108 Arten, dem Leben einen Sinn zu geben - Dr. Michaela Haas - E-Book

108 Arten, dem Leben einen Sinn zu geben E-Book

Dr. Michaela Haas

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Beschreibung

108 Essays, die Ihr Leben verändern können.  Die langjährige Kennerin asiatischer Spiritualität, Michaela Haas, kommentiert 108 Zitate aus Klassikern des O. W. Barth Verlags. Was gibt meinem Leben Sinn? Dies ist eine der wichtigsten Fragen, die wir uns stellen können. Thich Nhat Hanh, Jon Kabat-Zinn, BKS Iyengar und andere große Weisheits-Meisterinnen und -Meister, die im O. W. Barth Verlag publiziert wurden, haben überzeugende Antworten in ihrer eigenen Lebensreise gefunden.  Wofür lohnt es sich zu leben? Wofür stehe ich morgens auf?  Auf ihrem Streifzug durch 20 Bestseller aus der hundertjährigen Verlagsgeschichte von O. W. Barth sammelt Michaela Haas 108 Perlen der Weisheit, aufgeschnürt mit provozierenden Kommentaren zu Themen, die uns den Weg zu einem erfüllten Leben weisen: Achtsamkeit, Liebe, Weisheit, wie wir Widerstände überwinden und unser Potenzial entfalten. Sie destilliert in diesem Jubiläumsband die Einsichten großer Vordenker zu pragmatischen Lebenshilfen und verbindet das gelebte Weisheitswissen mit dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung. In zwölf Kapiteln diskutiert sie die Fragen, die man irgendwann in seinem Leben geklärt haben muss.

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Seitenzahl: 380

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Michaela Haas

108 Arten, dem Leben einen Sinn zu geben

Inspiriert von den großen Weisheitslehren

Knaur eBooks

Über dieses Buch

108 Essays, die Ihr Leben verändern können.

Die langjährige Kennerin asiatischer Spiritualität, Michaela Haas, kommentiert 108 Zitate aus Klassikern des O. W. Barth Verlags.

Was gibt meinem Leben Sinn? Dies ist eine der wichtigsten Fragen, die wir uns stellen können. Thich Nhat Hanh, Jon Kabat-Zinn, BKS Iyengar und andere große Weisheits-Meisterinnen und -Meister, die im O. W. Barth Verlag publiziert wurden, haben überzeugende Antworten in ihrer eigenen Lebensreise gefunden. 

Wofür lohnt es sich zu leben? Wofür stehe ich morgens auf?

Auf ihrem Streifzug durch 20 Bestseller aus der hundertjährigen Verlagsgeschichte von O. W. Barth sammelt Michaela Haas 108 Perlen der Weisheit, aufgeschnürt mit provozierenden Kommentaren zu Themen, die uns den Weg zu einem erfüllten Leben weisen: Achtsamkeit, Liebe, Weisheit, wie wir Widerstände überwinden und unser Potenzial entfalten. Sie destilliert in diesem Jubiläumsband die Einsichten großer Vordenker zu pragmatischen Lebenshilfen und verbindet das gelebte Weisheitswissen mit dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung. In zwölf Kapiteln diskutiert sie die Fragen, die man irgendwann in seinem Leben geklärt haben muss.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Vorwort: 108 Perlen einer Weisheitskette

1 Was jetzt?

2 Die Praxis der Achtsamkeit

3 Die Weisheit des Körpers

4MitGefühl MitMenschen

5 Durch Stürme segeln

6 Wer bin ich?

7 Wege zur Weisheit

8 Lehrer als Wegweiser

9 Was kommt danach?

10 Was ist meine Aufgabe?

11 Die Essenz des Glaubens

12 Die Kunst, glücklich zu sein

Glossar

Die Klassiker von O.W. Barth

Weitere Literatur

Vorwort: 108 Perlen einer Weisheitskette

Im Buddhismus wie im Hinduismus und anderen fernöstlichen Kulturen gilt die 108 als heilige Zahl. Deshalb hat die traditionelle Gebetskette (Sanskrit mala) 108 Perlen. Die Buddhisten sagen, die Zahl sei deshalb heilig, weil die Worte Buddhas ursprünglich in 108 Bänden gesammelt wurden. Im Hinduismus haben Gottheiten 108 Namen, die mit den Perlen abgezählt und rezitiert werden, und der 108-fache Sonnendurchmesser entspricht dem Abstand der Sonne von der Erde.

Wir nehmen diese fernöstlichen Traditionen zum Anlass, in diesem Buch 108 Perlen der Weisheit aufzuschnüren. Dafür habe ich 108 Zitate aus den zwanzig beliebtesten Büchern in O.W. Barths hundertjähriger Geschichte ausgewählt: 108 Arten, dem Leben einen Sinn zu geben, eingebettet in neue Essays und strukturiert in zwölf Kapitel – eines für jeden Monat, in dem der Mond einmal um die Erde kreist.

Was mich persönlich am Eintauchen in den reichen Schatz des Verlags so fasziniert, sind nicht nur die Tiefe der Einsichten und die Resonanz, die diese Bestseller bei Lesern und Leserinnen finden, sondern auch, dass viele der Erkenntnisse, die unsere Autoren und Autorinnen vor Jahrzehnten schon mitteilten, inzwischen durch wissenschaftliche Forschung bestätigt werden. Das gelebte Weisheitswissen ist traditionsreich und gleichzeitig hochaktuell.

Es gibt Themen, die sich wiederholen: Achtsamkeit, Liebe, Loslassen, Freiheit, Wege, wie wir Widerstände überwinden und unser Potenzial entfalten. Und doch liegt in den Variationen die Würze. Manchmal höre ich einen Satz erst wirklich, wenn er von Charlotte Joko Beck kommt, einer geschiedenen Mutter von vier Kindern; manchmal erkenne ich eine Einsicht erst in den Worten von Thich Nhat Hanh, dem vietnamesischen Zen-Mönch.

Die Autoren und Autorinnen sind alle Meister der fernöstlichen Weisheit und könnten doch kaum unterschiedlicher sein. Manche sind in einem katholischen Umfeld in Deutschland aufgewachsen, andere als Yogis in Indien. Manche, wie Eugen Herrigel, lernten die Zen-Praxis durch lange Aufenthalte in Japan kennen und machten sich in jahrelangen Versuchen damit vertraut; andere haben ihre Heimat nie verlassen. Aber für uns alle gilt:

Früher oder später sind wir alle gezwungen, uns hinzusetzen, über unser Leben nachzudenken und uns zu fragen, wer wir sind und worin der Sinn unseres Lebensweges in diesem Augenblick besteht.

Jon Kabat-Zinn, Im Alltag Ruhe finden, S. 97

Gehen Sie mit mir auf eine Reise durch hundert Jahre Weisheit, immer in dem Wissen, dass nicht in den Worten, sondern im Erleben die wahre Weisheit liegt.

1Was jetzt?

Die Wunder des Lebens berühren

Durch bewusstes Atmen berühren wir das Leben im gegenwärtigen Moment – es ist der einzige Moment, in dem wir das Leben berühren können.

Thich Nhat Hanh, Einfach präsent, S. 13

Hier. Jetzt.

 

Alle großen Denkerinnen und Denker sind sich einig, dass wir nur im Augenblick Erfüllung und Klarheit finden können, im Hier und Jetzt. Anders geht es ja gar nicht. Wir können weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft den Hebel ansetzen.

Wie ironisch, dass wir dabei Hilfe brauchen, wo wir gleichzeitig die Gegenwart nie verlassen können. Wabern unsere Gedanken doch hierhin und dorthin, springen voraus ins nächste Jahr oder Jahrzehnt und wieder zurück in die Kindheit oder ins Büro oder zu dem Streit gestern Abend.

