Lissi und die Bischofbande - Manuela Schoop - E-Book

Lissi und die Bischofbande E-Book

Manuela Schoop

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Beschreibung

Der erste Teil der Bischofbandenreihe beginnt im Jahre 1969. Lissi, die Tochter des reichen Großbauern und Michael, ihr Nachbar, mögen sich sehr, doch dann kommen sie in verschiedene Banden. Als Michaels Vater stirbt, verarmt die Familie. Aber auch die vermeintlich reiche Großbauerntochter hat familiäre Probleme. Nur in der Willensbande findet sie den Halt, der ihr zu Hause verwehrt wird. Dennoch oder gerade wegen der Schicksalsschläge fühlen sich Lissi und Michael voneinander angezogen. Doch das darf nicht sein, schließlich sind sie in verschiedenen Banden und der Großbauer würde eine Beziehung zwischen den beiden nie zulassen.

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Lissi und die Bischofbande

Manuela Schoop

Das Buch:

Lissi, die Tochter des reichen Großbauern und Michael, ihr Nachbar, mögen sich sehr, doch dann kommen sie in verschiedene Banden. Als Michaels Vater stirbt, verarmt die Familie. Aber auch die vermeintlich reiche Großbauerntochter hat familiäre Probleme. Nur in der Willensbande findet sie den Halt, der ihr zu Hause verwehrt wird. Dennoch oder gerade wegen der Schicksalsschläge fühlen sich Lissi und Michael voneinander angezogen. Doch das darf nicht sein, schließlich sind sie in verschiedenen Banden und der Großbauer würde eine Beziehung zwischen den beiden nie zulassen.

Der Autor:

Manuela Schoop ist Jahrgang 1977, geboren in Finsterwalde, glücklich verheiratet und Mutter von zwei kleinen Töchtern. Nach ihrem FSJ in Brandenburg, Ausbildung zur Kauffrau im Einzelhandel in Köln und mehrjähriger Tätigkeit in diesem Beruf, schloss sie in Bonn 2011 ein Magisterstudium der Sprachwissenschaften, Germanistik und Phonetik mit dem Hauptschwerpunkt »Kindlicher Spracherwerb« ab. Sie lebt in Kerpen, ist freiberufliche Tagesmutter und leitet Eltern-Kind-Kurse.

Lissi und die Bischofbande

Bandenjahrgang

1969 – 1977

Roman

Manuela Schoop

[email protected]

www.die-bischofbande.de

Weitere Bände dieser Reihe:

Band 2 Jessi und die Bischofbande

Bandenjahrgang 1977 – 1985

Band 3 Dana und die Bischofbande

Bandenjahrgang 1961 – 1969

Bandenjahrgang 1985 – 1993

Band 4 Mara und die Bischofbande

Bandenjahrgang 1993 – 2001

Band 5 Alex und die Bischofbande

Bandenjahrgang 2001 – 2010

Band 6 Franzi und die Bischofbande

Bandenjahrgang 2010 – 201

IMPRESSUM

Texte: © Copyright by Manuela Schoop

Umschlaggestaltung: © Copyright by Manuela Schoop

Verlag: Manuela Schoop

Im Bendchen 22

50169 Kerpen

Lektorat: Agnes Spengler M.A.

c/o wortspenglerei.de

Wortspenglerei | Werkstatt für Lektorat und Text in München

Illustrationen: indigodesign.at, generative KI, Midjourney

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, 2024

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 13

Kapitel 220

Kapitel 333

Kapitel 441

Kapitel 547

Kapitel 657

Kapitel 773

Kapitel 886

Kapitel 995

Kapitel 10126

Kapitel 11135

Kapitel 12153

Kapitel 13176

Am 5. August 1905 gründete Franz Bischof, gerade erst neun Jahre alt geworden, die Bischofbande.

Fast alle Kinder des kleinen im Süden liegenden, verträumten Dorfes Weißwald wurden Mitglied, aber als Erstes hatte er seinen besten Freund Karl Willem dazu eingeladen, der Bande beizutreten.

Die Kinder verbrachten zwei wunderbare Jahre miteinander. Doch die Harmonie fand ein jähes Ende, als ein heftiger Streit zwischen Franz und Karl entbrannte. Die restlichen Bandenmitglieder ergriffen verschiedene Parteien und die einstmals große Bande spaltete sich in zwei Gruppen. Karl wurde Anführer des anderen Teils, den er von nun an Willemsbande nannte. Die beiden Banden hassten sich sehr und bekämpften sich, wo sie nur konnten.

Als die Kinder jedoch zu jungen Leuten herangewachsen waren, vergaßen sie allmählich ihre Streitigkeiten. Sie trafen sich nicht mehr in ihren Lagern und verbrachten ihre Zeit mit anderen, ihnen jetzt wichtiger erscheinenden Dingen. Die nächste Generation der Kinder, beeindruckt von den Bandenspielen, wollte nicht akzeptieren, dass es die beiden Banden nicht mehr geben sollte. Und so beschlossen sie, deren Rollen zu übernehmen.

Kapitel 1

21. Oktober 1969

Während der großen Hofpause liefen Jane und Christian rüber zum Grundschulbereich. Der Schulhof war voller kleiner Kinder, die ziemlich laut die freie Zeit genossen, Fangen oder andere Spiele spielten. Christian rief nach seiner kleinen Schwester, die schnell zu ihm angerannt kam.

