Dachdecker wollte ich eh nicht werden - Raúl Aguayo-Krauthausen - E-Book

Dachdecker wollte ich eh nicht werden E-Book

Raúl Aguayo-Krauthausen

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Beschreibung

Ein persönliches Plädoyer für Toleranz und Freude am Leben Menschen tätscheln ihm den Kopf oder starren ihn an – Raúl Aguayo-Krauthausen, der aufgrund seiner Glasknochen im Rollstuhl sitzt und kleinwüchsig ist, weiß, dass viele Menschen Schwierigkeiten haben, mit Behinderten unverkrampft umzugehen. Dabei ist jeder zehnte Deutsche behindert, da sollten wir uns doch eigentlich an den Umgang mit jenen gewöhnt haben, die nicht «normal» sind. Doch das Gegenteil ist der Fall. Raúl Aguayo-Krauthausen sieht seine Behinderung als eine Eigenschaft von vielen. Er beschreibt mit Witz und Sachkenntnis, wie sein Alltag wirklich ist und wie ein Miteinander von behinderten und noch-nicht-behinderten Menschen aussehen kann. «Was soll denn an dieser Behinderung Besonderes sein? Raúl Krauthausen ist einfach ein sehr beeindruckender Mensch mit starken Gaben. Er hat viel zu sagen und sich über seinen Rollstuhl schon lange erhoben.» (Roger Willemsen)

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Raúl Aguayo-Krauthausen • mit MarionAppelt

Dachdecker wollte ich eh nicht werden

Das Leben aus der Rollstuhlperspektive

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungZitatVorwort von Roger WillemsenEs ist noch Suppe da«Prima, drei Meter weit geworfen!»Knick-knackDachdecker kannst du auch nicht werdenWirklich beste FreundeAllein zu Haus mit anderenEierschaukeln mit OIEin Rollstuhlfahrer beim HürdenlaufIm Berliner UntergrundKotze am KottiLass uns reden: «Blue Moon»SMS wegen gestern Nacht«Held» statt Dachdecker?Ein Nachwort von mirDank
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Für meine Eltern

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Inklusion ist ein Prozess der Bewältigung und Annahme von menschlicher Vielfalt.

Fred Ziebarth, Pädagogischer Koordinator der Fläming-Grundschule in Berlin

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Vorwort

Von Roger Willemsen

Vor gut fünfzehn Jahren habe ich zum ersten Mal gehofft, dass es dieses Buch eines Tages geben werde. Vor gut zehn Jahren war ich sicher, dass es entstehen werde. Heute weiß ich, da ist eine Reise ans Ziel gekommen, und wirklich handelt es sich um ein besonderes Buch – einmal, weil es die Geschichte eines ungewöhnlichen Lebenslaufs erzählt, dann aber auch, weil es sich nicht darin erschöpft, Autobiographie zu sein, vielmehr handelt es sich um eine Ansicht unseres Gemeinschaftslebens, gesehen durch die Perspektive eines, der uns auch in unseren Versäumnissen und Ausblendungen scharf sieht, aber nicht der Verführung erliegt, die eigene Geschichte wichtiger zu nehmen als die seiner Zeit.

Man kann dies nicht hoch genug schätzen. Denn üblicherweise engagieren sich Vertreter von Minderheiten für ihre Minderheit. Sie arbeiten also vor allem für die eigene Sache. Raúl aber nimmt am gesellschaftlichen Leben teil als ein leidenschaftlicher Zeitgenosse. Er würde sich gegen Rassismus und Homophobie genauso einsetzen wie gegen Waffenexporte oder Überwachung. Als ein Liebhaber moralischer Entscheidungen hat er es auch schon abgelehnt, für die Zigarettenindustrie oder einen gewissen Getränkehersteller zu arbeiten. Denn auch wenn es öffentlich kaum auffällt, sind es die Neinsager, die Nicht-Mitmacher, die Verweigerer, die als Letzte manchen Wert konsequent und glaubhaft vertreten können.

Raúls Weise, den vollständigen Menschen zu interpretieren, beruht auf der eigenen Mündigkeit. Er hat ein Bild von dem, was sein und was besser nicht sein soll. Er urteilt auf der Basis seines Sachverstands. Er lässt sich nicht dumm machen, und er betrachtet die Welt gern im Hinblick auf ihre Veränderbarkeit. In dieser Arbeit wirft er seine Erfahrung in die Waagschale – und das ist nun einmal die eines Menschen, der im Rollstuhl sitzt, seine Einschränkungen erlebt und damit fertig wird. Basta. Kein Bedauern gefordert, keine Stilisierung erwünscht. Von Mitleid zu schweigen, wogegen Behindertenwitze nichts anderes beweisen, als dass Behinderte humorfähig sind. Diesen Anspruch dürfen sie nicht nur, den müssen sie haben, findet Raúl.

Irgendwann hat es sich bei den Wohlmeinenden durchgesetzt zu sagen, nach kurzer Zeit in der Gesellschaft eines Behinderten habe man gar nicht mehr bemerkt, dass er behindert sei. Klingt gut, aber ist es auch wahr? Wie kann ich die Einschränkung des Bewegungsraums, die Mühen bei alltäglichen Abläufen, die Allgegenwart von Schmerzen, die Auflagen des sozialen Lebens in der Gesellschaft eines behinderten Freundes je vergessen? Wie kann ich mir nicht die Frage stellen, welche Bürde die Bewegung, das Reisen mit sich bringen, welche Schwierigkeiten es machen könnte, Freunde und Geliebte zu finden? Es ist eben kein Schritt zu einem barrierefreien Umgang mit der Behinderung, wenn man sie dauernd mit diesem drakonischen Begriff eines übergeordneten «Normalen» identifiziert. Wichtiger als so zu tun, als seien wir alle behindert, wäre doch, die Differenz wahrzunehmen und sie um ihrer selbst willen schätzen zu können.

