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In nicht allzu ferner Zukunft hat ein Bruchteil der Menschheit nach dem Untergang der Erde Zuflucht auf dem neuen, bewohnbaren Planeten Novus Errans (Neue Erde) gefunden.
In der Hauptstadt lebt die sechzehnjährige Evelyn, die in diesem Alter ihre Arbeit für die sogenannte „Aufsicht“ antreten muss. Diese ist für die Sicherheit innerhalb der Stadt verantwortlich und gibt vor, sich für den Schutz der Menschen einzusetzen.
Doch noch vor ihrem ersten Auftrag wird Eve klar, dass ihr etwas verschwiegen wird. Nicht mal ihre eigene Familie erzählt ihr genaueres über ihre neuen Aufgaben. Durch das ungerechte System und ihre soziale Schicht kann sie sich ihrem Dienst dennoch nicht verweigern.
So tritt sie ihre Arbeit an und muss am eigenen Leib erfahren, welche Geheimnisse Novus umgeben und was für Gefahren im Untergrund lauern. Denn schon lange vor der Ankunft der Menschen auf dem Planeten hausten dort andere Wesen, die ihnen nicht unähnlicher sein könnten…
Dämonenfeuer ist der 1. Band der Dämonenwelt-Trilogie.
„Dämonenfeuer“ lässt sich nicht auf ein Genre festlegen und ist sowohl Dark-, Paranormal & Urban Fantasy als auch Near Future Science Fiction, verbunden mit Drama und Action. Genauso gibt es nicht nur „einen“ Protagonisten, die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt.
Die „Dämonenwelt-Trilogie“ ist für alle geeignet, die etwas düstere und dystopische Erzählungen aus verschiedenen Blickwinkeln mögen, die teils junge, aber zugleich starke männliche als auch weibliche Charaktere jenseits von Stereotypen beinhalten.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
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„Ich starb in den Flammen, um in der Asche wiedergeboren zu werden und mich wie ein Phönix zu erheben. Mein Herz ist Dämonenfeuer, bereit, alles und jeden zu verschlingen. Wenn ich schwach bin, verschlingt es mich. Bin ich stark, wird es die falschen Götter verbrennen. Und die Flammen lodern immer heißer und steigen empor.“
Als sie vor dem Tunnel ankamen, klappten sie die Visiere ihrer Helme herunter und aktivieren die integrierte Nachtsicht. „Na dann, los geht’s“, meinte Colin und schritt voran. Während Eve dicht hinter Audrey als Letzte folgte, sah sie sich aufmerksam im Tunnel um. Durch das Visier konnte sie alles um sich herum deutlich erkennen. Die glatten, feuchten Wände des Tunnels, die von Rissen durchzogen waren, die defekten, verrosteten Schienen und die unzähligen Pfützen auf dem Boden, die mit dem dreckigem Wasser gefüllt waren, das durch das modrige Gestein sickerte. Ihr Vater besaß ein Display, eine Art multimediales Kommunikations- und Informationsgerät. Es war aus dünnem, dafür sehr stabilem Spezialglas gemacht, das mit Glasfaserkabeln durchzogen war und über eine Funk- und Internetverbindung verfügte. Selbst die Ummantelungen der Festplatte, der Platinen und Prozessoren waren aus durchscheinendem Kunststoff gefertigt. Während das Display in Betrieb war, konnte man zusehen, was in seinem Inneren passierte.
Zudem besaß es einen kleinen Projektor, welchen ihr Vater gerade aktivierte. Weiß glimmend erschien ein dreidimensionaler Plan vom Tunnelsystem vor ihm, mit dessen Hilfe er sie zielstrebig durch den Tunnel dirigierte. Es wurde immer kälter, sodass Eve sich wünschte, den Tunnel bald wieder verlassen zu können. Sie gingen immer weiter hinein, doch sie entdeckten nichts. Ihre Tonverstärker, die in den Helm integriert waren, funktionierten einwandfrei, doch da war nichts als unheimliche Stille, die gelegentlich von einem platschenden Geräusch unterbrochen wurde, wenn jemand von ihnen in eine der Wasserpfützen auf dem Boden trat. Die Feuchtigkeit schien sogar schon in ihre Kleider gekrochen zu sein und sie zitterte am ganzen Körper. Unsicher beobachtete sie die anderen beiden, sie wirkten keineswegs nervös oder angespannt, sondern routiniert. Sie wünschte, sie könnte ebenso locker an die Sache herangehen. Stattdessen hatte sie seit Betreten des Tunnels ein beklemmendes Gefühl, das nicht verschwinden wollte. Es kam ihr vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, als der mit dem Display gekoppelte, kleine Sensor, den sie an einem Band um ihren Hals trug, mit kleinen Stromstößen ausschlug. Da dieser unter anderem Infrarotwellen erfassen konnte, bedeutete das, es war noch eine andere Wärmequelle außer ihnen im Tunnel. Untereinander waren die drei Sensoren vernetzt, damit sie fälschlicherweise nicht selbst den Alarm auslösten. Nur wenn etwas nicht stimmte, die Pulsfrequenz von einem von ihnen etwa sehr unregelmäßig wurde oder der Herzschlag sogar ganz aussetzte, schlug er ebenfalls aus. Somit war es jemand, der sich unbefugt im Tunnel aufhielt, auf den der Sensor reagierte. Ausschließlich ihnen, der zuständigen Einheit, war zurzeit der Aufenthalt dort gestattet. Audrey und Colin hatten es auch längst bemerkt und Colin gab ihnen ein Zeichen, stehen zu bleiben. Eve versuchte rasch, sich zu beruhigen und atmete tief ein und aus, wobei sie den widerlich modrigen Geruch, der in der Luft hing, weit weg von sich schob. Doch dann schlug ihr plötzlich noch ein anderer Geruch entgegen, faulig süß und unglaublich widerlich, dass sie einen Würgereiz unterdrücken musste. Weiter vorne hörte sie ihren Vater aufkeuchen. „Audrey, komm schnell her!“, rief er und diese ging schnell zu ihm. Langsam erinnerte Eve sich wieder daran, woher sie diesen bestialischen Geruch kannte. „Oh Gott!“, hörte sie Audrey sagen. „War das mal…?“, begann sie, brach dann schluchzend ab. „Was ist los? Etwa ein totes Tier?“ Sie ging langsam zu den beiden herüber. „Bleib, wo du bist!“, herrschte Colin sie an und sie blieb abrupt stehen. Plötzlich musste sie an das denken, was Audrey ihr vorhin im Zimmer anvertraut hatte. Die Worte kamen wieder hoch, obwohl sie es verhindern wollte. „Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen, Eve. Die meisten, vor allem die Bürger, die nichts mit der Aufsicht zu tun haben, denken, wir jagen Verbrecher. Menschen, die eine Gefahr für sie und die Öffentlichkeit darstellen. Aber das, was wir wirklich tun, dem wir uns Tag für Tag stellen, und für das wir unser Leben riskieren, kann man oft nicht länger als menschlich bezeichnen. Verstehst du, was ich dir zu sagen versuche? Du musst gut auf dich aufpassen und vorsichtig sein, verstanden? Du darfst nachher keinen Moment unaufmerksam sein.“ Nein, sie hatte es nicht verstanden. Noch immer stand ihr Audrey deutlich vor Augen, mit einem bedrückten und angsterfüllten Ausdruck im Gesicht. Ein Zeichen für das Wissen über etwas Furchtbares, welches sie besaß, und das sie innerlich zu zerfressen schien. Wie schrecklich war es, wenn es Audrey derart verstörte? Bisher hatte Eve gedacht, die Aufsicht würde sich um Menschen, die völlig durchgedreht waren, kümmern. Um Psychopaten, die Amok liefen, Terroristen oder ähnliches. War es das? Die wahre Aufgabe der Aufsicht? Oder doch nicht? Dieses Unbekannte, was meist kaum noch menschlich war? Die beiden wussten ganz genau, was hier los war, kannten die Wahrheit. Dafür fühlte sie sich ausgeschlossen und allein gelassen. Warum konnten ihr die beiden nicht sagen, was los war? Warum ließen sie sie hier stehen, obwohl sie nicht im Geringsten verstand, was vor sich ging? „Ignorier es bitte erstmal“, bat ihr Vater Audrey und drehte sich dann zu ihr um. Im nächsten Moment fing der Boden an zu beben und sie vernahm über sich ein Grollen. Erschrocken zuckte sie zusammen, den Blick panisch zur Decke gerichtet. Ihr Vater kam zu ihr herüber und hielt sie beschwichtigend an den Schultern fest. „Das ist nur eine Bahn“, sagte er ruhig. Natürlich konnte es ausschließlich das gewesen sein, das wusste sie doch eigentlich. Ihr Herz allerdings wollte nicht langsamer schlagen. Was hatten all die harten Jahren der Vorbereitung sie gelehrt? Wie konnte sie nicht bereit sein? Sie schämte sich für ihre Angst, wo sie doch die beiden an ihrer Seite hatte. Mit Audrey und ihrem Vater brauchte sie keine Angst zu haben. „Du hast dich ziemlich erschreckt, was?