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Raúl Krauthausen ist der bekannteste Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit – und die lauteste Stimme in Deutschland, wenn es um die Durchsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderung geht. «Betrachten Sie Behinderung einfach als eine Eigenschaft wie die Haarfarbe» ist eine seiner zentralen Botschaften, und er kämpft auf allen Plattformen – analog und digital – für Sichtbarkeit und gegen Diskriminierung. In seinem neuen Buch wirft er grundlegende und oft unangenehme Fragen zur Inklusion in Deutschland auf, bringt seine Leser:innen dazu, sich mit ihrem eigenen Ableismus auseinanderzusetzen, und entwickelt eine Idee davon, wie Inklusion auf allen Ebenen wirklich zu leben ist.
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Seitenzahl: 244
Raúl Aguayo-Krauthausen
Raúl Aguayo-Krauthausen ist der bekannteste Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit – und die lauteste Stimme in Deutschland, wenn es um die Durchsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderung geht. «Betrachten Sie Behinderung einfach als eine Eigenschaft wie die Haarfarbe» ist eine seiner zentralen Botschaften, und er kämpft auf allen Plattformen – analog und digital – für Sichtbarkeit und gegen Diskriminierung. In seinem neuen Buch wirft er grundlegende und oft unangenehme Fragen zur Inklusion in Deutschland auf, bringt seine Leser*innen dazu, sich mit ihrem eigenen Ableismus auseinanderzusetzen, und entwickelt eine Idee davon, wie Inklusion auf allen Ebenen wirklich zu leben ist.
Raúl Aguayo-Krauthausen, 1980 in Peru geboren, ist in Berlin aufgewachsen. Er sitzt im Rollstuhl und arbeitet als Inklusionsaktivist u.a. für die SOZIALHELD*INNEN, einen gemeinnützigen Verein, den er 2004 selbst gegründet hat. Als studierter Kommunikationswirt und Design Thinker ist er seit über 15 Jahren in der Internet- und Medienwelt aktiv. Er erfand die Wheelmap, eine Karte für rollstuhlgerechte Orte, protestierte vor dem Bundestag für ein gutes Teilhabe- und Gleichstellungsgesetz, erwirkte eine Verfassungsklage gegen die Triage-Regelung und klärt u.a. in Blogartikeln, Fernsehbeiträgen und in seinen Podcasts über Behinderung auf. Seit 2015 moderiert er mit «KRAUTHAUSEN – face to face» seine eigene Talksendung. Für seine Verdienste um die sozialen Belange von behinderten und sozial benachteiligten Menschen wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung Anna Spindelndreier/helloyou.studio
Illustrationen © Katharina Schmidt
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01466-4
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Vorwort
Teil I: Inklusion, Ableismus und strukturelle Benachteiligung
Was ich meine, wenn ich von Inklusion spreche
Die unsichtbare Norm
Strukturelle Gewalt unter dem Deckmantel der Fürsorge
Teil II: Ungelöste Fragen der Inklusion
Frei von Barrieren?
Schule all-inclusive?
Faire Arbeit für alle?
Selbstbestimmt leben?
Behinderte Lust?
Kunstvoll repräsentiert?
Intersektional denken?
Teil III: Was uns wirklich weiterbringt
Die Faktoren echter Veränderung
Eine neue Kultur
Nur die Begegnung bringt uns weiter
Teilhabe und Teilgabe
Nichts ohne uns!
Danksagung
Anhang
Glossar
Wenn man meinen Namen ins Suchfeld von Google eingibt, liefert die Suchmaschine folgende Kerninformationen: Raúl Aguayo-Krauthausen, Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit. Dass ich mich seit über 15 Jahren in dieser Rolle öffentlich engagiere und zahlreiche Projekte mit angestoßen habe, ist alles andere als selbstverständlich. Bei meiner Geburt zählten die Ärzt*innen 19 Knochenbrüche, meiner Mutter sagten sie, dass ich vermutlich nur zwei Tage überleben würde. Heute kann man wohl getrost behaupten, dass sich diese Prognose als falsch erwiesen hat – ich bin 1980 geboren, und das ist schon eine ganze Weile her. Es ist also schon vor diesem Hintergrund nicht selbstverständlich, dass ich Inklusionsaktivist sein kann, aber es ist auch nicht selbstverständlich, dass ich mich seit geraumer Zeit ausgerechnet dem Thema «Inklusion» widme. Mein Weg zum Aktivismus war ein langer und schmerzhafter Prozess, der viel mit der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Behinderung zu tun hat – ein Prozess, der für mich nie abgeschlossen sein wird.
