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Michaela Haas arbeitet seit über 20 Jahren als Journalistin für renommierte Medien wie die Süddeutsche Zeitung. Als engagierte Buddhistin hat sie sich zu den zwölf Frauen auf den Weg gemacht, die den heutigen Buddhismus im Westen auf ganz entscheidende Weise prägen und weiterentwickeln. Durch ihre persönlichen Begegnungen und Gespräche sind einfühlsame Porträts entstanden, in denen die unkonventionellen Lebenswege und mutigen Entscheidungen dieser Frauen lebendig werden. TENZIN PALMO (Diane Perry), TSÜLTRIM ALLIONE (Joan Rousmanière Ewing), PEMA CHÖDRÖN (Deirdre Blomfeld-Brown), JOAN HALIFAX ROSHI, THUBTEN CHÖDRÖN, KHANDRO RINPOCHE, DAGMOLA SAKYA, SANGYE KHANDRO (Nanci Gay Gustafson), ELISABETH MATTIS-NAMGYEL, CHAGDUD KHANDRO (Jane Dedman), KARMA LEKSHE TSOMO (Patricia Zenn), KHANDRO TSERING CHÖDRÖN
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Seitenzahl: 532
Michaela Haas
Dakini Power
Zwölf außergewöhnliche Frauen, die den heutigen Buddhismus prägen
Aus dem Englischen von Michaela Haas
Knaur e-books
Ein besonderer Dank –
für meinen Lebenspartner. Ohne Deine Liebe und Unterstützung hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Es ist für Dich und für alle Liebenden, die zu ihrem Partner stehen, egal, was kommt;
für meine Mutter und meinen Vater, die nie verstanden haben, warum ihre einzige Tochter ihre vielversprechende Fernsehkarriere aufgab, um in irgendwelchen Höhlen im Himalaja nach wer weiß was zu suchen. Dieses Buch ist für Euch und für alle Eltern, die ihre Kinder weiterhin lieben, auch wenn diesen der Sinn nach Abenteuern am anderen Ende der Welt steht;
für meine unberechenbaren Lehrerinnen und Lehrer, die mich immer wieder auf die Probe stellen. Dieses Buch ist für Euch und für alle Lehrer und alle Schüler, die weiterhin suchen und finden, mit offenem Herzen und wachem Verstand.
Dakini (Sanskrit):
weibliche Weisheitsbotin
Der Buddha hat den Weg zur Erleuchtung für alle Wesen gelehrt, für Frauen genauso wie für Männer.
In der Vergangenheit gab es viele großartige weibliche Praktizierende wie zum Beispiel Mahaprajapati Gautami. Sie war sowohl die Pflegemutter des Buddha als auch die erste Frau, die er in seinen neu gegründeten Orden aufnahm. Die buddhistischen Texte erwähnen auch weibliche Arhats.[1] Frauen und Männer bekamen die gleichen Möglichkeiten zu praktizieren, und zu den vier Stützen, auf denen der Buddhismus ruht, zählen sowohl Nonnen als auch weibliche Laien.
Ich finde es ermutigend und herzerwärmend, in diesem Buch die Berichte von den Errungenschaften der weiblichen Lehrerinnen aus den verschiedenen buddhistischen Schulen zu lesen: Es würdigt den Beitrag, den weibliche Praktizierende in der Geschichte des Buddhismus geleistet haben und weiterhin leisten.
Unter dem Einfluss der herrschenden Ansichten und Konventionen der jeweiligen Epoche haben leider zu viele Gesellschaften den Unterschieden zwischen Männern und Frauen zu viel Gewicht beigemessen, und dies hat zur Diskriminierung und Benachteiligung von Frauen in vielen Religionen geführt, auch im Buddhismus.
Ich bete von Herzen, dass Frauen wie die hier genannten Wegbereiterinnen sind; dass ihre Anstrengungen zu einer neuen Wertschätzung für die einzigartigen Einsichten und Qualitäten weiblicher Spiritualität und zu einer umfassenderen Anerkennung von weiblichen Praktizierenden und Lehrenden führen.
Der 17. Karmapa Ogwyen Trinley Dorje
Dharamsala, Himachal Pradesh, Indien
3. November 2012
Was bewegt eine junge britische Bibliothekarin, ein Schiff nach Indien zu besteigen, zwölf Jahre in einer abgelegenen Höhle im Himalaja zu meditieren und ein Nonnenkloster zu gründen? Warum wird eine Surferin aus Malibu zum Kopf der wichtigsten internationalen Organisation buddhistischer Frauen? Weshalb träumt die Tochter eines Musikproduzenten in Santa Monica so lebhaft von einem Pfau, dass sie diesen Bildern bis nach Nepal hinterherjagt, wo sie sich in einen jungen tibetischen Lehrer verliebt?
Das sind einige der faszinierenden Biographien in diesem Buch, von zwölf überraschenden Lebensgeschichten voller Weisheit, Mut und Entschlossenheit.
Viele Menschen träumen davon, aus dem Alltag auszubrechen und ein sinnvolleres Leben zu führen. Aber die wenigsten von uns trauen sich, die gewohnten Bahnen tatsächlich zu verlassen. Die in diesem Buch beschriebenen Frauen sind Ausnahmen. Sie sind brillante Lehrerinnen und erfahrene Meditierende, und sie bringen frischen Wind und neue Ideen in den Buddhismus. Dakini Power konzentriert sich auf zeitgenössische Lehrerinnen des tibetischen Buddhismus, die im Westen lehren.
Alle zwölf Frauen folgten ihrer Intuition und trafen dramatische Lebensentscheidungen. Einige mussten gar um ihr Überleben kämpfen, um das Dasein führen zu können, das sie sich erträumten. Alle wurden auf ihrem Weg kritisiert – als »zu rebellisch« oder »zu konservativ«, »zu aufmüpfig« oder »nicht aufmüpfig genug«. Dennoch verfolgten sie ihren Weg unbeirrt weiter.
Einige dieser Lehrerinnen – wie Dagmola Kusho Sakya, Tsültrim Allione und Elizabeth Mattis-Namgyel – sind Mütter und mussten Zeit für ihre spirituelle Suche finden, während sie ihren Beruf ausübten und die Kinder großzogen. Jetsunma[1] Tenzin Palmo, Pema Chödrön und Karma Lekshe Tsomo entschieden sich hingegen für ein Leben im Zölibat und tauschten ihre englischen Geburtsnamen gegen tibetische Nonnentitel, die ihre Eltern nicht über die Lippen brachten. Die in Tibet geborenen Lehrerinnen Dagmola Kusho Sakya und Khandro Tsering Chödron gewähren einen faszinierenden Einblick in das ursprüngliche Tibet, bevor die neuen chinesischen Machthaber sie ins Exil trieben. Chagdud Khadro, Thubten Chodron und Sangye Khandro wuchsen in Amerika auf, aber ein unwiderstehlicher Abenteuerdrang brachte sie in wackligen Überlandbussen durch Afghanistan und Pakistan nach Indien. Khandro Rinpoche dagegen, eine der seltenen weiblichen tibetischen Inkarnationen, reiste in die umgekehrte Richtung: Sie wurde in Indien geboren und erzogen, flog dann jedoch nach Amerika, um moderne Geisteswissenschaften, Medizin und den rasanten westlichen Lebensstil zu studieren.
Roshi Joan Halifax war aktives Mitglied der Bürgerrechtsbewegung in Amerika und der Hippiekultur der sechziger Jahre, bevor sie ihre Berufung fand: Sterbenden beizustehen. Sie ist Zen-Priesterin und Teil dieses Buches, weil sie eine tiefe Verbindung mit tibetischen Lehrern und tibetisch-buddhistischer Meditation pflegt.
Ursprünglich sollte Khandro Tsering Chödrons Lebensgeschichte dieses Buch eröffnen, aber zu meiner großen Trauer verstarb sie während der Recherche. Das letzte Kapitel dieses Bandes ist nun ein Abschiedsgruß an sie und beschreibt das Erbe, das sie uns hinterlässt: was wir vom Leben und Tod einer verwirklichten Yogini lernen können.
Nur selten treffen wir auf einen Menschen, der uns so nachhaltig beeindruckt, dass die Begegnung unser Leben verändert. Für mich sind die in diesem Buch Porträtierten solche außergewöhnlichen Menschen. Es sind gebildete, kluge Frauen. Einige haben Bücher geschrieben, die ich Ihnen zu lesen empfehle. Persönlich finde ich nicht nur ihre Lehren ungeheuer inspirierend, sondern auch ihr Verhalten in schwierigen Lebensumständen und ihren Umgang mit Schicksalsschlägen, seien es Krankheit, Scheidung, Verrat oder Verlust.
Was können wir von diesen Frauen lernen? Wie finden sie sich in den unterschiedlichen Kulturen zwischen Los Angeles und Lhasa zurecht? Wie gehen sie mit den kontroversen Aspekten der buddhistischen Lehren um? Diese Frauen riskierten den Zorn und das Unverständnis ihrer Familien, als sie sich entschlossen, ihre Zelte auf einem anderen Kontinent neu aufzuschlagen. Nicht selten mussten sie ganz von vorn anfangen, manchmal ihr Leben riskieren. Was fanden sie auf ihren Reisen? War es den Preis wert, den sie für ihren Mut bezahlten?