»Hey Finchen, wir wollen die Banden weitergeben. Je sechs von euch dürfen heute um fünfzehn Uhr zu den Lagern kommen. Hast du das verstanden?«

»Klar!« Josefine strahlte ihren Bruder fröhlich an. »Ich hoffe, dass du in die Bischofbande kommst.« Jane zwinkerte dem kleinen Mädchen zu. »Ist mir egal. Hauptsache ich komme überhaupt in eine Bande.«

»Das klappt bestimmt. Bis nachher.« Christian berührte kurz Janes Arm. »Die Pause ist gleich vorbei. Wir müssen wieder rüber.«

»Oh, das stimmt. Die Zeit rast mal wieder.« Jane lächelte Christian schüchtern an. Sie verabschiedete sich ebenfalls von Finchen. Dann gingen die beiden Bandenanführer wieder hinüber zu den höheren Klassen. Man, sind die verknallt, dachte Finchen grinsend. Dann lief sie zu ihren Freundinnen zurück und beobachtete gespannt, wie Gabriele die höchste Stufe beim Gummitwist [1] absolvierte. Anschließend rannte sie zum Klettergerüst, auf dessen höchster Stange Lissi saß.

»Los Micha, trau dich! So hoch ist es gar nicht.«

»Das ist doch pipileicht«, schrie Michael, der auf einem aufgestellten Querbalken balancierte, zu ihr hoch. »Hab keine Lust dazu.«

Lachend kletterte Fine hinauf zu Lissi und setzte sich neben sie auf die Stange.

»Ich glaube, er traut sich nicht.«

»Ihr sehr aus wie die Hühner bei mir im Stall.« Michael sprang vom Balken und trat zu dem Klettergerüst.

Lissi und Fine blickten sich kichernd an, bevor sie, wie Hühner zu gackern begannen.

Schnell kletterte Michael zu ihnen und als er sie erreicht hatte, rief er laut: »Kikeriki.«

Die Schulglocke ertönte und signalisierte den Kindern, dass die Hofpause zu Ende war. Langsam leerte sich der Schulhof, und die Kinder fanden sich in ihren Klassenräumen ein.

Mit der Nachricht des Tages wartete Fine, bis alle wieder im warmen Klassenzimmer waren.

»Mein Bruder hat mir gerade gesagt, dass heute die Banden weitergegeben werden«, rief sie dann in die Runde.

Eine kurze Sekunde lang war es still in dem Raum, dann brach ein lauter Lärm aus. Jeder rief, dass er in eine Bande wolle und manch einer konnte seine bevorzugte Bande auch schon benennen.

Herr Jansen, der Klassenlehrer, betrat mit schwungvollem Schritt den Raum.

Erschrocken blieb er am Türrahmen stehen und betrachtete seine kleinen Schützlinge verwundert, doch schnell bekam er mit, warum die Kleinen so außer sich waren.

»Guten Morgen!«, rief er laut, während er dann zu seinem Tisch schritt. »Wie ich höre, werden die Banden weitergegeben?«

Die Kinder rannten schnell zu ihren Tischen, setzten sich hin und blickten nach vorn zu ihrem Lehrer.

»Ja, Herr Jansen«, meldete Finchen sich aus der letzten Reihe. »Mein Bruder hat es mir gerade mitgeteilt.«

»Ah, dann ist heute also ein wichtiger Tag.« Herr Jansen kratzte sich kurz am Kopf und nickte dann bedächtig. »Wir sollten uns dieser Herausforderung annehmen, meint ihr nicht?«

Die Schüler nickten und lachten fröhlich.

Sie liebten ihren Klassenlehrer. Herr Jansen war ein junger Mann, der mit seinen kreativen Ideen frischen Wind in den Klassenraum brachte und so die Kinder motivierte, mehr für die Schule zu lernen.

»Ich selbst war leider nie in einer Bande«, erzählte er dann bedauernd. »Mein Jahrgang lag ungünstig dazwischen. Soweit ich weiß, entscheiden die Klassen durch Loseziehen, wer in welche Bande kommt. Das erachte ich als sinnvoll. Ich werde nun also welche basteln und dann wird jeder eins hier aus der kleinen Schachtel nehmen.«

Nach wenigen Minuten war er mit den Losen fertig. Dann ging er an den Tischen entlang, und jeder durfte sich ein zusammengefaltetes kleines Stück Papier nehmen.

Auf sein »Jetzt dürft ihr!«, lasen alle, was auf ihren Zetteln stand.

Nach ein paar Sekunden war klar, wer von nun an in einer Bande und vor allem in welcher sein würde.

Zu der Bischofbande gehörten von nun an Michael Glasner, Rüdiger Franke, Josefine Kaiser, Birgit Förster, Holger Müller und Udo Kierdorf.

Bei den Willems waren jetzt Wolfgang König, Gabriele Weber, Elisabeth Neumann, Jürgen Peters, Torsten Roth und Norbert Stein.

Nachdem das geklärt war, begann Herr Jansen mit dem Deutschunterricht, aber irgendwie konnten sich zwölf seiner Erstklässler gar nicht konzentrieren. Zwar übten sie wie immer fleißig, die Buchstaben auf ihre Schiefertafeln zu schreiben, doch ständig wurde der Lehrer durch Flüstern und Kichern in seinen Erklärungen gestört. Er beschloss, heute nachsichtig zu sein, aber ab morgen musste wieder die alte Disziplin herrschen.

Kaum, dass die Pausenklingel ertönte, fanden sich die Banden in verschiedenen Ecken des Klassenzimmers zusammen.

Die Willemsjungen gratulierten sich gegenseitig, während Gabi und Lissi lächelnd dabeistanden und sich belustigte Blicke zuwarfen.

»Wir brauchen einen Anführer«, bemerkte Gabi schließlich.

»Oder eine Anführerin«, meinte Elisabeth selbstbewusst.

»Wolf ist der Richtige für den Posten«, warf Norbi ein.

»Ja, das würde mir Spaß machen.« Der eben angesprochene Junge stemmte seine Arme in die Hüften und warf einen abschätzenden Blick zu der Bischofbande. »Die werden ihr blaues Wunder erleben.«

»Ist jemand dagegen?«, fragte Torsten in die Runde.