Im Zuge der vermeintlichen «Normalisierung» des behinderten Menschen wird seine Erfahrung mitunter bagatellisiert. Man kann aber nicht davon sprechen, wie wir alle in unserer Entwicklung historisch zu verstehen seien, ohne dies Verständnis auch auszudehnen auf jene, die den Begriff des «Normalen» nicht für sich in Anspruch nehmen können. Sie ist aber in der Geschichte unserer Kultur besonders belastet, und so ist auch die Emanzipation des Behinderten vom Bann der Vorurteile eine andere, als alle übrigen Minderheiten sie erleben.

Bis zum 18. Jahrhundert war die Gestalt des Behinderten von Aberglauben umgeben: Sah die Mutter einen Gehenkten während der Schwangerschaft, so konnte das Kind mit krummen Gliedern zur Welt kommen, so glaubte man. War sie unaufrichtig, so konnte das Kind schielen. Andererseits war für den Arzt Rudolf Virchow genau dies Amorphe, Ungestaltete, anders Gebildete das Leben in Reinform, das, was sich behauptet. Im Durchschnittsmenschen ist die Form geronnen, das Leben organisiert und in seine Form gefallen. Im Behinderten dagegen wuchert es selbst, eigenmächtig und stark. Er ist also nach Virchow so etwas wie der Beweis für die Natürlichkeit der Natur. Abnormal wäre, wenn sie nichts Abnormales erschaffte und bloß maschineller Logik folgte.

Der sogenannte normale Mensch betritt die Bühne der Menschheit ja auch erst spät – jedenfalls, wenn man sich die abendländische Neuzeit und jedenfalls, wenn man sich seine Darstellung ansieht. Dann nämlich kann es scheinen, als habe dieser normale Mensch ehemals geradezu um seine Darstellbarkeit gerungen. «Der ‹normale Mensch› (das Wort macht mich rasend)», heißt es bei André Gide, «das ist jener Rückstand, jener Urstoff, den man nach dem Schmelzvorgang, wenn das Besondere sich verflüchtigt hat, auf dem Boden der Retorten findet. Er ist die primitive Taube, die man aus der Kreuzung seltener Arten wieder erhält – eine graue Taube – die bunten Federn sind gefallen, nichts zeichnet sie mehr aus.»

Wenn ich früher manchmal mit dem Jazzpianisten Michel Petrucciani oder der Schauspielerin Carole Piguet unterwegs war, die beide mit Glasknochen geboren worden waren, dann konnte ich bei Passanten bisweilen diesen besonderen Blick sehen. Kein böser Blick war das, eher ein fassungsloser, der hätte verweilen wollen, wäre er nicht so indezent erschienen. Es war ein Blick, der die Differenz notierte, aber man könnte auch sagen, er suchte genauso gut die Identität, das Gemeinsame im Unterschiedlichen.

Von diesem Blick, diesem Perspektivwechsel, scheint die Gegenwart wieder so fasziniert wie vergangene Jahrhunderte. Doch die Panoptiken der Vergangenheit heißen heute «Doku-Soap», «Talkshow» oder «Körperwelten», auch sie sind Manegen, auch sie bieten als Selbstrechtfertigung an, das Abweichende als das Normale zu zeigen. Solche besonderen Menschen hat man nicht erst nach Tod Brownings legendärem Film von 1932 «Freaks» genannt, und der Ausdruck hat für eine viel größere Gruppe der Originellen, der Abweichler und Nonkonformisten überlebt. Ein «Freak of nature» ist, wörtlich genommen, nichts anderes als «eine Laune der Natur», also keine Ausnahme, sondern der Ausdruck ihrer Freiheit, eigentlich ihr Inbegriff. «Die meisten Menschen», sagt Diane Arbus zur Begründung eines Foto-Zyklus zum Thema, «gehen durch ihr Leben in der ständigen Angst vor einer traumatischen Erfahrung. Freaks wurden schon mit ihrem Trauma geboren. Sie haben ihre Prüfung im Leben bereits absolviert. Sie sind Aristokraten.»

In diesem Sinn wäre jede, die ihre Wunde zeigt, und jeder, der seine Narben entblößt, dank eigener Kraft selbst aristokratisch – um es noch einmal mit dem Furor des Valentin Knox beim jungen André Gide zu sagen: «Denn hören Sie jetzt einmal auf, die Krankheit als einen Mangel anzusehen; im Gegenteil: sie ist ein Zuwachs. Ein Buckliger ist ein Mensch plus dem Buckel, und mir wäre lieber, Sie fassten die Gesundheit als einen Mangel an Krankheiten auf.»

Raúl ist bei der Betrachtung seiner Situation denkbar gelassen, hat sie ihn doch befeuert zu werden, was er ist. Er ist kein Eiferer in Behindertenfragen, und die Pflege von Selbstmitleid empfindet er als Zeitverschwendung. Eher ist er für eine sprachlich exakte Fassung seiner Besonderheit: Nicht eine «Krankheit» ist sie, sondern ein Gendefekt. Wenn es eine sprachliche Diskriminierung gibt, dann liegt sie darin, nicht präzise zu sein. Eine Krankheit ist ansteckend, eine Krankheit für viele ist lukrativ für die Pharmazie. Ein Gendefekt aber ist weder ansteckend noch medikamentös zu beseitigen.

Wikipedia führt Raúl Krauthausen als «Aktivist». Wie habe ich mich gefreut, als ich das las! Von einem Aktivisten wird man nicht sagen, dass er an den Rollstuhl «gefesselt» sei, und dieser Rollstuhl ist ja zugleich auch, sagt Raúl, die Bedingung seiner Freiheit. Ein Aktivist ist man dank der Beweglichkeit von Ideen und dank der Wirkung von Impulsen, deren Nachhall man in der tätigen Welt verfolgen kann. Der Aktivist ist ein Entzünder, ein Auslöser und Anreger. Er beweist Tatkraft und hat doch zugleich eine hohe Meinung vom Umgang mit Ideen. Und Ideen hat Raúl dauernd. Er verfolgt sie, sie verfolgen ihn, und was die meisten von ihnen nicht gewohnt sind: Er setzt sie um – Sozialheld, nicht Maulheld.