In meiner Kindheit und Jugend bin ich dem Thema «Behinderung» regelrecht ausgewichen. Während meiner Schulzeit hatte ich kaum behinderte Freund*innen, und immer, wenn es Situationen gab, die meine Behinderung spürbar machten oder in denen sie thematisiert wurde, regte sich in mir ein Widerwille. Ich habe mich dagegen gesträubt, meine Behinderung als Teil meiner Identität anzunehmen – ich wollte sie ignorieren, ihr nicht mehr Raum und Aufmerksamkeit schenken, als sie ohnehin einnahm. Meine emotionale Abgrenzung ging so weit, dass ich meine Behinderung lange relativierte und mich dagegen wehrte, als Teil der behinderten Menschen angesehen zu werden – innerlich dachte ich damals: «Das sind eure Probleme, nicht meine.» Ich verstand die geteilte Erfahrung von Behinderung – die Barrieren im Alltag, die Diskriminierungsmomente, die allgegenwärtigen Schmerzen – erst wirklich, als ich anfing, verstärkt mit anderen behinderten Menschen ins Gespräch zu kommen. Die Aufarbeitung meiner Selbstwahrnehmung in der Jugend und den frühen Erwachsenenjahren hat bei mir erst sehr spät eingesetzt – ganz im Gegensatz zu meinem Interesse an Gesellschaftskritik, mit der ich schon als junger Mensch in Berührung kam. Das lag zu großen Teilen an meinem Mentor Roger Willemsen, der leider 2016 verstorben ist. Mit Roger kam ich ins Gespräch über das, was falsch läuft in der Gesellschaft. Er war es auch, der mein Interesse an Medien entfachte. Nach der Schule begann ich ein Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der UdK Berlin. Ich hatte mir geschworen, dass ich mich nicht wissenschaftlich mit Disability-Studies oder ähnlichen Bereichen auseinandersetzen würde – es war eine meiner größten Ängste, zum «Berufsbehinderten» zu werden. Doch während meines Studiums beschlich mich allmählich das Gefühl, dass ich mich meiner Behinderung und allem, was damit zusammenhängt, inhaltlich und emotional stellen musste. Ich begann, mich nicht nur mit meiner eigenen Erfahrungswelt auseinanderzusetzen, sondern beschäftigte mich verstärkt mit dem Thema, wie Massenmedien das Thema «Behinderung» aufgreifen. Ich fand es unheimlich spannend, mich auf dieser Ebene damit zu beschäftigen, aber gleichzeitig war die Erkenntnis meiner eigenen Verdrängung auch sehr schmerzhaft. Ich entschied mich schließlich dazu, meine Diplomarbeit zum medialen Umgang mit Behinderung zu schreiben.[1] Noch während des Studiums begann ich mich auch stärker der Idee des sozialen Aktivismus anzunähern. 2004 gründete ich mit meinem Cousin Jan die Aktionsgruppe «SOZIALHELDEN» (seit 2019 SOZIALHELD*INNEN), wo eines unserer ersten Projekte die öffentliche Suche nach einem «Superzivi» für mich war, die im Rahmen einer Radioshow erfolgreich abgeschlossen wurde. Es folgten Projekte wie die Wheelmap[2] – eine interaktive Karte zum Suchen und Finden rollstuhlgerechter Orte, zu der jede*r beitragen kann, und viele weitere. Das Team der SOZIALHELD*INNEN wurde größer, unsere Projekte und Kampagnen erhielten immer mehr Aufmerksamkeit, und ich fand mich immer mehr in der Rolle des Ansprechpartners für die Medien wieder, wenn es um die Themen «Behinderung», «Inklusion» und «Barrierefreiheit» ging. Ich war – trotz meiner initialen Verdrängung des Themas – also doch noch zum «Berufsbehinderten» geworden und reflektierte 2014 den Weg dorthin in meiner Autobiografie Dachdecker wollte ich eh nicht werden[3]. Für mich war anschließend klar: Wenn ich noch ein weiteres Buch schreibe, dann muss es sich auf inhaltlicher Ebene mit dem Thema «Inklusion» beschäftigen.[4]
Die Frage, die mir mit Abstand am häufigsten in Interviews oder auf Veranstaltungen gestellt wird, lautet: «Wie weit sind wir mit der Inklusion in Deutschland?» Und das ist gleichzeitig auch die Frage, die mich am meisten nervt – denn ich halte sie für grundlegend falsch gestellt. Ich habe oft den Eindruck, dass die Fragenden sich eine Art «Statusbericht» zur Inklusion wünschen – nach dem Motto: «Momentan haben wir Inklusion zu 43 Prozent erfüllt, wenn wir X und Y machen, dann steigt unsere Quote auf 56 Prozent!» Dahinter steckt der Wunsch nach dem Abarbeiten einer Checkliste – es ist der Versuch, einen komplexen gesellschaftlichen Prozess auf Zahlen oder Daten herunterzubrechen, und das funktioniert nur sehr bedingt.[5] Viel spannender als die oben genannte Frage finde ich die Auseinandersetzung mit den ungelösten Fragen der Inklusion. Es wird uns nicht weiterbringen, wenn wir immer nur die abgedroschenen Phrasen wiederholen, die seit Jahrzehnten zu dem Thema geäußert werden. Dass der Prozess der Inklusion in Deutschland schleppend vorangeht und in manchen Bereichen stagniert, hat strukturelle Gründe. Es gibt verstetigte Institutionen, denen es nicht an Ausreden mangelt, um den Status quo zu erhalten. Die tiefergehende Auseinandersetzung mit diesen Systemen und noch dazu mit der eigenen Sicht auf die Themen «Behinderung» und «Inklusion» bedeutet, dass man sich auch unangenehme Fragen stellen muss, die sonst häufig vermieden werden. Dieses Wagnis möchte ich eingehen – und lade Sie als Leser*innen ein, das Gleiche zu tun.