Stopp. Halten Sie inne.

Wir wissen, dass die Forschungsreise ins Leben, gar ins Wozu und Warum, nur hier und jetzt beginnen und enden kann.

Als ich den Zen-Lehrer Thich Nhat Hanh (1926–2022) vor einigen Jahren an der University of California in San Diego sprechen hörte, funktionierte die Lautsprecheranlage im Auditorium nicht besonders gut. Ich hatte zuvor einige seiner mehr als hundert Bücher gelesen, darunter seine Weltbestseller über Meditation und Achtsamkeit. Weil der vietnamesische Mönch, der sich schon mit 16 Jahren ordinieren ließ, den Vietnamkrieg verurteilte und sowohl die katholische als auch später die kommunistische Regierung seines Heimatlandes kritisierte, musste er Vietnam 1966 verlassen und durfte erst knapp vierzig Jahre später zurückkehren.

Ich wusste, dass Martin Luther King jr. ihn für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen hatte. Aber was dann während der Veranstaltung den tiefsten Eindruck auf mich machte, waren nicht seine Worte. Thich Nhat Hanh – oder Thay, »Lehrer«, wie ihn seine Schüler nennen – sprach leise und langsam. In seiner dunkelbraunen Mönchsrobe, das Haupt glänzend glatt, saß er vor dem Mikrofon, eine schmächtige Gestalt, fast verschwindend in einem Menschenmeer. Hunderte von Zuhörern waren gekommen, um dem weltbekannten Zen-Mönch bei einem seiner seltenen Vorträge zu lauschen, aber die Lautsprecher zerhackten seine Weisheit. Nach den ersten zwanzig Minuten, in denen ich mich vergeblich anstrengte, verständliche Sätze aus den Lautfetzen zu entziffern, setzte ich mich frustriert im Schneidersitz an die Rückwand des Auditoriums und beschloss, einfach nur präsent zu sein.

Das war schließlich Thays Kernbotschaft an diesem Abend: »Die Kunst, glücklich zu sein, liegt darin, zu lernen, da zu sein, gänzlich präsent, bereit für deine eigenen Bedürfnisse und für die Bedürfnisse der dir Nahestehenden. Wenn du diesen ersten Schritt nicht tust, ist es sehr schwer, den zweiten zu tun. Hör auf zu rennen und gehe Schritt für Schritt.«

Ich verlangsamte meinen Atem. Ich atmete aus, und mit dem Atem ließ ich auch die Ungeduld los, seine kostbaren Worte kaum verstehen zu können. Ich hörte das Hüsteln der Menschenmenge. Das Knistern der Lautsprecher. Und ich sah: Thich Nhat Hanh vollkommen präsent, ganz in der Gegenwart. Er wog jede Silbe, aber sprach bestimmt. Ruhig, aber fest. Er pausierte, wenn er einen neuen Gedanken sammelte. Gemächlich verebbten seine Worte. Bedächtig griff er zum Glas Wasser, das vor ihm auf dem Podium stand, und mit der Aufmerksamkeit, als gebe es nichts Wichtigeres auf der Welt als dieses Glas, führte er es langsam zum Mund, nahm ein, zwei Schlucke und stellte es genauso langsam, genauso aufmerksam wieder an seinen Platz.

Das ist gelebte Achtsamkeit. Achtsamkeit in Aktion. Der erste Schritt und die Grundlage für alle weiteren Schritte.

Das ist es

Die Gelegenheit, auf die Sie gewartet haben, ist genau hier im gegenwärtigen Moment. Jeder Schritt ist diese Gelegenheit; jeder Atemzug ist diese Gelegenheit – eine Gelegenheit für uns, ins Jetzt zurückzukehren und unser endloses Umherwandern zu beenden, unser Warten auf den Tag, an dem wir endlich glücklich sein werden.

Der Tag, auf den du gewartet hast, ist heute; der Moment, auf den du gewartet hast, ist genau dieser Moment.

Wir müssen den Schleier von Zeit und Raum durchdringen, um ins Hier und Jetzt zu gelangen.

Ganz gleich, wie die Umstände sind, diese Gelegenheit ist für uns da. Im Jetzt werden wir finden, wonach wir gesucht haben.

Thich Nhat Hanh, Einfach präsent, S. 43

»Im Jetzt werden wir finden, wonach wir gesucht haben.« Der Satz klingt in mir nach.

Jetzt schwebt der Habicht vor meinem Fenster über dem Feld, bereit, sich auf den ersten Nager des Morgens zu stürzen. Jetzt kratzt mein Füller über das Papier, und ich höre die Nachbarskinder nach ihrer Katze rufen. Jetzt schnarcht mein Hund noch, bevor ihn das Schaben des Dosenöffners abrupt wecken wird. Jetzt hebt und senkt sich mein Brustkorb – einatmen, ausatmen – und schon ist er vorbei, der Moment. Ich habe mich in einem Tagtraum verloren. Jetzt bin ich wieder da. Präsent.

»Wollen wir die Realität unseres Lebens begreifen, solange wir es noch zu leben haben, müssen wir für unsere einzelnen Augenblicke wach sein«, schreibt der Meditationslehrer Jon Kabat-Zinn. »Andernfalls können ganze Tage, ja kann unser ganzes Leben unbemerkt, ungenutzt, ungelebt verstreichen.«1

Er zitiert Henry David Thoreau, der am Waldensee erkannte: »Nur der Tag bricht an, für den wir wach sind.«2 Wie oft lassen wir unser Leben einfach vorbeiziehen? Anders gefragt: Wie viele Momente, Stunden, Tage erleben wir wirklich, bewusst und voller Achtsamkeit?

 

Was mich bei meinen Reisen mit Anfang zwanzig in den Himalaja und entlegene Regionen Asiens am meisten faszinierte, war die Begegnung mit Menschen, die vollkommen präsent schienen. Es war ein verwirrender Kontrast zu den Menschen, die ich bis dahin bewundert hatte: Journalistenkollegen, Aktivistinnen, Entscheidungsträger, Schriftstellerinnen.

Als junge Reporterin hatte ich Minister und Vorstandsvorsitzende, kluge Denker und Philosophinnen interviewt, aber dann musste ich innehalten, als ich in Thailand und Nepal zum ersten Mal auf Menschen traf, die eine Präsenz ausstrahlten, wie sie mir bis dahin nie begegnet war.

Wenn ein Mensch vollkommen präsent ist, wie Thich Nhat Hanh, ist das ein ungewöhnlich intensives Erlebnis. Dann merke ich unwillkürlich, wie wenig präsent ich bin. Nimmt mich ein anderer wahr, spüre ich, wie wenig ich mich selbst wahrnehme. Spricht mein Gegenüber achtsam, rennt meine eigene Sprache weniger schnell davon.

Diese Begegnungen prägten mich so sehr, dass ich schließlich meinen Reporterjob bei der Süddeutschen Zeitung kündigte und 1996 für zwei Jahre nach Asien zog, nach Nepal und Nordindien, um die Kunst der Meditation und die Sprache der Tibeter zu erlernen.

Die Gipfel des Himalajas bilden eine würdige Kulisse für das Erlernen dieser jahrtausendealten Tradition. So klein ist das eigene Ego im Vergleich zu den eisbedeckten Achttausendern, dass viel Überheblichkeit von selbst wegfällt.