Man nehme allein dieses Beispiel: In einem Supermarkt stellen Raúl und sein Cousin fest, dass Kunden bisweilen gern Leergut abgeben, aber nicht Schlange stehen möchten, bis sie an der Kasse ihr Pfandgeld entgegennehmen können. Sie erfinden die «Pfandbox», die nahe der Leergutannahme aufgestellt wird, inzwischen in über 400 Supermärkten in Deutschland zu finden ist und durch die Kunden ihr Pfandgeld spenden können. 100000 Euro sind auf diese Weise in einem einzigen Jahr allein in Berlin zusammengekommen und an eine Organisation für Bedürftige gegangen.

Auf dem Weg, der zu solchen Initiativen (und zum Bundesverdienstkreuz) führt, befindet sich Raúl schon lange, und die Stringenz, mit der er seinen Weg verfolgt, ist bemerkenswert, auch weil er weniger von Ehrgeiz, als von Leidenschaft befeuert ist.

Als ich Raúl kennenlernte, war er siebzehn, sehr zart und ebenso sehr entschlossen, in das öffentliche Leben hineinzuwirken – durch Gedanken, durch Medienkritik, durch Humor, durch Engagement. Ich sollte damals eine große Benefiz-Veranstaltung der «Aktion Mensch» moderieren. Durch diese wollte man vor allem Bewusstsein bilden für den Umstand, dass die Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz ausdrücklich auch die Behinderten einschloss – etwas, das seit Jahren rhetorisch bekräftigt wurde, in der Umsetzung aber nicht erreicht war. Gerade öffentliche Gebäude waren oft nicht barrierefrei und damit behinderten Mitarbeitern verschlossen, ein Umstand, gegen den der einstige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel lange gestritten hatte und der auch von dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zu seiner Sache gemacht worden war.

An jenem Abend sollte ich auf der Bühne zahlreiche Menschen, darunter viele mit Behinderungen, zu diesem Thema befragen. In der Überzeugung, dass aber auch einer von ihnen als Moderator denkbar sein müsste und dass ein Behinderter vielleicht andere Fragen stellen würde, fragte ich nach einem entsprechenden Co-Moderator, und ja, sagte man mir, da gäbe es einen mit Ambitionen auf diesem Feld. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dann erst mit Raúl telefoniert, dann habe ich ihn in Berlin besucht und ihn kurz vor der Gala-Moderation in meine wöchentliche ZDF-Sendung eingeladen, wo mit Michel Petrucciani seit Beginn immerhin ein Pianist mit Glasknochen am Flügel saß.

Das Ergebnis war ein Gespräch, an das sich noch Jahre später alle erinnerten, die es gesehen hatten. Raúl war 100 Zentimeter kleiner als ich, sein Rollstuhl wurde auf ein Podest geschoben, und so durchlässig und animiert sein Gesicht agierte, hätte man ihn eher für zwölf als für siebzehn gehalten. Er kannte den Effekt, der für einen Halbwüchsigen auch nicht eben leicht zu ertragen war. Von den ersten Sätzen allerdings war klar, dass dieser Gast seinen Platz behaupten würde. Erst einmal kritisierte er meine Aussprache seines peruanischen Vater-Namens «Aguayo», dann informierte er das Publikum über die Fakten zu dem, was Glasknochen heißt, und über die verschiedenen Weisen, «das Normale» zu begreifen, vor allem aber vermittelte er den Eindruck unkalkulierter Ehrlichkeit, und er wollte gefordert werden, denn er konnte viel ertragen. Das war nicht «altklug», wie er selbst später fand, es war entwaffnend geradlinig und sehr charmant.

Ob er glaube, dass in diesem Augenblick die Leute abschalteten, weil sie einen Behinderten sähen, wollte ich wissen. Er räumte ein, dass in der Tat der vermeintlich perfekte Mensch offenbar gut sei, wollte man sich die Anhänglichkeit des Zuschauers sichern. Ob ihm dann die Werbung nicht auf die Nerven gehe, mit all ihren künstlich vollkommenen Menschen? «Nee, ich falle ja selber drauf rein», erwiderte Raúl. «Siehst du im Fernsehen eher Paralympics oder Baywatch?», fragte ich. «Dann doch eher Baywatch», erwiderte er.

Als Raúl geboren wurde, zählten die Ärzte neunzehn Knochenbrüche. «Wie hat dir deine Mutter deinen Zustand erklärt?», wollte ich wissen. «Weiß ich nicht, da war ich noch ganz klein», erwiderte er und hatte die Lacher auf seiner Seite. «Die Ärzte dachten, ich würde nur zwei Tage leben, jetzt bin siebzehn, selber schuld», fügte er hinzu und fand, mit dreißig könne er die Ärzte vielleicht mal besuchen und ihnen zeigen, wie lebensfähig er war. Das könnte ihnen dieses Buch jetzt sagen.

Alles andere als selbstverständlich war das. Ein Jahr verbrachte Raúl in Kolumbien in einer Behindertenschule, ohne Rollstühle, Hefte, Stifte. Im Alter von drei Jahren kam er in einen Integrationskindergarten bis zur Vorschule, eine Integrationsschule, in der die Schüler, Behinderte und Nicht-Behinderte, bis zur siebten Klasse zusammenblieben. Kontakt zu den nicht behinderten Schülern hatte er erst allmählich aufgebaut.

