert Jahren.
Kolbasser: Falsch. Seit vier Generationen von Bergarbeitern.
Der alte Derbko: Das ist die Wahrheit. Ein Hundeleben unter Riebeck.
Kolbasser: Zum ersten Mal seit dem Tertiär, seit Europa hier aus dem Wasser stieg, ist die Kohle, die wir brechen, unsre Kohle. Antworte: Welches deiner Diagramme setzt in Rechnung, daß das Brücktal rot ist?
Berg: Rot oder grün, blau oder lila, keine noch so schöne Farbe...
Holz: Hör mal, Wissenschaftler, was soll das, nicht mal die Gesinnung zählt noch?
Berg: Nur die nackte Effektivität dessen, was wir heute tun, auch hier im Brücktal, entscheidet morgen über unsre Stellung in der Welt. Öffnet die Schatulle, entnimmt ihr ein Strukturbild und breitet es vor den Bergarbeitern aus. Seht her. Maschinenbau auf diesem Boden. Im Norden, hinterm Fluß, Chemie. Dornberg bleibt stehen, produziert Atomkraft. Und die Kohle dehnt sich, bis sie am Ende ist, nach Westen, in die unbesiedelten Gebiete. Das ist die Variante C. Das Optimum. Programm der Partei. Eine Technik schaffen, eine materielle Basis, die uns hilft, endgültig aus dem Tierreich Abschied zu nehmen.
Schwenke: Hurra, ich bin ein Affe. Ich leb noch auf den Bäumen.
Kolbasser: Theorie, Geschwätz aus Rechenautomaten. Die Partei denkt praktisch. Und auch ich, Bergarbeiter...
Schwenke: Direktor ist er. Vierstellig sein Gehalt.
Kolbasser: Halt die Schnauze. Bergarbeiter bin ich. Und auch ich denke praktisch. Die Republik braucht Kohle. Das Dornberger Feld ist hundert Meter dick. Es gibt kein Feld, das effektiver wäre. Effektiver, Berg, dein Lieblingswort.
Simm: Richtig, Hans. Und vergiß nicht: Zwei Jahre ist der Beschluß alt, Dornberg zu überbaggern.
Kolbasser: Ja. Er wurde nur gestundet. Gestundet, als die Prognosegruppe gebildet wurde. Doch nach dem letzten Winter... Ich stunde ihn nicht eine Stunde langer.
Berg: Darüber kannst du nicht allein entscheiden.
Kolbasser: Irrtum. Ich kann.
Holz: Und ob.
Kolbasser: Wir Bergarbeiter können immer. Wir haben die Partei im Rücken.
Berg: Nicht die Partei. Mißbraucht ihren Namen nicht. Du wirtschaftest dem Klassenfeind die Taschen voll.
Proteste. Tumult. Durcheinander.
Simm: Was soll das heißen?
Holz: Unverschämtheit!
Derbko: Hans, bring ihn vor die Kontrollkommission.
Holz: Entschuldigen soll er sich!
Schwenke: Nein! Ein Jahr in den Gleisbau schicken, den Mann!
Derbko: Grünschnabel!
Beissert: Beleidigung für Hans Kolbasser! Frechheit!
Simm: Uns beleidigt er. Dafür muß er sich verantworten!
Holz: Nimm das sofort zurück.
Schwenke: Zwei Jahre in den Gleisbau. Damit basta.
Bereits während der letzten Worte von Kolbasser und Berg sind die anderen Mitglieder der Arbeitsgruppe auf der Sohle erschienen.
Uhlenhorst bereitet dem Tumult ein Ende: Wie ich höre, sind wir schon mitten in der Diskussion. Doch wenn ich bitten darf: Mehr Ruhe, Arbeit. Und Sie, Genosse Doktor Berg und Kolbasser, erinnere ich an Ihre Pflicht, an Ihre Verantwortung als Leiter. Wir sind nicht hergekommen, unseren Privatkram öffentlich zu machen, sondern um die Meinung der Arbeiter zu hören. Das war Ihr Antrag, Genosse Kombinatsdirektor. Also: Die Beratung ist eröffnet. Wer möchte sprechen?
Simm: Ich.
Wiedenreuter: Ihr Name, bitte.