»Warum hast du es so eilig? Wo willst du hin? Bleib doch hier!«, lockte Lhamo, die junge tibetische Teppichweberin, bei der ich mir in Kathmandu ein Zimmer mit Dachterrasse mietete. Auf mein Argument, ich müsse zurück nach München, um zu arbeiten, antwortete sie mit einem Spruch, den ich später von Buddhisten noch öfters hörte: »Der vergangene Moment ist vergangen. Der künftige Augenblick ist noch nicht hier. Du kannst nur im Jetzt leben.« Ich war jung genug, um überredet zu werden, und blieb.

Aber natürlich muss man nicht nach Asien reisen, um Achtsamkeit zu finden. Sie ist immer da, immer in uns, jederzeit bereit, wenn wir nur unsere Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt richten.

Letztlich läuft alles darauf hinaus: Wohin auch immer wir gehen, da sind wir. Was immer wir tun: Es ist das, was wir tun. Was immer uns durch den Kopf geht: Es ist das, was wir jetzt denken. Was uns auch immer widerfahren sein mag: Es ist bereits geschehen. Die entscheidende Frage ist, wie wir sinnvoll damit umgehen, mit anderen Worten: »Was nun?«

Ob es uns gefällt oder nicht, der jetzige Augenblick ist das Einzige, womit wir arbeiten können. Und doch führen wir unser Leben häufig so, als würden wir von Mal zu Mal vergessen, dass wir dort sind, wo wir bereits sind, in der Situation, in der wir uns schon befinden. Augenblick für Augenblick stehen wir an der Wegkreuzung des Hier und Jetzt. Doch wenn sich die Wolke des Vergessens auf uns senkt, dann verirren wir uns genau in diesem Augenblick. »Was nun?« wird dann zu einem echten Problem.

Jon Kabat-Zinn, Im Alltag Ruhe finden, S. 17

Zuletzt traf ich Jon Kabat-Zinn in San Francisco bei dem internationalen Kongress Wisdom 2.0. Kabat-Zinn, vom Sakko bis zur Jeans ganz in Schwarz gekleidet und dank seiner täglichen Yogapraxis trotz seiner fast achtzig Jahre eine schlanke, sportliche Erscheinung, sprach langsam, bewusst und engagiert vor den fast 3000 Zuhörenden. Er ist eine Art graue Eminenz der Achtsamkeitsforschung. Der Arzt und Medizinprofessor hat in über fünf Jahrzehnten Methoden perfektioniert, Achtsamkeitsmeditation zu lehren, und zwar für Menschen mit den verschiedensten Biografien und Glaubensrichtungen.

Dennoch widerspricht er, wenn er wie in San Francisco ehrfurchtsvoll als »Lehrer der Lehrer« vorgestellt wird. »Als Erstes möchte ich klarstellen, dass keiner von uns wirklich Achtsamkeit lehren kann«, sagte er bescheiden. »Das Paradox ist, dass Achtsamkeit unendlich verfügbar und ganz nah ist. Sie ist grenzenlos. Und gleichzeitig fällt es uns Menschen so schwer, uns mit ihr zu verbinden. Warum? Weil wir es so gewohnt sind, uns selbst im Weg zu stehen.«3

Der gebürtige New Yorker promovierte ursprünglich in Molekularbiologie am renommierten Massachusetts Institute of Technology bei Boston und fand über die Friedensbewegung im Widerstand gegen den Vietnamkrieg zum Zen-Buddhismus. Der aus einer jüdischen Familie stammende Kabat-Zinn lernte Meditation unter anderem von den Zen-Meistern Philip Kapleau und Thich Nhat Hanh und wird deshalb oft für einen Buddhisten gehalten.

Aber er selbst sagt: »Ich bin kein Buddhist, auch wenn Leute das oft auf mich projizieren. Ich identifiziere mich einfach als Mensch. Denn Ismen bringen oft Dualismus mit sich, wir und die, Buddhisten und Nicht-Buddhisten. Man könnte sagen, dass der Buddha selbst kein Buddhist war. Er war ein Experimentierender, ein Analytiker, ein Yogi.«

Experimentierender, Analytiker, Yogi – das trifft auch auf Kabat-Zinn zu. Der Arzt experimentierte mit Achtsamkeitsmeditation, analysierte ihre Wirkung mit wissenschaftlichen und medizinischen Methoden, studierte mit Meditationslehrern verschiedenster Traditionen und wurde zum überzeugten Yogi. »Achtsamkeit ist unser fundamentales Erbe als Menschen«, sagt er, »und gleichzeitig gibt es eine lange Tradition des Praktizierens, vor allem im Buddhismus.«

Die meisten Zitate in diesem Buch stammen aus seinen beiden ersten und bekanntesten Büchern. Gesund durch Meditation erschien im Englischen 1990 unter dem Titel Full Catastrophe Living mit einem Vorwort von Thich Nhat Hanh, und sein zweites Buch, Im Alltag Ruhe finden, wurde 1994 auf Englisch unter dem Titel Wherever You Go, There You Are veröffentlicht. Beide Bücher wurden Bestseller und machten Kabat-Zinn schlagartig bekannt. Sie halfen ihm, säkuläre Achtsamkeitsmeditationen in Krankenhäuser und Hospize, Schulen und sogar in das amerikanische Militär zu tragen. Mehr als die Hälfte aller US-amerikanischen Kliniken und Universitäten bieten heute Kurse an, die auf seiner Methode basieren – der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion, oft abgekürzt als MBSR (vom englischen Mindfulness-Based Stress Reduction).

Er befreite Achtsamkeitsmeditation von religiösen Aspekten und war maßgeblich daran beteiligt, ihre wissenschaftlichen Grundlagen zu erforschen. 1979 gründete der Medizinprofessor die »Stressreduktions-Klinik« an der University of Massachusetts. Er wollte eigentlich untersuchen, ob Achtsamkeit einen Beitrag dabei leisten könnte, Schmerzpatienten zu helfen. Sein Programm war anfangs für Patienten gedacht, die als »austherapiert« galten: Krebserkrankte, Veteranen, Trauma-Patienten. Die Heilungserfolge der achtwöchigen Kurse waren so überzeugend, dass er und seine Mithelfer das Training bald ausweiteten und auf verschiedene Krankheitsbilder zuschnitten, unter anderem für Psoriasis-Patienten und Suchtkranke.

Gleichzeitig geht es in seinem Ansatz um mehr als bloß um die körperliche Heilung: »Für mich ist die echte Frage: Was bedeutet es, das Dasein als Mensch voll auszuschöpfen?«, sagt Kabat-Zinn. »Meditationspraxis spielt eine enorme Rolle dabei. Es ist ein großes Tor für das Abenteuer, herauszufinden, wer du bist und was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Am Ende des Tages geht es bei Achtsamkeit um Weisheit, darum, was wirklich, wirklich wahr ist, von dem zu unterscheiden, was bloßer Schein ist oder woran man festhält, weil man will, dass es wahr ist.«4

Um wirklich in Kontakt mit unserem Hier und Jetzt zu sein – welcher Art es auch sein mag –, müssen wir so lange im Erleben verweilen, bis der gegenwärtige Augenblick in uns einsinken kann – so lange, bis wir ihn wirklich spüren und seiner gewahr werden, um ihn in seiner ganzen Fülle zu erfahren und uns darin niederzulassen. Nur so können wir ihn besser kennenlernen, von innen heraus verstehen und wahrhaft wertschätzen. Erst dann können wir diesen Augenblick unseres Lebens in seiner Wahrheit akzeptieren, von ihm lernen und unseren Weg fortsetzen. […]

 

Um unseren Weg zu finden, müssen wir lernen, dem gegenwärtigen Augenblick mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Er allein bietet uns die Möglichkeit, zu leben, zu wachsen, zu fühlen und uns zu verwandeln.