«Wann hast du dir zuletzt die Knochen gebrochen?» Kurzes Zögern. «Wann war’n das? Vor vier Wochen.» Beim Anrempeln oder Verdrehen könne das passieren, und schmerzhaft sei es immer. Ob es irgendein Feld gebe, auf dem er Vorteile habe? «Ich muss mir nicht alle drei Monate neue Schuhe kaufen», meinte Raúl und lachte darüber, kein Fashion Victim werden zu können. «Sitzt du, wenn du träumst, auch im Rollstuhl?» – «Nee, glaube ich nicht», erwiderte Raúl, aber er sehe im Traum auch nicht an sich runter. Einen starken Eindruck hatte er hinterlassen, und beim abschließenden Schwenk über das Publikum sieht man alle lächeln.

Die folgende Gala-Veranstaltung haben wir moderiert wie zwei Komplizen. Ich habe Raúl dann immer mal wieder besucht, verfolgt, welche Wege er nahm, und als ich einmal zu einer szenischen Lesung aus dem Buch über die Guantánamo-Häftlinge eingeladen wurde, bat ich ihn, die Fragen zu lesen. Da waren wir ganz selbstverständlich wieder auf der Bühne.

Heute hat sich seine Stimme gesenkt, er trägt einen Bart und Streetwear. Noch immer brennt er dafür, soziales Handeln zu erleichtern und den Funken auf andere zu übertragen. Sein Radius ist immer größer geworden, doch auch seine Erfolge haben seinen starken Charakter nicht deformiert. Manchmal hat er noch das Gesicht eines Schwärmers, dann ahnt man, hier könnte vielleicht gerade wieder eine Idee entstehen, und vielleicht könnte sie sogar die Welt verbessern. Raúl wäre es zuzutrauen.

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Es ist noch Suppe da

«Der letzte Arbeitsauftrag ist für zu Hause», wandte sich einer der drei Dozenten im Assessment-Center an uns. «Die Aufgabe besteht darin, euch ein umfassendes Bild von einer asiatischen Nudelsuppe zu machen. Wie sieht sie aus, wonach riecht, wonach schmeckt sie?» Hinter dem Mann wurde mit einem Beamer das Bild einer bunten Tütensuppe an die Leinwand geworfen. «Probiert die Suppe auch in trockenem Zustand, bevor ihr sie wie auf der Packung angegeben zubereitet.» Manche sahen sich verwundert an. «Vergesst nicht, euch Notizen zu machen, und überlegt, wie sich das Produkt eventuell verbessern lässt. Habt dabei den möglichen Konsumenten und seine Bedürfnisse im Hinterkopf. Morgen besprechen wir eure Ergebnisse, vielen Dank.» Dann gingen Ahmet und seine beiden Kollegen herum und verteilten vierzig Tüten mit asiatischen Instantsuppen. Vierzig Tüten für vierzig Bewerber.

Zurück in meiner WG-Küche, betrachtete ich eindringlich die grellbunte, rechteckige Tüte, als könnte sie mir ein Geheimnis verraten. Ich war gespannt, denn ich hatte diese Art Fertiggericht bis dahin noch nie gegessen. Angesichts sonstiger Fertigprodukte erwartete ich aber, ehrlich gesagt, kein großartiges kulinarisches Highlight. Aber ich wollte ja vorurteilsfrei an die Sache rangehen. Insgesamt war die Nudelsuppe etwas dicker als die Fertigsuppen, die ich aus Supermärkten kannte, dennoch wog sie leicht in der Hand. Nach äußerer Begutachtung schüttelte ich die auffallend farbige Tüte. Der Inhalt raschelte. Die unterschiedlichen Bestandteile – wahrscheinlich Brühe, Nudeln und vielleicht noch irgendwelches Gemüse – konnte ich durch die Verpackung fühlen. Aufgrund meiner Behinderung brauche ich bei vielen Tätigkeiten Unterstützung. Also rief ich Tom, meinen Assistenten, der im Bad Wäsche in die Maschine stopfte. Ich bat ihn, die Tüte für mich zu öffnen.

«Gibst du sie mir wieder?», sagte ich, nachdem er meiner Bitte gefolgt war.

Tom schaute mich erstaunt an. «Wie? Ich dachte, das ist dein Abendessen. Was hast du damit vor?»

«Alles, was man mit einer Suppe anstellen kann. Eine umfassende Erforschung. Und das beinhaltet auch die Überlegung, ob die Verpackung, Nutzung oder die Rezeptur verbesserungswürdig ist.»

Hatte mich Tom schon vorher irritiert angeschaut, nun sah er aus, als würde er ein wenig an meinem Verstand zweifeln. «Sag mal, was für eine Art Assessment ist das eigentlich, das du da durchläufst?»

Gute Frage. Ich selbst war immer noch ganz gefangen von dem, was ich am ersten Tag an der HPI-School of Design Thinking erlebt hatte. Wir nannten sie nur D-School. Design Thinking wird dort als Zusatzstudium angeboten, die Schule selbst ist als Forschungsinstitut an die Uni Potsdam angegliedert. Ich hatte davon gelesen, und der Artikel hatte meine Neugier geweckt, sodass ich wenig später zum Tag der offenen Tür 2008 ging. An diesem Tag stellte der erste Jahrgang seine Projekte vor. Eine Gruppe hatte einen Leitfaden für Menschen mit geistiger Behinderung entwickelt, der es ihnen ermöglichen sollte, bei Bedarf mit Passanten in Kontakt zu treten, um letztlich allein in der Stadt zurechtzukommen. In einer Art Ort-Ordner waren beispielsweise Karten mit Fragen nach dem Weg zur nächsten U-Bahn-Station abgeheftet. Daneben befand sich das entsprechende Symbol, in dem Fall das Zeichen für U-Bahn. Eine andere Idee war eine Website, auf der man Wohnungen nicht nur nach Größe und Mietpreis suchen konnte, sondern auch nach Aspekten wie der Anzahl von Spielplätzen. Den Gesprächen mit Studenten entnahm ich, dass Querdenken und Experimentieren gefragt waren. Elektrisiert fuhr ich nach Hause.