Ich arbeite seit mehr als zwanzig Jahren als Reporterin und habe in Asienwissenschaften promoviert, aber ich bin auch praktizierende Buddhistin. Dakini Power habe ich geschrieben, um den Lebensleistungen und Erfolgen dieser weiblichen Pioniere Respekt zu zollen, nicht zuletzt auch, weil sie offenbar Antworten auf Fragen gefunden haben, die mich umtreiben. Ich finde ihre Freundschaft ermutigend und inspirierend. In diesem Sinn ist dieses Buch eher eine persönliche Herzensangelegenheit als ein journalistischer Bericht.
Sowohl als Journalistin wie auch als Akademikerin habe ich gelernt, »neutral« zu berichten – doch hier ist kein neutrales, objektives Buch. In den Jahrzehnten, in denen ich nun schon als Autorin arbeite, war mir immer bewusst, wie sehr unsere eigenen Biographien unseren Blick auf die Welt verändern. Es gibt keine »objektive« Berichterstattung, deshalb glaube ich, es ist ehrlicher, gleich am Anfang deutlich zu machen, dass die Motivation hinter diesem Buch ein persönliches Anliegen war.
Jedes Kapitel beruht auf persönlichen Begegnungen mit den Porträtierten. Manche von ihnen kenne ich seit vielen Jahren. Mit ihrer Zustimmung habe ich die Interviews mit Zitaten aus ihren Vorträgen und Büchern ergänzt. Sollten sich Fehler oder Missverständnisse eingeschlichen haben, bedaure ich das sehr.
Ich hoffe, Sie finden die Begegnungen mit diesen Frauen in dem Band so inspirierend, wie es für mich war, sie in ihren Einsiedeleien, Wohnzimmern und Klöstern zu treffen.
Meine Begegnung mit dem tibetischen Buddhismus verdanke ich einem Kreislaufzusammenbruch. 1996 mussten mich Sanitäter aus den Redaktionsräumen der Süddeutschen Zeitung tragen. Unsere Büros waren gerade frisch renoviert worden, und viel später erfuhr ich, dass eine schwere Allergie gegen das Formaldehyd in den neuen Teppichen den Schwächeanfall ausgelöst hatte. Zu jener Zeit aber dachten wir, ich wäre einfach überarbeitet. Ich arbeitete gleichzeitig als Reporterin für die Seite Drei und als Moderatorin für das Bayerische Fernsehen, und obwohl mir beide Jobs viel Spaß machten, blieb wenig freie Zeit.
Also kaufte ich mir ein Round-the-World-Ticket nach Indien, Sri Lanka, den Malediven und Bhutan und nahm drei Monate frei. In Indien lernte ich Yoga, in Sri Lanka ließ ich mich von Ayurveda-Masseuren einölen, auf den Malediven tauchte ich mit Haien. Über Bhutan wusste ich wenig. Dieses winzige Königreich im Himalaja hatte es nur auf die Liste geschafft, weil ein weitgereister Freund, ein Extrembergsteiger, es als »besonders exotisch« gepriesen hatte. Er sagte mir auch, die Einheimischen würden ihre heiligsten Tempel nicht für respektlose Touristen öffnen, und ich solle mich als Buddhistin ausgeben, wenn ich die »wirklich coolen« Pilgerstätten sehen wolle. Ich interessierte mich schon länger für Buddhismus und hatte bereits einige Jahre zuvor in Thailand ein paar Wochen mit Mönchen meditiert; so schwer konnte das also nicht sein.
Vor dem Abflug mit dem winzigen Propellerflugzeug studierte ich einen trockenen Kunstführer mit Abbildungen tibetisch-buddhistischer Ikonen. Klar, der goldene Kerl im Lotossitz war der historische Buddha Shakyamuni, der den Buddhismus vor rund 2500 Jahren begründet hatte. Der wild dreinschauende Meister mit dem Dreizack und dem spitzen Lotoshut nannte sich Padmasambhava und wurde als Wegbereiter des tibetischen Buddhismus verehrt. Die nackte weiße Dame mit dem Lotos in der linken Hand hieß Tara und war ein weiblicher Buddha des Mitgefühls.
Ich paukte die Namen der wichtigsten Gottheiten dieses bunten Pantheons wie eine Examenskandidatin vor den Tempelwächtern. Obwohl ich buddhistische Ideen immer schon interessant gefunden hatte, war ich nicht auf der Suche nach einem spirituellen Pfad. Ich war eine Touristin auf Weltreise, auf der Jagd nach exotischen Erfahrungen. Umso unerwarteter war dann die Wucht der Begegnung mit Bhutan. Unversehens veränderte dieser Abstecher mein Leben. Ausgerechnet hier, in dieser abgeschnittenen Enklave im Himalaja, fühlte ich mich plötzlich zu Hause. Ich erinnere mich daran, wie ich gebannt auf die Farbexplosionen an den Tempeldecken starrte und versuchte, den tieferen Sinn der Hieroglyphen zu entziffern. Die tanzenden Gottheiten an den Wänden schienen mir etwas mitteilen zu wollen. Mein Bergsteigerfreund kannte dieses Gefühl von Gipfeleroberungen: Die Grenzen des eigenen Daseins weiten sich, alte Gewissheiten schwinden und machen Platz für neue Erfahrungen. Die Tibeter nennen das »die Natur des Geistes« – das nackte Gewahrsein der wahren Natur aller Dinge. Als Touristin reiste ich ein, als Buddhistin reiste ich wieder aus. Ich hatte mich so überzeugend als Gleichgesinnte ausgegeben, dass ich unversehens eine geworden war.
Ich war so überrascht von meinen eigenen Empfindungen, dass ich den Urlaub nicht als Zwischenspiel abbuchen konnte. Was genau barg diese jahrtausendealte Kultur an Weisheiten? Warum waren die Tempel von so vielen Gottheiten bevölkert, welche Schätze lagerten in den Bibliotheken mit den langen Galerien voller gewickelter Palmblätter? Auch die tibetischen Lehrer, die ich traf, faszinierten mich. Ihre ruhige Präsenz hätte sich kaum stärker von der hektischen Geschäftigkeit meines Redaktionsalltags unterscheiden können. Sie waren entschieden beeindruckender als alle Hollywood-Stars, Vorstandsvorsitzenden und Bundeskanzler, die ich bis dahin getroffen hatte. Sie kamen mir gleichzeitig weich und gestählt vor. Ihre zerfurchten Gesichter erzählten sowohl von vielen Jahren einsamer Meditation und Entbehrung als auch von Humor und tiefem Mitgefühl. Eine spielerische Furchtlosigkeit spiegelte sich in ihren wachen Augen. Sie wussten etwas, was ich wissen wollte. »Dein Dasein spielt sich nur in deinem Kopf ab«, sagten sie. »Dein Leben ist wie ein flüchtiger Traum oder eine Projektion auf der Leinwand, und du selbst schaffst Glück und Leiden wie eine Regisseurin, die einen Film dreht.« Würde ich lernen, meinen Geist durch Meditation, Konzentration und Achtsamkeit zu meistern, so lehrten sie, könnte ich mein Wohlergehen von der unkontrollierbaren Abfolge äußerer Ereignisse unabhängig machen.
Ich kehrte an meinen Schreibtisch zurück, hielt es dort aber nicht lange aus. Bei meiner nächsten Asienreise faxte ich aus einem heruntergekommenen nepalesischen Postamt meine Kündigung an meinen verdutzten Chef: »Ich danke Dir für all deine Unterstützung, aber ich komme nicht zurück.«
Stattdessen begann ich, die tibetischen Geisteswissenschaften zu studieren. Die Methode schien so einfach – sich hinsetzen und den eigenen Geist beobachten, dabei präsent bleiben. Aber jede schlichte Zwanzig-Minuten-Sitzung auf dem Meditationskissen macht schnell deutlich, was jeder Meditierende weiß: Gedanken und Gefühle drehen sich wie auf einem Karussell ohne Pausetaste, und dass wir darüber die Kontrolle hätten, ist nur eine Illusion. Die Lehren des Buddha versprechen einen Ausweg aus dem Schlingern in der Endlosschleife: Wir könnten die Kontrolle über unseren eigenen Geist wiedergewinnen, wenn wir nur seine wahre Natur erkennen würden, seine Substanzlosigkeit. Die immer noch revolutionäre Erkenntnis des Buddha lautet: Wir sind, was wir denken. Was wir für Realität halten, wurde oftmals nur von unseren eigenen Projektionen erschaffen. Stattdessen können wir lernen, hinter die Fassaden zu schauen und die wahren Potenziale unseres Daseins auszuschöpfen.
Ich schrieb mich für einen Studienkurs in buddhistischer Philosophie an der Universität in Kathmandu ein und lernte meine ersten Sätze auf Tibetisch und Sanskrit. An den Wochenenden erforschte ich die Berge, faltete meine Beine in entlegenen Klöstern in den Schneidersitz und war glücklicher als je zuvor.