Dieses Buch ist in drei Hauptteile gegliedert. Teil I beschäftigt sich damit, was ich mit dem Begriff «Inklusion» überhaupt meine und welche Folgen verschiedene gesellschaftliche Umgänge mit dem Thema «Behinderung» haben. Außerdem geht es darum, was Ableismus ist und wie Menschen mit Behinderungen damit konfrontiert sind. Zum Abschluss werfe ich einen kritischen Blick auf das Wohlfahrtssystem in Deutschland. In Teil II setze ich mich gemeinsam mit vielen Expert*innen und Selbstvertreter*innen mit einigen ungelösten Fragen der Inklusion auseinander – die Themenfelder reichen von Barrierefreiheit, dem Schulsystem, der Zugänglichkeit des Arbeitsmarktes und der Frage der Selbstbestimmung bis hin zu Sex und Behinderung, der Repräsentation von behinderten Künstler*innen und einer intersektionalen Perspektive. Teil III führt einige der Erkenntnisse zu einer Strategie zusammen, die uns in Sachen Inklusion wirklich weiterbringen könnte.
Meine Hoffnung ist, dass sowohl behinderte als auch nichtbehinderte Menschen neue Denkanstöße aus diesem Buch mitnehmen – ganz unabhängig davon, wie tiefgehend man sich bereits mit dem Thema «Inklusion» beschäftigt hat. Dabei möchte ich nicht als der Inklusionsallwissende auftreten – dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, das unheimlich komplexe Thema «Inklusion» vollumfänglich oder gar wissenschaftlich aufzuarbeiten und alle «ungelösten Fragen» zu beantworten. Ich kann und will auch nicht stellvertretend für behinderte Menschen sprechen, sondern bin stattdessen mit möglichst vielen Expert*innen und Selbstvertreter*innen ins Gespräch gekommen und will ihren Ideen eine Plattform bieten. Inklusion ist ein gesellschaftlicher Prozess, der uns alle etwas angeht und den wir alle gemeinsam gestalten. Als Aktivist ist es mein Ziel, Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zu aktivieren – ich möchte zur Diskussion anregen, ich möchte den Status quo infrage stellen, ich möchte Menschen eine vielleicht bisher unbekannte Perspektive aufzeigen, ich möchte die Ausreden der ewigen «Aber»-Sager entlarven und ich möchte gemeinsam mit meinen Gesprächspartner*innen nach Wegen suchen, um Inklusion von einer schönen Idee zur gelebten Normalität werden zu lassen.
Inklusion, Ableismus und strukturelle Benachteiligung
Die Bezeichnung «Inklusion» ist in der praktischen Benutzung eng mit dem Begriff der «Behinderung» verbunden – es wird beispielsweise über die «Bildungsinklusion von behinderten Kindern» gesprochen. In seiner eigentlichen Bedeutung ist Inklusion aber viel mehr als das. Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch in seiner Individualität als Teil der Gesellschaft akzeptiert wird und gleichberechtigt sowie selbstbestimmt die Möglichkeit hat, vollumfänglich an ihr teilzuhaben. Das Konzept der Inklusion ist also unabhängig von Merkmalen wie der sozialen und kulturellen Herkunft, der Geschlechtsidentität, der Sexualität, der Hautfarbe, der Religion und auch der Behinderung. Und mehr noch: Wenn man sich eines dieser Merkmale herauspickt, dann läuft man Gefahr, dass es problematisiert wird – so als wären behinderte Menschen nicht per se Teil der Gesellschaft.[1]
Dass der Fokus dieses Buches trotzdem auf Behinderung liegt, hat mehrere Gründe. «Inklusion» ist für sehr viele behinderte Menschen ein genuin positiv besetzter und empowernder Begriff – und ich habe einen persönlichen wie aktivistischen Hintergrund, der stark davon geprägt ist. Im Inklusionsdiskurs spielen viele andere Begriffe eine Rolle – so etwa «Gleichberechtigung», «Teilhabe» oder «Empowerment». Diese Begriffe kamen vor allem aus den aktivistischen Bereichen von People of Color, Feminist*innen und der queeren Community. Sie haben diese Begriffe zu ihren zentralen Inhalten gemacht und mit Leben gefüllt. Ich würde mir wünschen, dass die Community der behinderten Menschen mit ihrer spezifischen Perspektive öffentlichkeitswirksam stärker repräsentiert wird – und dazu eignet sich der Inklusionsbegriff. Die Fokussierung auf solche spezifischen Perspektiven sehe ich als Mittel zum Zweck, als Anfangspunkt einer größeren Diskussion. Damit wir nicht an der falschen Stelle stehen bleiben, habe ich der Frage der Intersektionalität in Teil II dieses Buches ein eigenes Kapitel gewidmet. Menschen identifizieren sich nicht nur mit einem Merkmal, sondern vereinen mehrere, sich überschneidende Identitäten in sich – ultimativ geht es, wie ich später noch genauer darlegen werde, um Inklusion als basales Menschenrecht.