Eigentlich war Querdenken nichts Neues für mich, denn seit 2002 studierte ich Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste und arbeitete bei Radio Fritz. Das war eine ganze Menge. Dennoch hatte mich die Vorstellung ans Querdenken gepackt. Und was mir auch gefiel: Lehrende und Studenten kamen aus den verschiedensten Fachrichtungen und Nationen. Meine Mutter ist eine Deutsche, mein Vater Peruaner, geboren bin ich in Lima, aufgewachsen in Berlin. Und bei diesem unkonventionellen Studiengang sah ich die Chance, einmal nicht als der Mobilitätseingeschränkte im Rollstuhl, als der mit den Glasknochen wahrgenommen zu werden. So bewarb ich mich – und wurde mit vierzig anderen zu einem Assessment-Center eingeladen. Wir alle waren Konkurrenten um die begehrten Studienplätze.

Tom schüttelte den Kopf, während ich meine Nase über die geöffnete Tüte hielt. Ein extremer Maggi-Geruch strömte mir entgegen. Sonst nichts. Dann steckte ich einen Finger hinein und probierte etwas, was ich nicht ganz einordnen konnte. So undefinierbar es aussah, so undefinierbar schmeckte es.

«Und, Mr. Gourmet, erfreut das Zeug deinen Gaumen?» Tom sah mich skeptisch an.

«Na ja, von einem großartigen Geschmack kann kaum die Rede sein. Es ist verdammt salzig. Eigentlich schmecke ich nur Salz. Hochprozentiges Salz.»

Etwas komisch kam ich mir schon vor, als ich nun ein paar von den kleinen kringeligen Nudeln aß. Ihre Konsistenz fühlte sich ein wenig merkwürdig an, immerhin kaute ich ungekocht auf ihnen herum, und so etwas wie Eigengeschmack hatten sie auch nicht. Hatten Nudeln im Trockenzustand das überhaupt? Als großer Kochprofi konnte ich mich nicht gerade outen.

«Also, die Suppe kann ich so nicht empfehlen. Aber was nicht ist, kann noch werden. Auf der Verpackung steht, wie man sie zubereiten soll. Es wäre toll, wenn du mir dabei helfen könntest.»

Tom war ein perfekter Gehilfe bei diesem Experiment. Er setzte Wasser auf und gab den Tüteninhalt in eine Art Müsli-Schüssel. Als das Wasser heiß war, goss er es in der angegebenen Menge über das Instant-Etwas. Dampf stieg noch immer empor, als er sie vor mir auf den Küchentisch stellte. Ein noch intensiverer Maggi-Geruch umnebelte mich. Dann wurden Frühlingszwiebelröllchen erkennbar, sie schwammen an der Oberfläche. Auch ein paar dünne Karottenstreifen konnte ich ausmachen, fast ohne Lupe, und auf dem Grund der Schale die Nudeln.

Jetzt wurde es ernst. Ich nahm einen Löffel von der gelblichen, dünnen Brühe und pustete, um mir nicht die Zunge zu verbrennen. Anders als der Geruch vermuten ließ, schmeckte die fertige Suppe nicht salzig, sondern künstlich. Und extrem wässrig. Beim Essen war ich nicht sehr anspruchsvoll, aber sofort war klar: Nie wieder würde ich zu dieser Tüte greifen. Nur im Notfall, bevor ich verhungern würde. Gäbe man Fleisch oder frisches Gemüse hinzu, so wäre es eigentlich schade darum. Fazit: Verbessern konnte man die Suppe nur, wenn man ein neues Rezept erfand. Punkt.

Neben der Tütensuppe hatten die Dozenten jedem von uns eine weiße Kladde mitgegeben, der Papprahmen war metallbeschichtet. Sie sah sehr stabil aus, erwies sich aber für mich als unhandlich, weil sie zu schwer und zu groß war. Ständig hätte ich jemanden bitten müssen, sie aus meinem Rucksack hinten am Rollstuhl zu holen und sie wieder dort zu verstauen. Aus dem Grund war ich dazu übergangen, vieles mit meinem Handy abzufotografieren. So konnte ich zum Beispiel auf Dateien zurückzugreifen, die in meiner Dropbox abgelegt waren. Nach dem Küchenexperiment nahm ich aber stattdessen einen Zettel zur Hand, um darauf meine Eindrücke von der Suppe festzuhalten.

 

Der zweite Tag begann mit einem Warm-up. Ahmet, der uns den Tütensuppen-Auftrag erteilt hatte, stellte sich in die Mitte des Raumes, breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und sagte: «Ich bin ein Baum.» Bevor wir es uns versahen, war der zweite Dozent, Harry, in die Rolle eines Vogels geschlüpft, der um den Baum flog, und der dritte gab vor, ein Apfel zu sein. Nach anfänglichem Zögern folgten die ersten Studenten. Einer von uns Bewerbern schnappte sich einen der bunten Würfel, die als Sitzgelegenheit dienten, und mimte einen Gärtner mit Rasenmäher. Ein anderer stellte auf allen vieren eine Bank dar, auf der eine Kommilitonin Platz nahm und tat, als würde sie Zeitung lesen. «Kinder» spielten Fangen, eines davon versuchte, am «Baum» hochzuklettern. Schon bald war um mich herum ein wildes Treiben im Gange. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich als einer der Letzten für die Rolle des Hundes und fuhr zwischen den anderen hindurch. Das schien mir am wenigsten gefährlich, denn ich hatte Angst, dass ich mir in dem Durcheinander Knochen brechen könnte.

