Dana und die Bischofbande - Manuela Schoop - E-Book

Dana und die Bischofbande E-Book

Manuela Schoop

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Das ist der dritte Band der Bischofbandenreihe. Nachdem Jane mit ihren Eltern von Hamburg nach Weißwald gezogen ist, überredet ihre Cousine sie, die Anführerin der Bischofbande zu werden – zu dumm nur, dass der tollste Junge des ganzen Dorfes, Christian Kaiser, der Willemsanführer ist. Die beiden kehren vierundzwanzig Jahre später als Ehepaar aus Hamburg zurück. Dana, ihre Tochter, hasst es, in der kleinen Stadt Weißwald wohnen zu müssen. Doch als sie im Kinderzimmer ihrer Mutter ein altes Tagebuch findet, ändert sich plötzlich alles für sie.

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Seitenzahl: 361

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Dana und die Bischofbande

Bandenjahrgang

1961 – 1969

und 1985 – 1993

von

Manuela Schoop

Weitere Bände dieser Reihe:

Band 1 Lissi und die Bischofbande

Bandenjahrgang 1969 – 1977

Band 2 Jessi und die Bischofbande

Bandenjahrgang 1977 – 1985

Band 4 Mara und die Bischofbande

Bandenjahrgang 1993 – 2001

Band 5 Alex und die Bischofbande

Bandenjahrgang 2001 – 2010

Band 6 Franzi und die Bischofbande

Bandenjahrgang 2010 - 2019

IMPRESSUM

Texte: © Copyright by Manuela Schoop

Umschlaggestaltung: © Copyright by Manuela Schoop

Verlag:

Manuela Schoop

Im Bendchen 22

50169 Kerpen

www.die-bischofbande.de

Lektorat: 

Agnes Spengler

c/o wortspenglerei.de

Wortspenglerei | Werkstatt für Lektorat und Text in München

Illustrationen:

Indigodesign.at, generative KI, Midjourney

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, 2024

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Am 5. August 1905 gründete Franz Bischof, gerade erst neun Jahre alt geworden, die Bischofbande.

Fast alle Kinder in dem kleinen, im Süden gelegenen verträumten Dorf Weißwald wurden Mitglied, aber als Erstes hatte Franz seinen besten Freund Karl Willem eingeladen, der Bande beizutreten.

Die Kinder verbrachten zwei wunderbare Jahre miteinander. Doch die Harmonie fand ein jähes Ende, als ein heftiger Streit zwischen Franz und Karl entbrannte. Die restlichen Bandenmitglieder ergriffen jeweils die eine oder andere Partei und die einstmals große Bande spaltete sich in zwei Gruppen. Karl wurde Anführer des anderen Teils, den er von nun an Willemsbande nannte.

Die beiden Banden hassten sich sehr und bekämpften sich, wo sie nur konnten.

Als die Kinder jedoch zu jungen Leuten herangewachsen waren, vergaßen sie allmählich ihre Streitigkeiten. Sie trafen sich nicht mehr in ihren Lagern und verbrachten ihre Zeit mit anderen, ihnen nunmehr wichtiger erscheinenden Dingen. Die nächste Generation der Kinder, beeindruckt von den Bandenspielen, wollten nicht akzeptieren, dass es die beiden Banden nicht mehr geben sollte. Und so beschlossen sie, deren Rollen zu übernehmen.

Kapitel 1

19. Juli 1968

Verärgert starrte Jane auf die noch immer geschlossenen Umzugskartons, die sich ihr gegenüber an der Zimmerwand stapelten.

Noch gestern war ihr Leben schön und voller Energie gewesen, doch nun kam sie sich wie lebendig begraben vor. Weshalb hatten ihre Eltern nicht bis zu ihrem Schulabschluss mit dem Umzug nach Weißwald warten können? Oh, wie sie sich nach Hamburg sehnte!

Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie den Stadtstress nicht mehr vertrage.

So ein Blödsinn, dachte Jane. Es hätte doch gereicht, in einen Außenbezirk zu ziehen. Leider besaßen ihre Schwester Viola und deren Ehemann Albert einen großen Gutshof samt Gestüt. Sie hatten der Familie angeboten, bei ihnen zu wohnen.

Sie war so wütend auf ihre Eltern! Wie konnten sie nur so einfach über ihren Kopf hinweg entscheiden, ohne sie zu fragen?

Wenigstens wollte ihr Vater, der Brite war, nicht nach England zurück. Das hätte ihr gerade noch gefehlt.

Jane vermisste schon jetzt ihre Freunde, besonders ihre beste Freundin Katrin. Noch hatte sie keine Vorstellung davon, wie die jungen Leute in einem Dorf tickten. Vermutlich waren alle spießig und hörten sich brav die neuesten Schlager an. Sicher würde sie hier mit ihrer Hippiekleidung wie ein bunter Hund auffallen.

Soweit sie während der Autofahrt sehen konnte, war Weißwald eine relativ große Gemeinde. Lange fuhren sie auf der Landstraße an dichten Wäldern vorbei und kurz vor dem Dorf hatte sie in der Ferne einen See erspähen können.

Onkel Albert besaß eine Pferdezucht, und Janes Vater hatte es sich in den Kopf gesetzt, ins Geschäft einzusteigen. Tante Viola sah Janes Mutter ziemlich ähnlich. Sie war ebenfalls hellblond und groß. Onkel Albert hingegen war rothaarig mit vielen kleinen Locken und überall im Gesicht und auf den Armen hatte er eine Menge Sommersprossen. Alles an ihm schien rot zu sein. Aber am besten gefiel es Jane, dass er immerzu lachte.

Ihr Cousine Alice hatte sie bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen. Sie kannte sie nur von alten Fotos.

Jane hoffte, dass sie nicht allzu spießig war, schließlich würden sie von nun an viel Zeit miteinander verbringen müssen.

Am späten Nachmittag betrat Alice, nachdem sie kurz angeklopft hatte, das Zimmer ihrer Cousine. Auch sie hatte sich Gedanken darüber gemacht, wie wohl die neuen Hausbewohner aus Hamburg sein würden. Inständig hoffte sie, dass Jane nett war, und man gut mit ihr auskommen konnte.

Das Erste, was sie vernahm, war ein älterer Song von den Beatles [1] und die Stimme ihrer Verwandten, die laut mitsang.

Jane erblickte ihre Cousine, lief zum Schallplattenspieler und drehte die Musik leiser. Alice hatte das Aussehen und anscheinend auch das sonnige Gemüt ihres Vaters geerbt. Sie mochte Alices lange, rot gelockte Haare, die vielen Sommersprossen und die dunkelbraunen Augen sofort.