Vor meinem Trip nach Bhutan hatte ich gedacht, ich hätte die schönsten Gipfel schon erobert. Es fehlte mir an nichts. Aber wenn ich ganz ehrlich war, spürte ich: Glücklich war ich nicht. Eher deprimiert. Wie war das möglich, wo ich doch alles hatte? Mir war deutlich bewusst, dass mein Glück nicht an einem besseren Job, einem anderen Freund oder einem höheren Gehalt hing. Die erste edle Wahrheit, die der Buddha vor 2500 Jahren lehrte, spricht von einer tiefgehenden Unzufriedenheit (Skrt. dukkha), die alles Dasein durchzieht und die ich selbst in meinem sehr privilegierten Leben nicht abschütteln konnte. Der Begriff wird oft mit »Leiden« übersetzt, aber das trifft es nur bedingt. Es war klar, dass der Buddha nicht nur über Kriege und Katastrophen sprach, sondern grundlegende Tatsachen allen Lebens beschrieb: die Unsicherheit und nagende Unzufriedenheit, die jeder kennt; die unvermeidbare Flüchtigkeit glücklicher Momente; die vergeblichen Versuche, Gesundheit, Glück oder auch das Leben selbst auf Dauer festzuhalten.
Das Entscheidende war für mich, dass der Buddha nicht nur Wahrheiten diagnostizierte, sondern einen Weg wies zu einem Ziel, das ich als Journalistin vergeblich zu erreichen versuchte: Leid zu mildern. Von Beginn an wollte ich als politische Reporterin arbeiten. Mit dem Idealismus einer Berufsanfängerin spielte ich sogar mit dem Gedanken, in die Politik zu gehen, um wirklich etwas zu bewirken und Strukturen zu verändern. Ich war in einer intakten Familie in einem idyllischen bayerischen Dorf aufgewachsen, mit knapp 250 Einwohnern, drei Bauernhöfen, einer Kirche und einem Wirtshaus. Schon als Teenager verschlang ich Bücher über andere Kulturen und Länder, und mir wurde bewusst, wie privilegiert mein Leben begonnen hatte. Ich schwor, mit meiner Arbeit jenen Menschen ein Sprachrohr zu sein, die sonst keines hatten. Die Enttäuschung war unvermeidlich: Natürlich war mir klar, dass sich Missstände nicht so schnell veränderten, wie ich darüber schreiben konnte. Mein jugendlicher Optimismus drohte im Redaktionsgetriebe zu ersticken.
Der Buddhismus bot da eine geradezu revolutionäre Alternative: Das Bodhisattva-Ideal ist das eines sanften Kriegers, der nicht nur für sich selbst nach Freiheit strebt, sondern für alle lebenden Wesen. Diese Befreiung von Leid – das Versprechen des buddhistischen Weges – war in erster Linie eine Sache des Geistes, eine innere Revolution, und so veränderte sich mein Augenmerk. Statt korrupte Regierungen zu entlarven, lernte ich, die Korruption meines eigenen Geistes zu enttarnen.
Deshalb tauschte ich vor 17 Jahren recht plötzlich mein Jugendstilappartement in Schwabing gegen eine winzige Dachkammer in Kathmandu, der Hauptstadt von Nepal. Ich zog zu einer tibetischen Familie, die gerade erst dem Terror der chinesischen Machthaber entflohen war, und stürzte mich mit Leib und Seele in diese exotische neue Welt. Ich arbeitete zwar immer noch als Reporterin für das Fernsehen und für Printmedien, aber nur noch mit halbem Herzen. Ich schickte gerade genügend Geschichten aus Indien, Nepal und Bhutan an die Hochglanzmagazine, um meine Reisen und mein Studium zu finanzieren. Es überraschte mich selbst, dass mich diese ungewohnten Lehren von Wiedergeburten und der wahren Natur des Geistes nicht abschreckten. Ganz im Gegenteil, ich fand in ihnen die Antworten auf Fragen, die mich seit meiner Kindheit umgetrieben hatten: Was ist der Sinn des Lebens? Was passiert nach dem Tod?
Wenn das spirituelle Oberhaupt der Tibeter, Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama, im Westen Vorträge hält, beginnt er recht häufig mit der Warnung, die Zuhörer sollten nicht leichtfertig ihre Geburtsreligion aufgeben. Als frischgebackene Buddhistin, die ihren katholischen Glauben schon als Teenager abgelegt hatte, verblüffte mich diese Warnung. Aber ein Jahrzehnt später, als ich nach Europa zurückkehrte, wurden mir die riesigen Unterschiede zwischen westlichen und asiatischen Kulturen zunehmend schmerzhaft bewusst, und ich empfand es als enorme Herausforderung, gleichzeitig Teil beider Kulturen zu sein. Als moderne Frau inmitten einer zutiefst patriarchalischen asiatischen Kultur, als Akademikerin inmitten hingebungsvoller Gläubiger fühlte ich mich zunehmend fehl am Platz. Mich wunderte, dass meine westlichen Glaubensgenossen so wenig kritische Fragen stellten. Ich fand es auch befremdlich, dass die meisten Buddhistinnen nicht einmal davon Notiz zu nehmen schienen, dass fast nie Frauen unterrichteten. Wie ein Geisterfahrer steuerte ich auf den vielleicht unvermeidlichen Frontalzusammenstoß zwischen meiner westlichen Erziehung und der traditionellen asiatischen Kultur zu.
Gleichzeitig war ich davon überzeugt, dass der Buddhismus eine tiefgründige Weisheitstradition ist, die wertvolle Schätze beinhaltet und von der ich enorm viel lernen konnte. Mussten nicht andere Frauen ähnliche Zerreißproben durchgemacht haben? Und doch hatten sie ihren Weg gefunden und nicht aufgegeben. Als ich einen Tiefpunkt erreicht hatte, mit einer chronischen Krankheit kämpfte und einige esoterische Aspekte des tibetischen Buddhismus partout nicht akzeptieren konnte, suchte ich nach Beispielen anderer Frauen, denen es gelungen war, diese jahrtausendealte Tradition aus entlegenen Höhlen des Himalaja in moderne Metropolen wie meine Wahlheimat Los Angeles zu verpflanzen. Eine solche Weltreise ist immer eine Zerreißprobe – sowohl für die Reisenden selbst als auch für die überlieferte Tradition. Beide brauchen enorme Flexibilität, aber gleichzeitig auch die Stärke, sich nicht bis zur Unkenntlichkeit verbiegen zu lassen. Die Antworten, die ich von den Lehrerinnen erhielt, umfassen das ganze Spektrum möglicher Lösungen: von der hundertprozentigen Überzeugung, dass diese Weisheitstradition im modernen Westen genauso funktioniert wie vor 2500 Jahren in Indien bis hin zu progressiven Forderungen nach umfassenden Veränderungen. Diese Frauen zu treffen und sie auf ihren Lebenswegen ein Stück weit zu begleiten war eine wertvolle Erfahrung. Ich nahm von meinen Begegnungen neuen Mut und Zuversicht mit, überraschende Erkenntnisse und frischen Enthusiasmus.
Ich hoffe, dass es für Sie ebenso inspirierend ist, den Lehrerinnen in diesem Buch zu begegnen. Dass es Sie motiviert, alte Ängste abzulegen, neue Wege zu erforschen, und dass es Ihnen den Mut gibt, auf die weisen Einflüsterungen Ihrer eigenen Intuition zu hören.
Zwischen Männern und Frauen gibt es in spiritueller Hinsicht keinen großen Unterschied. Aber wenn eine Frau den Erleuchtungsgeist erweckt, ist ihr Potenzial größer.
Padmasambhava, Pionier des Vajrayana-Buddhismus in Tibet
Der tibetische Buddhismus beinhaltet ein einzigartiges Versprechen: dass Frauen auf dem Weg zur Befreiung das größere Potenzial haben. Frauen, so glaubte Padmasambhava, der Wegbereiter des tibetischen Buddhismus im 8. Jahrhundert, seien besser dafür veranlagt, die Weisheit der Lehren zu erkennen. Zeitgenössische Lehrer stimmen dem zu. Die britische Nonne Jetsunma Tenzin Palmo etwa kommentiert: »Viele Lamas[2] haben gesagt, dass Frauen die besseren Meditierenden sind, weil sie sich leichter in Meditation versetzen könnten als Männer. Der Grund dafür liegt darin, dass viele Männer Angst davor haben, ihr konzeptuelles Denken aufzugeben, insbesondere Mönche, die lange studiert haben. All dies plötzlich einfach loszulassen und sich in nackter meditativer Erfahrung zu finden beängstigt sie, wohingegen Frauen ganz natürlich dazu in der Lage scheinen.«[2]
Eine weibliche Verkörperung von Erleuchtung wird in Sanskrit, der historischen Schriftsprache Indiens, dakini genannt. Aber was genau ist eine Dakini? Dakinis sind per Definition schwer fassbar. Sie werden oft als verspielte Gestalten beschrieben, die weise Scherze treiben und unser intellektuelles Verständnis zum Narren halten. Der Versuch, sie mit einer wissenschaftlichen Definition festzunageln, ist zum Scheitern verurteilt. Ich habe deshalb die Lehrerinnen in diesem Band gefragt, was sie unter dem »Dakini-Prinzip« verstehen.
Khandro Rinpoche, deren Name buchstäblich »kostbare Dakini« bedeutet, erklärt: »Traditionell bezeichnet der Begriff Dakini herausragende weibliche Praktizierende, die Gefährtinnen großartiger Meister und das erleuchtete weibliche Prinzip der Nichtdualität, das geschlechtslos ist.« Sie definiert das authentische Dakini-Prinzip als »sehr scharfen, brillanten Weisheitsgeist, der kompromisslos und ehrlich ist, mit einer Prise Zorn«. Diese Beschreibung trifft auch auf die Qualitäten der Lehrerinnen zu, die in diesem Buch beschrieben werden. Trotz ihrer Sanftheit und ihres Humors erlebe ich viele als sehr direkt, mutig und radikal.