“ Er streichelte ihr kurz über den Kopf. „Ja. Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist. Es tut mir leid.“ „Es ist einfach noch zu früh für dich. Ich wünschte, man hätte dir mehr Zeit gegeben.“ „Es geht schon“, versicherte sie ihm. „Bist du dir sicher? Wir können auch umkehren.“ „Ich komm schon klar, ganz sicher. Und wenn wir umkehren, bekommst du Schwierigkeiten.“ Erneut hatte sie gelogen, sie wollte einfach nur raus aus dem Tunnel. Und nie wieder zurückkehren. Aber wenn sie umkehrten, missachtete ihr Vater die Anweisungen und sie wusste, welchen Ärger es bereits bei Kleinigkeiten gab. Sie atmete tief durch, wobei ihr von dem widerlichen Gestank wiederholt schlecht wurde. Mit dem Kopf deutete sie hinter ihren Vater zu der Stelle, an der Audrey reglos stand. „Was ist dahinten?“ Er öffnete erst den Mund, als wenn er etwas sagen wollte, schloss ihn dann aber wieder. „Paps, was ist hier los?“, verlangte sie zu wissen. Er kam nicht mehr dazu, ihr zu antworten, denn ihr Sensor schlug wieder aus, ebenso der am Arm ihres Vaters, viel stärker als zuvor. Weiter vorne flüsterte Audrey etwas. Colin wies sie an, näher an die Tunnelwände zu gehen. Eve versuchte verzweifelt, sich zu beruhigen und ging an der Tunnelwand auf und ab, während ihr Vater ein Stück weiter vorne mit Audrey redete. Danach schritt er an ihr vorbei und positionierte einen kleinen, gläsernen Würfel vor sich auf dem Boden, welchen er aus seiner Umhängetasche geholt hatte. So einen hatte Eve noch nie gesehen und sie fragte sich, wozu er wohl gut war. Es war sicherlich irgendeine Art von Waffe und sie wollte nur allzu gern wissen, was sie bezwecken sollte. Nachdem ihr Vater den Würfel so programmiert hatte, dass er anfing, in regelmäßigen Abständen weiß aufzuleuchten, zog er sich ebenfalls rasch an eine der Tunnelwände zurück. „Schaltet eure Tonverstärker aus und bleibt ganz ruhig“, sagte er und sie gehorchten ihm, während der kleine Würfel in immer kürzeren Abständen aufblinkte und ein leises Piepen von sich gab. Audrey hatte sich direkt neben Eve gestellt und drückte ihre Hand. „Du brauchst jetzt keine Angst zu bekommen, uns wird nichts passieren“, flüsterte sie, dann geschah es bereits. Der Boden fing abermals an zu vibrieren, diesmal weitaus stärker und näher als zuvor bei der Bahn. Die Luft um sie herum wurde in Schwingung versetzt und die Vibration durchdrang sogar ihren Körper, Eve spürte den Schmerz in ihrem Fuß deutlich. Vorher hatten Schmerzmittel und ihr Wille diesen ausgeblendet. Der Boden hörte nicht auf zu beben und der Würfel, von dem das Ganze ausging, blendete Eve. Beinahe sackten ihr die Knie weg. Wie aus weiter Ferne hörte sie Audreys Stimme, allerdings klang sie zu verzerrt, als das sie irgendetwas verstehen konnte. Selbst nachdem die Vibration aufgehört hatte, kam es ihr vor, als würde sich der Boden unter ihren Füßen drehen. Behutsam legte Audrey einen Arm um sie. „Ist ja schon vorbei...“ Sie warf ihrem Vater einen besorgten Blick zu, der gerade auf sie zukam. Eve nickte benommen, während sie die Silhouette ihres Vaters weiterhin leicht verschwommen wahrnahm. „Alles in Ordnung?“ Ihr Vater flüsterte die Worte, während Eve verzweifelt versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Sie lehnte sich von Audrey gestützt gegen die feuchte Wand des Tunnels. „Was war das eben? Dieses Gerät...“, flüsterte sie, ihre Stimme zitterte und sie spürte, wie ihr Kopf zu schmerzen begann. Während sie sich die Schläfen rieb, packte ihr Vater sie auf einmal an den Schultern und sie sah verwirrt zu ihm hoch. Hinter ihm stand Audrey, die sich wachsam umsah, während die Nachtsicht von Eves Visier ihre Haut grünlich schimmern ließ. „Hör mir zu, die Einzelheiten erkläre ich dir später, ja?“ Die Stimme ihres Vaters holte sie endgültig zurück in die Realität und ihr Blick klärte sich. Sie fragte sich, wieso er derart besorgt aussah. „Das einzig wichtige ist, dass dieses Gerät dazu dient, etwas anzulocken und ...“ „Etwas? Was genau meinst du damit? Einen Menschen? Ich glaube nicht...“, unterbrach sie ihn. „Verdammt noch mal, das will ich dir doch gerade erklären!“, fuhr er sie an und sie zuckte unwillkürlich zusammen. „Entschuldige, aber du musst jetzt genau das tun, was ich dir sage, verstanden?“ Sie bekam erneut dieses mulmige Gefühl, welches ihr sagte, hier stimmte etwas ganz und gar nicht. „Wir verfolgen keine Menschen. Das, was wir jagen, befindet sich hier mit uns in diesem Tunnel. Und es ist bald, vielleicht schon im nächsten Augenblick, hier.“ Als sie eine der vielen Fragen stellen wollte, die ihr auf der Zunge lagen, hob er abwehrend die Hand. „Du gehst sofort zurück zum Ausgang und wartest dort auf uns. Dieser Auftrag ist zu viel für dich, ganz egal was du meinst oder Will oder sonst irgendwer.“ Er hielt einen Moment inne, dann ließ er sie los und drehte sich zu Audrey um. „Hörst du das?“ Deren Gesicht wurde noch verkrampfter und man konnte erkennen, wie sie sich am ganzen Körper anspannte. Sie hörte es auch. Ein wiederkehrendes klackerndes Geräusch auf dem Steinboden des Tunnels. Als würde etwas Hartes auf dem Boden auftreffen. „Er ist hier“, sagte ihr Vater leise, während er schnell sein Gewehr entsicherte. „Verschwinde von hier, los!“, rief er Eve zu, aber diese reagierte nicht, sondern starrte geradeaus in den Tunnelgang vor ihnen. Sie sah einen Schemen, der näher kam und dessen Umrisse sich langsam manifestierten. Audrey erkannte, dass Eve wie erstarrt war und stellte sie sich schützend vor sie. „Du kannst nicht mehr fliehen. Würdest du jetzt losrennen, würde er sich sofort auf dich stürzen.“ Eve stand wie versteinert hinter ihr, sie konnte die Konturen der Gestalt inzwischen deutlicher erkennen. Sie wirkte irgendwie grotesk und falsch, mit viel zu langen Gliedern für die eines Menschen, und einer vornüber gekrümmten Körperhaltung, die an die eines Tieres erinnerte. „Was ist das?“, wisperte sie und drückte sich näher an Audrey. Vorsichtig blickte sie über deren Schulter. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sich das Wesen vollends aus dem Schatten löste und sich ihr offenbarte. „Was zur Hölle ist das ...?“ Sie hätte am liebsten laut geschrien und wäre abgehauen. Es war auf keinen Fall ein Mensch, sondern eine Kreatur, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. Wie kann es so etwas überhaupt geben?, ging es ihr durch den Kopf. Was, verdammt noch mal, ist das für ein Ding? Die anfangs schwerfälligen, schleifenden Schritte des Wesens wurden schneller und es fing an, zu rennen. Ihr Vater richtete das Gewehr auf die obskure Gestalt und schoss. Währenddessen drängte Audrey Eve zurück an die Wand, griff an die linke Seite ihres Gürtels und zog ihr Schwert. Bevor Eve etwas sagen konnte, stürmte Audrey auf das Wesen zu, das nur noch wenige Schritte von ihrem Vater entfernt war. Die Kugeln, die es trafen, schien es kaum zu spüren. Kugeln aus Titan, gemischt mit welchen aus Glas, deren Säure zwar auf die ledrige Haut des Monsters traf, sie aber nur oberflächlich verletzte. Fluchend ließ ihr Vater das Gewehr fallen und griff ebenfalls nach seinem Schwert. In dem Moment, als das Monstrum sein Maul aufriss und messerscharfe Zähne entblößte, bereit, diese tief in sein Fleisch zu rammen, tauchte Audrey vor ihm auf. Sie zog dem Wesen schwungvoll die Klinge ihres Schwertes über die knochige Brust, worauf es sie wütend anfauchte. Schwarzes Blut ergoss sich über den Boden und Audrey stach ihm die Klinge abermals in die Brust. Das Monster taumelte ein paar Schritte auf seinen langen, dünnen Beinen zurück und starrte sie an. Ihr Vater stellte sich an Audreys Seite und hielt sein Schwert ebenfalls bereit. Doch die Kreatur stand einfach nur da und blickte sie aus vollkommen schwarzen Augen an. Über Eves Körper breitete sich ein eiskalter Schauer aus, dann wanderte der Blick des Monstrums durch den Tunnel, vorbei an den beiden Menschen vor sich, direkt zu ihr. Es stieß ein Brüllen aus und sein blutüberströmter Brustkorb erbebte. Es wandte sich von Audrey und ihrem Vater ab und stürmte auf sie zu. „Eve!