»Hallo Alice.«

»Du bist Jane Wellway, die Engländerin?«, erwiderte Alice strahlend. »Ich war so gespannt darauf, dich endlich einmal kennenzulernen. Oh, Jane, man sieht dir an, dass du aus der Großstadt kommst. Du siehst aus wie die Hippie-Modelle aus den Magazinen. Du hast ein unglaublich hübsches Gesicht. Ich wünschte, ich hätte so schöne langen blonden Haare und deine hellen blauen Augen.«

»Englisch nur zur Hälfte. Und du bist Alice?«, unterbrach Jane sie verlegen, als die Cousine Luft holte. »Ich finde dich auch sehr hübsch. Die roten Locken sehen so schön wild aus.«

»Oh, man hört direkt, dass du aus dem Norden kommst«, rief Alice sogleich erstaunt. »Du betonst die Worte so anders.«

»Ich werde mich bemühen, hochdeutsch zu sprechen«, erwiderte Jane schmunzelnd.

Nachdem Alice die Schallplatten und Bücher ihrer Cousine neugierig inspiziert hatte, begann sie, von zwei Banden, den Bischofs und den Willems zu erzählen. Sie selbst gehörte zu der Bischofbande. Verwundert lauschte Jane ihren Worten. Laut Alice waren die Banden harmlos, keine Halbstarken [2], sondern nur ein Zeitvertreib für einige Kinder in Weißwald, die inzwischen zu Jugendlichen herangewachsen waren.

»Kinder, kommt ihr zum Abendessen?«, rief Janes Mutter laut vor der Tür, ohne hineinzuschauen.

»Woher weiß sie, dass ich bei dir bin?«, fragte Alice verwundert.

»Meine Mutter weiß alles«, antwortete Jane lachend. »Vor ihr kann man nichts verbergen.«

»Ha, genau wie meine Mutter«, rief Alice grinsend. »Na, dann lass uns mal ins Esszimmer gehen. Ich bin gespannt darauf, deine Eltern kennenzulernen.«

20. Juli 1968

Als Jane am nächsten Morgen erwachte, wusste sie erst gar nicht, wo sie war, doch schnell kehrten ihre Erinnerungen zurück.

Als sie wenig später gerade dabei war, sich anzuziehen, rauschte Alice in ihr Zimmer.

»Guten Morgen Jane, gut geschlafen? Was hast du geträumt?«, fragte sie und grinste dabei wie ein Honigkuchenpferd.

»Moin [3]. Allerbest, un mien Droom blievt en Geheemnis [4]«, antwortete Jane und schminkte sich so, wie sie es in hippen Modezeitschriften gesehen hatte. »Oh, ich muss ja Hochdeutsch sprechen. Zeigst du mir das Gestüt?«

»Du willst doch nicht etwa so rausgehen?«

»Jo [5], stimmt was nicht?«

»Du wirst hier viele Blicke auf dich ziehen. Na, gehen wir erst einmal frühstücken. Mal sehen, ob meine Mutter der Schlag trifft.«

»Du meinst, ich sollte etwas weniger Farbe auftragen?«, fragte Jane, verblüfft über Alices Geschick, ihr Aussehen zu kritisieren und sie dennoch so zu akzeptieren, wie sie war.

Ohne zu antworten, grinste Alice ihre Cousine an.

Ihr zuliebe ging Jane komplett ungeschminkt hinunter in das Frühstückszimmer.

»Oh Jane, sobleek [6] habe ich dich ja lange nicht gesehen«, rief ihre Mutter erstaunt aus, als sie ihre Tochter durch die Tür kommen sah.

»Jo«, meinte Jane nur und wies zu Alice. »Du kannst dich bei ihr dafür bedanken.«

Eine Stunde später zeigte Alice ihrer Cousine das weitläufige Anwesen, zu dem das Gestüt, die Koppeln und viele Nebengebäude gehörten. Sie erzählte von der Geschichte des Gestüts und den vielen Modernisierungen, die in den letzten Jahren erfolgt waren. Schließlich standen sie vor einem langgezogenen Backsteingebäude.

»Das ist der größte von unseren Pferdeställen. Hier stehen unsere eigenen Pferde. Die anderen Ställe dienen als Pferdepension. Pferdebesitzer aus Weißwald und der Umgebung haben dort ihre Pferde untergestellt. Sie zahlen für die Boxen, das Futter, das Misten und den Weidegang. Das ist zwar eine Menge Arbeit, aber es bringt gutes Geld ein.«

»Und hier züchtet ihr Pferde?«

»Ja. Komm, ich zeige sie dir.« Gemeinsam betraten sie den Stall und Alice bemerkte, wie Jane die anwesenden Tiere bewundernd musterte.

»Wie wäre es, wenn ich dir das Reiten beibringen würde?«, schlug sie vor. »Es ist nicht schwer.«

»Meinetwegen«, entschied Jane spontan. »Ich habe allerdings das letzte Mal als Kind bei einer Kirmes auf einem Ponyrücken gesessen.«

»Ach, das ist nur eine Frage der Gewohnheit. Ich gebe dir Lisa. Sie ist sehr lieb und zutraulich.«

In Windeseile sattelte Alice eine schwarzweiß gescheckte Lusitano-Stute, half ihrer Cousine in den Sattel und erklärte ihr, auf was sie zu achten habe.

Unsicher blickte Jane auf die Zügel in ihrer Hand. Während sie überlegte, ob sie nicht doch besser absteigen sollte, ertönte plötzlich ein lauter Knall. Das Auto eines Mitarbeiters, der gerade das Gestüt verlassen wollte, hatte eine Fehlzündung. Lisa buckelte, stieg und ging durch. Voller Panik krallte sich Jane an der Mähne der Stute fest.

»Von wegen ruhig!«, schrie sie entsetzt, während sie Alice »Greif nach den Zügeln!«, rufen hörte.

»Haaaaalt, brrrr, stopp!«, kreischte Jane angsterfüllt, doch es half nichts.

Es war kaum eine Minute vergangen, aber ihr kam es wie Stunden vor, als plötzlich ein Pferd neben ihr auftauchte.

Der mutige Reiter griff nach Lisas Zügeln und hielt beide Pferde an.

Erleichtert fluchte Jane in der blumigsten Seemannssprache, bevor sie sich langsam aufrichtete.

»Dank ok [7]!«, sagte sie dann, sich auf ihre guten Manieren besinnend.

»Gern geschehen.« Ihr Retter lächelte sie fröhlich an. »Es war mir ein Vergnügen. Du bist Jane Wellway, Alices Cousine aus Hamburg?«

Er hat eine angenehme Stimme. Jane wendete ihren Kopf in seine Richtung und erstarrte. Erstaunt stellte sie fest, dass ein unglaublich hübscher Junge vor ihr stand. Er schien in ihrem Alter zu sein, hatte strahlende, von langen schwarzen Wimpern umrahmte dunkelblaue Augen, eine nahezu perfekte Nase und schön geschwungene Lippen. Am meisten gefiel ihr jedoch sein bis zu den Schultern reichendes, dunkelbraunes, gewelltes, jedoch etwas zerzaustes Haar. Im Gegensatz zu ihrer Jeans und dem bunten Batikshirt trug er ein rotes Poloshirt, mit Schmutz bespritzte schwarze Reithosen und Reitstiefel.

Galant half er ihr beim Absteigen und ein paar Sekunden sah es so aus, als wolle er sie nicht so schnell wieder loslassen.

»Das stimmt. Und mit wem habe ich die Ehre?«, fragte Jane schüchtern und mit schnell klopfenden Herzen, nachdem sie sich wieder etwas gefasst hatte.