»Die besondere weibliche Qualität (über die natürlich auch viele Männer verfügen) ist für mich Klarheit«, sagt Tenzin Palmo, die sich schwor, in einem weiblichen Körper Erleuchtung zu erlangen. »Sie durchdringt, sie durchschneidet – vor allem in Fällen intellektueller Verknöcherung. Sie ist messerscharf und kommt auf den Punkt. Das Dakini-Prinzip steht für mich für die intuitive Kraft. Frauen begreifen blitzartig. Sie wollen wissen: ›Was kann ich tun?‹«[3]
Es wäre irreführend, das Dakini-Prinzip zu stark auf einen Aspekt zu vereinfachen, denn es ist ein komplexes Prinzip mit vielen Bedeutungsebenen. Auf den ersten Blick ist Dakini einfach der Begriff für weise weibliche Meditierende, und in diesem Sinn habe ich ihn für den Buchtitel gewählt. Doch wer tiefer blickt, erkennt, dass das Dakini-Prinzip zwar immer für weiblich gehalten wird, letztendlich die Geschlechtergrenzen aber überschreitet. »Um der Dakini wirklich zu begegnen, muss man sich von der Dualität lösen«, lehrt Khandro Rinpoche und bezieht sich dabei auf das grundlegende Prinzip des Vajrayana, dass das begriffliche Denken die absolute Wirklichkeit nicht erfassen kann. Der tibetische Begriff für Dakini, khandro, wird manchmal mit »Himmelstänzerin« übersetzt, ein Hinweis auf die ätherische Natur, die diesen Wesen auch zugeschrieben wird. In den tibetischen Darstellungen haben sie oft die Grenzen des Irdischen überschritten und nehmen nun das All zur Spielwiese.
»Die Dakinis sind die wichtigsten Elemente des erleuchteten Weiblichen im tibetischen Buddhismus«, sagt die amerikanische Lehrerin Tsültrim Allione.[4] »Sie sind die lichte, subtile spirituelle Energie, der Schlüssel, die Bewahrer des bedingungslosen Zustandes. Wenn wir nicht willens sind, die Dakini in unser Leben zu lassen, dann können wir diese subtileren Ebenen des Geistes nicht erreichen. Manchmal erscheinen die Dakinis als Boten, manchmal als Führerinnen und manchmal als Beschützerinnen.«
Naropa-Professorin Judith Simmer-Brown unterscheidet vier Bedeutungsebenen:
Auf der geheimen Ebene gilt die Dakini als Manifestierung der grundlegenden Aspekte der Daseinsfaktoren und des Geistes. Deshalb ist ihre Kraft eng verknüpft mit den tiefgründigen Einsichten der Vajrayana-Meditation. In diesem, ihrem innersten Aspekt wird sie als die formlose Weisheitsnatur des Geistes an sich bezeichnet. Auf der inneren Ritualebene ist sie eine Meditationsgottheit, die als Personifizierung der Buddha-Qualitäten visualisiert wird. Auf einer äußeren Ebene des feinstofflichen Körpers ist sie ein energiegeladenes Netzwerk des Gestalt gewordenen Geistes in den feinstofflichen Kanälen und der vitalen Atmung des tantrischen Yoga. Auch als lebende Frau sieht man sie: Sie mag als Guru auf einem brokatgeschmückten Thron sitzen oder als Yogini in einer abgelegenen Höhle, eine einflussreiche Meditationslehrerin sein oder als Gefährtin eines Gurus durch ihr Lebensbeispiel lehren. Letztendlich werden alle Frauen als eine Art Manifestation der Dakini betrachtet.[5]
Dakinis erscheinen in mannigfacher Gestalt. In einem Tempel wie Tsültrim Alliones Tara Mandala in Colorado dominiert eine Vielzahl weiblicher Figuren: Prajnaparamita, die Verkörperung der »vollkommenen Weisheit«, verweilt in Meditationshaltung auf einem Lotos, in einer Hand die losen Blätter der Weisheitssutras.[3] Tara, die weibliche Buddha der Befreiung, sitzt mit einem ausgestreckten Bein, sprungbereit, um sofort herbeizueilen, wenn ihre Hilfe benötigt wird. Ihre sieben Augen beobachten die Besucher mit einem ruhigen, aber durchdringenden Blick. »Die zusätzlichen Augen des Mitgefühls befähigen sie, das Elend der Lebewesen zu sehen und zu lindern«, sagt Dagmola Sakya, die sich ihr ganzes Leben lang von Tara-Visionen leiten ließ.[6] »Tara ist die Mutter aller Lebewesen und kümmert sich um jeden Einzelnen wie um ihr eigenes, einziges Kind.«[7] Tara und Prajnaparamita werden beide oft als Mütter aller Buddhas bezeichnet, weil die Suchenden durch ihre Weisheit Befreiung erlangten.
Mangels eines besseren Begriffes werden diese Buddhas im Deutschen häufig »Meditations-Gottheiten« genannt. Tatsächlich aber ist dem Buddhismus das theistische Denken fremd. Wörtlich bedeutet das tibetische Wort yidam »den Geist zähmen«. Im Unterschied zu anderen Religionen wie dem Christentum oder dem Hinduismus werden diese »Gottheiten« nicht für real existierende Gestalten gehalten, deren Segen man anrufen kann, sondern sie sind Manifestationen des eigenen Geistes. Meditierende visualisieren sie als Meditationsstützen, um zu einer tieferen Bewusstseinsebene vorzudringen und sich von neurotischen Emotionen frei zu machen.
Manche dieser weiblichen Ikonen wie Tara und Prajnaparamita werden meist als friedlich und heiter dargestellt. Andere, wie etwa Vajrayogini, erscheinen zornig und stürmisch, mit gefletschten Zähnen, in einem wilden, ungehemmten Tanz. Weil Dakinis oft angerufen werden, wenn Blockaden und Hindernisse durchbrochen werden sollen, treten sie in vielen Darstellungen beunruhigend stürmisch auf, um Verblendung ohne Zögern zu durchschneiden. »Es gibt den Aspekt des Mitgefühls, der von Tara verkörpert wird; es gibt die Mutterfigur mit ihren liebenden Eigenschaften. Aber dann gibt es in der tantrischen Tradition auch den wilden Aspekt der Dakini, ungezähmt, frei, keinem Mann gehörend«, erklärt Tsültrim Allione.[8] »Dakinis haben diese spielerischen Qualitäten, die Leerheit ausdrücken und den Boden unter den Füßen wegziehen können. Diese weiblichen Eigenschaften von Verführung und Spiel machen einen gleichzeitig unsicher und doch offen.«
Tibetische Buddhisten waren nicht die Ersten, die Dakinis entdeckten. Wie viele Elemente des Vajrayana wurden auch sie zuerst in den indischen Tantras[4] beschrieben. Diese wiederum beriefen sich teilweise auf Göttinnenkulte aus den vorarischen Jahrhunderten. In der Anfangszeit des indischen Tantra wurden Dakinis als zornig dargestellt und oft als blutdurstige Kannibalinnen beschrieben, die in Leichenhallen und auf Friedhöfen lebten, um Yogis herauszufordern, an ihre Grenzen zu gehen und sich mit ihren Ängsten zu konfrontieren. Nachdem Buddhisten tantrische Ideen aufnahmen und der Vajrayana-Buddhismus im 8. Jahrhundert in Tibet Fuß fasste, wurde das Bild etwas sanfter. Die Tibeter pflegten ein weicheres, sinnlicheres und gefälligeres Image der Dakinis, das Meditierende ermuntern und inspirieren soll. Aber auch in Tibet kann die Dakini im Nu zu dramatischen und drastischen Mitteln greifen, wenn der friedlichere Weg der Verführung keinen Erfolg verspricht. Dieses Enigma wird am besten von Vajrayogini verkörpert, die oft Oberhaupt der Dakinis genannt wird. Obwohl sie normalerweise als attraktiver Teenager mit einem einladenden Blick dargestellt wird, nackt bis auf einige Knochenornamente, schwingt sie gleichzeitig einen Krummdolch, bereit, ohne Vorwarnung die Selbstanhaftung zu köpfen.