Alle schüttelten mit dem Kopf und so wurde Wolfgang König der neue Anführer der Willemsbande.

Jedes der Kinder kannte die genaue Lage der kleinen zusammengeschusterten Laube und so trafen alle pünktlich am Willemslager ein.

»Ich habe meinen Eltern gerade erzählt, dass ich neuer Anführer werde«, sagte Wolf aufgeregt. »Sie waren ganz aus dem Häuschen.«

»Meine auch«, erwiderte Lissi fröhlich, während sie versuchte, durch das kleine Glasfenster in das Innere zu schauen. »Mein Vater war damals ebenfalls bei den Willems. Er hat sich richtig gefreut, dass ich nicht ein Bischof wurde.«

»Wer will schon ein Bischof werden«, meinte Jürgen nur abfällig.

»Na, Glasner zum Beispiel«, stellte Gabi lachend fest. »Den konnte ich eh noch nie leiden.«

»Ich auch nicht«, stimmte Torsten zu.

Na ja, ich eigentlich schon, dachte sich Lissi, doch sie hütete sich davor, ihre Gedanken laut zu äußern.

»Schaut mal, da kommt Christian«, rief Norbi. »Jetzt geht’s los.«

Der Anführer der Willems, ein gutaussehender sechzehnjähriger junger Mann mit halblangen dunkelbraun gewellten Haaren und auffallend dunkelblauen Augen, trug wie immer bequeme Reiterkleidung. In Gedanken versunken stieg er von seinem Pferd und band es an einem Baum fest. Dann trat er zu den kleinen Kindern und betrachtete sie skeptisch.

»Ihr habt also das Willem-Los gezogen.« Er griff in seine Hosentasche, holte einen Schlüssel hervor und öffnete damit die Tür des Willemslagers. »Dann lasst und jetzt mit der Übergabe beginnen.«

Die Kinder folgten ihm in die Laube und sahen sich neugierig um.

Im Innern der Hütte stand ein alter massiver Holztisch, um den sechs recht alte, aber sehr robust aussehende Stühle platziert waren.

Gegenüber der Tür befand sich ein hoher Schrank, dessen zwei Türen offenstanden. Er war leer.

»Setzt euch!«, forderte Christian die neuen Willems auf. Er selbst blieb stehen. »Habt ihr schon einen Anführer gewählt?«

Alle zeigten auf Wolf.

»Du sitzt dort am Kopf des Tisches.« Chris holte nun zwei große Bücher aus seiner Tasche und legte sie vor Wolf hin. »Das hier sind das Buch und die Chronik der Willemsbande. Bis vor Kurzem wussten wir nicht, dass diese Bücher existieren, aber die Bischofs haben ihre Originale im Sommer wiedergefunden. Wir haben sie ihnen gestohlen und das, was für uns wichtig ist, kopiert. Ich bin mir sicher, dass von unserer Bande auch welche existieren. Vielleicht findet ihr sie ja wieder. In der Chronik hier wird Wolf notieren, wann ihr die Bande übernommen habt, wer Mitglied ist und wann ihr sie weitergebt. Hier könnt ihr auch besonders gelungene Streiche hineinschreiben. Im Buch der Willems stehen alle Gesetze der Willems, an die ihr euch zu halten habt. Ein paar Punkte habe ich dem ursprünglichen Text hinzugefügt. Ja, das war es eigentlich schon. Wenn ihr Fragen habt, könnt ihr euch gerne bei mir melden.« Christian griff in seine Hosentasche und holte erneut den Schlüssel hervor. Diesen drückte er Wolf in die Hand.

»Pass gut darauf auf. Es gibt nur einen«, sagte er dabei. Dann ging er zu Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und ließ seinen Blick leicht wehmütig durch das Lager gleiten.

Nachdem der ehemalige Anführer das Lager verlassen hatte, blickten alle gespannt zu Wolf.

»Ich trage jetzt unsere Namen in die Chronik ein. Dann können wir ein Eis essen gehen«, sagte er.

»Wollen wir nicht die Bischofbande suchen?«, fragte Torsten verwundert.

»Ach was, die werden wir noch oft genug in den nächsten Jahren sehen. Ich finde, wir sollten erst mal feiern, dass wir in der Bande sein dürfen. Ist das nicht total toll?«

»Ich habe aber kein Geld dabei«, warf Gabi ein.

»Ich auch nicht«, gab auch Norbi zu.

»Das ist kein Problem«, meldete Lissi sich. »Mein Papa hat mir vorhin ein paar Mark zugesteckt. Er hat wohl schon geahnt, dass wir unseren Bandeneintritt mit einem Eis feiern wollen.«

»Das war aber nett von ihm«, meinte Jürgen.

Lissi nickte.

»Ja, mein Papa ist der Beste.«

»Na, dann los!« Wolf stand auf und verließ mit seinen Freunden das Lager.

Kaum zehn Minuten später stürmten sie außer Atem in den Dorfladen.

»Tante Erna!«, rief Wolf laut in den Laden.

Ein paar Sekunden später schlurfte eine ältere Frau aus dem Hinterraum nach vorne in den Verkaufsbereich.

»Na, ihr Mäuse, was wollt ihr denn?«, fragte sie gutmütig.

»Wir sind jetzt die neue Willemsbande«, erzählte Gabi ihr stolz. »Deshalb wollen wir das mit einem Eis feiern«, fiel Lissi ihr ins Wort.

»Ach sieh an, die Banden wurden weitergegeben? Ist es wieder mal so weit? Eis am Stiel, sagtet ihr?«, fragte Frau Kunze lächelnd.

»Ja!«, schrien alle gleichzeitig.