Sekretärin: Nur fürs Protokoll.
Simm: Simm, Karl-Heinz. Baggerfahrer.
Schwenke: Vorstandsmitglied im Sportklub.
Holz: Dreifacher Aktivist.
Beissert: Vertrauensmann der Gewerkschaft.
Derbko: Und er hat unser Vertrauen.
Simm: Als uns die Schneemassen hier zu schaffen machten, danach das Tauwetter, dann der Regen... Leuna und Buna schrien nach Kohle... Da tagte täglich die Gewerkschaft. Und da begriffen wir: Uns kann nur eins noch retten: Die Freigabe des Feldes unter Dornberg. Und zwar sofort. Erstens: Unser Tagebau läuft aus. Der Abraum liegt schon auf der Kippe...
Berg: Ist er dein Echo, Kolbasser?
Simm: Der Abraum liegt schon auf der Kippe. Zweitens: Die Produktionskapazität der Brikettfabriken beträgt vier Millionen Tonnen jährlich. Doch heute: Mai. Sie haben noch nicht einmal die erste Million erreicht.
Holz: Uns fehlt die Rohbraunkohle. Ich merk’s an meinen leeren Zügen.
Simm: Ja, so ist es. Drittens: Bis zu seiner Stundung vor einem Jahr...
Berg: Der Schnee ist weggetaut, das vorige Jahr. Immer nur Vergangenheit. Seht ihr denn nicht die Welt von morgen?
Simm: Von morgen? Meinetwegen. Da, mein Bagger. So sieht ein Riese ohne Arbeit aus. Still wie ein Mäuschen. Das gab’s noch nie. Und morgen stehen vielleicht im ganzen Revier die Geräte. Und in den Schaufeln nisten die Störche.
Schwenke: Ha, dieser Kalle. Der Storch hat erst letzte Woche seine Frau gebissen.
Berg: Dann such dir heute schon einen anderen Beruf, Genosse. Maschinenbauer, Chemiker. Frag deinen Kombinatsdirektor, warum er dich nicht darauf vorbereitet hat.
Schwenke: Zeig ihm die Zähne, Kalle.
Derbko: Weich nicht von der Linie ab.
Berg: Von welcher Linie?
Uhlenhorst: Doktor Berg! Ich muß Sie nochmals bitten, und zwar um Ihre Disziplin. Sie haben sich wie jeder andere hier zu Wort zu melden.
Berg hebt die Hand.
Uhlenhorst: Bitte!
Berg: Von welcher Linie, wenn man fragen darf. Von der Linie der Partei wohl nicht. Die technische Revolution, die Wissenschaft macht um das Brücktal keinen Bogen. Um keinen von euch. Zwei Jahre vielleicht noch oder drei, und ihr habt die längste Zeit Kohle ausgegraben.
Kolbasser: Ich protestiere!
Berg: Und wogegen? Gegen die Entwicklung der Welt?
Kolbasser: Simm wollte sprechen.
Berg: Wollt ihr dem Fortschritt Beine stellen? Schaut euch doch um. Amerika, Japan, Westdeutschland. Von den Sowjets ganz zu schweigen. Im Ruhrgebiet wie im Donbass. Erdöl und Atomkraft. Und hier? Denkt an eure Traditionen. Bergmann — wer ist mehr! Im Ringen um den Sozialismus wart ihr stets die ersten. Wollt ihr dieses Mal die letzten sein?
Simm: Hans! Jetzt möcht ich wissen, was gehauen und gestochen ist. Hat die Kohle hier noch Zukunft oder nicht. Bleib ich Bergmann oder kehr ich ab. Heiße ich auch morgen noch Simm, Karl-Heinz, der Baggerführer, oder muß ich mir ’nen anderen Namen suchen.
Kolbasser: Darauf kommt es jetzt nicht an.
Simm: Doch!
Schwenke: Recht hat Kalle.
Derbko: Lächerlich.
Beissert: Kein Stehvermögen.
Simm: Klaren Wein, Hans.
Derbko: Kalle, du enttäuschst mich.
Simm: Ach, mir ist doch scheißegal, ob Dornberg oder die Äcker.
Holz: Laß dich nicht ins Bockshorn jagen, nicht von dem da.