Der Himalaja war immer ein fruchtbarer Nährboden für weibliche Meditierende und ist es in gewisser Weise immer noch. Die Yoginis[5] leben vielleicht als hingebungsvolle Meditierende in entlegenen Einsiedeleien oder Nonnenklöstern oder als Frauen, Mütter oder Töchter von berühmten Lehrern. Schüler baten oft ohne große Formalitäten um ihren Rat. Doch nur wenige Frauen schrieben Bücher, setzten sich auf einen Thron oder bekamen aus eigenem Verdienst hochrangige Titel. »Mit Sicherheit gab es viele große weibliche Praktizierende in Tibet«, sagt Tenzin Palmo. »Aber weil ihnen der Hintergrund einer philosophischen Ausbildung fehlte, konnten sie nicht darauf hoffen, Bücher zu schreiben, Schüler zu haben, auf Vortragsreisen zu gehen oder Belehrungen zu geben. Wenn wir die Geschichtsbücher lesen, stellen wir fest, dass sich Nonnen durch Abwesenheit hervortun. Was aber nicht bedeutet, dass sie nicht da waren.«[9] Vielversprechender männlicher Nachwuchs wurde in den Himalaja-Regionen meist von den Ablenkungen des Alltagslebens isoliert und einem rigorosen Studien- und Praxisprogramm unterzogen, aber den Töchtern wurde weit weniger Aufmerksamkeit zuteil. Zwar errichtete man ikonische Abbildungen weiblicher Erleuchtung auf den Altären, tatsächlich wurden Frauen jedoch nur selten gefördert, wirklich in die Fußstapfen der berühmten Yoginis zu treten. Die ermutigende Aussage von Padmasambhava, des Wegbereiters des tibetischen Buddhismus, das spirituelle Potenzial von Frauen sei dem von Männern überlegen, steht im deutlichen Widerspruch zu den meisten buddhistischen Kulturen, in denen Frauen durch alle Jahrhunderte hindurch als minderwertig betrachtet wurden. Die wenigen positiven Aussagen verblassen im Vergleich zu den zahllosen Passagen, in denen Padmasambhava und andere Meister die schweren Nachteile der weiblichen Existenz beklagen. Gebräuchliche tibetische Begriffe für Frauen wie lümen oder kyemen bedeuten wörtlich »minderwertiges Wesen« oder »niedrige Geburt«. Einige strenggläubige Meister bezweifeln unter Berufung auf alte Schriften bis heute, dass Frauen überhaupt Befreiung erlangen können, und in den alten Texten wird für eine bessere Wiedergeburt der Frauen in einem männlichen Körper gebetet.
Dagmola Sakyas Lebensgeschichte macht deutlich, dass selbst zeitgenössischen Frauen in ländlichen Gegenden oft der Zugang zu normaler Schulbildung verwehrt wurde. Frauen sollten vor allem Kinder gebären und bei der Feldarbeit helfen, und dafür mussten sie nicht lesen und schreiben lernen. Eine meiner gleichaltrigen tibetischen Freundinnen ist die Schwester von vier anerkannten tibetischen Meistern. Im Gegensatz zu ihren Brüdern kennt sie nicht einmal ihren Geburtstag, denn ihre Eltern hielten es nicht für wichtig, sich das Datum ihrer Geburt zu merken. Selbst eine so renommierte Meisterin wie Khandro Rinpoche kämpfte mit massiven Vorurteilen, als sie fortgeschrittene philosophische Texte studieren wollte.
In Asien waren es fast immer Männer, die auf dem Thron saßen, wichtige Entscheidungen trafen und als Inkarnationen anerkannt wurden, während Frauen den Klosterbetrieb mit Putzen und Kochen am Laufen hielten. Die britische Äbtissin Tenzin Palmo findet es »verblüffend, dass ein Drittel der männlichen Bevölkerung Tibets Mönch wurde (…), doch gab es nur sehr wenige Nonnen.«[10] Fragt man nach den Gründen, sagen manche traditionellen Lehrer, Männer interessierten sich einfach mehr für religiöse Studien. Diese Blickweise lässt ökonomische Fakten außer Acht. Ihre Klöster werden häufig sowohl von den Regierungen als auch von den Einheimischen unterstützt und bieten meist exzellente Studienprogramme an. Die wenigen Nonnenklöster dagegen befinden sich in abgelegenen Gegenden, sind also von den Einheimischen nicht leicht zu erreichen, und werden weder von den Regierungen noch von großen Sponsoren unterstützt. Meistens tun sie sich schwer, gute Lehrer zu verpflichten. Bis heute fehlt es den Nonnenklöstern in Asien so eklatant an Ressourcen, dass viele der Nonnen weder lesen noch schreiben lernen und oft nicht einmal genug zu essen haben.
Einer der Gründe für die fehlende Unterstützung ist, dass die tibetische Tradition die volle Ordinierung von Nonnen nicht anerkennt. Als der Buddhismus aus Indien nach Tibet kam, wurde dort die Mindestzahl von zwölf voll ordinierten Nonnen, die für die Ordinierungszeremonie notwendig sind, nicht erreicht.[11] Es gibt vereinzelte Hinweise auf voll ordinierte Nonnen wie etwa die Samding Dorje Phagmo (1422–1455), die einmal die höchstrangige weibliche Meisterin Tibets war, aber wir wissen wenig über die genauen Umstände ihrer Ordinierung.[12] Weil die volle Ordinierung den Frauen in der tibetischen Tradition nicht offensteht, gelten sie als Nonnen zweiter Klasse. Das tibetische Wort für Nonne, ani – mit dem sie üblicherweise angesprochen werden –, bedeutet nicht einmal »Nonne«, sondern schlicht »Tante«. Für die Mönche dagegen haben die Tibeter eine Vielzahl von Ehrentiteln.
Sogar die angesehene Khandro Rinpoche, deren Leben und Erfolge als eine der raren weiblichen Rinpoches[6] im 1. Kapitel dieses Bandes gewürdigt werden, ist offiziell nur eine Novizin. Um die volle Ordinierung zu erlangen, müssen Tibeterinnen in Länder reisen, in denen die chinesische Ordinationstradition lebendig ist. »Aber die meisten tibetischen Nonnen können sich eine Reise nach Hongkong, Taiwan oder Korea nicht leisten«, sagt Tenzin Palmo, »und selbst wenn sie die finanziellen Mittel hätten, wollen die Nonnen doch lieber in ihrer eigenen Tradition ordiniert werden, in ihren eigenen Trachten, von ihren eigenen Lehrern oder dem Dalai Lama!«
Der 14. Dalai Lama hat öffentlich erklärt, dass er die volle Ordinierung von Nonnen unterstütze, aber er könne diese Entscheidung nicht allein treffen; die Mönchsgemeinschaft müsse diese Linie mittragen. »Ich bin ein Feminist«, sagt der Dalai Lama. »Nennt sich so nicht jemand, der sich für die Gleichberechtigung der Frauen einsetzt?« Um seiner Position Nachdruck zu verleihen, gab er einer Gruppe von erfahrenen westlichen Bhikshunis[7]50000 Schweizer Franken, um die Möglichkeiten zu recherchieren, die volle Ordinierung tibetischer Nonnen einzuführen. Die Kommission zur Bhikshuni-Ordination, zu der auch Tenzin Palmo und ihre Freundinnen Pema Chödrön, Karma Lekshe Tsomo und Thubten Chodron gehören, glaubt, dass sie kurz vor einem Durchbruch steht.
Der Dalai Lama hat viele Male darauf gedrängt, das Problem zu lösen. »Vor 2500 Jahren predigte der Buddha in einer von Männern dominierten Gesellschaft«, sagte er in einem Interview.[13] »Wenn er feministische Ansichten vertreten hätte, hätte ihm niemand zugehört. Entscheidend ist, dass wir nun seit dreißig Jahren daran arbeiten, dies zu ändern.« Der Dalai Lama erkennt an, dass viele Nonnen sehr aufrichtig sind, aber nicht die Möglichkeit erhalten, in die höchste Ordinierungsstufe aufzurücken. »Damit fühle ich mich unwohl, vor allem weil der Buddha den Frauen die gleichen Möglichkeiten eröffnet hat. Aber wir als Buddhas Anhänger haben das vernachlässigt. In den letzten Jahrhunderten haben wir die Qualität der religiösen Studien in Nonnenklöstern gänzlich vernachlässigt.« Das tibetische Oberhaupt betont, dass sich die Umstände verbesserten und die gleichen Studienmöglichkeiten nun erstmals auch Frauen offenstünden. Bis vor kurzem war es den Nonnen zum Beispiel nicht gestattet, die Prüfungen zum khenpo oder geshe abzulegen, dem tibetischen Pendant zum Doktor oder Professor. Warum? Weil sie die volle Ordination nicht erhalten konnten, bekamen sie auch keinen Zugang zu dem kompletten Studienprogramm, das die gesamten Ordensregeln beinhaltet (Skrt. vinaya).