Wenn wir im Folgenden über Inklusion sprechen wollen, dann müssen wir vorher noch eine wichtige Unterscheidung machen: Inklusion ist nicht bedeutungsgleich mit Integration.
Inklusion ist ein Ideal, das in unserer momentanen sozialen Realität nicht verwirklicht ist. Was der Prozess der Inklusion bedeutet, wird klarer, wenn man ihn von anderen Prozessen abgrenzt.
Das Gegenteil von Inklusion ist die Exklusion, was wörtlich «Ausschluss» oder «Ausgrenzung» bedeutet. Außerdem gibt es noch die Prozesse der «Separation» und die «Integration», die in diesem Kontext ebenfalls interessant sind. Ich möchte versuchen, diese Begriffe kurz und bündig anhand eines konkreten Beispiels zu erklären: des Schulsystems.
Früher war es üblich, dass viele Kinder mit Behinderungen komplett vom Schulbesuch ausgeschlossen waren – sie wurden exkludiert, hatten keinen Zugang und konnten deshalb nicht teilnehmen. Heute gibt es in Deutschland sogenannte Regel- und Förderschulen. Dass es neben allgemeinen Schulformen ein System extra für behinderte Menschen gibt, ist eine Form der Separation. Es werden Sonderräume geschaffen, die in sich geschlossen sind – das heißt, Behinderte sind dort «unter sich» und haben keinen oder nur sehr wenig Kontakt zu ihrer Umwelt und dem «allgemeinen» System. Und das Gleiche gilt auch umgekehrt: Die Menschen im allgemeinen System haben kaum Berührungspunkte mit den Menschen in den separierten Systemen. Die Separation ist also ebenfalls eine Form der Exklusion – und beide Prozesse spielen nicht nur im Bereich «Bildung», sondern in vielen anderen Bereichen eine Rolle, von denen wir einige in Teil II dieses Buches näher beleuchten werden. Um den exkludierenden Prozessen entgegenzuwirken, wurden sogenannte «integrative» Ansätze entwickelt, die behinderten Menschen den Zugang zu allgemeinen Systemen ermöglichen sollten. In unserem Schulbeispiel würde das bedeuten, dass behinderte Kinder mit an Regelschulen unterrichtet werden. Aber Vorsicht: Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen «Integration» und «Inklusion». Bei der Integration kommt eine vorher exkludierte Gruppe – zum Beispiel behinderte Kinder – in ein bereits bestehendes System und muss sich diesem System anpassen. Inklusion verfolgt einen radikal anderen Ansatz – es ist die Idee eines Systems, an dem alle Menschen gleichberechtigt teilhaben und selbstbestimmt zusammenleben. Das heißt nicht, dass Unterschiede ignoriert werden. Aber das System muss sich an die verschiedenen Bedürfnisse der Menschen anpassen, nicht umgekehrt. Auf Schule bezogen heißt das: Es reicht nicht, dass behinderte Kinder aus dem Sonderraum «Förderschule» auf eine «Regelschule» überführt werden und sich dort anpassen müssen, sondern die Idee der Inklusion besagt vielmehr, dass die unterschiedlichen Schulformen überflüssig sind, denn es gibt von vornherein nur eine Schule für alle, die sich den individuellen Bedürfnissen ihrer Schüler*innen anpasst.