Jon Kabat-Zinn, Im Alltag Ruhe finden, S. 17–19

Kabat-Zinn hat Achtsamkeit genau definiert: als »die Bewusstheit, die sich durch gerichtete, nicht wertende Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einstellt«. Er warnt: »Gewahrsein ist nicht dasselbe wie Denken.«5

 

Die Erfahrung, die ich als Meditationsanfängerin machte, teile ich mit vielen: Wenn wir uns erstmals zur Meditation hinsetzen, werden wir uns bewusst, welche Wertungsmaschinerie in unserem Gehirn läuft, der Oberste Gerichtshof unseres Egos. Unaufhörlich urteilen wir, auch über uns (»Alle anderen meditieren friedlich, und du kriegst nicht einmal das hin!«).

»Wir alle besitzen die Fähigkeit zur Achtsamkeit«, schreibt Kabat-Zinn. »Um sie zu entwickeln, müssen wir uns lediglich darin üben, der Gegenwart unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden, ohne zu urteilen – zumindest aber uns dessen bewusst zu werden, wie sehr unsere Wahrnehmung für gewöhnlich von Urteilen bestimmt ist. Eine Möglichkeit, sich diesen Wandlungsprozess zu veranschaulichen, besteht darin, die Achtsamkeit mit einer Sammellinse zu vergleichen, die die diffusen und impulsgesteuerten Aktivitäten und Reaktionen des Geistes zusammenführt und sie zu einer einzigen Energiequelle bündelt, die uns so für unser Leben, zur Lösung unserer Probleme und zur Selbstheilung zur Verfügung steht.«6

Kürzlich las ich im Guardian, Achtsamkeitsmeditation sei »ein populärer Lifehack«. Ich stutzte und musste schmunzeln. Ich bin wie Kabat-Zinn davon überzeugt, dass Präsenz viel mehr ist als eine Technik oder ein Trick. Sie ist unser natürlicher Seinszustand.

Kabat-Zinn schreibt der Pflege der Aufmerksamkeit eine heilende und transformative Kraft zu, weil sie uns hilft, zu uns zurückzufinden. In Kabat-Zinns Worten: Sie birgt das Potenzial der Erschließung »ur-menschliche[r] Ressourcen, die in der Tiefe unseres Wesen verborgen sind. […] Wir können uns diese Ressourcen erschließen und nutzbar machen, Ressourcen, die uns erlauben, unser Leben zu transformieren.«7

Während meiner jahrzehntelangen eigenen Meditationspraxis und »weltlichen« Arbeit habe ich gelernt, die Übung der Achtsamkeit als einen radikalen Akt zu begreifen – als eine radikale Maßnahme mentaler Gesundung, des Mitgefühls mit sich selbst und letztlich der Liebe. Dazu gehört die Bereitschaft, sich selbst zu begegnen, mehr im gegenwärtigen Augenblick zu leben, von Zeit zu Zeit innezuhalten und einfach zu sein, anstatt sich in endlosem Tun zu verausgaben und darüber zu vergessen, wer der Urheber all dieses Tuns ist und welchem Sinn es eigentlich dient. Es hat damit zu tun, unsere Gedanken nicht einfach für bare Münze zu nehmen und uns nicht ohne Weiteres den Gefühlsstürmen hinzugeben, die häufig genug nur den Schmerz und eigenes wie fremdes Leid vergrößern. Diese Einstellung dem Leben gegenüber stellt in der Tat auf jeder Ebene einen radikalen Akt der Liebe dar. Es gehört zur Schönheit dieser Haltung, dass sie von uns keinerlei Tun verlangt, sondern lediglich, dass wir aufmerksam, wach und bewusst sind – Dimensionen des Seins, die immer schon das ausmachen, wer und was wir sind.

Jon Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation, S. 21–22

Der achtwöchige Kurs in achtsamkeitsbasierter Stressreduktion, der Jon Kabat-Zinn bekannt gemacht hat, beginnt mit einer scheinbar einfachen Übung. Christiane Wolf, die Instruktorin des Meditationskurses am InsightLA im kalifornischen Santa Monica (auch sie übrigens von Beruf Ärztin), teilt an die zwanzig Teilnehmenden Rosinen aus. Die Anleitung ist ganz simpel: Alle Sinne nutzen.

Jeder von uns nimmt drei Rosinen in die Handfläche. »Betrachtet sie, als sei das ganz neu; als hättet ihr noch nie zuvor so etwas gesehen«, leitet Wolf uns an. »Welche Farbe haben sie? Welche Konsistenz? Wie fühlt sich die Oberfläche an? Wie viel wiegen sie?«

Es fühlt sich ungewöhnlich an, drei schrumpelige Früchtchen in der Hand zu halten, bis sie warm werden, anstatt sie direkt zu verspeisen.

Eine Teilnehmerin hat unwillkürlich die erste Rosine sofort in den Mund gesteckt und verschluckt. »Huch, das ging ganz automatisch«, sagt sie und klingt etwas erschrocken über sich selbst. Wolf gibt ihr eine neue Rosine.

Jede Rosine hat eine einzigartige Oberfläche, eine tiefrote Kraterlandschaft mit Schluchten und Falten. Wir nutzen all unsere Sinne, beobachten, riechen, fühlen, horchen. Wie riecht die Frucht? Fühlt sie sich trocken an? Hören wir einen leisen Laut, wenn wir die Rosinen in der Hand rollen oder zusammendrücken?

Achtsam führe ich die Hand zu den Lippen und nehme die erste Rosine in den Mund. Aber ich schlucke sie nicht, spüre sie nur, die warme, weiche Frucht, lasse sie auf der Zunge ein wenig Achterbahn fahren, bevor ich beginne zu kauen. Die Zunge, die Zähne, die Geschmacksnerven. Unglaublich, wie intensiv eine Rosine schmecken kann!

Was wäre, wenn wir diese Form der Achtsamkeit bei jeder Mahlzeit üben könnten?

Achtsamkeit bewirkt noch etwas: Äußere Zwänge verblassen. In gewisser Weise entdecken wir uns neu, unser Innerstes, das, was wir wirklich wollen. Wir besinnen uns auf uns selbst, allerdings nicht in einer egoistischen Weise. Es gehört für mich zu den faszinierendsten und wichtigsten Aspekten der Achtsamkeit, dass wir sie zwar zur Eigenschau nutzen, sie aber gleichzeitig das Ego schwächt. Denn wenn wir nach innen schauen, entblößen wir gleichzeitig die Essenz des Lebens, die uns mit allen anderen Lebewesen verbindet.

»Innere Stille, Einsicht und Weisheit entstehen nur, wenn wir uns erlauben, uns in diesem Augenblick in der Ganzheit unseres Seins zu überlassen, so wie wir sind, ohne etwas erstreben, an etwas festhalten oder etwas zurückweisen zu müssen«, schreibt Kabat-Zinn. »Dies ist eine These, die Sie selbst überprüfen können. Probieren Sie es einfach mal aus. Schauen Sie, wenn ein Teil von Ihnen an etwas festhalten will, ob das Loslassen nicht eine tiefere Befriedigung mit sich bringt als das Festhalten.«8

Und was hat das mit dem Sinn des Lebens zu tun?

In diesem Buch geht es um Sie, um Ihr Leben. Es geht um Ihren Geist, um Ihren Körper und ganz konkret um die Frage, wie Sie lernen können, beiden gegenüber eine sinnvollere Einstellung zu gewinnen. Zur Übung der Achtsamkeit gehört es, das, was aufgrund unseres Menschseins schon jetzt schön, heil und ganz in uns ist, zu erkennen, zu würdigen und für uns zu nutzen. Achtsamkeit lehrt uns, uns dieser Qualitäten zu bedienen, um aus ihnen heraus unser Leben zu leben, im Bewusstsein, dass wirklich zählt, wie wir unsere Beziehung zu dem gestalten, was immer uns begegnet.