»Ich heiße Christian Kaiser«, antwortete er und sein hübsches Gesicht überzog sich mit einer leichten Röte.

An diesen Namen erinnerte sie sich.

»Du bist der Anführer der Willemsbande!«

»Ah, Alice hat dir schon von uns erzählt. Man hört, dass du aus Hamburg kommst.«

»Ich bin dir so dankbar, dass du mich gerettet hast. Nur Sekunden später, und ich hätte mich nicht mehr halten können.«

»Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken. So einem schönen Mädchen würde ich stets wieder helfen.«

Jane spürte, wie scheinbar Tausende von Schmetterlingen in ihrem Magen Walzer zu tanzen begann.

Wie verzaubert berührte sie seine Wangen und küsste ihn sanft auf den Mund. Eigentlich sollte es nur ein kurzer freundschaftlicher Kuss sein, doch Christian hielt sie fest. Sie spürte, wie sein Mund sich öffnete. Automatisch folgte sie ihm und nur einen Moment später trafen sich ihre Zungen.

Das war das erste Mal, dass Jane so weit gegangen war.

Oh mein Gott, das ist mein erster richtiger Kuss, dachte sie glücklich. Nach mehreren Sekunden löste sie sich von Christian und beide starrte sich erstaunt an.

Plötzlich vernahm sie das Aufschlagen von Pferdehufen. Unwillig ließ sie ihren Retter los und trat einen Schritt zurück.

»Oh, verrückt, du bist umwerfend«, hörte sie ihn murmeln. »Ich muss dich unbedingt wiedersehen.«

»Ich dich auch«, erwiderte Jane errötend.

Ob Alice unsere Umarmung gesehen hat, fragte sie sich dann.

Ihre Cousine brachte vor den beiden ihr Pferd zum Stehen und glitt von dessen ungesatteltem Rücken.

»Jane, Gott sei Dank, dir ist nichts passiert. Ich hatte solche Angst um dich«, schluchzte sie dabei vollkommen aufgelöst.

»Christian hat mich gerettet«, erklärte Jane, während sie ihn bewundernd ansah. »Er ergriff einfach Lisas Zügel und hielt sie so an.«

»Danke«, meinte Alice nur kühl zu ihm. »Komm, Jane, der ist kein Umgang für dich. Lass uns Lisa nach Hause bringen.«

»Kein Umgang?« Überrascht musterte Jane noch immer ihren Retter, der über Alices Einschätzung ziemlich erbost schien.

Sagt sie das wegen den Banden? Ich meine, er sieht nicht gerade wie ein Halbstarker aus, dachte sie schmunzelnd. Dann wendete sie sich von ihm ab und folgte ihrer Cousine, die beide Pferde an den Zügeln hielt und schon vorgelaufen war.

»Ich warne dich, Alice«, hörte sie Christian nach wenigen Sekunden mit wütender Stimme rufen. »Zieh Jane nicht in die Banden mit rein!«

Alice blickte nur stur geradeaus und drehte sich nicht zu ihm um.

»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sie sich dann mit besorgter Miene.

»Mir geht es gut. Der Schreck sitzt mir aber noch in den Knochen.« Seufzend drehte Jane sich erneut zu Christian um, der noch immer am selben Platz stand und den beiden Mädchen nachsah.

»Wat for een smuck Burs [8]. Er gefällt mir sogar noch besser als Roger Daltrey [9]. Hat er eine Freundin?«

»Wer ist Roger Daltrey?«, fragte Alice.

»Das ist der Sänger von The Who [10], der tollste Typ der Beatgeschichte, neben John Lennon [11]natürlich. Den kennst du nicht?«

»Ach so, du meinst den Blonden? Ich finde Roy Black [12] klasse. Kaiser ist doof und ich will nicht, dass du ihn magst.«

»Gefällt er dir nicht?«

»Auf keinen Fall! Ich kenne den Idioten schon, seit wir Kinder sind. Das reicht mir.«

Na, soll mir recht sein. Ich jedenfalls kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Wenn ich nur an ihn denke, schlägt mein Herz schneller – Christian Kaiser …

21. Juli 1968

Gleich nach dem Frühstück sattelte Alice den Hengst Ares und ritt gemeinsam mit ihrer Cousine zum Bischoflager.

»Wir sind da«, sagte sie kaum zehn Minuten später mitten im Wald.

Die Mädchen stiegen ab.

»Willst du Ares nicht an einen Baum anbinden, oder so?«

»Nein, er sucht sich jetzt hier sein Futter. Keine Sorge, Ares bleibt in der Nähe.«

Dann musterte Jane enttäuscht das Bischoflager.

Vor ihr stand eine selbst zusammengeschusterte Laube aus Gartenzaunelementen und anderen Holzlatten, die man mehr oder weniger fachmännisch miteinander verbunden hatte. Selbst ein Glasfenster und eine dunkelgrün lackierte Tür hatten die Erbauer auftreiben und einsetzen können.

»Wow, es ist wohl sehr alt, oder?«

»Ja, ich weiß. Es ist kein Palast, aber für uns reichts.«

Neugierig betrat Jane nach Alice den kleinen Raum, und sofort richteten sich alle Augenpaare auf sie.

Als Erstes stellte Alice ihr alle Mitglieder vor: Jürgen Glasner, Anne Mathies, Richard Kierdorf und Ursula Hardt. Amüsiert nahm sie wahr, wie die Jungen Jane mit offenem Mund anstarrten.

»Hast du immer so eine Wirkung auf Jungen?«, raunte sie Jane schmunzelnd zu.

»Was meinst du?«, fragte Jane irritiert.

»Ach schon gut. Bis vor ein paar Monaten hatten wir einen Anführer. Hannes musste allerdings umziehen und nun fehlt das wichtigste Mitglied der Bande«, erklärte sie abschließend.

»Weshalb habt ihr keinen neuen Anführer gewählt?«, fragte Jane verwundert.

»Das hätten wir ja schon längst gemacht, aber das Problem ist, dass niemand von uns Anführer werden möchte«, erklärte Anne.

»Ah, ich verstehe. Der Boss schlägt sich mit den Willems rum«, schlussfolgerte Jane. Sie dachte an Christian, dem Anführer der Willems, und sofort spürte sie ihr Herz schneller schlagen.

»So ähnlich. Willst du in unsere Bande eintreten?«, fragte Ursula. Die restlichen Anwesenden nickten zustimmend.

»Dann hätten wir wenigstens wieder die komplette Anzahl an Mitgliedern.«

»Gern«, erwiderte Jane.

»W…willst du d…dich als Anführer versuchen?«, schlug Richard stotternd hochrot vor und zog damit die überraschten Blicke seiner Freunde auf sich.

»Na, von uns will es doch niemand machen«, rechtfertigte er sich schnell.

»Klar«, entschied Jane kurz entschlossen. »Ich glaube nicht, dass man sich immer schlagen muss. Ich denke, man kann Probleme auch anders lösen.«

»Da spricht das Blumenkind [13]!«, rief Jürgen lachend. »Die Willems werden staunen.«

Also, für so feige hätte ich meine Cousine und ihre Freunde nicht gehalten. Das muss definitiv geändert werden, beschloss die neue Anführerin der Bischofbande sofort.