Für die Gleichstellung behinderter Menschen gab es auf rechtlicher Ebene einen wichtigen Meilenstein: die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).[2] Die UN-BRK legt fest, den «vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern»[3]. Menschen mit Behinderungen werden dabei folgendermaßen definiert:
«Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.»[4]
Die Behindertenrechtskonvention wurde 2006 von den Vereinten Nationen beschlossen und trat 2008 in Kraft. Sie unterstreicht nicht nur den Anspruch behinderter Menschen auf allgemeine Grundrechte, sondern enthält auch konkrete Richtlinien und Regelungen, die an Lebenssituationen von behinderten Menschen orientiert sind.[5]
Die ursprüngliche Fassung der UN-BRK ist auf Englisch formuliert. Hier kommt der Begriff «Inclusion» als Leitgedanke mehrfach an prominenter Stelle vor – so zum Beispiel, wenn es um Zugang zur Justiz, zu Bildung, zu Gesundheit und zum Wahlrecht geht.[6] Bei der deutschen Übersetzung wurde dieser Begriff aber mehrfach fälschlicherweise mit «Integration» übersetzt und auch bei anderen Begriffen wurden spezifische historische Begriffsprägungen in der Übersetzung nicht berücksichtigt. Das wird vielfach harsch kritisiert – besonders vor dem Hintergrund, dass bei der Übersetzung keine behinderten Menschen beteiligt waren. Daher existiert eine «Schattenübersetzung» der UN-BRK, die diese Falschübersetzungen behebt.[7]
Wie genau die UN-BRK einzelne Themen aufgreift und ob sie umgesetzt wurde, werden wir im Laufe dieses Buches näher unter die Lupe nehmen. An diesem Punkt ist zunächst wichtig, die besondere Bedeutung dieser Konvention zu verstehen. Die Grundrechte behinderter Menschen wurden schon in anderen Kontexten garantiert – international etwa in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen und der «Erklärung der Rechte für behinderte Menschen»[8], national beispielsweise durch das Grundgesetz. Die UN-BRK ist aus zwei Gründen so wichtig: Erstens schafft sie einen Rahmen für konkrete Rechtsänderungen der Unterzeichnerstaaten, denn diese haben sich dazu verpflichtet, die Konvention in geltendes nationales Recht zu überführen. Zweitens etabliert die UN-BRK auch ein neues Verständnis von Behinderung, das die Disability-Forscherin Theresia Degener als «menschenrechtliches Modell von Behinderung» beschreibt.[9] In diesem Modell ist die Exklusion behinderter Menschen nicht nur eine Folge ihrer individuellen Beeinträchtigungen, sondern wird durch ihnen vorenthaltene Rechte bedingt. Konkret heißt das: Staat und Zivilgesellschaft sind verpflichtet, die Menschenrechte zu achten und Diskriminierung und strukturelle Benachteiligung zu verhindern.[10] Wenn wir über Inklusion sprechen, dann müssen wir also auch über diese Missstände sprechen – und wir müssen verstehen, wie andere Modelle von Behinderung zur Exklusion von behinderten Menschen geführt haben.
Laut Jahresbericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes war «Behinderung» im Jahr 2020 das häufigste Diskriminierungsmerkmal, für das Anfragen gestellt wurden, an Stelle 2 und 3 folgen «Ethnische Herkunft» sowie «Geschlecht». Auch im Jahr 2021 führten diese drei Merkmale die Statistik an.[1]
Die Diskriminierung behinderter Menschen hat vielfältige Gründe – ein wichtiger Punkt ist die historische Sicht auf «Behinderung», die sie als Krankheit, als biologische Funktionseinschränkung ansieht. Dieses «medizinische Modell von Behinderung» sieht Behinderung als Abweichung von einer unsichtbaren, von einer still vorausgesetzten Norm: Es gibt die «Normalen» und es gibt diejenigen, die vom Standard abweichen. In der Zeit des Nationalsozialismus hat diese Sichtweise so weit geführt, dass behinderte Menschen als «Entartungen» dargestellt wurden, als «lebensunwertes Leben», das interniert, vernichtet oder zumindest ausgegrenzt werden musste. Dieses Gedankengut ist heute glücklicherweise nicht mehr präsent, wirkt aber im kollektiven Unterbewusstsein noch immer nach. Und auch die Schaffung von Sonderräumen für Andersartige – zum Beispiel Förderschulen, Behindertenwerkstätten und Wohnheime für behinderte Menschen – markiert die Ausgrenzung von der «normalen Gesellschaft». Die medizinische Perspektive auf Behinderung führt zu einem strukturellen Ungleichgewicht, zu Bevormundung und Diskriminierung: Behinderte Menschen sind hilflose Kranke, die bemitleidet und gepflegt werden müssen. Die Normvorstellung führt auch dazu, dass manche behinderte Menschen – etwa Personen auf dem autistischen Spektrum – aufgrund der relativen «Unsichtbarkeit» ihrer Behinderung im Alltag oft nicht als Menschen mit Behinderungen wahrgenommen werden, weil sie «zu gut funktionieren». Der Satz «Für mich bist du nicht behindert» ist vor diesem Hintergrund kein Kompliment, sondern eine bevormundende Zuschreibung, die Behinderung als offensichtliches Defizit versteht. Das medizinische Modell von Behinderung hat also auch viel mit einer Bewertung von Individuen zu tun, weshalb es auch manchmal «individuelles Modell von Behinderung» genannt wird.