Als Nächstes trugen wir unsere Ergebnisse zusammen. Dafür vorgesehen waren bunte Haftnotizen, um sie für alle gut sichtbar am Whiteboard anzubringen. Um meinen Verbesserungsvorschlag – eigentlich war es ja kein wirklicher, aber wäre es gut angekommen, wenn ich die ganze Tüte in den Müll geworfen hätte? – zu illustrieren, hatte ich eine Kuh gezeichnet, die man vor allem anhand ihres Euters erkennen konnte. Zeichnen konnte ich noch nie gut. Damit es schnell ging, hatte sie Ahmet für mich am Whiteboard angebracht. Am Vortag war er auch auf die Idee gekommen, eine Parkposition auf den Boden zu kleben, damit ich im Raum einen festen Platz hatte. Und die Rollen eines der Stehtische hatte er, als sich herausstellte, dass sie für mich zu hoch waren, einfach abgeschraubt. Schnell, unkompliziert.

Danach wurden wir aufgefordert, uns in Gruppen einzufinden. In meiner waren noch drei Männer sowie eine Frau.

«Wie eine asiatische Fertignudelsuppe zu goutieren ist, wisst ihr nun.» Ahmet wandte sich wieder an uns. «Doch wie schmeckt eigentlich eine richtige chinesische Nudelsuppe?» Er machte eine kurze Pause, in der er uns bedeutungsvoll ansah. «Das sollt ihr nun herausfinden. Mit der S-Bahn fahrt ihr von hier aus zur Haltestelle Charlottenburg. In der Kantstraße gibt es eine Vielzahl asiatischer Geschäfte und Restaurants. In einem der Läden kauft ihr eine Fertigsuppe. Schließlich sollt ihr wissen, woher die Suppe kommt, die ihr gestern gegessen habt.» Während er das sagte, wurden per Beamer das Foto einer S-Bahn und die Aufnahme eines Asia-Ladens an die Leinwand geworfen. «Anschließend geht ihr in ein Chinarestaurant und bestellt eine Nudelsuppe. Wie zuvor sollt ihr eure Eindrücke festhalten, um sie später zu präsentieren. Legt fest, wer in eurer Gruppe Beobachter ist und wer die Notizen macht.» Ahmet warf einen Blick auf seine Uhr. «Jetzt ist es gleich zwölf. Ihr habt insgesamt vier Stunden Zeit. Versucht, auch Bilder von der Küche zu machen. Das hat sich in der Vergangenheit als schwierig erwiesen, weil Restaurants Angst vor dem Gesundheitsamt haben und sich nicht gern in die Töpfe blicken lassen. Ihr solltet es aber auf jeden Fall versuchen. Und akzeptiert ein Nein, wenn es euch nicht gelingt.»

Ich schluckte. Oh Gott, jetzt beginnen die Probleme, war mein erster Gedanke, während Harry mit rahmenloser Brille und Glatze auf unsere Gruppe mit zwei Karten in der Hand zusteuerte. «So. Im letzten Jahr haben wir die Erfahrung gemacht, dass manche Ladenbesitzer und Restaurants das Gefühl hatten, von zu vielen Gruppen überfallen zu werden. Dem beugen wir vor, indem wir für jedes Team ein Geschäft und ein Restaurant ausgesucht haben. Hier habt ihr eure Karten mit der jeweiligen Adresse.» Charlotte aus unserer Gruppe las sie laut vor.

«Äh, eine Frage. Sind die beiden Orte rollstuhlgerecht?»

Harry schaute mich an. «Was meinst du damit?»

«Wisst ihr, ob Stufen vor dem Eingang sind? Ich komme unter Umständen nicht rein.»

Harry überlegte kurz, dann sagte er: «Keine Ahnung. Wartet einen Moment, ich rufe dort an und frage nach.»

Um uns herum packten die anderen Gruppen ihre Sachen zusammen, und der Raum fing an, sich zu leeren. Harry kam kurz darauf zurück.

«Tut mir leid, ich habe dort niemanden erreicht», erklärte er.

In mir machte sich Erleichterung breit, denn mir war es unangenehm, dass er extra wegen mir angerufen hatte. Dabei hätte ich erleichtert sein können, wenn er mir erzählt hätte, Lokal und Laden wären barrierefrei.

«Habt ihr eine Rampe, die wir eventuell mitnehmen könnten?», wollte ich wissen.

«Nein, leider nicht.» Nun war es Harry, dem die Situation peinlich war.

Alternativ hatte ich über den Vorschlag nachgedacht, dass unsere Gruppe die Anlaufstellen mit denen einer anderen tauschen könnte, sollten diese Orte rollstuhlgerecht sein. Da ich aber weitere Unannehmlichkeiten vermeiden wollte, behielt ich die Idee für mich. Zudem spürte ich, wie sich leichte Nervosität breitmachte. Wir sollten ja schon um 16 Uhr wieder zurück sein.

«Geht auch Sushi?» Das war mein letzter, fast schon verzweifelter Versuch, weil ich in der Kantstraße ein Sushi-Restaurant kannte, das keine Eingangsstufen hatte.

«Nein, ausgeschlossen.» Harry fuhr sich mit einer Hand über die Glatze. «Euch bleibt nichts anderes übrig, als einen Laden zu finden, der rollstuhlgerecht ist.»

Das konnte uns ganz schön aufhalten. Ich hatte Schweißperlen auf meiner Stirn.

«Alles klar. Wir werden schon irgendwo reinkommen», sagte Philipp, einer der Männer aus meiner Gruppe. Er studierte Kommunikationswissenschaften, trug schwarze Jeans, ein schwarzes Shirt und schwarze Sneakers. Er sah aus, als wäre er gerade aus dem dunklen Teil der Welt entstiegen, machte aber einen ungemein sympathischen Eindruck.

«Dann viel Erfolg bei der Suche.» Harry scheuchte uns raus. Wir waren die Letzten, die das Abenteuer echte asiatische Nudelsuppe starteten.