“ Ihr Vater wollte nach dem Monster ausholen, allerding war es zu schnell. Eve reagierte abrupt, griff ebenfalls an ihren Gürtel und fing an, rückwärts zu rennen. Doch im einen Moment war das Monster noch drei Meter vor ihr und nur einen Augenblick später waren seine schwarzen Augen direkt vor ihrem Gesicht. Sie taumelte einen Schritt nach hinten und verharrte dann regungslos auf der Stelle, die zitternden Hände am Gürtel. Sie spürte, wie ihr sein warmer, stinkender Atem über die Haut strich. Ihr Brustkorb schnürte sich zu und sie keuchte. Es stand über sie gebeugt, die langen Arme nach vorne geneigt, so dass sie Eve an den Seiten einengten. „Bleib von ihr weg, du Monster!“, schrie ihr Vater und tauchte hinter ihm auf. Sie nahm war, wie das Wesen seine Vorderpranken hob. Nein, bitte nicht! Seine kalten Klauen schlossen sich blitzschnell um ihren Oberkörper, hoben sie hoch und schleuderten sie gegen die Wand, ehe ihr Vater sie erreicht hatte. Ein scharfer Schmerz durchfuhr beim Aufprall ihren Körper und sie sackte zusammen. Ihr Vater verfehlte das Monster erneut, als dieses ihm leichtfüßig auswich. Mühsam versuchte Eve, sich aufzurichten, worauf ihr sofort ein scharfer Schmerz durch den Körper fuhr, der ihr erneut den Atem raubte. Etwas Warmes rann ihr über die Stirn. Ist das Blut? Ihr Helm war abgerissen worden und sie konnte kaum noch etwas erkennen. Während ihr Vater weiter auf das Wesen zielte, kam Audrey zu ihr gerannt und kniete sich neben sie. Behutsam zog sie Eve an sich. „Alles in Ordnung, das wird schon wieder...“ Tränen rannen ihr aus den Augen. Das war schon wieder eine Lüge, oder? „Mir geht’s gut“, brachte Eve hervor, worauf Audrey schluchzte. Auch sie zitterte am ganzen Leib und ihre Locken waren mit dem schwarzen Blut des Monstrums verklebt. Ein Grollen ertönte und Audrey sah tränenblind auf. In dem Dämmerlicht des Tunnels erkannte Eve, dass Ihr Vater dem Monstrum sein Schwert in den Hals gerammt hatte und das Grollen ging in ein Gurgeln über, als Blut aus seinem Hals sprudelte. Es taumelte zurück, fiel aber nicht. Ihr Vater holte schon zum letzten Schlag aus, da hob das Wesen seinen Kopf und erblickte Audrey und Eve am Boden. Ein röchelndes Knurren drang aus seiner Kehle und es sprang, so schnell, dass die Klinge des Schwertes ihres Vaters nur noch an ihm vorbeiglitt, auf sie zu. Mit stolpernden Schritten kam es auf sie zu und es war trotz der Verletzungen weiterhin gewandter als ihr Vater. Der Schrei ihres Vaters ging in dem Knurren unter, welches es ausstieß, als es sich auf die beiden stürzen wollte. Audrey rührte sich nicht und starrte es stattdessen voller Entsetzen an. Instinktiv stieß Eve sie beiseite und warf sich vor sie. Einen Moment war da nichts außer Dunkelheit, dann spürte sie, wie sich seine scharfen Zähne in ihre linke Schulter bohrten, als wäre ihre Weste aus hauchdünnem Papier. Sie vernahm ein Knacken, als der Kieferdruck ihr Schlüsselbein brach. Audrey schrie im selben Moment wie sie selbst auf, während das Wesen seine Zähne wieder herauszog, benetzt mit tiefrotem Blut.
Es öffnete sein Maul weit und stemmte sich mit den Krallen auf sie. Sie wehrte sich, ihre Finger kratzten über die ledrige Haut des Monsters, versuchten Halt zu finden und die Bestie wegzudrücken. Dann spürte sie, wie ihre Hüften unter seinem Gewicht nachgaben und der entsetzliche Schmerz raubte ihr die Luft und ließ Lichtblitze vor ihren Augen tanzen. Nicht einmal mehr schreien konnte sie. Vor ihren Augen wurde es schwarz und sie drohte, das Bewusstsein zu verlieren. Die Tränen rannen ihr wie ein Sturzbach aus den Augen, dann spürte sie etwas Warmes, das über ihren Hals lief. Sie rang verzweifelt um Atem, jedoch schloss sich der Kiefer des Monsters fester um ihre Kehle und sein dunkles Blut vermischte sich mit ihrem eigenen. Ihr ganzer Körper brannte vor Schmerz, als hätte man sie mit Öl übergossen und angezündet.
22.04.2173 - Samstag
Licht drang durch ihre geschlossenen Lider und als sie sich auf die Seite drehte, spürte sie, wie sich etwas Weiches in ihr Gesicht drückte. Schlaftrunken blinzelte sie. Es dauerte eine Weile, bis sie klar erkennen konnte, wo sie war. Zuerst fiel ihr Blick auf die großen Fenster, durch die trübes Licht fiel. Langsam drehte sie sich auf den Rücken und richtete sich auf. Das Bett, in dem sie lag, war größer als jedes, in dem sie jemals gelegen hatte, und die unzähligen, hellen, flauschigen Decken darauf waren über sie drapiert worden. Das sanfte Deckenlicht, das jemand eingeschaltet hatte, brach sich in den goldenen Verzierungen an der hellgrünen Wand.
Wo war sie? Sie schlug die unzähligen Decken zurück und setzte sich, noch immer ziemlich benommen, auf die hohe Bettkante. Der weiche, dunkelgrüne Teppich hob sich deutlich von der blassen Haut ihrer Füße ab. Schwankend kam sie auf die Beine und ging zum Fenster. Überrascht starrte sie eine Weile auf die Skyline der Stadt, die sich in leichter Entfernung abzeichnete. Dieses Haus lag im äußersten Radius von Alban. Unten im Innenhof erkannte sie einen imposanten Springbrunnen, der von einem sauberen Kiesweg umgeben war, der scheinbar vor der Haustür endete, die sie von dem Fenster aus aber nicht einsehen konnte. Sie müsste direkt unter dem Fenster sein. Das Grundstück wurde von einem massiven, schmiedeeisernen Zaun eingegrenzt, der in der Mitte in ein hohes Tor überging, dessen Metall wie Ranken und Blüten geformt war. Dahinter erkannte sie eine ungepflasterte Straße, die anscheinend ins Innere von Alban führte.
Auch wenn das gesamte Grundstück ziemlich protzig wirkte, fiel ihr etwas auf, was auch hier nicht anders als mitten in Alban war. Nirgendwo wuchsen Pflanzen. Als sie sich vom Fenster abwenden wollte, fiel ihr Blick auf die goldenen Gravuren in dem weiß angestrichenem Holz des Fensterrahmens. Gedankenversunken fuhr sie darüber und sah plötzlich, dass ihre Hände blutverkrustet waren. Verwirrt betrachtete sie diese genauer und vage Erinnerungen kamen in ihr hoch.
Der Tunnel. Sie konnte sich kaum erinnern, was sie in den letzten Tagen, geschweige denn im Schlaf, getan hatte. Ehe sie sich weiter den Kopf zerbrechen konnte, riss sie ein Geräusch aus den Gedanken und sie drehte sich rasch um. Jemand klopfte an die Zimmertür, die sich kurz darauf öffnete.
„Endlich bist du wach.“ Ein zierliches Mädchen mit langen, rotbraunen Haaren und strahlend grünen Augen blickte sie freundlich an. „Willkommen in unserem Zuhause. Ich bin Grace.“ Lächelnd streckte sie Eve ihre schlanke Hand entgegen.
Eve schüttelte sie perplex. „Mein Name ist Evelyn... Evelyn Vendicares“, brachte sie hervor.
„Schön, endlich einen Namen zum Gesicht zu kennen“, erwiderte Grace. „Wie geht es dir? Fühlst dich besser?“, fragte sie fürsorglich. Eve ließ sich zurück auf das Bett sinken. Erst da wurde ihr bewusst, wie gut sie sich wieder fühlte. Sie verspürte kaum noch Schmerzen, fast, als wäre überhaupt nichts gewesen.
„Ja, es scheint soweit alles in Ordnung zu sein“, gab sie zurück.
„Dann ist ja gut“, entgegnete Grace.
„Wo bin ich hier?“, wollt Eve wissen. Grace lächelte erneut.
„Keine Angst, du bist hier in Sicherheit. Das ist das Haus von unserem Anführer Nys.“
„Von eurem Anführer?“, fragte Eve verwirrt. Wer waren diese Leute?
„Er ist eher so was wie ein großer Bruder.“ Ihr Blick fiel auf Eves schmutzige Sachen, die sie noch immer trug. „Wir werden dir später alles genau erklären, denn jetzt solltest du vielleicht erst einmal duschen gehen.“ Beschämt blickte Eve an sich herunter. Ihre Kleidung war verdreckt und verschwitzt, sie klebte eng an ihrem Körper.