Simm: Denkt doch mal nach. So unrecht hat der Mensch doch gar nicht.
Beissert: Ich möchte sprechen.
Wiedenreuter: Ihr Name, bitte.
Beissert: Beissert, Peter. Kalle hat mich zum Baggerführer qualifiziert.
Schwenke: Ist längst bekannt.
Beissert: Ja. Aber nicht bekannt ist, daß ich Bücher wälze, wenn andre tanzen gehn. Erdzeitalter, Minerale. Denn ich habe mich zum Studium angemeldet. Was sag ich denn nun meiner Frau, wenn alles für die Katz sein soll, die Kohle stirbt?
Berg: Sag ihr, daß du ab morgen ein anderes Studium aufnimmst. Ingenieur im Maschinenbau.
Beissert: Was? Drei Jahre Büffelei umsonst?
Berg: Umsonst doch nicht, wenn einer was gelernt hat. Und jetzt mußt du nur noch lernen, was von dir verlangt wird. Es geht um unser aller Zukunft.
Schwenke: Jetzt ist Sommer. Doch im Frühjahr saufen wir ab, und im Winter schneien wir ein. Das ist für mich die Zukunft.
Holz: Halt doch mal die Luft an, du Friseur.
Schwenke: Ja, nenn mich so. Ich geh nämlich wieder zurück in meinen alten Beruf. Salon Schick. Alles Chrom und weiße Kittel. Und dann seife ich die Herren hier mal richtig ein.
Derbko: Was wird aus unserm Zusatzurlaub, unsrer Rente?
Holz: Wie steht es mit dem Deputat?
Berg: Fragt ihn, Kolbasser! Das hätte er euch schon längst erklären müssen.
Simm: Tausend Fragen. Doch nicht eine Antwort. Ist ja alles Leerlauf. Geht.
Beissert: Wo willst du hin?
Simm: Stachelbeeren pflücken. Meiner Hanna eine Arbeit abnehmen. Das ist doch zehnmal produktiver als dieser Schnickschnack.
Schwenke: Warte, Kalle. Ich komm mit. Wir kloppen ’nen Skat, ja? Beide ab.
Berg: Ich verlange die Entscheidung.
Derbko: Gustav Holz soll sprechen.
Kolbasser: Nein. Berg. Er hat mit seiner Arroganz, mit seiner intellektuellen Masche Simm verrückt gemacht, und nicht nur ihn, die andern auch. Er soll sagen, was er sich dabei gedacht hat.
Uhlenhorst sich Bergs bedienend: Doktor, Sie sind noch immer an der Reihe. Ihre Argumente interessieren.
Berg: Jeder spürt nur, wo der Schuh ihn heute drückt. Der eine fürchtet die Kritik auf dem Parteitag, der andre, daß ihm der Ofen ausgeht. Der eine hält seinen Bagger für den Mittelpunkt der Welt, der andere... Deutlich gegen Uhlenhorst gezielt: Der andere seine Plaste, die Patente, die er darauf hat. Und so betrachtet, ist ein jeder hier milieugeschädigt.
Wiedenreuter: Ich entziehe Ihnen das Wort.
Uhlenhorst: Warum? Ich sagte: Seine Argumente interessieren. Sprechen Sie weiter, Doktor.
Berg: Mäuse sind wir, keine Riesen. Ich danke diesem Baggerfahrer für das Stichwort. Wir verlieren uns im Sumpf der Kleinigkeiten. Denken nicht in Zeiten und in Räumen. Und zum ersten Mal, muß ich nun sagen, begreife ich sogar Kolbasser.
Uhlenhorst aufhorchend: Das ist neu. Begründung?
Berg: Weil Sie nicht leiten, nicht die Entscheidung suchen, konnte er uns in die Kohle locken. Doch immerhin: Er handelt. Er haßt wie ich die Unentschiedenheit.
Uhlenhorst wieder mit großer Gelassenheit: Wer sagt Ihnen, daß ich nicht die Entscheidung will? Ich könnte dem Ministerrat empfehlen, sofort Dornberg abzureißen.
Berg: Und dafür die Begründung?