Auf dem Heimweg saß Jane wieder hinter Alice auf dem Pferd und fragte sie über die Willems aus. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie wirklich so schlimm sein sollten, schließlich hatte Christian einen so netten Eindruck auf sie gemacht.

»Allein ist er manchmal zu ertragen und zu den Mädchen, die ihn interessieren ist er wohl auch sehr charmant. Aber das hast du ja schon festgestellt.« Alice grinste ihr über die Schulter zu. »Jane, man merkt, dass du noch nicht dem ganzen Trupp begegnet bist. Wenn du erst merkst, wie blöd Kaiser als Willemsanführer werden kann, magst du ihn sicher auch nicht mehr.«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, waren sie auch schon von vier Jungen und zwei Mädchen umringt.

»Das sind die Willems, oder?«, flüsterte Jane in Alices Ohr.

»Ja«, murmelte die Cousine und wirkte plötzlich gar nicht mehr so selbstsicher und lebhaft.

Christian trat zu ihnen und ergriff Ares´ Zügel. Dann schenkte er Jane, wie sie fand, ein unglaublich hübsches Lächeln.

»Hallo Jane, schön, dich wiederzusehen«, raunte er ihr leise zu.

»Moin«, erwiderte Jane. Sie bemühte sich, ihre Stimme kühl klingen zu lassen.

Wie er mich die ganze Zeit ansieht, dachte sie dabei entzückt.

»Alice, habt ihr endlich einen Anführer gewählt?«, richtete er dann das Wort an ihre Cousine. »Dieser Zustand zieht sich nun schon mehrere Monate hin. Das funktioniert so nicht. Wenn das so weitergehen soll, können wir die Banden auch gleich weitergeben.«

Alice stieß Jane unauffällig an.

»Ich bin der neue Anführer der Bischofbande«, sagte diese daraufhin betont langsam.

»Das verzeihe ich dir nie!«, fuhr Christian Alice an, doch dann richtete er wieder den Blick auf Jane. Er sah sehr enttäuscht aus. »Diese Idioten wählen jemanden, den sie nicht kennen? Die sind doch komplett durchgedreht. Was soll ich denn mit einem Mädchen als Bischofanführerin anfangen? Das geht nicht!«

»Hey, du Snöttbaart [14], es geht dich überhaupt nichts an, wen die Bischofbande zu ihrem Anführer wählt. Du hast deren Entscheidung zu akzeptieren und damit zu leben«, wies Jane ihn im strengen Ton zurecht.

Sprachlos schüttelte er den Kopf, dann sah er sie eindringlich an. »Jane, du machst einen großen Fehler. Tritt wieder aus der Bande aus, du hast doch gar keine Ahnung, was dich erwartet.«

»Danke für den Vorschlag, doch du kennst mich noch nicht. Was ich einmal begonnen habe, führe ich zu Ende. Ich bin ein ernst zu nehmender Gegner.«

Langsam kehrten nun auch Alices Lebensgeister zurück. Mutig entriss sie Christian die Zügel und ließ Ares antraben.

»Der gute Chris ist ja fast umgefallen, als du dich ihm offenbart hast«, rief sie lachend. »Ich glaube, er hatte andere Pläne mit dir.«

»Die Willems werden mich noch kennenlernen«, erwiderte Jane zuversichtlich.

Am späten Nachmittag kam Alice mit einem betrübten Gesichtsausdruck in Janes Zimmer geschlichen.

»Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, dass meine Eltern sehr eng mit den Kaisers befreundet sind und wir uns hin und wieder gegenseitig besuchen?«

»Nein, bis jetzt nicht«, antwortete Jane misstrauisch. »Warum sagst du mir das gerade jetzt?«

»Christian muss auch immer mitkommen.«

»Und?«

»Meine Mutter hat mir gerade gesagt, dass sie heute herkommen. Die wollen dich und deine Sippe kennenlernen.«

»Schiet [15], ausgerechnet heute?«, murmelte Jane gereizt, erhob sich von ihrem Bett, ging zum Schallplattenspieler, der auf dem Schreibtisch stand, und drehte die Schallplatte um. Dabei warf sie einen Blick in den Spiegel ihres Schminktisches. Spontan griff sie nach ihrer Haarbürste und kämmte das Haar mit ein paar kräftigen Zügen durch.

Wenig später hörten sie, wie ein Auto vor dem Haus hielt.

»Da sind sie«, flüsterte Alice. »Lass uns runtergehen.«

Als sie im Erdgeschoss waren, hatte Alices Mutter schon die Haustür geöffnet, und die Erwachsenen waren gerade dabei, sich zu begrüßen.

Als Jane Christians Mutter sah, hielt sie verblüfft den Atem an. Das musste die schönste Frau sein, die sie jemals gesehen hatte. Das dunkle, gewellte Haar war modisch elegant hochgesteckt und das außergewöhnlich klassisch perfekte Gesicht dezent und doch so professionell geschminkt, sodass die unglaublich dunkelblauen Augen und die vollen roten Lippen sofort jedem auffielen. Das karminrote Kleid, das sie trug war schlicht und doch so raffiniert geschnitten, dass es auch gut in ein exklusives Restaurant gepasst hätte. Herr Kaiser sah, so fand Jane, ebenfalls ziemlich attraktiv aus. Sein Haar war dunkelblond, die Augen braun und sein Lächeln erschien ihr sehr sympathisch. Seine Kleidung hingegen war eher nach dem Bequemlichkeitsfaktor ausgewählt worden. Sie mochte ihn sofort. Doch als sie mitbekam, wie er von ihr zu seinem Sohn sah und wissend schmunzelte, errötete sie ertappt.

Dann musste Jane sich vorstellen. Belustigt vermutete sie insgeheim, dass Christians Mutter vorher noch nie ein Blumenkind aus der Nähe gesehen hatte. Die eindrucksvolle Frau starrte das blonde Mädchen vor sich mit weit aufgerissenen Augen an, bevor sie missbilligend den schönen Mund verzog. Janes Mutter schüttelte peinlich berührt den Kopf. Ihr Vater bekam die ganze Szene nicht mit, weil er mit Alices Vater über Pferde sprach. Ein anscheinend interessantes Gespräch, dem sich Herr Kaiser nun mit seinen offensichtlichen Fachkenntnissen anschloss.

Christian und seine sechsjährige Schwester Josefine standen hinter ihren Eltern. Während er intensiv seine Armbanduhr betrachtete, blickte die Kleine Jane strahlend an.

Du meine Güte, ich habe nur eine Schlagbluejeans und ein, zugegeben ziemlich schrilles T-Shirt an. Ob die Kaiser meine Halsketten und Ringe nicht mag, fragte Jane sich grinsend.

Schließlich saßen die Eltern zusammen am großen Tisch im Esszimmer bei einer Flasche Wein und unterhielten sich über das aktuelle Zeitgeschehen.