„Komm“, forderte Grace sie auf und führte sie aus dem Zimmer einen langen Flur entlang. Sie blieb vor einer weißen Tür stehen, an der ein Schild mit goldenen Buchstaben hing, welche „Badezimmer“ verkündeten. Grace öffnete die Tür. „Das ist eines unserer Bäder“, sagte sie.
Eines eurer Bäder? Eve trat nach ihr ein und blickte sich verblüfft in dem Raum um, der mit einer gigantischen Badewanne und Duschecke ausgestattet war, während die sandfarbenen Fliesen wie frisch poliert glänzten und die Wände in einem frischen zitronengelb leuchteten.
„Nehm dir einfach, was du brauchst.“ Grace deutete auf die zahlreichen Flaschen, die auf dem breiten Holzschrank an der rechten Wand des Bades standen. „Außer die hier.“ Sie tippte auf ein paar teuer aussehende Glasflaschen. „Die sind von Florence. Du solltest sie besser nicht anfassen.“
Eve lächelte sie dankend an. „Wohin soll ich kommen, wenn ich fertig bin?“, erkundigte sie sich.
„Geh einfach bis zur Treppe, diese herunter und dann nach rechts. Durch die große Doppelflügeltür kommst du in unser Wohnzimmer. Da bin ich, genau wie die anderen.“
„Okay“, meinte Eve. Grace öffnete noch schnell eines der Fächer im Badschrank.
„Hier drinnen sind die Handtücher, häng die nassen nachher am besten einfach draußen über das Geländer, ja?“ Eve nickte und kurz bevor Grace das Bad verließ, drehte sich diese noch einmal um. „Ach ja, was deine alten Sachen angeht, würde ich sagen, hauen wir die einfach in den Müll und ich gebe dir erstmal welche von Florence, ja?“
„Ist sie denn damit einverstanden?“, fragte Eve zweifelnd.
„Ja. Ich hole sie gleich und lege sie dir vor die Tür.“
Nachdem Grace gegangen war, drehte Eve sich langsam um und betrachtete sich bestürzt im Spiegel. Ihre Haare waren total verfilzt, fettig und mit getrocknetem Blut verklebt. Tränen traten ihr in die Augen, als sie mit den Fingern über all die Knoten fuhr, die mal ihre langen, seidigen Haare gewesen waren. Egal, was sie probierte, sie würde ihre Haare nicht durchgekämmt bekommen. Kurzerhand griff sie nach der Schere, die jemand auf dem Brett unter dem Spiegel hatte liegen lassen. Ich kann das. Sonst habe ich mir auch immer die Haare alleine geschnitten. Also, los jetzt!
Ihre Hand zitterte, als sie ihre Haare knapp über der Schulter abschnitt. Die dreckigen, verknoteten Strähnen fielen ins Waschbecken und sie sammelte sie schnell zusammen und warf sie in den Mülleimer, dann blickte sie wieder in den Spiegel. Auch ihr Hemd war dreckig und blutverkrustet und an Schultern und Hüfte zerrissen.
Von wem war nur all dieses getrocknete Blut? Es konnte unmöglich ihr eigenes sein, sonst würde sie jetzt nicht mehr hier stehen. Erneut überkam sie ein beklemmendes Gefühl, und sie beschloss, erst einmal nicht mehr darüber nachzudenken. Diese Leute, bei denen sie jetzt war, würden ihr schon ein paar Antworten geben können. Allmählich wurde ihr jedoch klar, dass sie Wochen in diesem Tunnel gewesen sein musste.
Sie wusch sich das Gesicht mit dem kühlen Leitungswasser und einer großen Portion duftender Seife. Ob sie es schaffen würde, diesen widerlichen Geruch wieder ganz loszuwerden? Sie war froh, dass Grace nichts dazu gesagt hatte, und dennoch war es ihr schrecklich peinlich, dass andere sie so verwahrlost gesehen hatten. Vor der Tür waren Schritte zu hören und sie verharrte starr vor dem Spiegel. „Ich lege die Sachen hierhin, ja? Sie müssten dir passen, du und Florence habt ungefähr dieselbe Größe“, drang die Stimme von Grace gedämpft durch die Holztür.
„Vielen Dank“, gab Eve zurück, wandte sich vom Spiegel ab und ging schnell zur Tür, öffnete diese und griff nach dem Stapel Wäsche. Grace war bereits am anderen Ende des langen Flurs verschwunden.
Dabei wollte ich sie doch unbedingt noch fragen, wann ich zurück nach Hause kann... Hoffentlich musste sie nicht allzu lange hier bleiben. Sie ging zurück ins Bad und verriegelte die Tür von innen, ließ den Stapel frischer Wäsche auf einen kleinen Hocker in einer Ecke fallen und schlüpfte aus ihren Sachen. Diese warf sie achtlos auf den Boden, schließlich konnte sie diese sowieso nicht mehr anziehen.
Eine schreckliche Befürchtung bewahrheitete sich, als sie sich nackt im Spiegel sah. Ihre linke Schulter und beide Hüften waren mit dickem Schorf bedeckt, das sich seltsam dunkel verfärbt hatte. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Selbst ihr Hals war voller getrocknetem Blut. Es war alles ihr Blut gewesen. Aber warum? Was war denn nur passiert? Und wie waren die Wunden so schnell verheilt? Bleib einfach ganz ruhig. Du wirst deine Antworten schon noch bekommen.
Wahllos griff sie nach ein paar Flaschen vom Schrank, einem Schwamm und anderem, was sie sonst noch so brauchte. Danach stieg sie in die große Dusche. Zuerst ließ das kalte Wasser sie frösteln, schwang dann aber überraschend schnell um und ergoss sich unglaublich heiß über sie. Noch nie hatte sie sich mit so heißem Wasser geduscht und zuerst verbrühte sie sich, worauf sie schnell die Temperatur herunterriegelte. Als ihre Haare vollkommen durchnässt waren, drehte sie das Wasser kurz ab und griff nach dem Shampoo. Sie klatschte sich einen großen Klecks auf die Hand und massierte diesen gründlich in die kurzen Haare ein. Es fühlte sich alles völlig ungewohnt an. Rasch griff sie nach dem Duschbad und dem auf der Duschablage liegenden Schwamm. Bald war sie über und über mit duftendem Schaum bedeckt. Erneut stellte sie das Wasser an.
Es wusch all den Schmutz und das getrocknete Blut fort, bis sie die Narben an der Hüfte und an der Schulter erkennen konnte. Sie waren gerötet und wulstig. Nicht darüber nachdenken!, wiederholte sie in Gedanken. Sie wiederholte die Prozedur noch einmal und stieg schließlich, in eine duftende Dampfwolke gehüllt, aus der Dusche.
Trotzdem sah sie immer noch schrecklich aus, wie ihr Spiegelbild ihr zeigte. Leichenblass, mit blauvioletten Ringen unter den Augen und sichtlich abgemagert. Sie fuhr mit den Fingern über die Narbe an ihrer Schulter. Sie sah schlimmer aus, als sie war, dennoch wunderte es sie, dass sie kaum wehtat. Da fiel ihr etwas an ihrem Hals auf: Helle, unebene Flecken. Die Form, in der sie angeordnet waren, erinnerte sie an etwas, doch ihr wollte partout nicht einfallen, an was genau.
Also hüllte sie sich leicht fröstelnd in ein langes Badetuch und fing an, sich die Haare mit einem kleineren Handtuch trocken zu reiben. Dann griff sie nach einer abgenutzten Bürste auf dem Brett neben dem Spiegel und fuhr sich durch die wirren Haare. Es dauerte eine Weile, bis ihre noch feuchten Haare glatt und ordentlich nach unten hingen. Sobald sie richtig trocken waren, würde sie diese wohl noch einmal nachschneiden müssen.
Sie griff nach der Kleidung von Florence. Es war sogar Unterwäsche dabei, stellte sie überrascht fest. Sie zog sich alles über und betrachtete sich dann erneut im Spiegel. Eine hellgraue Jogginghose und ein lavendelfarbener Pullover, der ihr bis über die Hüfte ging. Die Sachen passten ihr tatsächlich wie angegossen. Schnell warf sie sich die feuchten Handtücher über die Schulter und trat hinaus auf den Flur.
Das Haus war wirklich riesig. Zu beiden Seiten von ihr erstreckte sich ein langer Flur, durch den Grace sie vorhin geführt hatte. Fast hätte Eve erwartet, dass die Wände mit teuren Gemälden behangen waren, doch sie waren vollkommen leer, bis auf eine wunderschöne Bordüre oben an der Wand, die aus verzweigten Ranken bestand. Es wirkte jedoch auch ohne zusätzliche Dekoration wie ein großes, modernes Schloss. Sie ging ein Stück den Flur entlang, bis vor ihr eine breite Treppe mit einem steinernen Geländer, in welches feine Gravuren eingearbeitet waren, und mit blank polierten, hellen Steinstufen, auftauchte.
Schnell hing sie die Handtücher über das Geländer, dann ging sie die Stufen herunter und blickte sich um. Der Boden der Eingangshalle war nicht wie das Obergeschoss mit Teppich ausgelegt, sondern bestand aus reinem, blütenweißem Marmor, dessen Kälte durch ihre dünnen Socken drang, als sie auf die hohe Doppelflügeltür rechts von sich zusteuerte. Von drinnen hörte sie Stimmen, die sich fröhlich und unbekümmert unterhielten.