[…] Denn während wir die Segnungen einer 24-Stunden-Vernetztheit erfahren, die uns erlaubt, überall und jederzeit mit aller Welt in Verbindung zu treten, machen wir paradoxerweise zugleich die Erfahrung, dass es noch nie so schwierig war, mit uns selbst und unserer inneren Welt in Kontakt zu kommen. Und damit nicht genug: Wir haben immer weniger Zeit für die Begegnung mit uns selbst, obwohl jedem von uns nach wie vor 24 Stunden am Tag zur Verfügung stehen. Wir füllen diese Stunden mit so viel Tun aus, dass uns kaum mehr Zeit zum Sein bleibt.

Jon Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation, S. 24–25

In der buddhistischen Philosophie gibt es das Konzept des Multitaskings nicht. Es scheint uns so, als könnten wir gleichzeitig fernsehen und unserem Partner zuhören, aber wenn wir uns wirklich fokussieren, dann jeweils nur auf einen Sinneseindruck.

Interessant, dass Neurowissenschaftler genau das inzwischen bestätigen. Wenn wir denken, wir könnten zwei oder mehr Sachen auf einmal erledigen, springt in Wahrheit unsere Aufmerksamkeit nur blitzschnell hin und her. Versuchen Sie einfach mal, eine anspruchsvolle E-Mail während eines intensiven Telefonats zu schreiben – klappt nicht. Wenn wir lesen, lesen wir. Wenn wir hinhören, hören wir. Wenn wir riechen, füllt der Duft unsere Sinne.

Natürlich können wir Auto fahren und dabei gleichzeitig die Kupplung treten und der Wettervorhersage zuhören. Der rechte Fuß presst das Gaspedal, während die linke Hand den Blinker setzt. Das geht schon. Wir haben auf Autopilot geschaltet – oder unsere motorische Erinnerung aktiviert, wie Neurowissenschaftler sagen – und sind gleichzeitig mit den Gedanken schon in der Bürobesprechung.

Aber wenn wir uns wirklich auf eine Sache konzentrieren, dominiert ein Sinn. Unser präfrontaler Kortex agiert als eine Art Ampel, die immer nur einen Wagen nach dem anderen pro Grünphase durchlassen kann. Das Experiment kann jeder leicht selbst machen. Mir wurde es schlagartig klar, als ich versuchte, meine Fahrten ins Büro zu nutzen, eine neue Sprache zu lernen. Die 45 Minuten Fahrtweg könnte ich gut darauf verwenden, um jeden Morgen ein halbes Dutzend Vokabeln und Redewendungen zu lernen. Dachte ich.

Nie war ich eine unaufmerksamere Fahrerin als während dieses Versuchs. Ständig lief ich Gefahr, eine Ampel oder einen Linksabbieger zu übersehen. Nach zwei Wochen gab ich es auf; es war einfach zu gefährlich. Klar kann ich Rod Stewart mitsingen, wenn ein Lied von ihm im Autoradio läuft, aber meinem Gehirn Vokabeln einzuprägen, während ich im dreispurigen Verkehr manövriere, ist eindeutig nicht drin.

Neurowissenschaftler bestätigen, dass vermeintliches Multitasking uns nicht effektiver, sondern ineffektiver macht.9 Während wir versuchen, ein halbes Dutzend Dinge auf einmal zu erledigen, sind wir tatsächlich insgesamt langsamer, als wenn wir uns auf jeweils eine Sache konzentrierten. Außerdem machen wir nachweisbar beim Multitasking mehr Fehler – die dann zeitraubend wieder korrigiert werden müssen.

Der Psychologe Timothy Wilson von der University of Virginia stellte fest, dass unsere Gehirne zwar mit bis zu elf Millionen Informationen und Sinneseindrücken pro Sekunde überflutet werden, wir aber maximal vierzig Eindrücke pro Sekunde verarbeiten können.10

Das wusste ich nicht, als ich zum ersten Mal in die Wüste fuhr, aber ich spürte es. Für einen WDR-Dokumentarfilm durchquerte ich mit Anfang zwanzig die Sahara. Es war meine erste Erfahrung mit einer tiefen Stille, wie ich sie später nur in der Achtsamkeitsmeditation fand. Eintönig ratterten die Räder unseres Jeeps über die Wüstenpisten, aber ansonsten sah ich vier Wochen lang nur Sand und Weite, Himmel und Dünen. Kein Telefon, keinen Fernseher, keine Schlagzeilen. Vereinzelt tauchten Nomaden und Ziegen am Horizont auf, und in unregelmäßigen Abständen Baracken mit Soldaten, Überbleibsel vom letzten Krieg. Aber den Rest der Zeit, fast 24 Stunden am Tag, füllten nur Stille und Weite meine Sinne.

Nachts streckte ich meinen Kopf aus dem Zelt, um die Sterne zu sehen und mich im Nachthimmel zu verlieren. Das Abendprogramm war jede Nacht das gleiche: der Große Wagen, die Venus, einige Sternschnuppen. Nie schienen die Planeten näher als hier, in der Wüste, die nächste Stadt mehrere Tage Fahrt entfernt. Nach einer Woche wurde mir erstmals bewusst, wie die Abwesenheit äußerer Ablenkungen mein Bewusstsein veränderte. Ich wurde klarer, fokussierter.

Durch das Fehlen von Stimuli beruhigt sich der wilde Geist ganz von selbst. Es gab Gefahrenmomente, einige davon sogar wirklich bedrohlich, schließlich waren wir im krisengeplagten Tschad unterwegs – ein Überfall, Kindersoldaten mit Maschinengewehren, verminte Gebiete –, und doch war mein Geist nie ruhiger als da.

So richtig bewusst wurde mir die Veränderung, als wir in Tschads Hauptstadt N’Djamena eintrafen. In der Millionenstadt warteten all die vielen Ablenker, die ich einige Wochen lang vergessen durfte: Plakatwände, Motorräder, Kamele, Ampeln – alles blinkte, hupte und rief: »Hör mich! Sieh mich! Hier rüber!«

Diese Wochen in der Wüste waren meine erste eigene Erfahrung einer Weisheit, die ich später von Meditationslehrern hörte: Der Buddha verglich den aufgeregten Geist mit aufgewühltem, sandigem Wasser. Wenn ein Gefäß mit schlammigem Wasser unbewegt bleibt und der Inhalt zur Ruhe kommt, setzt sich der Schlamm und das Wasser wird klar.

Es ist eine Tatsache, der wir meist viel zu wenig Beachtung schenken: Wenn wir bewusst im gegenwärtigen Augenblick leben – der allein Realität besitzt –, so wird dies Auswirkungen auf den ihm folgenden Moment haben, und dies wiederum wird sich, vorausgesetzt, es gelingt uns, diesen Prozess aufrechtzuerhalten, auf die Zukunft, unsere Lebensqualität und unsere Beziehung zu anderen Menschen auswirken. Das einzige Mittel, auf die Gestaltung der Zukunft Einfluss zu nehmen, besteht darin, sich die Gegenwart zu eigen zu machen, wie immer sie sich uns darstellen mag.

Wenn wir ganz im Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks aufgehen, dann wird der kommende Augenblick eine ganz andere Qualität haben, weil wir im Jetzt präsent sind. So können wir kreative Wege zu einer Lebensführung entdecken, die wirklich dem Leben entspricht, das zu führen uns aufgegeben ist.