Der Dalai Lama gründete höchstpersönlich das Tibetische Institut für Dialektik in der Nähe seines Exilsitzes bei Dharamsala in Nordindien und verzichtete bei den weiblichen Aspiranten auf einige der traditionellen Voraussetzungen. Im April 2011 verlieh er dort zum ersten Mal den Geshe-Titel an eine westliche Nonne und gab damit das Signal zur Beförderung weiterer Frauen. Dies ist in vielerlei Hinsicht ein historisches Ereignis: Der Geshe-Grad wurde traditionell in den etablierten Klöstern an Mönche verliehen, die zwölf Jahre oder länger studiert hatten. Obwohl sie nicht voll ordiniert ist, wurde die deutsche Nonne Kelsang Wangmo (Kerstin Brummenbaum) als erste Frau nach 16 Jahren intensiven Studiums buddhistischer Philosophie ausgezeichnet. »Es war schwierig, die einzige Frau zu sein«, sagt Kelsang Wangmo. »Es war recht einsam, denn die Mönche wollen mit einer Nonne keine Zeit verbringen.« Der Dalai Lama riet ihr, ein leicht abgewandeltes Curriculum ohne die vollständigen Ordensregeln zu studieren, aber ihre männlichen Klassenkameraden fanden die Situation zu absurd. So durfte sie zwar an den Vinaya-Klassen nicht persönlich teilnehmen, aber ihre Mitschüler steckten ihr die Aufzeichnungen zu, damit sie sich die Vorträge anhören konnte. »Ein weiterer Unterschied war, dass meine Mitschüler abwechselnd die Anfängerklassen unterrichteten, aber als Nonne durfte ich die Nachwuchsmönche nicht offiziell unterrichten«, sagt Kelsang Wangmo. Sie bezieht sich auf eine Passage im Ordenskodex, der es Nonnen generell verbietet, Mönche zu belehren. Doch sie fügt optimistisch hinzu: »All das ändert sich gerade, und meine Lehrer haben mich sehr unterstützt. Wir dürfen nicht aufgeben. Wenn ich das schaffe, dann kann es jede schaffen!«
Obwohl viele tibetische Lehrer inzwischen international bekannt sind, kann man die Tibeterinnen an einer Hand abzählen, die umfassend ausgebildet wurden, Ermächtigungen zu erteilen und im Westen zu lehren. Es ist kein Zufall, dass in diesem Band nur drei Tibeterinnen vorgestellt werden. Die Biographien von Khandro Rinpoche, Dagmola Sakya und Khandro Tsering Chödron erzählen davon, wie viele ungewöhnliche Umstände zusammenkommen mussten, damit Frauen ausnahmsweise die gleiche Bildung und das gleiche Training wie ihre Brüder und Kollegen erhielten. Wegen der patriarchalischen Gesellschaftsordnung standen selbst diese Vorzeigefrauen im Schatten ihrer Väter, Ehemänner oder Söhne. Dass sie nun aus diesem Schatten treten, ihre eigenen Erfahrungen ins Rampenlicht stellen und als Lehrerinnen selbstbewusst auf dem Thron Platz nehmen, wäre in Tibet kaum möglich gewesen. Es erscheint mir aber als logischer nächster Schritt, dass auch die asiatischen Frauen diese Rollen einnehmen, wenn der Buddhismus im Westen weiter Fuß fassen will. Es ist die Absicht dieses Buches, die herausragenden Qualitäten dieser Frauen bekannter zu machen und damit auch ihre Zweifel und Schwierigkeiten, die in der tibetischen Tradition normalerweise nicht offen diskutiert werden.
Abgesehen von einigen besonderen Ausnahmen wissen wir wenig über die buddhistischen Meisterinnen Tibets. Ihre Lebensgeschichten wurden so gut wie nie niedergeschrieben und veröffentlicht. Ein Standardwerk wie etwa Tulku Thondups wundervolle Chronik Masters of Meditation and Miracles (»Meister der Meditation und der Wunder«) enthält drei Dutzend beeindruckende Lebensbeispiele wichtiger Meister aus der alten Nyingma-Tradition des tibetischen Buddhismus. Doch abgesehen von den fünf Gefährtinnen Padmasambhavas wird nur eine Lehrerin geehrt: Jetsun Shugseb Lochen Rinpoche (1852–1953). Sie war eine anerkannte Meditierende, gründete in Tibet ein dynamisches Nonnenkloster und ist eine der wenigen Meisterinnen, nach deren Wiedergeburt offiziell gesucht wird. Aber wie viele ihrer Nonnen betete auch diese ungewöhnliche Meisterin inbrünstig darum, im nächsten Leben in einem männlichen Körper wiedergeboren zu werden, um als Mann dem Pfad besser folgen zu können. (Es wirkt wie eine ironische Fußnote der Geschichte, dass ihre männliche Wiedergeburt das spirituelle Leben aufgegeben hat, um in Beijing zu studieren.)[14]
Natürlich muss es unzählige verwirklichte Yoginis gegeben haben, die trotz Armut und Benachteiligung unbeirrt weitermeditierten. »Man kann sie nur bewundern; sie waren furchtlos«, sagt Tenzin Palmo. »Sie gingen an einsame Orte, zu Höhlen hoch in den Bergen und praktizierten und praktizierten. Sie waren wunderbar. Aber natürlich hat niemand jemals von ihnen gehört, weil niemand jemals ihre Biographien geschrieben hat. Niemand hielt es für wichtig, die Biographie einer Frau zu schreiben. Aus den Texten geht nicht hervor, dass es viele von ihnen gab, aber wir wissen, dass es sie gab.«[15] Tsültrim Allione fand den Mangel an Biographien weiblicher Meister so akut, dass sie jahrelang die Geschichten historischer Yoginis recherchierte und schließlich in ihrem wegweisenden Buch Tibets weise Frauen veröffentlichte: »Wir brauchen weibliche Vorbilder für die Erleuchtung. Weil es diese Vorbilder nicht gibt, glauben Frauen oft, dass sie nicht die Fähigkeit haben, in diesem Leben Befreiung zu erlangen.«[16]
In einigen westlichen Ländern ist der Buddhismus die am schnellsten wachsende Religion. Immer mehr Europäer werden von Buddhas Lehren und seinen pragmatischen Methoden inspiriert. Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass buddhistische Meditation wesentlich zur Reduzierung von Stress und Ängsten beitragen kann, während sie Glück und positives Denken verstärkt. Ich habe erstaunliche Verwandlungen beobachtet bei den Managern, die in meinen Seminaren lernen, still zu sitzen und die Kunst des Mitgefühls zu praktizieren, die der Buddha entdeckt hat. Das ist eine der Fragen, der ich in diesem Buch nachgehe: Was macht die uralten Lehren des Buddha für Frauen und Männer in der heutigen Zeit relevant?
In den meisten asiatischen Ländern wird die Aufgabe, spirituelle Verwirklichung zu erlangen, vor allem von »Profis« erledigt, wie Tenzin Palmo sie nennt.[17] Mönche und Nonnen widmen sich ganz dem Studium und der Praxis, ohne »Ablenkungen« durch Familie, Job und Ratenzahlung. In einigen Ländern gilt es bis heute als Muss, wenigstens eines der Kinder ins Kloster zu schicken. Im Westen dagegen, wo der Buddhismus nun Wurzeln treibt, wollen sich vergleichsweise wenige Praktizierende dem Klosterleben widmen. Statt sich in entlegene Berge zurückzuziehen, suchen alleinerziehende Eltern, Bankangestellte und Vorstandsvorsitzende nach Möglichkeiten, ihren Alltag in einen sinnvollen Pfad zu verwandeln. Tenzin Palmo hat beobachtet, dass manche traditionelle Lehrer einen Unterschied machen »zwischen ›spiritueller Praxis‹ auf der einen Seite und ›alltäglichem Leben‹ auf der anderen«.[18] Sie hörte einmal einen frustrierten Vater, der wenig Zeit für seine Meditation finden konnte, einen ehrenwerten Lama um Rat fragen: »Was soll ich tun?« Der Lama antwortete: »Keine Sorge, wenn die Kinder groß sind, kannst du dich früh pensionieren lassen und dann mit dem Praktizieren beginnen.«[19]
Ich habe solche Ratschläge von keiner der Lehrerinnen in diesem Buch gehört. Mehrere von ihnen sind Mütter; viele mussten in »alltäglichen« Jobs als Putzfrauen, Grundschullehrerinnen oder Altenpflegerinnen arbeiten, bevor sie als herausragende buddhistische Lehrerinnen Anerkennung fanden. Jede Einzelne von ihnen macht deutlich, dass Praxis bedeutet, in jedem Moment achtsam zu sein, egal, ob man auf einem Meditationskissen sitzt, eine Waschmaschine lädt oder ein Business-Meeting organisiert. »Spirituelle Praxis ist, wie man jeden Tag lebt, nicht nur wenn man auf dem Kissen sitzt und meditiert«, sagt Dagmola Kusho Sakya, Mutter von fünf Söhnen. »Jede Bewegung, jedes Wort, jeder Gedanke ist Praxis. Dharma liegt im Alltag.« Und Zen-Priesterin Roshi Joan Halifax betonte auf einer Konferenz: »Frauen zeigen seit Tausenden von Jahren die Stärke, die aus Mitgefühl entsteht, ungefiltert, unvermittelt, indem sie Leiden so wahrnehmen, wie es ist. Sie haben die Gesellschaft mit Güte durchzogen. Sie haben Mitgefühl in Handlung umgesetzt.«[20]
Jedes Mal, wenn sich der Buddhismus aus seinem Ursprungsland Indien in andere Länder verbreitete, veränderten sich damit auch seine Philosophie, Gebräuche und Rituale, egal, ob in Sri Lanka, Burma, Japan, China oder Tibet. Es ist wenig überraschend, dass auch seine Ankunft im Westen eine Zeitenwende bedingt.