Sie verharrte einen Moment regungslos vor der Tür. Plötzlich schlug ihr Herz schneller und sie bekam ein flaues Gefühl im Magen. Sie war an diesem Ort völlig fremd und gleich würde sie Menschen gegenüberstehen, die ihr vollkommen unbekannt waren. Grace hatte zwar gesagt, dass sie hier in Sicherheit war, was bedeutete, dass diese Leute anscheinend so etwas wie Freunde von ihr waren, aber konnte sie ihnen dennoch so einfach vertrauen? Sie musste sich auf ihre Intuition verlassen. Vielleicht konnten diese Leute ihr endlich ein paar Antworten geben. Mit zittrigen Händen drückte sie die Klinke an der rechten Hälfte der Tür herunter und trat in den Raum dahinter.
Angenehm warme Luft kam ihr entgegen. Die Unterhaltung verstummte abrupt und sechs fremde Gesichter blickten ihr entgegen. „Komm ruhig herein.“ Grace winkte ihr zu, während Eve die Tür hinter sich schloss und unschlüssig näher trat.
„Hallo“, brachte sie mühsam hervor und schenkte Grace ein flüchtiges, wenn auch leicht gequältes Lächeln. An zwei Wänden des Raumes stand jeweils ein großes, dunkelrotes Sofa, eins links zum Fenster hin und das andere genau gegenüber an der rechten Wand, während in der Mitte zwischen ihnen ein niedriger Tisch aus Glas stand. Die ebenfalls dunkelroten Vorhänge vor den hohen Fenstern waren zugezogen, und das Kaminfeuer, das an der Wand zwischen den beiden Sofas brannte, hüllte den Raum in warmes, gedämpftes Licht. Selbst der Boden war warm, so kam es ihr jedenfalls vor, als sich ihre Zehen nervös in den dicken Teppich gruben.
Außer Grace waren nur noch zwei andere Mädchen anwesend. Das eine grinste ihr vom Boden aus zu, genau wie der Junge neben ihr, der ihr unglaublich ähnlich sah. Beide sahen aus wie höchstens acht, mit dunkelblondem Haar und grauen Augen. „Hi“, sagten sie im Chor.
„Das sind Sheila und Fabio“, erläuterte Grace kurz.
Das andere Mädchen schien älter als sie zu sein und hatte langes, platinblondes Haar und hellblaue Augen, die nur kurz zu ihr aufblickten. Sie murmelte kurz etwas, das wie „Hallo“ klang, dann beugte sie sich wieder über die schwarze Katze auf ihrem Schoß. Das musste dann wahrscheinlich Florence sein. Atemberaubend hübsch und feminin. Sie kam ihr irgendwie bekannt vor, genau wie der Junge neben ihr, an dem jetzt ihr Blick hängen blieb. Kurze schwarze Haare und dunkelbraune Augen, er sah ziemlich normal aus, trotzdem löste er ein seltsames Gefühl in ihr aus. Er beachtete sie nicht im Geringsten, denn er las versunken in einem Buch.
Ihr Blick wanderte weiter, noch ein älterer Junge, vielleicht achtzehn, mit sonnengebräunter Haut, dunkelbraunen Locken und grünbraunen Augen, die sie freundlich anblickten, als er sie anlächelte.
Und im einzigen Sessel, schräg vor dem Kamin, in dem das Feuer gemütlich brannte, saß der Mann, der wahrscheinlich Nys war. Er war sehr groß und muskulös und hatte längere, tiefschwarze Haare, die er ordentlich zu einem Zopf gebunden hatte. Seine Beine, in eine lockere schwarze Jeans gehüllt, hatte er bequem überschränkt. Alles in einem wirkte er wie ein exotisches Tier. Eve betrachtete ihn gerade, als seine eisblauen Augen ihren Blick fanden und er lächelte. Seine Zähne leuchteten genauso weiß wie das Hemd, das er trug.
„Willkommen, Evelyn. Setz dich doch.“ Er deutete mit dem Kopf auf eine freie Stelle auf dem Sofa zwischen Grace und dem Jungen mit den Locken.
„Danke“, murmelte sie und ließ sich neben Grace nieder, dann richtete sie den Blick wieder auf Nys.
„Fühlst du dich besser?“, fragte er mit sanfter Stimme. Sie nickte scheu. „Es freut mich, das zu hören.“
„Sie sind Nys, nicht wahr?“ Sein Lächeln wurde breiter.
„Ja“, gab er zurück. „Nys Dephenderas.“
„Dann waren sie es, die mich aus dem Tunnel geholt haben. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.“
Er schüttelte den Kopf. „Das war nicht ich. Der Befehl kam lediglich von mir. Die Personen, die dich hierher gebracht haben, waren diese drei. Ivo, Don und Florence.“ Mit zufriedenem Gesicht blickte er in die Runde.
Der Junge neben Eve lächelte sie an. „Ich bin Ivo.“ Sie erwiderte sein warmes Lächeln, das ihr ein wenig das Gefühl gab, hier nicht völlig fremd zu sein. „Wir sind heilfroh, dass wir dich da raushauen konnten“, sagte er.
Florence hob den Kopf und sah sie an. „Und zum Glück war es noch nicht zu spät“, meinte sie und fügte ein kleines Lächeln hinzu. Don, der neben ihr saß, sah nicht einmal von seinem Buch auf.
Eve wandte sich wieder Ivo zu. „Wie meint ihr das, dass es noch nicht zu spät war? Wofür zu spät?“
Überrascht blickte er sie an. „Hast du denn nichts gespürt während der Zeit, in der du da unten warst?“
„Doch, irgendwie schon“, meinte sie zögernd. „Aber ich kann mich kaum noch erinnern...“ Sie starrte auf die Tischplatte vor sich, auf der das goldorangene Kaminlicht tanzte.
„Was fällt dir noch ein?“, hakte Nys nach.
„Ich weiß, dass ich einen Auftrag mit meinem Vater und meiner älteren Schwester hatte. Aber was danach geschehen ist, weiß ich nicht mehr.“
„Ihr wurdet angegriffen. Daher hast du die Narben.“
Eve blickte ihn verwirrt an. „Aber wie kann es sein, dass sie schon so weit verheilt sind? Ich meine, wie lange war ich denn da unten?“
„Ungefähr zwei Wochen“, antwortete er ihr, worauf sie noch verwirrter dreinschaute.
„Das ist unmöglich, innerhalb so kurzer Zeit können diese Wunden nicht verheilt sein, bei den Narben, die sie hinterlassen haben.“ In dem Moment blickte Don auf und tauschte einen kurzen, wissenden Blick mit Nys.
„Bist du dir da sicher?“, fragte Nys sie.
„Natürlich!“, erwiderte sie überzeugt. „Das ist völlig unmöglich.“
Nys fuhr sich seufzend durch ein paar lose Haarsträhnen. „Du weißt also wirklich nicht, was passiert ist...“, stellte er fest.
„Nein, daher dachte ich, Sie würden mir endlich erklären, was los ist und wann ich zurück zu meiner Familie kann.“
„Niemals mehr“, entgegnete er traurig.
„Wie bitte?“, wollte sie perplex wissen.
„Du wirst nie wieder zurück zu deiner Familie können“, wiederholte er.
Abrupt erhob sie sich und sah ihn ungläubig an. „Was reden Sie da?“, rief sie aufgebracht.
„Fühlst du dich irgendwie fremd oder verändert?“, wollte er plötzlich wissen.
„Ich wüsste nicht, was das...“, setzte sie aufgebracht an.
„Trifft das auf dich zu?“, unterbrach er sie. Sie schwieg, denn sie wusste die Antwort darauf bereits. Langsam ließ sie sich zurück auf das Sofa sinken.
„Ja, schon“, gab sie zu. „Ich war mir selbst fremd, unglaublich zornig und wusste überhaupt nicht, warum. Alles fühlte sich plötzlich anders an.“
„Du warst dabei, deine Seele zu verlieren“, eröffnete Nys ihr.
Was soll das? Was erzählt er?Haben diese Leute hier etwa alle eine Schraube locker? Sie wollte doch einfach nur nach Hause.
„Du weißt, was ich meine, nicht wahr?“ Sie erschrak und sah wieder Nys an. Grace blickte sie mitfühlend an, doch Eve ignorierte ihren Blick.
„Nein“, sagte Eve. Zur Hälfte glaubte sie an seine Worte. Zum anderen Teil kam es ihr total suspekt und verrückt vor. Noch nie hatte sie gehört, dass jemand seine Seele verloren hatte.
„Als Florence eben meinte, es sei fast zu spät gewesen, um dich zu retten, war damit gemeint, dass nicht mehr viel gefehlt hätte, dann wärst du...“, begann Nys, hielt dann aber inne. Er nahm seine Füße herunter und beugte sich bedacht nach vorne. „Du bist jetzt kein Mensch mehr, dass weißt du doch, oder?“, fragte er, worauf sie laut auflachte, als hätte er einen schlechten Scherz gemacht.
„Kein Mensch mehr? Also bitte, so etwas Albernes habe ich noch nie gehört“, erwiderte sie. Da war es wieder, dieses seltsame Gefühl, ihr eigener Körper, der ihr fremd vorkam.