Uhlenhorst: Nichts einfacher als das. Das Erdöl reicht noch nicht. Also ist die Karbidchemie noch nicht am Ende. Also brauchen wir noch Kohle.
Kolbasser: Bravo, Herbert. Endlich. Der letzte Winter ist unser bestes Argument.
Uhlenhorst weiterhin überlegen: Nein.
Berg: Dann fordern Sie endlich die Entscheidung für Variante C.
Uhlenhorst: Nein.
Baum: Und die Begründung dafür, wenn man bitten darf?
Uhlenhorst sehr entschieden: So viele Köpfe, so viele Meinungen, so viele Varianten. Der Zeitpunkt wär’ zu früh. Wir sind nicht eines Sinnes. Darunter litte die Exaktheit. Und was wir heute übereilen, Genossen, das kann sich schon morgen bitter rächen.
Kolbasser: Ja, Berg, es ist zum Kotzen.
Berg: Nein. Viel, viel schlimmer. Es ist das Dornberger Schießen.
Büro
Schreibtisch, Sessel, den Raum beherrschend ein Leninbild.
Stiller am Schreibtisch. Davor Kolbasser. Beide in heftigem Streit.
Kolbasser: Gib mir Antwort. Kohle ja oder Kohle nein.
Stiller: Es geht nicht um die Kohle, sondern um die Menschen.
Kolbasser: Das hatten wir bereits vor einer Viertelstunde. Denk an den Einbruch letzten Winter. Ich bin gekommen...
Stiller: Und ich hab dich hierher bestellt, weil du die Disziplin mit Füßen trittst, dich wie ein Anarchist benimmst. Du kommandierst sogar die Nationale Front von Dornberg. Hier, die Beschwerden. Kulturbund; Oberschule. Sogar vom Pfarramt.
Kolbasser: Und vielleicht von Berg?
Stiller: Wieso Berg?
Kolbasser: Hat er auch dich verrückt gemacht? Wie die Kumpel letzte Woche? Die Computer machen jetzt die Politik. Die Partei jedoch macht Nachtrab. Sie fällt uns in den Rücken.
Stiller: Noch ein solches Wort, und ich schmeiß dich raus.
Kolbasser: Ich geh von selbst. Doch ich komme wieder. Und dann... Dann laß ich euch die Sessel unterm Arsch wegbaggern. Darauf kannst du dich verlassen. Ab.
Stiller: Die Partei macht Nachtrab. Sie fällt uns in den Rücken... Ich werde dich zur Verantwortung ziehen, Kolbasser. Du beleidigst die Partei. Doch vielleicht meint er damit mich? Und wär es denn die Wahrheit? Was bleibt, das ist: Seit Wochen ein und dasselbe. Prognose, Zukunft, Sozialismus. Hilf uns, Sekretär. Kohle ja und Kohle nein. Ich aber weiß kein Ja, kein Nein. Kolbasser schreit mich an, ich schrei zurück. Er hat ein Wort parat, ich nur die Faust... Und erst seit Wochen? Nicht schon länger? Wenn es so wäre, Kolbasser hätte recht. Er nennt es Nachtrab. Und es heißt: Stiller, du führst nicht mehr. Ich bringe die Partei in Verruf. — Hilde! Greif mal in den Renommierschrank. Ich brauch jetzt einen Wodka. Nein, Hilde! Lieber ein Glas Wasser.
Broken tritt ein mit einem Glas Wasser in der Hand.
Broken: Hier ist es, prost.
Stiller: Die Bezirksleitung?
Broken: Glück auf, Schorsch.
Stiller: Glück auf, Max. Nimmt das Glas und leert es gierig. Hat dich der Lärm Kolbassers hergetrieben?
Broken: Ich traf ihn auf der Treppe. Als er zu heulen anfing, sagte ich ihm, er soll dorthin gehen, wo die Entscheidung fallen muß, in die Prognosegruppe. Wie weit ist sie?
Stiller: Mir ist die Kehle trocken wie früher vor den Öfen.
Broken: Warum geht’s nicht weiter? Warum fällt keine Entscheidung?
Stiller: Max, Parteiarbeit ist Schwerstarbeit.
Broken: Wem sagst du das. Doch von dir höre ich’s zum ersten Mal.
Stiller: Nimm Platz.