Jon Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation, S. 26

Was ist das Leben, das zu führen mir aufgegeben ist? Das ist die Kernfrage dieses Buches, der rote Faden, der sich durch die Auszüge aus diesen Bestsellern zieht. Wie oft oder wie selten stellen wir uns diese Frage? Wie oft nehmen wir uns die Zeit, wirklich innezuhalten und darüber nachzudenken:

Wofür lebe ich?

Was sind meine Grundwerte?

Was motiviert mich jenseits der praktischen Anforderungen meines Körpers/meines Haushalts/meiner Familie/meines Berufs?

Eingebunden in das tägliche Tauziehen zwischen Stromrechnung und Chef, Krankenbett und Kinderspielplatz scheinen mir diese Fragen wie eine fundamentale Notwendigkeit und ein Luxus zugleich. Wie wohltuend, dass die Meditationslehrer uns nicht mit abgehobenen, zutiefst unrealistischen und unerreichbaren Traumschlössern locken, sondern mit Antworten, die ins Hier und Jetzt führen.

Es gibt nur eine Sache, die wir wissen müssen. Und die ist sehr einfach.

Als Menschen, die ihr Leben voll und ganz erleben wollen, sollten wir bei jeder einzelnen Erfahrung aufmerksam sein.

Dafür müssen wir nichts anderes tun, als zu beginnen, zu sein, was und wer wir wirklich sind – nicht mehr und nicht weniger. Das braucht Mut, denn es liegt jenseits all unserer bisherigen Vorstellungen davon, wie wir mit dem Leben umgehen sollten, und der Mechanismen, diese Vorstellungen umzusetzen. Das klingt zauberhaft, oder? Auf keinen Fall! Denn um zu sein, wer wir wirklich sind, müssen wir zum Beispiel, wenn wir aufgrund einer bestimmten Angelegenheit aufgebracht sind – uns verletzt fühlen oder ärgerlich sind –, die entsprechenden Gefühle auch zulassen und empfinden. […]

Doch wenn wir wirklich empfinden, was und wie wir sind, wie immer es im gegenwärtigen Augenblick aussehen mag, gewinnen wir an Freiheit.

Charlotte Joko Beck, Zen und das alltägliche Wunder, S. 27

Beim ersten Satz dieses Zitats kann ich Charlotte Joko Beck vielleicht noch zustimmen, beim zweiten entfährt mir ein leicht verzweifelt glucksender Seufzer. So einfach ist das nicht, »bei jeder einzelnen Erfahrung aufmerksam« zu sein. Als ich das erste Mal – gänzlich unvorbereitet und voller naivem Enthusiasmus – mit 23 Jahren an einem zehntägigen Schweigeretreat in einem thailändischen Kloster teilnahm, stellte ich schnell fest, wie viel Mut man braucht, um wirklich mit jeder Empfindung präsent zu sein.

Nichts leichter als ein- und auszuatmen; wir tun es ja die ganze Zeit. Und doch ist kaum etwas schwieriger, als es mit Achtsamkeit zu tun.

Mit Anfang zwanzig hatte ich in einem Reiseführer gelesen, ein buddhistisches Kloster in Thailand biete zehntägige Meditationsretreats an. Ohne Anmeldung. Jeder könne einfach am Ersten jeden Monats dort auftauchen und gegen eine Spende mitmachen. Ich weiß auch nicht mehr, was mich damals geritten hat, jedenfalls nutzte ich die Semesterferien, um einen Flug nach Bangkok zu buchen.

Ich erhoffte mir eine erholsame Woche im Dschungel. Ich dachte, ich würde dort Gleichgesinnte treffen, junge Sinnsucher wie ich, und wir würden gemeinsam eine gute Zeit verbringen. Einatmen, ausatmen, präsent sein – das klang himmlisch und ein wenig romantisch, genau die richtige Auszeit, die ich vom Studium und meinem hektischen Nebenjob als Reporterin brauchte.

Mein Leben war damals schon recht durchgetaktet, und ich kam am Letzten des Monats am flirrend geschäftigen Flughafen in Bangkok an, stieg gleich in den Zug gen Süden und nahm vom Bahnhof aus den Bus zum Kloster, genau wie es im Reiseführer stand.

Als ich im Kloster eintraf, war es schon stockdunkel, kurz vor Mitternacht. Ich hatte die Gruppen-Einführung versäumt; ein einzelner kahl geschorener Mönch in seiner leuchtend orangefarbenen Robe war noch wach. Stumm deutete er auf die ausgehängte Tagesordnung. Punkt 1: Schweigen. Hm, im Reiseführer hatte nicht gestanden, dass wir zehn Tage lang kein Wort reden sollten.

Punkt 2: Um 4.30 morgens Weckruf mit einem Gong, dann von 5 bis 6.30 Uhr Yoga. 7 Uhr vegetarisches Frühstück. 8 bis 10 Uhr Sitzmeditation. 10.30 bis 11.30 Uhr Gehmeditation. 11.30 Uhr vegetarisches Mittagessen. 13 bis 15 Uhr Sitzmeditation. 15.30 bis 16.30 Gehmeditation. Tee. 17 bis 19 Uhr Sitzmeditation. 19.30 bis 20.30 Uhr Gehmeditation. Dann Nachtruhe, soweit sie auf der dünnen Strohmatte auf nacktem Beton in meiner Zelle zu finden war.

Der Abt unterwies uns am nächsten Morgen in der scheinbar einfachsten aller Meditationsformen: Wir sollten einfach nur unseren Atem beobachten, einatmen, ausatmen. (»Achtsamkeit auf den Atem«, in der alten Sprache des Pali, in der die Worte des historischen Buddhas erstmals aufgezeichnet wurden, Anapanasati genannt.) Ohne uns zu bewegen. Das Unbehagen in unseren Knien und Rückenmuskeln einfach aushalten, wegatmen. Tja. Gute zehn Stunden am Tag zu meditieren ist höllisch, wenn man es nie zuvor geübt hat.

Die Flüche, die mein Gehirn in die Stille hinein ausstieß, kann ich hier unmöglich wiedergeben, nur so viel: Mensch, war das hart! Während die gut zwanzig anderen Teilnehmer ruhig im Schneidersitz auf der hölzernen Plattform saßen, fuhren meine Gedanken Karussell, meine Kniegelenke schrien um Hilfe, und ich verfluchte mich, den Abt und den verdammten Reiseführer.

Meine Gedanken rasten hierhin und dorthin. Plötzlich zehn Stunden am Tag nichts zu tun, kann verdammt anstrengend sein. Vor allem, wenn man, wie für thailändische Mönche üblich, nach 12 Uhr mittags nichts mehr zu essen bekommt und dann auch noch der Magen knurrt. Die lebensgroße, steinerne Buddhastatue auf dem schlichten Tempelaltar schien mir wie eine Karikatur, in Fels erstarrt, um mich zu verhöhnen. Nur wer aus Stein ist, kann so unbewegt sitzen, dachte ich.

Zumal gerade Monsunzeit war und die Stechmücken uns reglose Möchtegernmeditierer mit einem Gratis-Buffet verwechselten. Sie stachen sogar durch meine Jeans, und nach fünf Tagen sah ich aus wie ein Fliegenpilz, geschwollen und rot.

Ich schiebe es auf meine jugendliche Dummheit: Wie bei allen anderen Tätigkeiten auch, wäre es sinnvoll gewesen, mit dem Üben in halbstündigen Sitzungen anzufangen, nicht mit einem zehntägigen Marathon. Man meldet sich ja auch nicht für den Ironman an, wenn man nicht mindestens jeden Morgen ausdauernd joggt.

Aber ich lernte eine Lektion fürs Leben: Wie wenig Kontrolle ich über meine eigenen Gedanken hatte. Wie wenig ich mich kannte. Wie schwer es war, tatsächlich in jedem Augenblick präsent zu sein.