„Das ist mein voller Ernst“, entgegnete er und blickte düster drein, dann lehnte er sich wieder in seinem Sessel zurück.
„Das kann nicht sein...“, murmelte sie erstickt und Tränen brannten in ihren Augen. Sie wollte einfach nach Hause, weg von diesen Leuten.
Grace berührte sachte ihre Schulter, worauf sie zurückschreckte. „Tut mir leid...“, sagte Grace und ließ die Hand wieder sinken. „Euer Auftrag ist schief gegangen. Ihr solltet etwas anlocken, was in dem Tunnel lebte. Das habt ihr auch geschafft, aber dann hat dich dieses Wesen schwer verletzt“, erklärte sie Eve und warf ihr einen traurigen Blick zu. Eve wusste, dass sie die Wahrheit sagte. Denn eines hatte sie nicht vergessen.
„Da war dieser entsetzliche Schmerz“, wisperte sie.
„Das Wesen, was euch angegriffen hat, nennen wir Dämon. Er hat dir beide Hüftgelenke und dein linkes Schlüsselbein gebrochen“, erzählte Ivo.
„Daher die Narben.“ Eve schluckte. „Ein Dämon...“, flüsterte sie.
„Kannst du dich an ihn erinnern?“, fragte Ivo.
„Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir wieder ein. Er war so unglaublich grässlich, sein Aussehen, seine Laute, einfach alles.“ Sie konnte nicht verhindern, dass ihr eine Träne aus dem Auge kroch und auf die Hose tropfte, wo sie einen dunklen Fleck hinterließ. Sie sagten die Wahrheit. Sie wollte es nur nicht wahrhaben. Es war alles viel zu verrückt und verworren. „Es tut mir leid. Ich habe Ihnen nicht geglaubt“, entschuldige sie sich dann.
„Macht nichts“, meinte Nys. Sie tastete mit der Hand nach der Narbe an ihrer Schulter, die sie selbst durch den Stoff ihres Pullovers deutlich spüren konnte.
„Sie sind so schnell verheilt...“ Erschrocken hielt sie inne. Eine schreckliche Ahnung kam in ihr hoch. „Bin ich jetzt etwa auch so ein...?“ Ihre Stimme brach.
„Zur Hälfte“, sagte Grace.
„Ich bin also ein Monster“, stieß sie erstickt hervor. Ihre Finger krallten sich in den weichen Pullover. Das konnte alles nicht wahr sein! „Und all das Blut an meinen Klamotten war nicht nur von mir, oder?“, fragte sie ängstlich. „Ich habe etwas Schlimmes getan, nicht wahr...?“
„Du hast niemanden verletzt, zumindest keinen Menschen“, unterbrach Ivo sie rasch. „Du hattest Hunger und brauchtest dringend Nahrung, da war so etwas selbstverständlich.“
„Was ist selbstverständlich? Was habe ich getan?“, wollte sie wissen.
„Du hast gejagt, nichts weiter. Ein paar wilde Tiere, die sich in den Tunneln herumgetrieben haben, Füchse, Marder und Ratten“, sagte Ivo mit beruhigender Stimme, dennoch hatte Eve das Gefühl, dass an seiner Aussage irgendetwas nicht stimmte, abgesehen von dem Ekel, der sie dabei überkam. „Keine Sorge, du wirst lernen, es zu beherrschen. Den Zorn in dir zu beherrschen.“
„Und wenn nicht?“ Eve blickte ihn verzweifelt an und fragte sich, wie diese fremden Leute es schafften, sie dazu zu bringen, ihnen zu vertrauen.
„Du wirst es schaffen“, versicherte er ihr. Eve blickte die anderen im Raum an.
„Seid ihr alle zur Hälfte so? Dämon, meine ich.“ Ivo und Grace nickten. Sie blickte zu Nys hinüber.
„Ja. Und zwar schon eine ganze Weile“, sagte er.
„Nein, aber was ich wieder bin, erspar ich dir lieber“, kam es von Don.
Florence funkelte sie an. „Ich bin ein Mensch, aber komm ja nicht auf die Idee, mich zu einer deiner Mahlzeiten zu machen.“ Dann widmete sie sich wieder der schnurrenden Katze. Sollte das etwa heißen, die Dämonen ernährten sich von Menschenfleisch? Sie also auch? Oder hatte sie das vielleicht schon getan und Ivo hatte sie eben belogen? Sie spürte, wie ihr schlecht wurde.
Als Grace bemerkte, wie blass sie war, beruhigte sie Eve. „Keine Angst, wir essen keine Menschen. Das wäre ja wohl mehr als widerlich.“ Eve sah sie wenig überzeugt an. „Wirklich! Wir sind zwar Halbdämonen, aber das heißt nicht gleich, das wir auch so monströs wie richtige Dämonen sind, verstanden?“
Eve nickte nur. Ihr war noch immer schlecht. „Und ihr?“, wandte sie sich schließlich an Sheila und Fabio, die neben Nys’ Sessel saßen und puzzelten.
Fabio hielt inne und sah sie an. „Wir sind wie du. Haben wir von unserer Mama geerbt.“ Ihm schien dies nichts auszumachen, denn er grinste sie dabei ungerührt an.
Wahrscheinlich, weil sie damit aufgewachsen sind, dachte sie, während ihre Kehle brannte und sie glaubte, gleich erneut in Tränen auszubrechen. Warum hat es mich getroffen? Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ihr altes Leben zurück. Sie schluckte die Tränen herunter und sah Nys an.
„Es ist vererbbar?“, sagte sie, worauf er nickte.
„Und es ist höchst ansteckend. Du hast dich in dem Tunnel durch das Blut des Dämons infiziert, als er dich gebissen hat.“ Reflexartig griff sie nach ihrem Hals.
„Er hat mir die Kehle durchgebissen…“, flüsterte sie und hatte das Gefühl, den Schmerz wieder zu spüren, als die Erinnerung daran zurückkehrte. Die Flecken waren also der Rest von noch einer Narbe.
„Und es gibt kein Heilmittel?“, hakte sie hoffnungsvoll nach, doch Nys ließ ihre Zuversicht sofort verschwinden.
„Nein.“ Das alles konnte doch nur ein schlimmer Alptraum sein.
„Du bist sicher erschöpft.“ Sie sah hoch. Grace war aufgestanden und blickte sie fürsorglich an. „Das ist für den Anfang ziemlich viel auf einmal. Es wird dauern, bis du das alles verarbeitet hast. Willst du dich ein bisschen hinlegen?“
„Ich wohne jetzt also erstmal hier, oder?“
„Ja, betrachte es als dein neues Zuhause.“
Mein neues Zuhause? Es gibt für mich nur ein Zuhause, und das ist nicht hier. Es ist bei meiner Familie. Ihr fiel wieder Nys’ Antwort auf ihre Frage, wann sie nach Hause gehen könnte, ein. Niemals mehr. Florence schenkte ihr einen kurzen Blick.
„Wir alle sind hier, weil wir nicht nach Hause zurückkehren können. Auch du kannst das nicht“, sagte sie matt.
„Ich weiß. Schließlich bin ich jetzt zur Hälfte das, was mein Vater jagt.“ Müde und erschöpft erhob sie sich.
„Es tut mir sehr leid für dich“, sagte Nys und Eve schenkte ihm noch ein letztes, schwaches Lächeln.
„Vielen Dank für alles“, erwiderte sie nur.
„Keine Ursache. Wenn du irgendetwas brauchst, gib mir Bescheid“, bestand er.
„Mach ich. Dann bis morgen.“
„Grace, geh mit ihr in die Küche und sorg dafür, dass sie noch etwas Ordentliches zu Essen kriegt“, forderte Nys noch. Grace griff sogleich nach Eves Hand und zog sie sanft aus dem Wohnzimmer.
Eve saß auf dem Bett in dem Zimmer, in welchem sie vorhin aufgewacht war. Ab jetzt gehörte es ihr, hatte Nys ihr gesagt. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihre inzwischen fast trockenen Haare.
Grace stand neben dem Nachtschrank am Bett und kramte darin rum, auf der Suche nach einem Display, hielt jetzt aber inne. „Hier ist nichts“, murmelte sie. Eves Blick fiel auf ein Foto, das Grace aus der Schublade geholt hatte. Während es dort lag, betrachtete sie es genauer. Grace blickte ebenfalls kurz auf das Bild. „Das ist Clare“, erklärte sie. Die Frau auf dem Foto hatte schulterlange, goldblonde Locken, blaue Augen und war wunderschön. „Ich weiß nicht mal, wieso das Foto hier in der Schublade liegt." Grace’ letzte Worte waren nur mehr ein Murmeln.
„Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so glücklich aussieht“, sagte Eve. Ihr Lächeln wirkte echt und natürlich, nicht so aufgesetzt wie das von Florence oder den meisten anderen in Alban.
„Das war sie auch. Und Nys hat sie über alles geliebt, so wie sie ihn. Sie war der wichtigste Mensch für ihn.“ Das Wort Mensch betonte Grace besonders. Clare war also ein Mensch und kein Halbdämon gewesen.
„Was ist mit ihr geschehen?“ Grace erstarrte einen Moment.