In Tibet zogen sich Meditierende in Höhlen zurück, manchmal für Jahrzehnte. Im Westen schicken Lehrer ihre Weisheit in Sekundenschnelle per Podcast durch das Internet an Tausende von Anhängern. Im Himalaja erhielten Mädchen selten den gleichen Zugang zu Bildung. Im Westen verlangen Frauen gleichberechtigte Anerkennung in zahlreichen Führungsrollen. In machen asiatischen Kulturen ist offener Widerspruch undenkbar, während an westlichen Universitäten kritische Debatten zum Handwerkszeug zählen. In den traditionellen Klöstern hätte es kaum ein Schüler gewagt, einem Lehrer in seiner wörtlichen Auslegung einer mystischen Passage zu widersprechen, im Westen ist das Überprüfen von Fakten ausschlaggebend. »Das asiatische Verhaltensmuster ist eher auf Harmonie ausgerichtet«, hat Roshi Joan Halifax beobachtet. »Das westliche Muster ist auf Transparenz ausgelegt.«
Die vielleicht bedeutsamste aller Veränderungen, die der Buddhismus im Westen erfahren hat, ist, dass Frauen darauf bestehen, gleichberechtigte Positionen einzunehmen. Immer mehr Lehrerinnen finden Zulauf und verstehen, dass ihre Verantwortung auch darin liegt, Frauen zu bestärken und zu ermutigen, als spirituelle Suchende und Lehrende die »Hälfte des Himmels« zu tragen (wie Mao einmal euphemistisch sagte). Die feministische buddhistische Professorin Rita Gross meint: »Der mit Abstand größte Unterschied zwischen der Praxis des Buddhismus in Asien und im Westen ist, dass Frauen im Westen voll und ganz am Buddhismus teilnehmen.«[21] Der Dalai Lama brach mit den Konventionen seines Ordens, als er öffentlich kundtat, er könne sich gut vorstellen, dass seine nächste Inkarnation eine Frau werde. Warum auch nicht? Weshalb ist das so ein heißes Eisen?
»Die Lamas können das nicht länger ignorieren«, sagt die amerikanische Nonne Karma Lekshe Tsomo, deren Lebensgeschichte in diesem Buch erzählt wird. »Schau bei den Dharma-Zentren in die Küchen – da schuften fast nur Frauen. Schau in die Büros, wer kümmert sich um die Verwaltung? Vor allem Frauen. Wer organisiert und fährt, putzt und kauft ein? Überwiegend Frauen.« Dass Frauen auch als Lehrerinnen und Äbtissinnen fungieren, ist eine natürliche Entwicklung.
Wie Brenngläser werfen die Lebensgeschichten der hier versammelten Frauen Licht auf die Wandlung des Buddhismus im 21. Jahrhundert und die Rolle, die Frauen dabei spielen. Mein Lehrer Dzigar Kongtrul Rinpoche sagte zu meiner Idee zu diesem Buch: »Biographien sind gut, aber sie werden nicht viel Wirkung haben, wenn du nicht über die Brennpunkte schreibst.« Welche Brennpunkte? »Du musst die Frauen fragen, was die Streitpunkte sind«, antwortete er, und genau das habe ich getan. Eine Nonne überraschte mich, indem sie die Konflikte knapp in zwei Worten zusammenfasste: »Sex und Sexismus.« Die Frauen redeten Klartext, und so sprachen wir nicht nur über Meditation und Mitgefühl, sondern auch über Macht und Missbrauch, Hingabe und Verführung, Glaube und Rebellion.
Jetsun Khandro Rinpoche in Amsterdam.
© Diana Blok
Die Kraft im Zentrum des Wirbelsturms
Mehr Energie in einem Meter fünfundfünfzig zu komprimieren ist unmöglich. Wie ein getunter, wendiger Kompaktwagen flitzt Khandro Rinpoche in Höchstgeschwindigkeit durch das Verizon Center in Washington, D.C.[22] Vor den Türen zum Plenum setzt sie zum Endspurt an, scheucht 175 freiwillige Helfer in Formation und verwandelt sie mit den resoluten Gesten einer erfahrenen Dirigentin in ein diszipliniertes Heer lächelnder Platzanweiser. Seit knapp einer Woche arbeiten sie fast rund um die Uhr, um den Besuch des Dalai Lama in Amerikas Hauptstadt in einen Erfolg zu verwandeln. Schlafmangel ist für Khandro Rinpoche keine Entschuldigung. »Da sein und helfen, wo auch immer, wann auch immer, wem auch immer«, so definiert sie Buddhismus in Aktion. Ohne zu zögern, springt die untersetzte Nonne einem übermüdeten Freiwilligen zur Seite, schnappt ihm eine Keksschachtel aus den Händen und verteilt die vom Dalai Lama gesegneten Kekse rasch selbst. »Ihr könnt 15000 Leute in elf Minuten schaffen«, feuert sie ihre Truppen an, klopft einer übernächtigten Assistentin aufmunternd auf den Rücken und hält einen Moment inne, um einer panischen Studentin beruhigend über die Wange zu streichen.
Warum aber zieht sich Khandro Rinpoche dann mit ihren Nonnen in den hinteren Teil der Arena zurück? Wieso setzt sie sich nicht auf die opulent geschmückte Bühne neben Seine Heiligkeit und die Dutzend anderen hochrangigen tibetischen Meister in ihren Festtagsgewändern? »Ach, auf der Bühne sitzen die Wohlerzogenen«, wehrt sie augenzwinkernd ab. »Ich beobachte gern die Leute und kommuniziere. Im hinteren Teil hört und erfährt man, was wirklich los ist!« Außerdem kann sie im Hintergrund ungestört mit ihrem iPhone hantieren und davonflitzen, um in Minutenschnelle 15000 rote Armbänder verteilen zu lassen. Ihre dunklen, wachen Knopfaugen verfolgen das Manöver mit einer Aufmerksamkeit, die zugleich laserscharf und doch gelassen ist.
Vielleicht sind die Hinterbänke tatsächlich der Ort, an dem Khandro Rinpoche am liebsten zur Hochform aufläuft: Sie zieht die Strippen, aber außerhalb des Rampenlichts. »Service« mag das Wort sein, das sie am häufigsten benutzt, doch statt es bloß zu predigen, lebt sie es. »Sie war früher wie eine AK47, zack-zack-zack, Sachen erledigen«, scherzt ihre Schwester Jetsun Dechen Paldron. »Sie glaubt, sie ist ruhiger geworden. Vielleicht ist sie jetzt konzentrierter, aber sie hat immer noch so viel Energie, dass sie fast platzt.«
Khandro Rinpoche jettet unaufhörlich zwischen dem Kloster ihres verstorbenen Vaters und ihren eigenen beiden Nonnenklöstern in Indien, ihrem amerikanischen Hauptsitz in den Shenandoah-Bergen von Virginia und einer stetig wachsenden Zahl von buddhistischen Gemeinschaften hin und her, die unbedingt von ihrer Weisheit profitieren wollen. Als wäre das noch nicht genug, hat sie auch eine ungewöhnlich große Zahl von sozialen Projekten angestoßen – für im Stich gelassene Leprakranke, Senioren und Straßenhunde in Indien bis hin zu Baumpflanzaktionen in Virginia. »Man kann anderen nicht helfen, wenn man eine einsame Insel ist«, sagte sie in einem Radio-Interview.[23] »Aus dieser Gesellschaft auszuscheren, die so sehr mit Selbstsucht beschäftigt ist, gleicht einem steilen Gipfelaufstieg.«
Jetsun Khandro Rinpoche ist eine der wenigen voll ausgebildeten weiblichen Rinpoches in der tibetischen Tradition. Dieser einzigartige Status verleiht ihr außergewöhnlichen Einfluss. Vor allem Frauen fühlen sich von ihrer starken, kämpferischen Ausstrahlung angezogen. »Es ist ungewöhnlich, eine Frau zu beobachten, die mit Macht so selbstverständlich umgeht und sie einsetzt«, hat eine amerikanische Nonne beobachtet, »aber sie tut es mit Güte und ist nie in Versuchung, auf einen Powertrip zu geraten.«
Khandro Rinpoches ungewöhnliche Position bringt es aber auch mit sich, dass sie mit Argusaugen beobachtet wird. Sie war sich der verstärkten Aufmerksamkeit von klein auf bewusst und beschloss früh, sich der Rolle als Vorreiterin nicht zu verweigern, sondern entschlossen vorauszumarschieren. »Wenn ich es vermassle, könnte ich es für viele Frauen vermasseln«, gibt sie offen zu und spricht wie viele weibliche Vorstandsvorsitzende, die in ihrer Vorreiterrolle einen zusätzlichen Druck spüren. »Als Frau kann man hundert Sachen perfekt erledigen, dann macht man einen Fehler, und jeder sagt: ›Siehste, hab ich doch gewusst, dass sie’s nicht schafft.‹ Das würde nicht nur meinen Weg beeinträchtigen, sondern auch das Vertrauen in die Tibeterinnen.« Es gibt keinen Anlass zur Sorge, denn das Gegenteil ist der Fall. Ihre unverdrossene Pionierarbeit veränderte die Sicht auf Frauen, vor allem Nonnen, in Asien und im Westen nachhaltig.
Khandro Rinpoche lernte die Kunst der buddhistischen Meditation fast von der Wiege auf. Sie wurde 1968 als Tsering Paldron (»Licht des Ruhmes und des langen Lebens«) geboren, als Tochter von Sangyum[8] Kusho Sonam Paldron und dem Elften Kyabjé Mindrolling Trichen, dem Oberhaupt der Alten Schule (Nyingma) des tibetischen Buddhismus. Er war im Alter von 29 Jahren vor dem Zugriff der Chinesen 1959 nach Kalimpong geflohen, einer verschlafenen, ehemals britischen Bergstation im indischen Teil des Himalaja. Als seine erste Tochter geboren wurde, ging er bereits vollends in der enormen Aufgabe auf, das Mindrolling-Kloster im Exil neu aufzubauen.