Das medizinische bzw. das individuelle Modell von Behinderung geht vollkommen an der Selbstwahrnehmung vieler behinderter Menschen vorbei, die ihre Behinderung aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. Statt den Fokus auf einen angeblichen Mangel zu legen, kann man die Funktionseinschränkung auch wertfrei als Teil dieser Person annehmen – sie ist in dieser Ansicht ein Merkmal wie die Augenfarbe. Die Person ist nicht behindert, sondern sie wird durch ihre Umwelt behindert, die individuelle Unterschiede nicht berücksichtigt. Wenn ich als Rollstuhlnutzer vor einer Treppe oder einem defekten Aufzug stehe und nicht weiterkomme, dann werde ich nicht durch meine Mobilitätseinschränkung behindert, sondern durch die Barrieren in der Welt. Mein Rollstuhl ist ein Mittel, das mir Freiheit und einen gewissen Grad an Selbstbestimmung verschafft – auch er behindert mich nicht. Diese Sichtweise ist als «soziales Modell von Behinderung» bekannt – und die angesprochenen Barrieren sind nicht nur räumlich zu verstehen, sondern betreffen beispielsweise auch den Zugang zum Arbeitsmarkt. Es geht also auch um behindernde Strukturen, um Institutionen sowie soziale Perspektiven und Prozesse.
Es ist sehr wichtig festzuhalten, dass mit dem sozialen Modell von Behinderung individuelle Einschränkungen mit all den Schwierigkeiten und schmerzhaften Erfahrungen, die damit zusammenhängen, nicht weggewischt werden sollen. Aber nicht jede Einschränkung führt auch automatisch zu einer Behinderung.[2]
Und die Unterschiede zwischen dem medizinischen und dem sozialen Modell von Behinderung und ihre jeweiligen Wirkungen werden noch klarer, wenn wir uns den Bereich der Sprache anschauen.
Ich werde – vor allem von nichtbehinderten Menschen – immer wieder gefragt, ob man denn überhaupt «behindert» sagen darf oder nicht.[3] Der (nichtbehinderte) Schauspieler Wotan Wilke Möhring hat anlässlich der «Inklusionskomödie» Weil wir Champions sind[4] ein Interview gegeben, in dem er sich dazu äußert. Er weigere sich, seine Schauspielkolleg*innen «behindert» zu nennen, denn das sei eine «intolerante und […] unzureichende Bezeichnung. Eine, die ausschließlich das hervorhebt, von dem wir glauben, was diese Menschen alles nicht können, wo sie eingeschränkt sind, be-hindert sind.»[5] Wotan Wilke Möhring wollte sich mit seiner Äußerung etwas ungeschickt vom medizinischen Modell abgrenzen – vielleicht gut gemeint, aber nicht weit genug gedacht. An diese Denkweise schließt nämlich ein Trend an, der «behindert» durch Wörter ersetzt, die netter und gefälliger klingen – beispielsweise «herausgefordert», «mit Handicap» oder «mit speziellen Bedürfnissen». Gefährlich ist das, weil damit die Bedeutungsebene verwässert wird, die durch das soziale Modell von Behinderung eröffnet wird. Es gibt nun einmal zahlreiche räumliche, kommunikative und strukturelle Barrieren, die behindern – und deshalb vertrete ich die Meinung, dass wir dies auch klar benennen sollten. Die Aktivistin Tanja Kollodzieyski formuliert sehr treffend dazu: «Der Begriff ‹Behinderung› hat durchaus sozialkritische Elemente. Daher halten ihn viele behinderte Menschen für neutral und akzeptabel. Menschen ohne Behinderung tun daher gut daran, sich an diesen Begriff als etwas Neutrales zu gewöhnen.»[6] Sprache schafft Bewusstsein und hat Auswirkungen auf Verhalten – das zeigt auch eine Studie aus den USA: Wer mit «has a disability» («hat eine Behinderung») beschrieben wird, erfährt weniger Diskriminierung als jemand dem «special needs» («spezielle Bedürfnisse») zugesprochen werden.[7] Vor dem Hintergrund des medizinischen Modells ist dieses Ergebnis wenig überraschend: Menschen mit «speziellen Bedürfnissen» weichen von der Norm ab – und das kann auch als paternalistische Rechtfertigung genutzt werden, um sie in Sonderräumen auszugrenzen.