„Sie ist gestorben“, sagte sie dann. Betroffen dachte Eve daran, wie freundlich Nys zu ihr gewesen war. Ihm ging es also ähnlich wie ihr. Auch er hatte etwas verloren, das niemand jemals würde ersetzen können.
„Wie ist es passiert?“ „Bei einem Auftrag. Sie war damals in derselben Einheit wie Nys.“
Überrascht blickte Eve auf. „Er war bei der Aufsicht?“
„Er ist es immer noch. Wir alle arbeiten für die Aufsicht.“ Als sie die Überraschung in Eves Gesicht bemerkte, fügte sie schnell hinzu: „Das erkläre ich dir morgen genauer, okay?“ Sie nahm das Bild an sich und schloss die Schublade. „Ohne sie wäre er nie so geworden, wie er jetzt ist. Und er liebt sie immer noch sehr“, sagte Grace. Für einen Moment fragte sie sich, wie alt Grace eigentlich war. Sie wirkte ziemlich reif, sah aber nicht älter als fünfzehn aus.
„Grace, wie alt bist du eigentlich?“, stellte sie deshalb die Frage.
„Vierzehn.“ Sie erntete einen erstaunten Blick von Eve.
Erst vierzehn. Und sie hat sicherlich schon viel mehr durchmachen müssen als ich. „Du wirkst viel älter.“
„Das machen die Umstände“, entgegnete Grace und wandte sich zum Gehen. „Na dann gute Nacht. Ich hoffe, du kannst schlafen. Schlaf ruhig, solange du willst. Ich frage Nys nachher noch nach einem Display für dich.“
„Danke... ich wünsch dir auch eine gute Nacht“, erwiderte Eve. Leise zog Grace die Tür hinter sich ins Schloss. Sie konnte nicht bestreiten, dass sie Grace mochte. Aber ich muss abwarten. Ich darf mich nicht zu sehr auf sie einlassen, ermahnte sie sich still. Aber tief drinnen wusste sie, dass Nys und die anderen weitaus ehrlicher als ihre richtige Familie zu ihr gewesen waren. Dennoch konnte auch diese Tatsache nicht die Tränen zurückhalten.
23.04. - Sonntag
Auch am nächsten Morgen war Eve noch ausgelaugt, obwohl die kleine Projektion des Displays auf dem Nachttisch bereits zehn Uhr vormittags anzeigte. Sie hatte so gut wie noch nie so lange geschlafen. Trotzdem war sie noch immer müde. Sie schwang sich aus dem Bett, ging zum Fenster und zog die schweren Vorhänge zu Seite. Der Himmel dahinter war grau und von dicken Nebelschwaden durchzogen. Eve wandte sich wieder um, griff nach den Sachen, die auf dem Boden neben ihrem Bett lagen, klemmte sich diese unter den Arm und ging aus dem Zimmer.
Schnell huschte sie in das Bad am Ende des Flures und schloss die Tür hinter sich. Der Blick in den Spiegel verriet ihr, dass sie schon wesentlich besser als gestern aussah. Vor allem nicht mehr so heruntergekommen. Sie zog sich das Schlafzeug, welches sie sich ebenfalls geliehen hatte, aus, drehte den Wasserhahn voll auf und wusch sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann rieb sie sich das Gesicht trocken und griff dann nach den Sachen von Florence. Eilig zog sie diese über ihre Unterwäsche und griff nach der Bürste. Währenddessen blickte sie sich nach der neuen Zahnbürste und dem Becher um, die sie auch gestern Abend benutzt hatte. Sie standen am Ende des kleinen Regals unter dem Spiegel. Schnell griff sie danach. Kurz bevor sie fertig war, sich die Zähne zu putzen, klopfte es bereits an der Tür.
„Hey, wer ist da drin?! Ich muss jetzt ins Bad!“ Es war die Stimme von Florence. Eve spuckte noch schnell den Zahnpastaschaum in das Waschbecken, spülte sich den Mund aus und ging zur Tür. Als Florence sie sah, murmelte sie nur kurz „Ach, du bist es.“ Sie trug ein kurzes, eng anliegendes Nachthemd, dessen Saum und Dekolleté mit feiner Spitze verziert war. „Fertig?“
„Ja“, gab Eve zurück, dann rauschte Florence auch schon an ihr vorbei und schloss die Badezimmertür hinter sich. Eve ging zurück in ihr Zimmer und warf das Schlafzeug aufs Bett. Leise schloss sie die Tür und setzte sich auf das Bett. Sie könnte jetzt nach unten gehen, da Nys und die anderen sicherlich auch schon wach waren. Aber was sollte sie dort unten? Sie war fremd unter all diesen Leuten, die sie kaum kannte. Ihre Namen waren so gut wie das Einzige, was sie kannte. Sie rollte sich auf die Seite und starrte aus dem Fenster.
Sehnsucht, die sie nach Hause leiten wollte, überflutete sie. Ich kann auf keinen Fall zu ihnen zurück. Was würde mein Vater sagen, wenn er mich jetzt sehen würde? Die Worte der anderen am Vortag kamen ihr wieder in den Sinn. „Du bist kein Mensch mehr“, hatten sie gesagt. Oder zumindest nicht mehr vollständig. Und diesen neuen, fremden Teil in ihr, den sie in den Tunneln nicht hatte kontrollieren können, war das, was ihr Vater hasste. Das, was er, Audrey und der Rest der Aufsicht jagten. Dämonen.
Sie hatte nun keine Familie mehr. Allein der Gedanke daran ließ sie aufschluchzen. Der Dämon würde zurückkehren, wild und zornig, würde immer mehr von ihr wegwaschen, immer mehr von ihrer Seele stehlen. Eve schrak kurz hoch, als sie darüber nachdachte. So ein Quatsch. Wer sagt, dass du deine Seele verlierst? Niemand. Also hör auf, dir über so was Gedanken zu machen. Überlege dir lieber, wie du die Zeit hier überstehen willst. Oder besser gesagt, die nächsten Jahre, denn nach Hause zurückkehren kannst du scheinbar nicht.
Diese Tatsache schien unbegreifbar und ihr entfuhr erneut ein leiser Schluchzer, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. Leise weinend vergrub sie ihr Gesicht in den weichen Kissen, während kleine Regentropfen vom Himmel fielen. Der Regen wurde bald stärker und die eben noch leichten Tropfen wurden immer größer und bald trommelten dicke Tropfen laut gegen das Fenster. Es kam ihr beinahe so vor, als würde der Regen mit ihr weinen und ihr dabei helfen wollen, die Trauer wegzuwaschen. Doch die Trauer blieb, genau wie der Regen.
Sie saß mit angezogenen Beinen auf dem Bett, als es an der Tür klopfte. Als sie nichts erwiderte, öffnete sich die Tür einen Spalt breit und Grace lugte ins Zimmer.
Besorgt sah sie Eve an, die langsam aufblickte. „Alles okay?“ Zur Antwort nickte Eve nur. Grace schlüpfte ins Zimmer und setzte sich neben sie auf das Bett. „Du hast heute noch gar nichts gegessen, oder?“
„Ich hatte noch nicht wirklich Hunger“, meinte Eve und dachte an gestern zurück, als sie sich das Essen mehr oder weniger hatte herunterquälen müssen.
„Bei dem, was du durchgemacht hast, musst du Hunger haben. Komm doch mit herunter, das Mittagessen ist fertig. Es ist wirklich lecker.“ Eve wandte den Kopf ab und sah aus dem Fenster, worauf Grace sie sanft am Arm nahm. „Na los, komm mit. Seit gestern Abend hast du nichts mehr gegessen. Dabei musst du dringend wieder zu Kräften kommen.“ Eve sah sie wieder an und lächelte matt. In Wahrheit hatte sie sogar großen Hunger, doch es fühlte sich an, als würden all ihre Gefühle ihr die Kehle zuschnüren.
Sie würde es Grace nicht sagen, aber allein schon bei ihnen zu sein, war schrecklich. Und dann auch noch mit ihnen zu essen und so tun zu müssen, als wäre alles in Ordnung, während sie sich in Wahrheit noch nie so allein und verloren gefühlt hatte, würde nur dafür sorgen, dass es ihr noch elender ging. Die anderen waren mit diesem Leben scheinbar zufrieden, aber ob sie das jemals würde werden können?
„Ich komme gleich“, gab Eve irgendwann nach. Als Grace das hörte, entspannte sich ihre besorgte Miene etwas, doch sie stand nicht auf und ging, sondern blieb noch neben ihr sitzen.
„Am Anfang ist es die Hölle, aber du musst versuchen, loszulassen. Wenn du das nicht tust, frisst es dich immer weiter auf.“ Eve sah Grace eine Weile einfach nur an, die schweigend ihre Hände musterte. In ihren Augen lag derselbe Schmerz, den auch sie im Moment empfand.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann...“, gestand sie dann. Grace wandte sich mit einem traurigen Lächeln zu ihr um.
„Das dachte ich auch zuerst.“ „Wie bist du damit klargekommen, dass du...“, begann Eve. Sie wollte zuerst „Wie bist du damit klargekommen, dass du ein Monster geworden bist?“ sagen, ließ es dann aber. „...anders bist?“, beendete sie stattdessen den Satz. Die Traurigkeit verschwand aus dem Blick von Grace und wich einem anderen, fast glücklichen Ausdruck.