Wie viele tibetische Flüchtlinge der zweiten Generation hat Khandro Rinpoche vergeblich versucht, ihre eigentliche Heimat zu besuchen. Sie war noch nie in Tibet, hat noch nie das mächtige Kloster betreten, das über viele Jahrhunderte den Hauptsitz ihrer Familie und ihrer Tradition beherbergte. »Ich habe viele Male ein Visum beantragt«, sagt sie betont sachlich, »doch es wurde jedes Mal abgelehnt.«
Nur acht der einstmals florierenden 6000 Tempel und Klöster überdauerten die sogenannte Kulturrevolution der sechziger Jahre, alle anderen wurden zu Ruinen zerbombt oder geplündert. Einige hat man wieder aufgebaut, aber das kommunistische China behindert ein allzu aktives Klosterleben. Früher machten die Mönche und Nonnen ein Sechstel der Bevölkerung aus, nun kann schon der Besitz eines Fotos vom Dalai Lama mit jahrelanger Zwangsarbeit in einem der gefürchteten Arbeitslager bestraft werden. Durch den massiv forcierten Zuzug von Millionen Han-Chinesen sind die verbleibenden fünf bis sechs Millionen Tibeter zu einer Minderheit im eigenen Land geworden. Während sich nur noch wenige trauen, wie früher die heiligen Tempel zu umrunden, öffentlich ihre Gebetsmühlen kreisen zu lassen und die traditionellen Mantras zu wiederholen, lässt eine frische Generation enthusiastischer Buddhisten im Westen diese jahrhundertealten Rituale neu aufleben. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die chinesischen Kommunisten die weltweite Verbreitung des tibetischen Buddhismus anstoßen würden? Indem sie die Tibeter ins Exil zwangen, sorgten sie wider Willen für eine weit dynamischere Wiederbelebung der Tradition, als es sich die meisten Tibeter hätten erträumen können.
Neben ihrer Verantwortung für das Mindrolling-Kloster und ihre Nonnenklöster in Indien ist Khandro Rinpoche gleichzeitig eine der aktivsten und renommiertesten Lehrerinnen im Westen. Nachdem der Dalai Lama an diesem Nachmittag in Washington seine Lesung beendet hat, beeilen sich Tausende, einen Platz für Khandro Rinpoches Vortrag zu ergattern. Eigentlich war der Konferenzraum im Hilton Hotel für ihren Auftritt gebucht, aber der Andrang ist so groß, dass der Platz dort bei weitem nicht für die mehr als 2000 Interessierten ausgereicht hätte. Also errichteten die Organisatoren schnell eine Nebenbühne im riesigen Verizon Center.
Khandro Rinpoche rauscht inmitten eines Schwarms weiblicher Begleiterinnen herein, gemeinsam mit ihrer Schwester, mehreren Nonnen und freiwilligen Helferinnen. Sie ist körperlich die Kleinste von allen, aber ganz klar die treibende Kraft im Zentrum dieses Wirbelsturms.
»Ist es nicht wunderbar, zur Abwechslung mal eine weibliche Rinpoche zu sehen?«, fragt die amerikanische Nonne Tenzin Lhamo, eine der Organisatorinnen. Als Antwort bricht das Publikum spontan in Applaus und Bravorufe aus. Khandro Rinpoches Thema ist Bodhichitta, der altruistische Wunsch, zum Wohl aller Wesen Erleuchtung zu erlangen. Bodhichitta ist ein Sanskrit-Begriff und bedeutet wörtlich »erwachtes Herz«. Khandro Rinpoche holt die Idee sofort aus der Theorie in die Praxis. »Wir arbeiten hier nicht mit einem Begriff aus dem Sanskrit oder dem Tibetischen, sondern mit uns selbst, und zwar nicht in der fernen Zukunft, sondern hier und jetzt. Fragt euch!«, fordert sie energisch. »Lebe ich ein Leben, das dem Anliegen gewidmet ist, mein eigenes Wohlergehen und das Glück anderer zu vermehren?«
Eineinhalb Stunden lang brilliert Khandro Rinpoche in makellosem Englisch mit ihrer tiefen Einsicht in die buddhistische Weisheit. Sie spricht frei, ohne Notizen. Was der historische Buddha lehrte, hätte kaum geradliniger sein können, sagt sie. »Wenn du etwas willst, schaffe einfach die Ursachen dafür. Wenn du etwas nicht willst, schaffe die Voraussetzungen dafür nicht.« Es dauerte, scherzt sie, »nur« 2500 Jahre, dieses einfache Glücksrezept in »die komplizierteste Philosophie der Welt« zu verwandeln. Warum? Weil wir lieber unser Leben verlieren, als unsere Selbstsucht aufzugeben. Unsere ständigen Versuche, unsere Person als Ausnahme von der einfachen Logik des Altruismus zu betrachten, machte die spätere Explosion von Schriften, Ritualen, Mantras, Philosophien und einem Pantheon von Gottheiten nötig. Sie alle wurden erschaffen, um uns davon zu überzeugen, dass unsere besondere Art der Selbstsucht weder uns noch andere glücklich machen wird.
Khandro Rinpoche destilliert aus der facettenreichen Philosophie einen direkten, dringenden Aufruf zu handeln. Der erste Schritt: liebende Güte für sich selbst entwickeln. Dann erweitert man das eigene Herz mehr und mehr mit der weitreichenden Vision, das ultimative Wohlergehen aller Lebewesen zu fördern. Sie unterbricht ihre Ausführungen immer wieder mit herzhaften Scherzen und einem vollen, tiefen Lachen, das diese phänomenale Aufgabe, alle Wesen zu erleuchten, leichter erscheinen lässt. »Du kannst echtes Mitgefühl niemals verstehen, wenn du nicht freudvoll bist«, erklärt sie. »Einige verwechseln liebende Güte mit einem Dasein als Fußabstreifer. Freudvoll zu sein bedeutet, Wertschätzung empfinden zu können für etwas Gutes am Tag, an sich selbst, an anderen, in deinem Zuhause, an deinem Arbeitsplatz. So wird man offener.«
Was Khandro Rinpoche am Abend zuvor von ihrem Beobachtungsposten hinter den Kulissen gesehen hat, wird nun zum Zunder für ihre Rede. Nachdem der Dalai Lama die Bühne verlassen hatte, verwandelte sich die ruhige Zuhörerschar plötzlich in einen Mob. Als Gerüchte laut wurden, es gebe nicht mehr genügend vom Dalai Lama gesegnete Schutzbändchen für alle, stürmten die Zuschauer panisch nach vorn und schubsten sich gegenseitig aus dem Weg, um noch etwas von dem Segen abzubekommen. »Wie schön, dass euch die Idee von der liebenden Güte gefällt!«, hebt Khandro Rinpoche sanft an, um das drohende Donnergrollen abzumildern. »Aber ich fände es gut, wenn ihr liebende Güte nicht nur in Büchern schätzt.«
Die Menschen haben vielleicht einen sanfteren, »heiligeren« Vortrag von einer jungen Nonne erwartet, doch Khandro Rinpoche hält sich nicht zurück. »Lasst uns die Erleuchtung für alle Wesen mal einen Moment beiseitelegen«, sagt sie. »Lasst uns ernst machen: Können wir uns wenigstens eine Woche lang wie Menschen verhalten, die gerade die tiefgründigsten Lehren von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama erhalten haben?«
Ertappt. Unruhiges Gerutsche auf den Bänken. Stille.
Tenzin Lhamo, die fast dreißig Jahre Erfahrung als Psychotherapeutin hat, vergleicht Khandro Rinpoche mit einem geschickten Arzt, der intuitiv den wunden Punkt findet »und genau da draufdrückt, wo es weh tut, bis die Heilung einsetzt. Dann lässt sie los. Sie trifft mitten ins Schwarze!«
Khandro Rinpoche lacht oft, aber sie lächelt selten. Ihr Blick ist nicht unfreundlich, doch kompromisslos. Ihre Stimme ist nicht schneidend, lädt dennoch nicht zu Widerspruch ein. Was sie ihren Schülern abverlangt, ist nicht unmöglich, aber ganz sicher eine Herausforderung: Achtsamkeit bei allen Handlungen, immer. »Sie beobachtet mit laserscharfer Aufmerksamkeit«, sagt eine ihrer Schülerinnen, »und wenn sie einen dabei erwischt, dass man unfreundlich ist, wird sie den Finger darauflegen.« Vielleicht wird sie einen Schüler für einen Ausrutscher vor der versammelten Gruppe necken. »Ich bin streng«, gibt sie zu. »Wenn man die vielen Schichten der Sturheit der Schüler durchstoßen will, muss das Gegenmittel um ein Vielfaches stärker sein.« Und doch schimmert tiefes Mitgefühl durch ihre energische Entschlossenheit. »Viele Leute empfinden mich als einschüchternd. Dazu trägt die Hierarchie bei, das Protokoll.« Auch sie selbst wahrt einen gewissen Abstand. Im Unterschied zu anderen Lehrern würde sie nicht mit ihren Schülern in die Kneipe gehen. »Das Lehrer-Schüler-Verhältnis erfordert eine sehr feinfühlige Hand. Als Lehrer muss man den Glauben und das Vertrauen halten können.« Sie vergleicht ihre Aufgabe mit »einer piksenden Nadel, die aus einem Kissen ragt. Jemand muss die Lage immer ein wenig ungemütlich halten, damit sich nicht zu viel Behaglichkeit einschleicht.«[24]
Bei einem Vortrag in Pittsburgh fragte sie ein Zuhörer, warum ihre Tradition »rollender Geist« genannt werde, auf Englisch mind rolling.