Alice, Finchen und Jane machten es sich unterdessen auf dem Sofa im Wohnzimmer von Alices Eltern gemütlich. Christian ließ sich auf einem Stuhl am Fenster, weit entfernt von den Mädchen, nieder.

Im Fernsehen lief die Sendung Sag die Wahrheit [16]. Die sahen sie sich zusammen an. Danach kamen die Nachrichten. Die wollte niemand sehen. Alice machte den Fernseher aus.

Finchen hat die gleichen dunkelblauen Augen und ein wirklich niedliches Gesicht. Im Gegensatz zu Chris hat sie jedoch hellbraunes Haar, das mich an Karamell erinnert. Und sie lacht ständig fröhlich. Eigentlich komme ich ja mit Kindern nicht so gut zurecht, doch Finchen ist einfach entwaffnend süß, dachte Jane, während sie die Kleine betrachtete.

Die Mädchen beschlossen, gemeinsam Karten zu spielen.

»Chris spielt nie so schön mit mir«, sagte Finchen plötzlich und stand flink auf. »Ich frage ihn mal, ob er Lust hat mitzuspielen. Ich versteh sowieso nicht, warum er nicht zu uns kommt. Als es hieß, es geht hier her, schien er sich ziemlich zu freuen. Er hat sich sogar extra umgezogen.«

»Und seine Haare hat Kaiser sich ausnahmsweise mal ordentlich gekämmt«, murmelte Alice und verzog spöttisch ihren Mund, während Jane nervös so stark an ihrem Perlenarmband zupfte, dass dieses fast riss.

Finchen rannte zu ihrem Bruder, der die ganze Zeit aus dem Fenster geblickt hatte. Die Cousinen sahen, wie die Kleine mit ihm redete und versuchte, ihn vom Stuhl hochzuziehen. Doch da hatte sie keine Chance.

»Hey Chris, warum magst du die beiden nicht?«, jammerte Finchen laut. »Jane ist so nett, kennst du sie überhaupt schon?«

»Sie ist die neue Bischofanführerin. Verzieh dich!«

»Du immer mit deinen blöden Banden!« Enttäuscht trottete sie zu den großen Mädchen zurück.

»Das macht doch nichts«, versuchte Alice sie zu trösten. »Auf den können wir getrost verzichten.«

Nach einer Stunde war Finchen neben Jane auf dem Sofa eingeschlafen.

»Ich verschwinde mal eben ins Badezimmer«, meinte Alice plötzlich. Nachdem sie das Wohnzimmer verlassen hatte, sprang Christian von seinem Stuhl auf und setzte sich auf die freie Seite neben Jane.

»Endlich kann ich mal alleine mit dir reden«, sagte er leise, um seine Schwester nicht zu wecken. »Warum musstest du unbedingt Bischofanführerin werden? Ich will nicht mit dir verfeindet sein. Ich finde dich oberklasse.«

Jane seufzte schwer. Neben ihr saß der wundervollste Junge, der ihr schüchtern mitteilte, dass er sie mochte, obwohl sie seine größte Gegnerin war.

Da bin ich ja in ein schönes Kuddelmuddel geraten, dachte sie verwirrt.

»Dazu ist es zu spät«, murmelte sie ebenso leise. »Ich kann Alice und die anderen nicht enttäuschen.«

»Und was ist mit mir?«

Sie blickten sich sehnsuchtsvoll in die Augen und wäre Alice in diesem Moment nicht hereingeplatzt, so war sich Jane sicher, hätten sie sich wieder geküsst.

»Kann man euch nicht mal eine Minute alleine lassen?«, rief sie erbost, als sie die beiden so eng nebeneinander auf dem Sofa sah. »Kaiser, Jane ist die Bischofanführerin!«

Jane räusperte sich kurz. »Er will, dass ich die Bischofbande aufgebe.«

»Und?«, fragte Alice wütend. »Machst du es?«

»Nein, natürlich nicht.«

Während Christian sich erhob, warf er Jane einen enttäuschten Blick zu.

Ohne etwas zu sagen, verließ er das Wohnzimmer.

Seufzend blickte Jane ihm nach.

»Was denkt der sich nur?«, fragte Alice noch immer erzürnt.

»Keine Ahnung«, murmelte Jane. Mit Alice konnte sie auf keinen Fall über ihre Gefühle sprechen. Sie würde es nicht verstehen.

An diesem Abend nahm sie ein unbeschriebenes, dickes Notizbuch und begann, alles, was sie bisher in Weißwald erlebt hatte, aufzuschreiben.

Doch sie berichtete darin nicht nur über ihre Erlebnisse. Sie schrieb auch all ihre geheimsten Gedanken und Gefühle hinein, die sie selbst Alice nicht anvertrauen konnte.

22. Juli 1968

Nach dem Frühstück führte Alice ihre Cousine zu einem der schönsten Orte Weißwalds.

Sie durchquerten ein kleines Wäldchen und kamen dann zu einer Lichtung, auf der sich ein altes, halb verfallenes, großes Herrenhaus aus dem 19. Jahrhundert befand.

Die Außenwände der Villa waren mit voll erblühten, verschiedenfarbigen Rosen bedeckt, die einen unbeschreiblich lieblichen Duft versprühten. Jane fand, dass es unglaublich romantisch aussah.

»Es gibt eine Sage über dieses Haus. Mutter erzählte sie mir, als ich noch klein war«, sagte Alice. Sie zog Jane in das Gebäude und zusammen besichtigten sie die leeren Räume, in denen noch immer ein Hauch von Luxus und Verschwendungssucht lag.

Es stimmte Jane traurig, dass man dieses alte Haus schon seit so langer Zeit dem Verfall preisgab.

»Eine Sage?«, fragte sie dann, während sie in der oberen Etage austestete, ob der morsche Boden sie aushalten würde.

»Man sagt, dass hier ein Schatz vergraben ist. Doch daran glaubt keiner mehr so richtig«, erzählte Alice weiter, verstummte dann aber.

»Jetzt hast du mich aber neugierig gemacht. Was soll das für ein Schatz sein?«, fragte Jane neugierig.

»Lass mich überlegen, ob ich noch alles zusammenbekomme.« Angestrengt dachte sie nach. »Ach komm, wir gehen zum Imbiss! Hier kann ich keinen klaren Gedanken fassen.«

Sie ging mit Jane in eine kleine Milchbar [17] im Fünfzigerjahrestil. Sie bestellten eine Cola und setzten sich dann auf eine kleine Mauer neben der Bar.

»Dort drüben steht unsere Schule«, bemerkte Alice nach ein paar Sekunden.

Jane blickte in die Richtung, in die Alice zeigte und sah ein großes, mehrstöckiges, neues Gebäude.