„Nys hat mich gerettet. Er hat mich bei sich aufgenommen und für mich gesorgt.“ Sie blickte wieder zur Wand. „Ohne ihn wäre ich nicht so stark geworden. Dann hätte ich sicher schon kurz nach meiner Wandlung meine Seele verloren.“
Am liebsten hätte Eve sie gefragt, wie es bei ihr gewesen war und wie sie sich gewandelt hatte. Aber die Frage erschien ihr zu persönlich. Wenn Grace sie mochte, würde sie es ihr irgendwann selbst erzählen. In dem Augenblick vernahmen sie die Stimme von Florence von unten.
„Grace! Wo bleibst du denn?! Und bring gefälligst Evelyn mit runter!“, rief sie laut.
Grace seufzte auf und erhob sich. „Na dann wollen wir sie mal nicht warten lassen.“ Eve folgte ihr aus dem Zimmer die Treppe herunter.
Die Küche war genauso riesig wie der Rest des Hauses. Sie war mindestens fünf Mal so groß wie die Küche in ihrem alten Zuhause. Bis auf sie beide waren schon alle da und hatten auf den Stühlen Platz genommen. Grace setzte sich neben Ivo, während Eve sich auf einen freien Platz links neben Nys am Tisch sinken ließ.
Dieser begrüßte sie freundlich und erkundigte sich, wie es ihr ging. „Ich fühle mich noch immer, als hätte mich ein Zug überfahren. Ein verdammt großer Zug“, gab sie zurück, worauf Nys lachte.
„Das glaube ich dir.“ Eve starrte auf die Tischplatte vor sich, während Florence schon anfing, die Teller mit Spaghetti und Tomatensoße zu füllen. Fabio links von ihr beäugte derweil misstrauisch den Teller vor sich, den sie ihm hingestellt hatte und rührte in den Spaghetti herum, während Sheila neben ihm schon begierig aß, nachdem sie ihren Teller bekommen hatte. „Das wird schon.“ Nys gab ihr einen Stupser in die Seite, was Eve irgendwie verlegen und noch unsicherer machte.
„Ja“, sagte sie nur und blickte über den Tisch hinweg zu Grace, die sich gerade mit Ivo unterhielt. Dieser nickte zur Antwort immer und schlürfte dabei lächelnd seine Nudeln. Dann schob sich von der Seite ein bis zum Rand gefüllter Teller in ihr Blickfeld und Florence flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Zuerst dachte Eve, sie wollte sich irgendwie über sie lustig machen, aber sie sagte nur: „Das wird alles aufgegessen, verstanden?“ Das hätte schon fast fürsorglich klingen können, hätte Florence es nicht wieder in diesem kühlen Tonfall gesagt. Florence wandte sich wieder ab und nahm jetzt ebenfalls Platz. Der Duft der Soße stieg Eve verlockend entgegen und ihr Magen meldete sich wieder. Zögernd nahm sie ihre Gabel in die Hand.
Die leuchtend rote Farbe der Soße weckte schlechte Erinnerungen. Erinnerungen an dunkles Blut, ihr eigenes, vermischt mit dem des Dämons, das an ihren Händen und an ihrer Kleidung geklebt hatte. Sie hielt inne und ihre Hand mit der Gabel verharrte reglos in der Luft.
Als Grace bemerkte, wie sie die Hand sinken ließ, schaute sie besorgt zu ihr herüber. „Alles in Ordnung?“ Eve nickte schnell und griff nach einem Glas mit Wasser, das vor ihr stand. Sie nahm einen großen Schluck, dann begann auch sie, zu essen, während sie das unbehagliche Gefühl, das sie verspürte, zu ignorieren versuchte. Grace blickte sie noch immer besorgt an, genau wie die anderen inzwischen. Doch Eve ignorierte ihre Blicke und aß weiter.Nach einer Weile fing Grace wieder an, mit Ivo zu plaudern und auch die anderen wandten sich ab. Eve blickte kurz auf und ließ ihren Blick über die anderen gleiten.
Nys tippte nebenbei ziemlich geschäftsmäßig auf seinem Display herum, Fabio und Sheila schoben ihre leeren Teller hin und her, Don starrte beim Essen ins Nirgendwo und Florence aß lustlos ihre Eigenkreation. Nys neben ihr erhob sich, um sich noch eine Portion einzufüllen.
Dabei blickte er kurz in die Runde. „Will noch jemand...?“ Sheila schob ihm begierig ihren Teller hin, genau wie Ivo. Die anderen schüttelten den Kopf. Dann blickte Nys Eve an. „Du auch nicht?“
„Nein, ich bin schon satt...“, behauptete sie, doch er überhörte das geflissentlich.
„Du kannst unmöglich schon satt sein“, meinte er und ehe sie protestieren konnte, zog er ihr den Teller weg und befüllte ihn neu. Während Nys sie beobachtete, aß sie ihre zweite Portion.
Nachdem alle fertig waren, erhoben sie sich, bis auf Don, der schon früher verschwunden war. Grace erklärte ihr noch kurz, dass sie sich jederzeit etwas aus der Küche holen konnte, wenn sie Hunger hätte. „Unser Kühlschrank ist immer voll. Also nehm dir einfach was“, sagte sie freundlich.
„Danke, das werde ich“, antwortete sie an Grace gewandt, während Ivo und Florence schon anfingen, den Tisch abzuräumen, wovor sie aber die Zwillinge rausschickten, die angefangen hatten, zu toben. Als Eve nett fragte, ob sie etwas helfen könnte, schickte Florence auch sie weg, weil sie meinte, keine Hilfe weiter zu benötigen.
Als Eve sich abends in ihr Bett kuschelte, fühlte sie sich hin- und hergerissen. Sie fühlte sich in der Nähe der anderen recht wohl, bis auf Don vielleicht, aber der war gleich nach dem Mittagessen irgendwo anders hin verschwunden. Morgen würde sie von Nys verlangen, ihr mehr über sich zu erzählen. Es gab so viele Fragen, die noch nicht geklärt waren.
Warum arbeitete er für die Aufsicht, wo er doch ein Halbdämon war? Woher nahmen sie das ganze Geld für das Haus und anderes? Wieso nahm er Eve so bereitwillig bei sich auf? Nachdem sie noch eine ganze Weile darüber gegrübelt hatte, fiel sie irgendwann in einen unruhigen Schlaf voll wirrer Träume.
29.04.2173 - Samstag
Ihre innere Uhr weckte sie am nächsten Morgen weitaus früher als am vorherigen Tag und nachdem sie kurz im Bad gewesen war, ging sie ins Wohnzimmer. Ivo saß in Nys’ Sessel, während Florence auf dem Teppich mit Sheila und Fabio mit Murmeln spielte. Dieser Anblick machte sie für einen Moment traurig, denn als sie Sheila ansah, erinnerte sie sich an ihre eigene Kindheit. Ihre Kindheit, die zu einem großen Teil aus Training bestanden hatte. Sie dachte daran, wie oft sie sich beim Training verletzt hatte. Ob Sheila und Fabio bald das Gleiche erwartete? Schweiß, Blut und Tränen... Alles wiederholte sich, bis man gelernt hatte, erbittert zu kämpfen und die Schmerzen zu einem Teil von sich selbst zu machen.
Irgendwann kam auch Grace dazu, die Eve fragte, ob sie nicht Lust hätte, gemeinsam mit ihr das Frühstück vorzubereiten. Eve sagte zu, denn das würde sie vielleicht von ihren trüben Gedanken ablenken.
Kurz bevor sie fertig waren, wurde die Tür aufgestoßen. Nys, dem die offenen Haare wild über die Schultern hingen, schlurfte in Boxershorts und Unterhemd zum Tisch, murmelte ihnen noch schnell ein „Guten Morgen“ zu und ließ sich dann auf einen Stuhl fallen. Müde griff er nach der Kaffeekanne. Eve sah zum ersten Mal das saphirblaue Tattoo, das unter seinem Hemd zum Vorschein kam, sich von hinten um seine rechte Schulter und seinen Oberarm wand und wie verschlungene Ornamente aussah, aber Eve konnte es nicht genauer erkennen. Allmählich trudelten auch die Restlichen ein.
Sobald alle fertig mit frühstücken waren, ging Eve mit Grace nach oben. Unterwegs begegneten sie einer kleinen, zart gebauten Frau, die schnell den Kopf senkte, als sie Grace und Eve bemerkte und dann schnell an ihnen vorbeihuschte. Sie war anscheinend eine Art Dienstmädchen, was Eve wieder einmal das Gefühl gab, auf einem völlig fremden Planeten gelandet zu sein. Andererseits war es auch verständlich, dass jemand, der solch ein riesiges Haus besaß, auch Bedienstete brauchte, die es in Stand hielten. Nys hatte sicherlich keine Zeit dazu, jeden einzelnen Raum zu putzen. Und bei dem Geld, das er anscheinend verdiente, konnte er es sich so was wohl leisten. „Habt ihr noch mehr Bedienstete?“, platzte Eve kurz darauf neugierig heraus.
„Insgesamt gibt es drei Dienstmädchen, die sich immer abwechseln“, erzählte Grace und Eve seufzte.
„Muss schön sein, ein eigenes Dienstmädchen zu haben“, murmelte sie.