Nach einer Woche hielt ich es nicht mehr aus, und ich flüchtete mit einem anderen, schwer gebrandmarkten Moskito-Opfer im nächsten Bus auf die Partyinsel Koh Phangan. Dort boten die Strandrestaurants das Vehikel für die paradiesischen Zustände an, die ich mir vom Münchner Wohnzimmer aus erträumt hatte. Sie führten zwei Speisekarten, eine fürs Essen und eine andere für Drogen. Von Cannabis bis Psilocybin und LSD war alles zu haben. Wer eine Pizza mit Pilzen bestellte, wurde vom Kellner gefragt, ob man Pilze oder, Augenzwinkern, »Pilze« wolle. So fand ich doch noch, was ich mir von der Reise erhofft hatte: die Illusion von Glück.

Zurück in München, meldete ich mich für zwei Kurse an, Iyengar Yoga und Meditation, und ich begann, jeden Morgen zu üben.

Achtsamkeit und Glück sind miteinander verbunden

Achtsamkeit ist das Wunder, das unseren zerstreuten Geist wieder zusammenfügt und sammelt, damit wir jeden Moment des Lebens voll leben können.

Achtsamkeit bringt Konzentration hervor, und Konzentration führt zu Einsicht.

Wenn Sie beim Trinken einer Tasse Tee mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit dabei sind, dann wird es Ihnen große Freude bereiten, den Tee zu trinken.

Achtsamkeit und Konzentration führen nicht nur zu Einsicht, sondern auch zu Glück.

Thich Nhat Hanh, Einfach präsent, S. 9

Als Buddha Shakyamuni vom »Affengeist«, engl. Monkey Mind, sprach, also von unseren Gedanken, die wie Affen im Affenhaus hin und her springen, hatte er noch nicht einmal unseren modernen Alltag mit Instagram, Slack usw. vor Augen.

Der US-amerikanische Informatikprofessor Cal Newport hat gemessen, dass wir während der Arbeit im Durchschnitt alle zwölf Sekunden vom akustischen Signal einer digitalen Benachrichtigung abgelenkt werden. Nach jeder Unterbrechung braucht unser Gehirn aber gut zwanzig Minuten, um sich wieder zu fokussieren. Wenn wir uns nicht ganz bewusst längere Phasen ohne Ablenkung gönnen, dringen wir nie zu den tieferen Schichten unserer Konzentration vor.

Obwohl mein erster Versuch eines Meditationsretreats in Thailand eine Katastrophe war, habe ich seitdem viele Retreats gemacht, oft ganz allein und schweigend. Wochen, Monate, sogar einmal ein ganzes Jahr in der Abgeschiedenheit der Rocky Mountains in Colorado.

In einer einfachen Hütte, ohne fließendes Wasser und nur mit einem Solarpanel auf dem Dach, hatte ich alles, was ich zum Meditieren brauchte. Vor mir lag das weiteste Tal der Welt; unter der charakteristisch roten Erde schlummerten heiße Geiser, und in der Ferne schimmerten die schneebedeckten Gipfel des Sangre-de-Christo-Gebirges.

Ich musste jeden Tropfen Wasser, den ich trank oder zum Waschen vergoss, selbst in einem Kanister auf dem Rücken von der Quelle in meine Hütte tragen. Das allein schärft die Achtsamkeit schon ungemein! Was glauben Sie, wie kostbar Wasser wird, wenn man jeden Liter selbst getragen hat?

Durch das Fehlen aller künstlichen Stimuli merke ich immer erst, wie viel wir unserer Aufmerksamkeit im normalen Alltag zumuten. Wie wir unsere Sinne und unsere Intelligenz konstant überfordern. Eine Kakofonie, in der unsere eigene Stimme kaum noch zu uns durchdringt.

Ich finde besonders interessant, dass all diese klugen Denker Achtsamkeit nicht nur für den Quell von klarem Denken und Konzentration hielten, sondern auch von Glück.

Umgekehrt ist es mir klar: In den Momenten, in denen ich gänzlich glücklich bin, bin ich vollkommen präsent. Ich erinnere jedes Detail jenes Morgens, als mir meine bessere Hälfte einen Heiratsantrag machte. Ich rieche die salzige Luft der Lagune, in der ein Grauwalbaby neben dem Fischerboot auftauchte. Ich weiß noch, wie glücklich ich als Kind an meinem Lieblingsbaum war, auf einem Ast über einem kleinen Weiher in der Natur. Aber erst langsam verstand ich, dass ich Glück herbeizaubern kann, indem ich mich bewusst für die Sinneseindrücke dieses Moments öffne.

Der Fluss muss ganz ruhig sein, um den Vollmond zu spiegeln. Der klare Geist erkennt die wahre Natur der Dinge.

Thich Nhat Hanh, Einfach präsent, S. 8

2Die Praxis der Achtsamkeit

Achtsamkeit ist ein Weg, der gegangen, eine Haltung, die in täglicher Übung gepflegt sein will. Sie ist nicht bloß eine Philosophie, sondern eine Weise zu sein, die uns erlaubt, jeden Augenblick unseres Lebens in seiner ganzen Fülle zu erfahren. Es ist ein Weg, den sich nur zu eigen machen kann, wer ihn selbst geht. Der Weg der Achtsamkeit ist immer da, stets erreichbar, in jedem Augenblick. Es ist ein lebenslanger Weg, der letztlich nirgendwohin führt – »nur« in Ihr innerstes Sein.

Jon Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation, S. 420

Die Einsichten über die Achtsamkeit mögen einleuchten und inspirieren, aber alle Denkerinnen und Denker, die in diesem Buch zitiert werden, wissen eines ganz genau: Achtsamkeit muss man pflegen. Das tibetische Wort für Meditation, gom, bedeutet wörtlich »vertraut werden mit«, und das ist, was wir in der Meditation tun: uns mit der Achtsamkeit vertraut machen, bis sie zur ständigen Begleiterin wird.

Ähnlich wie wir unsere körperliche Kraft im Fitnessstudio trainieren, können wir die Kraft der Achtsamkeit nur durch regelmäßiges Training stärken. Kabat-Zinn spricht von einem »Achtsamkeitsmuskel«, der durch Gebrauch »sowohl kräftiger als auch geschmeidiger und beweglicher« wird.11

Ich finde das einen guten Vergleich. So wie Spitzenathleten, die täglich trainieren, mühelos einige Kilometer laufen können, so erkennen wir in der Gegenwart von wahrhaft präsenten Menschen, dass sie ihre Achtsamkeit behutsam pflegen.

Manchmal ist es geradezu unheimlich, weil unerwartet, wenn ein Mensch wirklich hundertprozentig präsent ist. Wir sind das gar nicht gewohnt.

Es gibt eine Vielfalt von Meditationstechniken, und Sie finden mehrere in diesem Buch, vorgestellt von erfahrenen Meditationsmeistern und -meisterinnen. Sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren zählt zu den einfachsten und weitverbreiteten Methoden. Viele Traditionen lehren Atem-Achtsamkeit als Fundament.

Unser Atem ankert uns, erfrischt uns, hält uns Zug um Zug am Leben und in der Gegenwart. Wir können den Atem bewusst nutzen, um uns zu erden, denn Emotionen verändern unser Atmen, aber unsere Atmung beeinflusst auch unsere Gefühle.

Durch die Jahrzehnte hindurch verlernen viele von uns, was wir als Babys perfekt konnten: tief und natürlich zu atmen. Die natürliche Atmung ist eine tiefe Bauchatmung. Wenn wir unsere Hand knapp unterhalb des Bauchnabels legen, fühlen wir, wie sich unser Bauch mit jedem Atemzug hebt und senkt.