Wie wirksam und verbreitet das medizinische Modell von Behinderung ist, zeigt der Blick auf den Begriff «Heilerziehungspflege», der bis heute eine Berufsbildbezeichnung ist. Auf der Webseite der Agentur für Arbeit findet man folgende Tätigkeitsbeschreibung: «Heilerziehungspfleger/innen sind für die pädagogische, lebenspraktische und pflegerische Unterstützung und Betreuung von Menschen mit Behinderung zuständig. Sie begleiten die zu Betreuenden stationär und ambulant bei der Bewältigung ihres Alltags.»[8] Die Ausbildung dauert je nach Bundesland zwei bis fünf Jahre, und mögliche Arbeitgeber*innen sind beispielsweise Behindertenheime, Förderschulen, Werkstätten für behinderte Menschen, aber auch Privathaushalte. Ich finde den Begriff der Heilerziehungspflege hoch problematisch.[9] Um zu erklären, warum, möchte ich das Wort in drei Bestandteile aufsplitten: «Heil-», «Erziehungs-» und «Pflege». Der erste Wortteil weckt sofort Assoziationen zum medizinischen Modell von Behinderung: Behinderte sind krank, also defizitär, und müssen geheilt werden. Ich als behinderter Mensch möchte aber nicht geheilt werden – ich kann auch gar nicht geheilt werden, weil aus meiner Perspektive die Behinderung von meiner Umwelt ausgeht. Der zweite Wortteil suggeriert, dass Menschen mit Behinderung erzogen werden müssen oder sollten. «Erziehung» bezeichnet die pädagogische Einflussnahme auf das Verhalten und die Entwicklung von Heranwachsenden. Der einzige Kontext, wo dieses Wort in Deutschland sonst noch benutzt wird, ist die Resozialisierung von Straffälligen im Gefängnis. Die Anwendung dieses Begriffes auf erwachsene Menschen mit Behinderung finde ich nicht nur unpassend, sondern bevormundend und paternalistisch. «Pflege» wird ansonsten in medizinischen Kontexten verwendet, in denen die Bedürfnisversorgung und medizinische Unterstützung im Vordergrund steht, nicht aber die Selbstbestimmung der zu Pflegenden. Entscheidend muss aber doch sein, dass Unterstützende den Wünschen der Unterstützten entsprechen, die – sofern ihnen das möglich ist – eine aktive und selbstbestimmte Rolle bei allen versorgenden Prozessen spielen. Es ist nicht so, dass es uns an sprachlichen Alternativen mangeln würde, die genau diese Perspektive widerspiegeln – ich würde beispielsweise «Inklusionsassistenz» vorschlagen.
Ich habe den Begriff «Heilerziehungspflege» schon in mehreren Kontexten kritisiert und dabei auch sehr negative Reaktionen von Menschen bekommen, die diesen Beruf ausüben. Viele haben eine starke intrinsische Motivation für diesen Job, weil er ihnen das Gefühl vermittelt, gebraucht zu werden. Wer scheinbar «hilflose» Menschen unterstützt, der fühlt sich gut dabei – und verdient Dankbarkeit, die für viele sicher auch deshalb so wichtig ist, weil andere Formen der Wertschätzung – wie etwa der finanzielle Aspekt – zu gering ausfallen. Ich möchte mit meiner Kritik die guten Absichten dieser Menschen nicht in Abrede stellen und habe eine Menge Respekt für Personen, die diesen Job ausüben. Aber wenn Befriedigung und das Gefühl des Gebrauchtseins durch eine zugeschriebene Hilflosigkeit behinderter Menschen entstehen muss, dann läuft etwas grundlegend falsch – denn das legt von vornherein ein Machtgefälle zwischen Unterstützenden und Unterstützten fest. «Heilerziehungspfleger*innen» werden ausgebildet und bezahlt, um behinderte Menschen mit Assistenzbedarf zu unterstützen – und wenn diese Bezahlung zu gering ausfällt, dann müssen wir als Gesellschaft daran etwas ändern. Und natürlich kann und sollte auch Dankbarkeit und Wertschätzung auf Augenhöhe Teil des Jobs sein. Meine Kritik richtet sich nicht gegen die Arbeit oder die Menschen, die sie ausführen, sondern gegen grundlegende strukturelle Perspektiven auf behinderte Menschen, die Inklusion behindern.
Das medizinisch geprägte, negative Bild von behinderten Menschen spiegelt sich in unzähligen gängigen Redewendungen wider. Behinderte Menschen sind beispielsweise «an den Rollstuhl gefesselt» oder «leiden an einer Behinderung». Sie «meistern ihr Leben trotz ihrer Behinderung». Solche – leider auch in den Medien immer noch verbreiteten – Floskeln transportieren ein negatives Bild von Behinderung, das Folgen hat. (Auf den Umgang der Medien mit Behinderung werden wir im Kapitel «Kunstvoll repräsentiert» noch einmal tiefer eingehen.) Ich möchte an dieser Stelle nicht nur als Aktivist, sondern auch als studierter Kommunikationswirt dazu aufrufen, diese Sprachbilder zu überdenken und sie zu vermeiden. Es geht nicht nur um die offensichtlich behindertenfeindlichen Sprachverwendungen – etwa «behindert» als Schimpfwort oder in einem abwertenden Kontext zu benutzen –, sondern um die Ausbildung einer generellen Sensibilität für die Macht der Sprache und die Vorstellung von Behinderung, die mit ihr transportiert wird.[10] Am wichtigsten ist dabei die Perspektive derjenigen, die davon direkt betroffen sind – und diese Perspektive kann sich von Individuum zu Individuum unterscheiden, muss sich also auch nicht mit der von mir dargestellten Betrachtungsweise decken. Bestenfalls kommen wir miteinander ins Gespräch und klären zum Beispiel, welche Selbstbezeichnungen aus welchem Grunde bevorzugt werden.