»Also ich hätte Capri [2], Domino [3]oder Riesenhappen [4]in Vanille und Schokoladezur Auswahl. Erdbeere ist gerade ausverkauft.«

Jeder entschied sich für seine Lieblingssorte, und nachdem Lissi bezahlt hatte, rannten sie nach draußen zu der gegenüberliegenden Milchbar und setzten sich auf die kaum einen Meter hohe Mauer, die davor als Begrenzung zum Terrassenbereich stand.

Dort schleckten sie dann genüsslich an ihrem Eis und besprachen, wie sie sich nun, als Mitglieder der Willemsbande, ihr Leben vorstellten.

»Wie oft wollen wir uns nachmittags treffen?«, fragte Wolf in die Runde.

Gemeinsam entschieden sie sich für montags, mittwochs und freitags und wenn niemand etwas Wichtiges vorhatte, gerne auch am Wochenende.

»Aber nicht am Sonntagnachmittag«, beschwerte sich Lissi sofort. »Da kommt doch Skippy, das Buschkänguru [5].«

»Und um drei Rauchende Colts [6]«, protestierte Norbert.

»Vergesst nicht Big Valley [7]!«, meinte auch Torsten.

»Ach, das fängt erst halb sechs an«, winkte Wolf ab. »Da sind wir doch schon zu Hause. Aber Rauchende Colts schau ich auch immer.«

Gabi hob nur ihre Schultern. »Wir haben keinen Fernseher. Meine Eltern wollen sich den nicht leisten. Wenn wir Samstagaben Einer wird gewinnen [8], die Hitparade [9]oder Zum Blauen Bock [10] schauen wollen, besuchen wir immer meine Großeltern.«

»Meine haben auch immer so geredet, bis Vati vor zwei Jahren plötzlich einen zu Weihnachten mitbrachte«, erzählte Lissi. »Du kannst ruhig mal zu mir kommen, wenn was Gutes läuft.«

»Oh, gerne.« Gabi verdrehte kurz die Augen. »Bei uns läuft immer nur das Radio und ich spare jeden Pfennig fürs Kino.«

Lissi, die bisher nicht viel mit Gabriele zu tun hatte, drückte ihr freundschaftlich die Hand.

»Ich gehe auch absolut gerne ins Kino, weil ich die Kinderfilmvorstellungen liebe. Sag mir Bescheid, dann gehen wir das nächste Mal zusammen.«

»Nächsten Sonntag?«

»Ja, gern.«

»Schaut mal, wer da kommt«, bemerkte Wolf plötzlich und richtete sich gespannt auf.

»Die Bischofbande«, sagten alle Willems gleichzeitig.

»Jetzt wird’s lustig«, meinte Jürgen erfreut.

Wolf stand auf und stellte sich in die Mitte des Fußgängerweges. Spontan sprangen die anderen ebenfalls hoch und platzierten sich hinter ihn wie eine Mauer.

Schnellen Schrittes eilte Michael, gefolgt von seiner Bande, auf sie zu.

Schließlich standen sie sich das erste Mal als offizielle Mitglieder verfeindeter Banden gegenüber.

»Hey, Glasner«, begrüßte Wolf ihn, als dieser vor ihn trat. »Das ist mein Revier. Ich will euch von nun an hier an der Milchbar nicht mehr sehen.«

Michael lachte laut auf.

»Das ist nicht dein Ernst. Du spinnst wohl!«

»Nein, das meine ich so, wie ich es sage.«

»Ich zeig dir gleich, wer sich hier nicht mehr blicken zu lassen hat.«

Mit einer Zigarette in der rechten Hand eilte Carla Freymann, die Besitzerin der Milchbar und des einzigen großen Kaufhauses in der Hauptstraße, aus dem Laden hin zu den miteinander kämpfenden Kindern.

»Was ist hier los?«, rief sie erbost über den Radau, die diese kleinen Kinder durch ihren Kampf verursachten.

»Wir haben die Banden übernommen«, teilte Michael ihr stolz mit, während er Wolf im Schwitzkasten hielt.

Schnell boxte ihn Wolf in die Seite und befreite sich aus dem Griff.

»Verschwindet hier und tragt euren Kampf im Wald aus«, knurrte die Ladenbesitzerin die Kleinen an. »Sonst hole ich die Polizei und die steckt euch dann wegen Ruhestörung ins Gefängnis.«

Erschrocken lösten sich die Kinder voneinander und starrten die junge Frau an, die mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihnen stand.

»Los, ab zum Lager«, rief Michael schnell zu seiner Bande.

»Wir auch«, sagte Wolf und schon ein paar Sekunden später waren die Kinder um die nächste Ecke verschwunden.

»Immer diese Banden«, murmelte Carla und zog an ihrer Zigarette. Leider hatte ihre Generation nicht das Glück gehabt, eine der Banden übernehmen zu können. Schade eigentlich, dachte sie sich schmunzelnd. Ich wäre bestimmt eine gute Anführerin geworden.

Dann drehte sie sich um und ging zurück in die Milchbar. Hier lag noch eine Menge Büroarbeit vor ihr. Und gleich würde Walter, ihr Verlobter, sie abholen. Sie musste sich wirklich sehr beeilen.

»Der Glasner hat aber schön blöd aus der Wäsche geguckt«, sagte Lissi lachend, als sie ein paar Minuten später wieder auf den alten Stühlen im Lager saßen. Dann rutschte sie mit säuerlich verzogenem Mund auf der Sitzfläche hin und her.

»Das geht nicht. Diese Stühle sind total unbequem. Ich frage meinen Vater, ob er uns für das Lager neue kaufen kann«, beschloss sie dann.

»Das wäre echt nett. Meiner hält bestimmt nicht mehr lange«, stimmte Gabi zu. »Schaut her! Da müsste man mit Holzleim ran.«

Wolf betrachtete die wenigen Möbel im Lager ebenfalls kritisch.