Verdammt, alles wegen mir. Beklemmung stieg in mir auf. Dabei hatte sich alles so gut angelassen. Den Weg zur D-School – ein modernes Gebäude mit Aufzug und mehreren Behindertentoiletten – legte ich allein zurück. Für mich ein komplett neues Umfeld, aber schon jetzt wusste ich, wie lange ich brauchte und wo ich aussteigen musste, wenn der Aufzug an der Haltestelle Griebnitzsee kaputt war. Abgesehen davon, dass Einzelne mich gefragt hatten, wie ich hergekommen war, hatte mich keiner auf meine Behinderung angesprochen. Und jetzt das. Sollte ich anbieten, was ich in einem solchen Moment immer vorschlage? Sich einfach ohne mich auf den Weg zu machen? Zeit zum Überlegen blieb keine, denn das Quartett steuerte direkt auf die Treppe zu.

«Sorry, ich muss leider hier lang.»

Noch eine Verzögerung.

«Okay, dann komme ich mit dir.» Charlotte sagte das vollkommen selbstverständlich. Wie die meisten in meiner Gruppe war sie Mitte zwanzig. Sie war so bunt angezogen, dass ich kaum glauben konnte, dass sie Luft- und Raumfahrttechnik studierte. Ihre blonden Kurzhaarlocken zierte ein pinkfarbener Deckel. Darauf angesprochen, hätte sie bestimmt Hut dazu gesagt. Zum Glück befand sich der Raum im ersten Stock, sodass wir schnell unten waren. Im Eingangsbereich warteten bereits die anderen. Tür auf, draußen. Instinktiv bog ich zur S-Bahn-Station Griebnitzsee nach links ab, die anderen drängten nach rechts.

«Wieso links? Nimmst du nicht die Abkürzung durch den Wald?», fragte Malte, der über seine halblangen Haare eine blaue Baseballkappe gestülpt hatte.

«Tut mir leid, die kenne ich nicht. Ich muss den regulären Weg vorbei an der Bibliothek nehmen.»

Wieder gab es kein Murren, ohne Zögern schlossen sie sich mir alle an. Ich fuhr mit meinem Rollstuhl, so schnell ich konnte.

An der Bahnstation dasselbe Spiel. Diesmal waren wir zu dritt im Aufzug. Der Rest erwartete uns im Tunnel.

«Wie kommen wir denn zum Gleis?», meinte Markus, ein hochgewachsener angehender Psychologe, dem seine bayerische Herkunft noch deutlich anzuhören war. Die schicke Hose und das Streifenhemd hätten das nicht vermuten lassen.

«Da hinten ist ein Aufzug.» Ich wies den Weg.

Oben angekommen hatten wir Glück. Die S-Bahn fuhr gerade ein, und unmittelbar vor uns öffnete sich eine Tür.

«Kommst du allein rein, oder brauchst du Hilfe?», fragte Philipp.

Noch bevor ich antworten konnte, war ich auch schon ins Abteil hineingerumpelt.

«Na, dein Rollstuhl wird ja ordentlich strapaziert, was für ein Teil. Die arme Achse», meinte daraufhin Malte.

«Keine Sorge, der hält das aus, der ist dafür konstruiert.»

Die Fahrt nach Charlottenburg nutzten wir, um uns auf die bevorstehende Aufgabe vorzubereiten. Charlotte sah sich noch einmal genau die Verpackung der Tütensuppe an, damit wir sie auch gleich in einem der Asia-Geschäfte fanden. Wie sich herausstellte, war niemand von uns je in einem solchen Laden gewesen. Mich beschäftigte das alles jedoch nur bedingt, denn in meinem Kopf kreisten nur Bilder von Stufen und fehlenden Rampen. Verschwindend gering war meine Hoffnung, irgendwo reinzukommen. Das hatten mir meine Erfahrungen gezeigt.

Zwanzig Minuten später, um kurz nach halb eins, hatten wir unser erstes Ziel erreicht. Raus aus der Bahn, rein in den Aufzug, runter zur Straßenebene, da die Bahntrasse oberhalb verläuft. Immerhin konnte ich den anderen sagen, wie wir am schnellsten zur sogenannten Chinameile kamen. Als wir die vierspurige Kantstraße erreichten, tauchte das nächste Problem auf: nach links oder nach rechts?

«Wo sind denn die meisten Asia-Shops?», fragte Charlotte.

Alle zuckten mit den Schultern.

«Nach der Karte würde ich rechts vorschlagen», wagte ich vorsichtig in die Runde zu werfen.

«Okay, dann los.» Malte, der Kappenträger und Chemiestudent, setzte sich – und das auch für den Rest des Tages – an die Spitze. Wir eilten vorbei an chinesischen Möbelgeschäften und Kiosken, aber nirgendwo ein Asia-Laden. Weit und breit zeigte sich auch kein Asiate, den wir hätten fragen können. Endlich! Nach zehn Minuten erblickten wir einen Shop mit roten Lampions im Schaufenster. Natürlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es dauerte, bis wir die Straße überqueren konnten. Doch dann die Enttäuschung. Stufen am Eingang, die wir vorher nicht wahrgenommen hatten. Und keine Rampe.

«Macht nichts, weiter. Uns bietet sich bestimmt die nächste Chance», tröstete Philipp.

Würde es diesmal klappen? Es war gleich 13 Uhr. Hoffentlich, hoffentlich kommen wir rein, ging es mir durch den Kopf.

«Schon mal daran gedacht, ein Maschinengewehr an deinem Rollstuhl anzubringen?», unterbrach mich Malte in meinen Gedanken.

«Bislang nicht. Könnte ja mal drüber nachdenken.»

Malte lachte.

Ein schlechter Witz, wie ich fand.