»Das Thema lassen wir besser, bis die Ferien vorbei sind. Jetzt erzähl mir endlich von dem Schatz.«

»In der Villa wohnten vor der Jahrhundertwende die Gregors. Du kannst die Familiengruft auf unserem Friedhof besichtigen. Die Familie besaß Land und eine Fabrik. 1929 ging die Firma bankrott und die Gregors verschwanden über Nacht auf der Flucht vor ihren Gläubigern. Die Sage beginnt aber schon vor der Jahrhundertwende, Jahre bevor die Familie verarmte. Der alte Gregor soll eine schöne Tochter gehabt haben. Er wollte sie unbedingt mit einem reichen Geschäftspartner verheiraten. Wie du dir sicher denken kannst, war sie damit nicht einverstanden. Sie beschloss zu fliehen, vergrub jedoch vorher irgendwo in der Nähe des Hauses ihren ganzen Schmuck, für den Tag, wenn sie wiederkehren würde.«

»Man müsste herausfinden, ob an dieser Geschichte etwas Wahres dran ist«, überlegte Jane.

»Warum?« Alice zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Das Ganze liegt doch schon Jahre zurück. Den Schatz wird heute sowieso keiner mehr finden.«

»Warum soll das unmöglich sein? Die Sage liefert uns doch ein paar Anhaltspunkte.«

Alice warf Jane einen verwunderten Blick zu. »Hast du zu viel Sherlock Holmes [18] gelesen?«

»Das Mädchen konnte doch nicht so einfach fliehen. Der Vater hat sicher eine Belohnung auf ihre Ergreifung ausgesetzt.«

»Willst du jetzt auf Schatzsuche gehen?«

Gerade als Jane das bestätigen wollte, erblickte sie die Willemsbande, die sich schnell den Mädchen näherte. Erschrocken verschluckte sie sich an ihrer Cola.

Alice folgte ihrem Blick und erstarrte. »Oh nein, die Willems«, sprach sie aus, was beide in diesem Moment dachten.

»Nur nicht ablenken lassen«, flüsterte Jane angespannt. »Wir unterhalten uns einfach weiter und beachten sie nicht.«

Die Willems setzten sich auf die Bank, die direkt neben den beiden Mädchen vor der Mauer stand.

»Ich verstehe nicht, weshalb das Mädchen geflohen ist. Allein war sie schutzlos gewesen.«

»Sie lebte doch nicht mehr im Mittelalter. Du glaubst also, dass die ganze Geschichte erlogen ist?« Alices Stimme hörte sich plötzlich viel leiser und höher an.

»Sie wird schon ein Körnchen Wahrheit enthalten.« Jane wandte sich zu der Willemsbande.

»Was glotzt ihr denn so?«, fuhr sie die sechs Jugendlichen, die zu ihr sahen, an.

»Über was redet ihr?«, fragte Christian interessiert.

»Das geht dich nichts an«, erwiderte Jane kühl. Als sie seinen enttäuschten Blick auffing, drehte sie verlegen den Kopf weg und studierte den Inhalt ihres Pappbechers.

»Ich habe Jane von dem Schatz bei der Villa erzählt«, antwortete Alice.

»Aha«, sagte der Willemsanführer. »Ich glaube die Geschichte nicht. Niemand konnte den Schatz bisher finden.«

»Sie hat ihn gut versteckt«, antwortete Alice.

»Ich habe ihn auch schon gesucht.«

»Gut, Kaiser, ich werde ihn ebenfalls suchen, allerdings werde ich dabei meinen Verstand benutzen. Hast du schon mal was von Logik gehört?«, mischte Jane sich spontan ein.

»Wie nett«, murmelte Christian und sein Gesicht verzog sich leicht. »Du hast dich ja schnell angepasst.«

»Natürlich«, erwiderte Jane lächelnd.

Eigentlich tut es mir ja leid, dass ich ihn so behandeln muss, schließlich ist er wirklich niedlich. Und wie er mich mit seinen dunkelblauen Augen immer anschaut …

Nein, ich werde mich nicht von irgendwelchen Gefühlen beeinflussen lassen, schließlich bin ich die Anführerin der Bischofbande!

23. Juli 1968

Nach dem Frühstück überredete Jane Alice dazu, mit ihr die Bibliothek zu besuchen.

Dort liehen sie sich alte Zeitungen und suchten nach einem Anhaltspunkt, der ihnen die Wahrheit der Sage bestätigen konnte.

Die beiden fanden diese Reise in die Vergangenheit richtig spannend. Sie stießen auf viele interessante historische Ereignisse und es machte ihnen Spaß, zeitgenössische Berichte zu lesen.

»Das könnte mein Hobby werden«, meinte Alice mehrmals während der Suche.

Die Zeit verging wie im Fluge und gegen Mittag fanden sie endlich, wonach sie gesucht hatten.

»Hier!«, rief Alice plötzlich verblüfft. »Ich habe etwas. 15. Februar 1887: Grundbesitzer und Fabrikant Eduard Gregor und seine Gattin Martha, hochgeschätzte Mitglieder unserer Gemeinde, geben die Geburt ihrer Tochter bekannt. Die Taufe findet am 18. März in der Ortskirche statt.«

»Und ich dachte schon, dass wir nie etwas finden werden.«

Mit neuem Elan stürzten sie sich auf den nächsten Ordner und nach kurzer Zeit fanden sie einen neuen Artikel.

»Das Ehepaar Gregor gab zum 18. Geburtstag ihrer Tochter Paula Dorothea einen großen Ball, zu dem sämtliche wohlhabenden Familien aus der Umgebung geladen waren. Dieses Fest kann ohne Übertreibung als das größte Ereignis des Jahres 1905 bezeichnet werden.«

Und nur wenige Zeitungen später. »Paula Gregor, die Tochter des Schuhfabrikanten Eduard Gregor, ist mit einem Angestellten, dem Sekretär des Unternehmens, namentlich bekannt als Otto Reineke, durchgebrannt. Herr Gregor gibt hiermit bekannt, dass er sich bereit erklärt, demjenigen, der Auskunft über ihren Aufenthaltsort geben kann, eine Belohnung in Höhe von 500 Mark zu zahlen.«

»Ich habe es doch gewusst!«, rief Jane fröhlich. »Sie war nicht allein auf der Flucht.«

»Verrückt, ich hätte nie gedacht, dass wir etwas finden könnten«, meinte Alice begeistert.

»Ein Sekretär?«, fragte Jane ungläubig, nachdem sie den Artikel noch einmal gelesen hatte. »Sie hätte doch einen wohlhabenden Mann haben können.«

»Jane, warst du noch nie verliebt?« Alice blickte sie verwundert an. »Diese Einstellung passt ganz und gar nicht zu dir.«

»Du hast recht«, murmelte Jane verlegen und errötete dabei stark. »Was ich da eben gesagt habe, war ziemlicher Quatsch.«

24. Juli 1968

Nach dem Frühstück liefen die beiden Mädchen zur Villa. Natürlich hoffte Jane, dass die Schatzsuche erfolgreich enden würde, schließlich hatte sie gegenüber Christian den Mund ziemlich voll genommen. Inzwischen waren ihr die Worte, die sie am Imbiss zu ihm gesagt hatte, sehr peinlich.

Sie hatte sich vorgenommen, so logisch und rational wie Sherlock Holmes vorzugehen. Wozu hatte sie schließlich alle seine Fälle gelesen?

Ihre Überlegungen stützten sich hauptsächlich auf die Tatsache, dass Paula Geld brauchte, um sich von ihrem Vater und dessen Machtbereich zu lösen.