»Mir gefällt es hier auch nicht besonders. Ich frage meine Eltern nachher, ob sie uns einen neuen Schrank besorgen können.«

»Dein Vater hat doch eine Sanitärfirma.« Torsten grinste den Anführer breit an, sodass jeder die große Zahnlücke durch die letztens ausgefallenen Milchzähne sehen konnte. »Könnte er uns hier nicht eine Toilette einbauen?«

»Mitten im Wald?« Wolf schüttelte entschuldigend den Kopf. »Zaubern kann er leider nicht. Du musst wohl wie alle unsere Vorgänger alles im Wald erledigen.«

Torsten seufzte laut und brach dann mit dem Rest der Willemsbande in lautes Lachen aus.

Schmunzelnd dachte Felix Jansen, der Klassenlehrer der 1a an das Gespräch, dass er eben im Lehrerzimmer mit seinen Kollegen geführt hatte.

»Nein, ernsthaft?«, hatte die Musiklehrerin Isabell Schöne gerufen. »Dass du auch so ein Pech haben musst. Ich prophezeie dir, dass du von nun an nur noch Ärger mit den Kleinen haben wirst.«

»Da hat sie recht«, meinte auch der Sport- und Mathelehrer Heiner Schwarz. »Was war ich froh, als die letzten Bandenmitglieder rüber in die oberen Klassen gekommen sind. Christian und Hannes waren wie Feuer und Wasser, kaum zu bändigen. Man durfte den beiden nie den Rücken zuwenden.«

»Durch die Feindschaft zwischen den Banden gab es ständig Unruhe in der Klasse«, erinnerte sich die Englischlehrerin Renate Wiesen. »Ich bin ja nun schon lange dabei und stehe kurz vor der Rente. In meiner Zeit als Lehrerin habe ich schon mehrere Bandenjahrgänge erlebt. Es ist immer das Gleiche. Die ersten Tage nach der Bandenübernahme gehen noch. Da gewöhnen sich die Kinder erst mal an die neue Situation. Aber sobald sie sich eingelebt haben, fangen sie an, sich bei jeder Gelegenheit gegenseitig zu bekämpfen.«

»Und die Streiche, die sie sich vorzugsweise im Unterricht spielen …«

Felix sah der Musiklehrerin direkt in die hübschen blauen Augen. »Sie spielen sich gegenseitig Streiche? Na, wie schön, dass ich dann nicht mehr das bevorzugte Ziel bin.«

Isabells Wangen röteten sich leicht.

»Das werden sie ja nicht nur in deinem Unterricht machen. Die Unruhe wird sich durch alle Stunden ziehen. An die Hofpause will ich gar nicht erst denken.«

»Danke für die Warnung.« Felix erhob sich von seinem Stuhl und ging zur Tür. »Ich werde mit den Kindern sprechen.«

Die Musiklehrerin folgte ihm schnell, und gemeinsam schritten sie den Gang entlang zu ihren nicht weit voneinander liegenden Klassenräumen.

»Wenn du Hilfe brauchst oder einfach nur reden möchtest, kannst du dich natürlich gerne an mich wenden«, begann Isabell schließlich zögernd, während sich die Wangen noch mehr verfärbten.

Felix sah sie lächelnd von der Seite an. Seit Wochen hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er seiner hübschen Kollegin näherkommen könnte. Sie direkt nach einer Verabredung zu fragen wäre ihm nie eingefallen, schließlich sahen sie sich tagtäglich. Wenn sie Nein gesagt hätte, hätte sich die weitere Zusammenarbeit sicher peinlich gestaltet.

»Sehr gerne. Wie wäre es mit einem Kaffee in der Milchbar heute Nachmittag? Dann kann ich dir von meinem ersten Tag als Klassenlehrer der neuen Bandengeneration berichten?«

»Ja, das lässt sich einrichten. Sagen wir sechzehn Uhr?«

»Perfekt. Dann bis später.« Isabell betrat mit beschwingtem Schritt den Raum, in dem sie nun die dritte Klasse in Musik unterrichten würde.

Felix sah ihr sehnsüchtig nach, dann ging er weiter zu seiner 1a.

»Herr Jansen kommt!«, hörte er dann schon von Weitem einen der Jungen aufgeregt in den Klassenraum rufen. Also hatte das Chaos wohl schon begonnen. Sonst stand niemals jemand Schmiere [11], um die Klasse vor seinem Ankommen zu warnen.

Er dachte an Isabell und wie sie verlegen seine Einladung angenommen hatte. Voller Elan betrat er die Klasse und lächelte, als er die Kleinen still auf ihren Stühlen sitzen sah. Mit auffallend unschuldiger Miene sahen ihn die Mitglieder beider Banden an, und auch der Rest der Klasse schien heute unglaublich brav zu sein.

Soweit er es beurteilen konnte, schien im Klassenraum alles in Ordnung zu sein. Sogar die Tafel war ordentlich abgewaschen worden.

Vielleicht hatten seine Kollegen übertrieben, um ihm Angst einzujagen? Ja, das musste es sein. Oh man, und dabei war heute nicht mal der erste April …

Hoffentlich sieht Herr Jansen nicht den feuchten Fleck an der Decke, dachte Lissi ängstlich. Mist, warum musste der nasse Schwamm auch so gut fliegen! Wütend drehte sie sich zu Michael, dem Auslöser des Problems. Erst hatten er und Wolf miteinander gestritten und dann mussten sie ausgerechnet vor der Tafel miteinander kämpfen.

»Ja, den blöden Glasner schaffst du!«, rief Lissi von ihrem Platz aus lachend. Michael, der das gehört hatte, griff spontan nach dem Schwamm, der neben ihm auf der Tafelablage lag, und schleuderte ihn in ihr Gesicht.