Auch am Eingang des nächsten Geschäfts verhinderte eine Treppe den Zugang.

«Meinst du, wir können dich hochtragen?», fragte mich Charlotte, als wir davorstanden.

«Leider nicht, mein Rollstuhl ist zu schwer», antwortete ich. «Aber ihr könnt auch ohne mich reingehen.»

«Nein, wir wollen alle sehen, wo es die Tütensuppe zu kaufen gibt», beharrte Markus.

Hundert Meter weiter wieder dasselbe. Ich merkte, wie alle immer unruhiger wurden. Die Abstände, dass jemand auf die Uhr schaute, wurden von Mal zu Mal kürzer.

«Wir können uns doch aufteilen. Mit zwei Gruppen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, einen Laden zu finden, wo ich reinkann», versuchte ich, die anderen zu überreden.

«Ausgeschlossen, wir machen zusammen weiter.» Das kam unisono.

Die Schritte wurden schneller, wir wurden immer stiller, und ich hatte das Gefühl, dass mir das Wasser bis zum Hals steht. Vor allem schämte ich mich, dass die Gruppe wegen mir so viele Hindernisse zu bewältigen hatte.

«Sag mal, wie lange hält eigentlich dein Akku? Musstest du schon mal abgeschleppt werden? Und wie …» Klar, dass es nicht Charlotte war, die das wissen wollte.

«Schaut mal da vorne, vielleicht haben wir diesmal Glück.» Malte wurde von Markus unterbrochen. Doch auch Laden Nummer vier hatte Stufen vor der Eingangstür. Inzwischen ging es auf 13:30 Uhr zu. Und wir hatten weder eine Suppe gekauft, geschweige denn eine gegessen. Ich blickte in ratlose Gesichter.

«Ihr könnt auch ohne mich rein …» Ein erneuter Versuch, denn es durfte nicht sein, dass vier Leute wegen mir nicht angenommen werden.

«Nein, das geht nicht», beharrte Philipp. «Alle oder keiner. Langsam müsstest du doch unsere Devise kennen. Wir sind ein Team.»

Vor dem nächsten Laden befand sich nur eine Stufe.

«Wie ist es damit? Meinst du, wir schaffen es hier, dich reinzutragen?», fragte Philipp.

Ich schüttelte den Kopf. «Wenn wir aber so etwas wie ein Brett finden, können wir es davorlegen und eine Art Treppe bauen. Über zwei kleine Stufen schaffe ich das mit dem Rollstuhl ohne Probleme.»

Während wir uns suchend umschauten, lief Malte zurück zu einem Baumarkt, an dem wir eben vorbeigekommen waren. Vor dem Eingang hatte ich eine Metallrampe für Einkaufswagen erspäht. Malte anscheinend auch, denn nun machte er sich daran zu schaffen, um sie wegzuziehen.

Oje, er kann doch nicht die Rampe klauen!, schoss es mir durch den Kopf.

«Hey, kann mal einer mit anfassen?», rief Malte. «Ich krieg sie allein nicht getragen. Die ist schwerer, als ich dachte.»

Charlotte beeilte sich, ihm zu helfen, während Philipp, Markus und ich vor dem Laden warteten.

Das Geschäft war winzig. Das Erste, was ich wahrnahm, war ein abgestandener Geruch nach Maggi. Die Regale, die drei schmale Gänge bildeten, waren gefüllt bis unter die Decke. Im fahlen Neonlicht stapelten sich Süßigkeiten, winkende Maneki-nekos, Papierfächer, Waschmittel, Tee, Gewürze, irgendwelche Aufkleber. Hinter der Kasse am Eingang stand eine Frau mittleren Alters, die erstaunt unseren Gruß erwiderte.

Sofort machten wir uns in dem Chaos auf die Suche nach einer Nudelsuppe in einer Tüte. Aufgrund der Enge bewegten wir uns alle sehr vorsichtig, da wir nichts umstoßen wollten. Doch nirgendwo entdeckten wir eine dieser Tüten. Glas- und Reisnudeln zwar schon, aber keine Fertigsuppe.

«Entschuldigung, wir suchen eine chinesische Nudelsuppe in der Tüte. Wo finden wir sie?», fragte Charlotte die Asiatin, die bewundernd ihren pinkfarbenen Deckelhut beäugte. Farblich passte er perfekt in den bunten Laden.

Die Verkäuferin trat hinter der Kasse hervor und bahnte sich an uns vorbei einen Weg nach hinten. Als einer von zwei Leuten, die Notizen machen sollten, folgte ich ihr. Lächelnd deutete sie auf einen Korb, in dem drei Sorten Tütensuppe zur Auswahl lagen. Es gab jeweils fünf Exemplare. Direkt daneben standen Körbe mit Chips und DVDs. Um Zeit zu sparen, hatte ich mir vorher überlegt, das Aussehen der Tüten, den Namen des Herstellers, die Warenpräsentation insgesamt etc. erst in der Bahn schriftlich festzuhalten. Nach mir beeilte sich Malte, mit der Digitalkamera Aufnahmen von den fünfzehn Tüten zu machen.

«Sagen Sie, kennen Sie ein rollstuhlgerechtes Chinarestaurant in der Nähe?» Wieder fragte Charlotte die Ladeninhaberin. Die Restaurants, an denen wir während unserer Suche vorbeigekommen waren, hatten ausnahmslos Stufen am Eingang gehabt. Die Asiatin runzelte die Stirn. «Ein Restaurant, in das man mit dem Rollstuhl reinkann?», versuchte Charlotte es erneut, wobei sie in meine Richtung gestikulierte. Keine Antwort.

«Ihr wollt echte Nudelsuppe?», fragte sie auf einmal, als wir schon im Begriff waren aufzubrechen.

«Ja, wir wollen richtige Nudelsuppe in einem Restaurant essen.»

«Kommen Sie mit, kommen Sie mit.»