Dass unsere Sprache immer noch von vielen marginalisierenden und bevormundenden Begriffen durchzogen ist, zeigt die Beurteilung von behinderten Menschen nach einer bestimmten Normvorstellung. In der Forschung gibt es dafür einen Begriff, den wir uns auf den folgenden Seiten genauer anschauen sollten: Ableismus.
Das Wort Ableismus setzt sich aus dem englischen «able» («fähig») und dem deutschen «ismus» (eine Wortendung, die auf ein abstraktes, geschlossenes Gedankensystem verweist) zusammen.[11] Es bezeichnet also die Bewertung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten – beziehungsweise die Erwartungshaltung, die an sie gestellt wird. Ableismus kann man nicht mit «Behindertenfeindlichkeit» gleichsetzen, denn das ist nur eine Facette des Phänomens. Behindertenfeindlichkeit beinhaltet eine Abwertung behinderter Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten, aber auch das Gegenteil – nämlich eine «Aufwertung» – kann ableistisch sein. Das Problem besteht nicht nur in der Art der Bewertung von behinderten Menschen, sondern in der generellen Erwartungshaltung, in der Etikettierung und Zuschreibung von Glaubenssätzen, die an einer bestimmten Normvorstellung orientiert sind. Zur Verdeutlichung möchte ich auf ein illustrierendes Beispiel eingehen, das Sigrid Arnade vom Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V. – ISL in einer zum Thema informierenden Broschüre beschreibt:
«Frau A. fährt nach der Arbeit mit dem Bus nach Hause. Der Busfahrer ist angesichts der Rollstuhlfahrerin, die in der Rushhour mitgenommen werden möchte, deutlich genervt und fragt: ‹Muss das denn sein, dass Sie um diese Zeit fahren?› Frau A. antwortet, es handele sich keineswegs um eine Kaffeefahrt, sondern der Bus solle sie von ihrer Arbeit nach Hause bringen. Daraufhin schlägt die Ablehnung des Busfahrers in übertriebene Bewunderung um: ‹Oh, das ist gut, dass Sie Arbeit haben und arbeiten können!›»[12]
Was passiert in dieser Szene? Der Busfahrer hat anscheinend die stille Erwartungshaltung, dass die Rollstuhlnutzerin Frau A. (aufgrund ihrer wahrgenommenen «Behinderung») keinen triftigen Grund haben kann, zur geschäftigsten Zeit Bus zu fahren. Dass sie es doch tut, verursacht nun ihm «zusätzliche Mühen», da er vielleicht die Rampe für sie bereitstellen muss. Seine negative Bewertung schlägt in eine «positive» um, als er erfährt, dass Frau A. berufstätig ist – oh, wie bewundernswert es doch ist, dass sie «trotz ihrer Behinderung» arbeitet.
Formen von Ableismus gehören für behinderte Menschen zum Alltag, denn dieser gründet sich auf ein (bewusst oder unbewusst entstandenes) Bild von Behinderung, das, zum Beispiel durch Sprache, sozial erworben und weitergegeben wird. Ableismus geht oft von sogenannten Ables – also nichtbehinderten Menschen – aus, aber auch Menschen mit Behinderungen können sich ableistisch verhalten. Wenn ein Mensch im Rollstuhl beispielsweise einen Post auf Instagram ohne Bildbeschreibung abfasst, die sehbehinderte Personen als Zugangsvoraussetzung benötigen, dann kann das mit einer bestimmten Normvorstellung zusammenhängen, die Fähigkeiten voraussetzt. Gleichzeitig kann es sein, dass eine behinderte Person wirklich nicht fähig ist, passende Bildbeschreibungen zu verfassen, weil beispielsweise das eigene Energielevel dafür nicht reicht. Da wären dann technische oder personelle Unterstützungsmöglichkeiten eine inklusive Lösung.[13] Hier zeigt sich auch, dass es nicht nur um Bewertungen und Erwartungen geht, sondern dass Ableismus konkrete Folgen in der Realität hat. Barrieren im Alltag – von der fehlenden Audiodeskription, über verwirrende Gebäudegrundrisse bis hin zur Allgegenwart von unüberwindbaren Stufen – gründen sich auf ableistische Normvorstellungen.