Angewidert versuchte sie, die Erinnerung an den nach Kreide und abgestandenem Wasser riechenden gelben Schwamm zu verdrängen. Sie hatte das Gefühl, als ob ihr Gesicht noch immer danach stinken würde, obwohl sie sich direkt gewaschen hatte. Das würde sie dem Bischofanführer nie verzeihen! Dabei hatte sie diesen Jungen immer von allen am meisten gemocht.

Schnell hatte sie mit ihrem Ärmel über ihre Augen gerieben und dann das widerliche Ding zurück auf Michael geworfen.

Dieser hatte mit der Hand das Geschoss abgelenkt, sodass es hinauf zur Decke geflogen war und dort einen großen nassen Fleck hinterlassen hatte.

Herr Jansen begann mit dem Deutschunterricht.

Heute hatte er geplant, mit seinen Schützlingen kleine einfache Sätze aus dem vorderen Teil der Fibel [12] zu lesen.

Auf seine Anweisung hin öffneten die Kleinen artig ihre Schulbücher, doch während er sie dabei beobachtete, ließ ihn irgendetwas stutzen.

Als er Gabriele bat, den ersten Satz vorzulesen, wurde ihm klar, was es war. Ständig sahen die Kinder, ihrer Meinung nach vermutlich unauffällig, hinauf zur Raumdecke.

Jetzt nur nicht falsch reagieren, mahnte er sich. Felix ging zu seinem Stuhl und ließ sich langsam darauf nieder. Unauffällig schielte er nach oben und entdeckte den fetten Wasserfleck, der schon dabei war, zu trocknen.

Er ahnte, was passiert war, doch nun wusste er nicht, wie er darauf reagieren sollte. Schimpfen und Strafen verteilen? Das war nicht sein Stil und würde hier auch nicht weiterhelfen. Seine Klasse war, wie er heute beobachten konnte, eine eingeschworene Gemeinschaft geworden. Und das, obwohl in ihr zwei verfeindete Banden gegeneinander kämpften.

»Holger, den nächsten Satz bitte!«, sagte er schnell, nachdem Gabi ihren Teil gelesen hatte.

Als die Pausenklingel ertönte, beendete er den Unterricht. Die Kinder sprangen von ihren Stühlen auf und liefen zur Tür. Jetzt war die erste Hofpause und sie konnten es alle kaum erwarten, das Schulgebäude zu verlassen.

»Wolf und Michael bleiben bitte noch kurz bei mir.«

Während ein Teil der Kinder den Raum verließ, blieben die Mitglieder der beiden Banden zögernd an der Tür stehen. Sie wollten ihren Anführern in diesem kritischen Moment zur Seite stehen.

Michael und Wolf traten mit hängenden Köpfen zu Herrn Jansen an den Lehrerpult.

Ein bewunderndes Lächeln unterdrückend scheuchte Felix die restlichen Kinder aus dem Raum und schloss dann hinter sich die Tür.

»Ich vermute, dass ihr für den Fleck da oben verantwortlich seid?«

Beide Anführer nickten.

»In Ordnung, wenigstens gebt ihr es zu.« Der Lehrer kratzte sich nachdenklich an seinem Kopf. »Wenn wir Glück haben, bleiben keine Spuren an der Decke, denn ich habe wirklich keine Lust darauf, dieses Unglück dem Direktor zu melden.«

Michael und Wolf atmeten erleichtert auf.

»Ihr wisst, dass ich weitere Zerstörungen nicht tolerieren kann. Und deshalb werden wir drei jetzt einen Pakt schließen.« Felix ergriff von beiden Jungen eine Hand. »Solange ihr hier in der Grundschule seid, wird es keine langen Diskussionen oder Kämpfe zwischen den Willems und den Bischofs geben. Dafür habt ihr nach der Schule genügend Zeit.«

Wolf und Michael sahen sich fragend an. Sie mochten ihren Lehrer, aber wie sollten sie hier in der Schule, wo sie so viel Zeit verbrachten, neutral bleiben?

Plötzlich sprang Herr Jansen auf und lief nach hinten zum Schrank, öffnete eine der vier Türen und holte zwei Tischtennisschläger und einen kleinen runden weißen Ball hervor.

Diese Dinge drückte er den Jungs in die Hand, dann entließ er sie in die Pause.

»Menschen bilden bedeutet nicht, ein Gefäß zu füllen, sondern ein Feuer zu entfachen, sagte Aristophanes [13].« Felix Jansen schüttelte seinen Kopf. »Der hatte gut reden, schließlich kannte er die beiden Banden nicht.«

Michael und Wolf rannten um die Wette hinunter auf den Schulhof zu den schon auf sie wartenden Freunden.

»Wieso hast du einen Tischtennisschläger in der Hand?«, fragte Rüdiger, während er Michael verwundert ansah. »Ich dachte, dass Herr Jansen euch ausschimpft und Strafarbeiten aufbrummt.«

»Nein, er war wie immer wirklich in Ordnung und bat uns einfach nur darum, die Bandenspiele aus der Schule rauszuhalten.«

»Was habt ihr geantwortet?«, wollte Fine wissen.

»Wir haben zugestimmt. Was sollten wir denn auch anderes sagen.«

»Hey, Glasner«, rief Wolf über den Hof. »Hast du schon mal Tischtennis gespielt?«

Michael schüttelte den Kopf.

»Und du?«

»Nein.«

Die beiden Anführer trafen sich an einer der Tischtennisplatten, an der zwei Viertklässler gegeneinander spielten. Ein Dritter, der dabeistand, zählte laut die Punkte, welche die Spieler errangen.

»Das sieht leicht aus«, murmelte Wolf unsicher.