Was war die einzig logische Schlussfolgerung? Sie vergrub auf keinen Fall wertvollen Schmuck oder andere Wertgegenstände. Dennoch musste dort etwas anderes liegen, denn ohne einen wahren Kern entstand keine Sage. Jane ging davon aus, dass Paula irgendein Zeichen an der betreffenden Stelle hinterlassen hatte, für den Fall, dass sie ihre Sachen zu einem späteren Zeitpunkt abholen wollte.

Also suchte Jane nach einem Zeichen.

»Vermutlich handelt es sich um einen Baum oder einen Stein. So hätte ich es jedenfalls gemacht«, erklärte sie ihrer Cousine, die neben ihr stand und sich ratlos am Kopf kratzte. »Paula war auf der Flucht, sicher hat sie ihren Schatz mit der Hand hastig vergraben. Allerdings ist der Boden an vielen Stellen ziemlich fest. Ich bezweifle, dass wir mit unseren Händen da durchkommen.«

»Hast du deshalb den kleinen Klappspaten von deinem Vater mitgenommen?«

»Ja. Also los, lass uns mit der Suche beginnen!«

Sie liefen in die obere Etage der Villa, blickten aus jedem Fenster und suchten die Umgebung ab. Jane wies zu einer alten knorrigen Trauerweide, einer schief stehenden und von Efeu überwucherten Marmorstatue, die wohl Pan darstellen sollte und auf einen großen Findling in dem Garten, der einstmals sicherlich wunderschön gewesen sein musste.

»An diesen Stellen werde ich zuerst suchen.«

Mit dem Klappspaten bewaffnet, grub sie eine ganze Weile, und plötzlich, neben dem großen Findling stieß sie auf einen harten Widerstand. Aufgeregt schaufelte sie weiter. Es kam eine kleine Metallschachtel zum Vorschein. Allerdings nicht nur die. Christian Kaiser kam ebenfalls hinter einem Baum hervor.

Ob ich ihn jemals ohne Herzklopfen ansehen kann? Dieser Schuft hatte uns die ganze Zeit beobachtet.

»Hallo, ihr Hübschen«, begrüßte er die Mädchen lächelnd.

»Kaiser?«, stotterte Jane vollkommen verblüfft. »Was willst du denn hier?«

»Du hast gesagt, dass du den Schatz suchen willst. Wahnsinn, du hast ihn tatsächlich gefunden.«

»Ist noch jemand von den Willems hier?«, fragte Alice errötend.

»Nein«, antwortete Christian, während er die kleine Schachtel öffnete. »Verrückt, ich halte ihn in den Händen und kann es trotzdem nicht glauben.«

Er holte Briefe, einen Ring, ein Amulett und ein in Leder gebundenes Tagebuch mit vergilbten Seiten heraus und legte sie vorsichtig ins Gras.

Jane griff nach dem Ring und setzte ihn auf. Er passte perfekt. Sie sah ihn als eine Art Finderlohn an. Er war aus echtem Gold und besaß einen Rubin, der von kleinen Diamanten eingefasst war.

Die drei machten es sich auf der Wiese gemütlich und lasen die Briefe durch.

»Es sind Liebesbriefe«, stellte Alice schnell fest. »Von dem Sekretär.«

»Irgendwie beschreibt er dich«, murmelte Christian und warf dabei Jane einen Blick zu, der ihr durch und durch ging.

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte sie verlegen.

»Er schreibt hier von ihren blauen Augen und den blonden, langen Haaren«, antwortete er errötend.

»Könnt ihr das mal lassen?«, fuhr Alice dazwischen und verdrehte genervt ihre Augen.

»Ist ja schon gut«, murmelte Jane, öffnete das Amulett und fand darin ein verblasstes altes Foto. Auf dem Bild war eine hübsche junge Frau mit hochgesteckten blonden Haaren zu sehen. »So sah sie also aus.«

Alice begann, den letzten Eintrag aus dem Tagebuch laut vorzulesen. »Und nun, bevor ich dich und meine kleinen Schätze vergrabe, will ich dir noch anvertrauen, was ich geplant habe. Um Mitternacht gehe ich in den Pferdestall und hole Suleika. Dann werde ich Otto an der alten Eiche am See treffen. Wir werden zusammen zu seinen Verwandten nach Baden-Baden reisen und uns dort ein neues Leben aufbauen. In der letzten Zeit habe ich viel Geld von meinem Nadelgeld gespart und bald wird Vater wohl auch merken, dass ich seinenSchreibtisch aufgebrochen und das darin befindliche Bargeld gestohlen habe. Vater tut mir nicht leid. Er hat ja schließlich noch seinen Lieblingssohn. Ich werde nun schließen. Ob ich euch, meine kleinen Schätze, jemals wiedersehen werde? Vielleicht kann ich in einigen Jahren Frieden mit meinen Eltern schließen? Sie müssen einfach verstehen, dass ich mir mein Lebensglück nicht von ihnen zerstören lassen kann. Mit Randolf wäre ich nie glücklich geworden. Meine Amme ist die Einzige, die ich in meine Pläne eingeweiht habe. Ich werde versuchen, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Paula Gregor, 03.08.1905.«

»Was willst du mit diesen Dingen anstellen?«, fragte Chris plötzlich. »Ich würde sie der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.«

»Ja, das ist eine gute Idee«, erwiderte Jane. »Ihr habt sicher ein Museum hier, oder? Komm Alice, wir müssen los. Uns Mudders [19] … äh, unsere Mütter warten sicher schon mit dem Mittagessen.«

»Ja, es wird Zeit«, meinte auch Alice und erhob sich langsam. »Bis dann, Chris.«

»Bis bald, Alice.«

Er pfiff und sofort kam sein Pferd zu ihm. Er zwinkerte Jane noch zu, bevor er davonritt, und sie blickte ihm seufzend nach.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Alice und packte die alten Gegenstände wieder in die Schachtel.

»Lass uns den Schatz in Sicherheit bringen, etwas zu Mittag essen und dann zu den Bischofs reiten«, beschloss Jane.

Doch da machte ihr die Mutter einen Strich durch die Rechnung. Erst sollte Jane abwaschen und dann beim Wäscheaufhängen helfen. Alice ging es ähnlich. Auch sie musste ihrer Mutter im Haushalt helfen. Erst dann durften die Mädchen zum Lager reiten.

Die Bischofbande wartete schon auf Alice und ihre neue Anführerin.

»Na, hatte die Regierung [20] Anforderungen?«, fragte Jürgen grinsend.

»Ja, meine Mutter ist voll der Motzknochen [21]«, antwortete Jane grinsend und wies zu Alice. »Ging ihr genauso. Unsere Mütter sind halt Schwestern.«

»Die Oldies halt. Wer kennt es nicht?«, meinte Richard. »Meine wollten, dass ich mit in ihrem Rentnerstolz [22] arbeite. Hab direkt ´ne Biege gemacht [23]. Wollen wir schwimmen gehen? Bei dem Wetter bewege ich mich ansonsten keinen Meter.«

»Gute Idee.« Alice hatte Jane vorausgesagt, dass der Nachmittag wohl so verlaufen würde, und deshalb hatten beide Mädchen einen Badeanzug und ein Handtuch in ihren Rucksäcken dabei.