Jon Kabat-Zinn zitiert den indischen Poeten Kabir:

»Kabir sagt: Schüler, sage mir, was ist Gott?

Er ist der Atem im Atem.«12

Wir haben das Handwerkszeug für innere Veränderung also immer bei uns: unsere Achtsamkeit und unseren Atem.

Am besten ist es, möglichst einfach vorzugehen und bei sich selbst zu beginnen, bei Ihrem Körper und den Empfindungen der Atmung – achten Sie darauf, wo sie für Sie am deutlichsten spürbar sind, während der Atem ein- und ausströmt. Mit der Zeit können Sie Ihr beobachtendes Gewahrsein ausweiten auf all das Kommen und Gehen, die Umtriebe und Kapriolen Ihrer Gedanken und Gefühle, Wahrnehmungen und inneren Impulse, all die Regungen Ihres Körpers und Geistes, das Treiben der Welt. Allerdings kann es einige Zeit dauern, bis Ihre Konzentration und Achtsamkeit stabil genug sind, um eine solche Vielzahl von Eindrücken im Gewahrsein zu halten, ohne sich darin zu verlieren, an Einzelnem hängen zu bleiben oder von alldem einfach überwältigt zu werden. […]

Zu Beginn sollten Sie sich, wie gesagt, in erster Linie auf die Atemempfindungen konzentrieren, wo immer sie im Körper am lebhaftesten spürbar sind, und sie als Anker benutzen, der Sie zurückbringt, wenn Sie bemerken, dass Ihre Aufmerksamkeit abdriftet.

Jon Kabat-Zinn, Im Alltag Ruhe finden, S. 116–117

Viele Menschen denken, Meditation bedeute, Gedanken und Gefühle auszuschalten oder gar keine zu haben. Das ist unmöglich. Wir sind schließlich keine Maschinen, keine Roboter. In unserem Oberstübchen wirbelt und rumort es. Wenn wir meditieren, werden wir mit unseren Gedanken, unseren Gefühlen und unserem Innersten vertraut und wir lernen, unser Potenzial zu erforschen.

Im Tibetischen ist »Bewusstsein« nicht gleich »Gehirn«. Viele asiatische Traditionen verstehen, dass Kopf und Herz untrennbar miteinander verbunden sind. Wenn man einen Tibeter bittet, auf seinen Geist zu zeigen, wird er seine Hand aufs Herz legen. Manche übersetzen das tibetische Wort für Geist oder Bewusstsein (Sanskrit chitta, tibetisch sem) deshalb als »Herz-Geist«.

Meditation ist keine intellektuelle Übung. Sie lässt uns großherziger und großmütiger werden, damit wir dem Zickzack-Kurs des Lebens mit Achtsamkeit und Liebe begegnen können. Meditation in ihrer elementarsten Form heißt, einfach präsent zu sein. Zu beobachten, was auftaucht. Wir betrachten unsere Gedanken, Emotionen und Zipperlein wie ein gutmütiger Opa, der Kindern beim Spielen zusieht. Wir mischen uns nicht ein, sondern werden gelassen Zeuge dessen, was sich entwickelt, und ankern uns dabei durch unseren Atem. »Achtsam zu sein heißt nichts anderes, als aufmerksam auf alles zu achten und die Dinge so zu sehen, wie sie sind«, erklärt Kabat-Zinn. »Es geht nicht darum, irgendetwas zu verändern. Heilung setzt Empfänglichkeit und Akzeptanz voraus, die Einstimmung auf den Zusammenhang und das Ganze. Nichts davon lässt sich erzwingen.«13

Die Achtsamkeitsmeditation, wie er sie lehrt, ruht auf sieben Säulen der inneren Einstellung, die wir bewusst während der Meditation entwickeln:

Nicht urteilen

Geduld

Den Geist des Anfängers bewahren

Vertrauen

Nicht erzwingen

Akzeptanz

Loslassen

»Es sind sieben Aspekte einer einzigen Haltung, und jeder von ihnen steht mit den anderen unmittelbar in Verbindung«, schreibt Kabat-Zinn. »Je mehr uns also ein Haltungsaspekt gelingt, desto stärker prägen sich auch die anderen in uns aus, sodass wir eigentlich immer an allen zugleich arbeiten. Gemeinsam bilden sie die Grundlage für die Ausbildung einer stabilen individuellen Meditationspraxis.«14

Diese »sieben Säulen« machen schon klar, warum wir das, was wir in der Meditation lernen, auch im Leben anwenden können. Wie würden sich unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen und unsere Herangehensweise an Situationen verändern, wenn wir weniger urteilten, mit Geduld, Anfänger-Geist, Vertrauen und Akzeptanz agierten und dabei nichts erzwängen, sondern losließen?

Welchen Glauben wir auch immer haben, achtsam und in der Gegenwart zu sein, hilft uns in allen Bereichen unseres Lebens, aber ganz besonders in unseren Beziehungen und beim Bewältigen von Schwierigkeiten.

Das schaffen wir kaum, ohne diese Präsenz zunächst in formalen Sitzungen zu üben.

Der Buddha wird meist im Lotossitz meditierend dargestellt. Sie können im Schneidersitz auf einem Kissen auf dem Boden sitzen oder auf einem Stuhl, mit beiden Fußsohlen auf dem Boden. Wichtig ist, dass Sie aufrecht sitzen, mit gerader Wirbelsäule, aber bequem. Schließen Sie die Augen, wenn Ihnen das hilft, oder lassen Sie die Augen leicht geöffnet, den Blick leicht nach unten gerichtet. Ihre Schultern sind entspannt, ihre Hände liegen locker auf den Oberschenkeln. Lassen Sie Ihren Mund leicht geöffnet, als wollten Sie »Ah« sagen.

In der buddhistischen Tradition, mit der ich am besten vertraut bin, schließen wir die Augen nicht ganz. Sie können die Augen schließen, wenn Ihnen das hilft, oder den Blick zur Konzentration senken, wenn Ihre Gedanken gar zu schnell rasen, aber generell verschließen wir in der buddhistischen Tradition unsere Augen und Ohren, überhaupt unsere Sinne, nicht vor unserer Umwelt, sondern lassen sie offen und wach, aber entspannt. Diese beiden Worte fassen die Essenz der Meditation zusammen: wach und entspannt.

Wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit nun Ihrem Atem zu. Atmen Sie natürlich, aber tief. Spüren Sie, wie der Atem Ihre Nasenflügel berührt, Ihren Körper betritt – die Lungen und bis hinunter zum Zwerchfell. Lassen Sie ihn dort einen Moment verweilen. Dann spüren Sie den Atem wieder aufsteigen. Lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit leicht auf dem Ausatmen verweilen. Lassen Sie los.

Fangen Sie von vorne an. Atmen Sie ein, lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit dem Atmen folgen. Atmen Sie aus. Lassen Sie los. Einatmen, ausatmen. Spüren Sie den Atem bewusst.

Wenn Sie abgelenkt werden, bringen Sie Ihre Aufmerksamkeit einfach zurück zum Atmen. Es gibt keinen Grund, das Geschehen im Kopf zu kommentieren. Wir stehen nicht auf, um den Anruf entgegenzunehmen, und die Einkaufsliste können wir später schreiben; wir kehren einfach zu den Empfindungen des Atmens zurück. Folgen Sie dem Atem aufmerksam, aber geben Sie ihm viel Raum.

Wenn wir anfangen, ruhig zu sitzen, ist oft das Erste, was uns auffällt, wie laut und geschäftig unser Gehirn plappert. Das ist das sogenannte Wasserfall-Stadium, in dem Gedanken, Ideen und Erinnerungen auf uns niederprasseln.