»Das Spiel scheint nach Regeln zu funktionieren«, bemerkte Michael. Die restlichen Bandenmitglieder fanden sich nun auch bei der Tischtennisplatte ein.

In diesem Moment gewann einer der beiden Jungen. Jubelnd wendete er sich zu den Erstklässlern.

»Hey, ihr Zwerge, warum steht ihr hier rum?«

»Wir wollen Tischtennis spielen lernen«, erwiderte Lissi laut.

Die drei großen Jungen sahen sich verwundert an. Dann zuckte einer mit den Schultern und begann, die Regeln zu erklären.

»Das Spiel endet, wenn ein Spieler zuerst drei Sätze gewonnen hat. Ein Satz wird gewonnen, wenn man zwei Punkte Vorsprung hat, klar? Nach jedem Satz werden die Seiten gewechselt …«

Gespannt hörten ihm die Banden zu.

Viel zu schnell ertönte die Schulklingel und murrend trotteten die Kinder in ihre Klassen zurück.

»In der nächsten Pause gehört eine der Tischtennisplatten uns«, raunte Michael Wolf beim Vorbeigehen auf der Treppe, die in die erste Etage führte, zu. »Ich wette, dass ich dich schlagen kann.«

»Du?« Wolf sah ihn abfällig von oben bis unten an. »Das will ich sehen.«

»Wirst du. Und heute Nachmittag treffen wir uns im Wald. Dann …«

»Ich kanns kaum erwarten.«

Dann trennten sich ihre Wege bis zum Klassenzimmer, wo Herr Jansen schon auf sie wartete.

»Ich habe euch vom Lehrerzimmerfenster aus beobachtet«, begrüßte er beide Anführer an der Tür lächelnd. »Ihr ward an einer der Tischtennisplatten.«

»Die Jungs da haben uns die Spielregeln erklärt«, sagte Wolf.

»In der nächsten großen Pause wollen wir es dann selbst mal probieren«, fügte Michael hinzu.

»In der vierten Stunden haben wir Sport. Was haltet ihr davon, wenn wir da zu den Platten gehen und ich euch die Grundlagen beibringe?«

Die strahlenden Gesichter der kleinen Jungen waren ihm Antwort genug.

Pünktlich um fünfzehn Uhr traf sich die Bischofbande an ihrem Lager. Michael nahm seinen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss zum zweiten Mal die Tür auf. Wie gut sich das anfühlte!

»Hereinspaziert, meine lieben Bischofs«, sagte er dann, während er die alte in Grün lackierte Tür aufhielt. »Hat sich schon jeder für einen Stuhl entschieden? Der oben am Kopf gehört aber mir.« Nachdem alle an ihm vorbeigelaufen waren, schloss er die Tür und ging schnell zu seinem Platz.

»Mein Bruder hätte es besser gefunden, wenn ich ein Willem geworden wäre«, erklärte Josefine amüsiert, während sie sich rechts neben Michael niederließ. »Ich muss ihm neuerdings jedes Wort aus der Nase ziehen. Als ich noch kein Bischof war, hat er gerne von seinen Abenteuern erzählt, doch jetzt scheint alles, was die damaligen Willems betrifft, ein großes Geheimnis zu sein.«

»Aber er ist doch jetzt in keiner Bande mehr. Es kann ihm doch egal sein«, warf Holger verwundert in die Runde.

»Christian war neun Jahre Anführer«, gab Michael zu bedenken. »Er hängt bestimmt noch an der Bande. Aber jetzt sind wir die neue Generation.«

»Die Willems sind irgendwo dort draußen. Warum sitzen wir noch hier herum?«, fragte Rüdiger ungeduldig.

»Weil ich erst mit euch darüber reden möchte, wie wir den Willems begegnen werden.« Michael hatte sich den ganzen letzten Tag Gedanken darüber gemacht, wie er das Bandenleben als Anführer gestalten wollte. »In der Schule spielen wir nur gegeneinander Tischtennis. Ansonsten bekommen wir ein Problem mit Herrn Jansen. Das will, denke ich, keiner von uns.«

Er sah, wie alle mit den Köpfen schüttelten.

»Aber nachmittags können wir machen, was wir wollen.«

»Die ehemaligen Banden haben sich ständig miteinander gestritten und oft auch gegeneinander gekämpft. Das hat doch jeder von uns schon in Weißwald gesehen«, erinnerte sich Biggi nachdenklich.

»Wollt ihr das auch?«, fragte Michael in die Runde.

Alle nickten begeistert.

Schwungvoll erhob sich der Anführer der Bischofbande.

»Dann gehen wir jetzt die Willems suchen und schauen, was auf uns zukommt. Und eins sage ich euch! Wir werden keinem Kampf ausweichen.«

Keine zehn Minuten später trafen die beiden Banden im Wald auf dem Trampelpfad, der die Lager verband, aufeinander.

»Glasner, ich hätte schwören können, dass ihr euch im Dorf vor uns versteckt«, begrüßte Wolf die Bischofbande, während er jeden Einzelnen abfällig musterte.

Ungehalten trat Michael ihm entgegen.

»Warum sollten wir? Vor euch Knalltüten haben wir keine Angst.«

Wolf lachte böse.

»Noch nicht, aber das werden wir ändern.«

Michael schnaubte nur verächtlich. Dann trat er zu Wolf und starrte ihm in die Augen. So hatte er es damals mal bei Hannes, dem vorletzten Anführer beobachtet, bevor dieser umgezogen war und Jane den Posten übernommen hatte.

Einen kurzen Moment starrte Wolf zurück, bevor er vorsprang und Michael mit seinen Händen umzustoßen versuchte.

Der Bischofanführer hatte mit dem Angriff gerechnet und wehrte ihn gekonnt ab.