Jane fand den See von Weißwald wunderbar. Das Wasser war klar und der helle Sandstrand war fein und ohne große oder spitze Steine.

Eine Weile lag sie nur auf ihrem Handtuch und genoss die wärmende Sonne.

Anna lag neben ihr und erzählte von einem Jungen aus dem Nachbardorf.

»Roland ist absolut bombe. Meine Oma ist seine Nachbarin und deshalb sind wir quasi zusammen aufgewachsen. Im kommenden Schuljahr wird er unsere Schule besuchen, dann kannst du ihn kennenlernen.«

Jane konnte leider nicht sagen, wer ihr aktuell gefiel. Die Bande wäre wohl komplett ausgerastet. Daher schwieg sie lieber. Dann trieben die Bischofs sie in das Wasser und die Jugendlichen alberten entspannt herum. Als sie herauskamen, bemerkten sie jedoch, dass ihre Sachen weg waren.

»Ich glaub, mein Nilpferd bohnert«, rief Anne wütend. »Das können nur die Willems gewesen sein.«

»Schiet«, knurrte Jane.

Sie ahnte, dass Christian sie nun das erste Mal als Anführerin der Bischofs testen wollte, und sie hatte nicht vor zu versagen.

Lachend traten die Willems hinter Büschen hervor.

»Kriegst du jetzt die große Staune?«, fragte Christian ohne erkennbare Emotionen, als er vor Jane stand.

Die Bischofbande sammelte sich hinter ihrer Anführerin und wartete gespannt auf ihre Reaktion.

»Ne [24]«, meinte Jane nur herablassend.

Auf Christians Gesicht erschien für einen kurzen Moment ein verwunderter Ausdruck.

Mein nordisches Temperament verwirrt ihn wohl, erriet Jane amüsiert.

»Wollt ihr eure Kleidung wiederhaben?«, fuhr er das feixende Mädchen vor sich schließlich an.

»Was sollen wir dafür machen?«

»Schön bitte, bitte sagen.«

»Träum weiter!« Jane wandte sich zu ihrer Bande um. »Wollt ihr die Willems anbetteln, oder gehen wir lieber in Badesachen nach Hause?«

»Badesachen«, riefen die Bischofs einstimmig.

»Du hörst es«, meinte Jane, noch immer grinsend, zu Christian. »Wir verzichten.«

Seine Augen verengten sich wütend.

»Und das wars jetzt, oder was?«

»Jo.«

Nun wurde er richtig wütend. Er stieß Jane leicht beiseite und ging auf Jürgen los.

»Oje«, meinte Alice, die neben ihr stand nur tonlos. »Das wird nicht lustig.«

Damit sollte sie leider recht behalten. Andreas Wollnik stürzte sich nur Sekunden später auf Richard und Marianne Bläser, Monika Hintz und Ruth Breuer schubsten sich mit Anne, Alice und Ursula herum.

Benjamin Schulz hatte keinen Gegner gefunden. Unsicher stand er in Janes Nähe und versuchte krampfhaft, sie zu ignorieren. Da Jane keinerlei Drang dazu verspürte, ihn anzusprechen, blickte sie sich suchend in der Gegend um und erspähte hinter einem Busch die Kleidung der Bischofbande auf einem Haufen aufgestapelt.

Zielstrebig ging sie dort hin und wollte alles aufheben, als sich Benjamin ihr nun doch in den Weg stellte.

»Hey, Puppe, die Klamotten bleiben schön hier liegen.«

Innerhalb von Sekunden war Jane von allen Willems umringt.

»Ich warte noch auf ein nettes Bitte, liebe Willems«, stellte Christian mit kalter Stimme klar.

»Niemals«, fauchte Jane ihn an. »Bischofs, wir gehen!«

Wir müssen ziemlich blöd ausgesehen haben, schrieb Jane später in ihr Tagebuch, als wir in Badehose und Badeanzug nach Hause liefen. Zum Glück hatte ich Alice an meiner Seite. Das gab mir Mut.

Als wir wenig später gemeinsam in meinem Zimmer saßen, lobte Alice mich. Sie meinte, ich hätte die Feuertaufe bestanden und sie fand es klasse, wie mutig und stolz ich dem blöden Kaiser gegenübergetreten bin. Ich konnte nur seufzen, schließlich haben die Willems jetzt meinen Lieblingsring und meine Lieblingskette. Oh man, und meine beste Bluejeans! Alice ist sich sicher, dass die Sachen wieder auftauchen werden. Die Willems würden sie nicht behalten.

Meine Mutter vermisst sie sicher nicht. Du und deine Nietenhosen [24], sagt sie immer. Trag doch mal lieber ein hübsches Kleid oder einen Rock. Damit meint sie aber keinen heißen Fummel, sondern ´nen Großmutterlook.

Was habe ich für eine Entwicklung durch gemacht?

Noch vor Kurzem war ich auf Demos, Konzerten und Happenings. Gut, den Pot [26] und das eine Mal LSD [27] vergessen wir lieber. Hätte ich nicht machen sollen. Und nun bin ich Anführerin einer Dorfbande. Das darf ich niemandem in Hamburg erzählen, die würden mich doch sofort in eine Psychiatrie einweisen. Ach verdammt, ich vermisse meine Freunde und mein Zuhause.

25. Juli 1968

Die ganze Nacht über habe ich Paulas Tagebuch gelesen. Das arme Mädchen tut mir sehr leid. Durch sie eröffnet sich mir eine Welt, die ich bisher nur aus Filmen kannte. Ich verstand schon nach den ersten Seiten, weshalb sie geflohen war. Was waren das nur für herzlose Eltern? Ihr Vater war ausschließlich an seinen Geschäften und seinem einzigen Sohn interessiert. Seine Tochter schien in seinen Augen nur ein notwendiges Übel zu sein, dass möglichst gewinnbringend an den Mann gebracht werden sollte. Paulas Mutter beschäftigte sich von früh bis spät einzig mit der Frage, was sie anziehen oder wie die Frisur liegen sollte. Paula war nur umgeben von gefühlskalten Menschen. Otto, der Sekretär ihres Vaters, zeigte ihr, was Liebe bedeutet. Sie beschrieb ihn in den buntesten Farben. Als er sie anflehte zu fliehen, war sie sofort dazu bereit, besonders als ihr klar wurde, dass sie schwanger war. Was wohl aus den beiden geworden ist?

Alice erzählte mir heute, dass sie eine Brieffreundin in Frankreich hat, die uns demnächst besuchen wird.

Das fehlt mir gerade noch, eine Französin!

Wie immer waren wir den Tag über bei der Bischofbande.

Als wir am Abend nach Hause kamen, hörte ich schon von Weitem Alice Mutter meckern, wo wir nur bleiben.

Meine Mutter erwiderte daraufhin: De Kinner drieven sük in´t Feld herum [28]. Ich liebe es, wenn sie hier Platt spricht. Das erinnert mich so an unsere Heimat.

»