Wolf startete umgehend einen neuen Angriff und nur wenige Sekunden später kämpften sie gegeneinander.

Im ersten Moment waren die restlichen Bandenmitglieder erschrocken über die Szene, die sich vor ihnen abspielte. Sicher, sie hatten oft solche Auseinandersetzungen bei den Vorgängern beobachten können, aber nun selbst in dieser Situation zu sein, war etwas komplett anderes.

»Ihr habt gehört was Micha vorhin gesagt hat. Wir werden keinem Kampf ausweichen«, erinnerte Finchen den Rest der Bischofbande. Holger, Rüdiger und Udo nickten sich kurz zu. Dann rannten sie gleichzeitig den Willems entgegen und verwickelten Jürgen, Torsten und Norbert ebenfalls in kleine Zweikämpfe.

Lissi und Gabriele wichen den sich auf dem Boden balgenden Jungen geschickt aus, doch dann standen auch schon Biggi und Josefine vor ihnen.

Gabi hob abwehrend ihre Hände.

»Ich will nicht kämpfen«, stellte sie erschrocken klar.

Biggi schubste sie leicht an.

»Dann hättest du nicht in die Bande eintreten dürfen. Du wusstest doch, was auf dich zukommt.«

Missmutig presste Gabi ihre Lippen zusammen. Da hatte die Bischof leider recht. Und so ergab sie sich ihrem Schicksal und schubste Biggi ebenfalls. Im Gegensatz zu den Jungen blieb es jedoch nur bei diesen kurzen Körperkontakten.

Lissi und Josefine hatten sich insgeheim schon auf diese erst Auseinandersetzung gefreut. Sie gingen direkt aufeinander los, schubsten und zerrten leicht an der Kleidung und den Haaren des Gegners. Allerdings waren sich beide einig, dass sie sich gegenseitig keinen Schmerz zufügen wollten, schließlich waren sie bis gestern noch Freundinnen gewesen.

Wolf und Michael hingegen nahmen ihren Kampf sehr ernst, doch nachdem beide festgestellt hatten, dass ihre Nasen bluteten, ließen sie voneinander ab, erhoben sich von der Erde und riefen ihre Banden zu sich.

»Ein guter Anfang, würde ich sagen«, meinte Michael, bevor er mit seinem Taschentuch über seine Nase fuhr.

»Und morgen geht’s in der Pause weiter«, stimmte Wolf zu.

Dann drehten sich beide Anführer um und gingen zu ihren Lagern. Ihre Banden folgten ihnen bereitwillig.

Ohne auf die Umgebung zu achten, tränkte Michael, nachdem er eine Stunde später zu Hause angekommen war, mit dem Gartenschlauch das Gemüse im Garten. In Gedanken ging er den Nachmittag noch mal durch. Sicher, er hatte nicht verloren, aber auch nicht gewonnen. Würde das Aufeinandertreffen mit den Willems nun immer so oder ähnlich verlaufen? Also alle fanden den Kampf ja offensichtlich lustig. Er jedoch hatte die ganze Zeit nur daran gedacht, dass er sich in diesem Moment als neuer Bischofanführer beweisen musste. König war so groß wie er selbst und ziemlich stark. Es würde nicht einfach sein, ihn körperlich zu besiegen. Aber da gab es ja noch das Tischtennis in der Schule.

Ich werde so lange üben, bis ich in diesem Spiel besser bin als Wolf. Gleich beim Abendessen frage ich Papa, ob er eine Tischtennisplatte besorgen oder bauen kann. Dann kann ich hier mit den Bischofs nach der Schule üben.

»Hey Glasner, warum gießt du die Blumen? Laut Wetterbericht soll es morgen regnen.«

Michael stellte das Wasser ab und drehte sich langsam zum hölzernen Gartenzaun um, an dem Lissi stand und frech grinsend zu ihm hinüberschaute. Deutlich konnte er die große Zahnlücke in der oberen Zahnreihe erkennen.

»Wer vertraut schon auf den Wetterbericht?«, erwiderte er, während er sie unter leicht gesenkten Lidern träge musterte. Heute trug sie wieder mal ihre rote Cordlatzhose mit den lustigen Apfelflicken auf den Knien. Die hatte er an ihr stets besonders gemocht. Auch die blonden Rattenschwänze, die ständig leicht schief und ein bisschen zerzaust waren, fand er bisher ziemlich hübsch. Aber nun war seine Lieblingsnachbarin eine Willem.

»Was willst du hier? Verzieh dich rüber zu deinem Willem-Hof«, fuhr er sie deshalb unverzüglich an.

Leicht erschrocken zuckte Lissi zusammen. Sicher, Michael war nun der Anführer der gegnerischen Bande, aber erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihn deshalb nun nicht mehr nach der Schule besuchen konnte. Das war ziemlich blöd, schließlich war sie immer gerne bei den Glasners gewesen und sie liebte die Zitronenlimonade, die seine Mutter immer selbst machte.

Durch das offene Küchenfenster klang die Tenorstimme von Rudolf Schock, der Alle Tage ist kein Sonntag [14] sang, aus dem laut vor sich hin dudelnden Radio nach draußen.

Für ein paar Sekunden ergriff Lissi eine tiefe Traurigkeit wegen dem Verlust der Freundschaft zu Michael, doch dann wurde sie wütend.

Wie konnte er es wagen sie einfach wegzuschicken? Vielleicht hatte ihr Vater doch recht damit, wenn er sagte, dass die Glasners kein guter Umgang für sie waren?

»Keine Sorge, mich siehst du hier nie wieder, Bischof!« Zornig stieß sie sich vom Zaun ab und stampfe übers Feld in Richtung Bauernhof Neumann, ihrem Zuhause.

Kapitel 2

8. September 1970