Jessi und die Bischofbande - Manuela Schoop - E-Book

Jessi und die Bischofbande E-Book

Manuela Schoop

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Beschreibung

Der zweite Teil der Bischofbandenreihe beginnt im Jahre 1977. Endlich ist es soweit. Die Bischofbande wird an die Erstklässler weitergegeben und Jessica Bischof ist eines der neuen Mitglieder. Das ist eine Sensation, weil sie eine Nachfahrin des Gründers der Bande ist. Allerdings wird nicht sie, sondern Steffen Hintz der neue Anführer der Bischofs. Mit den Jahren verliebt sie sich unsterblich in ihn und als sie fünfzehn ist, werden sie endlich ein Paar. Jessi ist erst überglücklich, doch dann überkommen sie Zweifel, denn plötzlich beginnt sie Justin Brehm, zu interessieren. Er ist der seltsame und unnahbare Anführer der gegnerischen Willemsbande. Justin bemerkt ihre schüchternen Annäherungsversuche, doch er darf keine Gefühle zulassen, schließlich ist sie, die Bischof, seine Feindin. Allerdings ist sie auch das Mädchen seiner Träume ... Werden die beiden dennoch zueinander finden?

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Manuela Schoop

Jessi

und die Bischofbande

Bandenjahrgang

1977 - 1985

Weitere Bände dieser Reihe:

Band 1 Lissi und die Bischofbande

Bandenjahrgang 1969 – 1977

Band 3 Dana und die Bischofbande

Bandenjahrgang 1961 – 1969

Bandenjahrgang 1985 – 1993

Band 4 Mara und die Bischofbande

Bandenjahrgang 1993 – 2001

Band 5 Alex und die Bischofbande

Bandenjahrgang 2001 – 2010

Band 6 Franzi und die Bischofbande

Bandenjahrgang 2010 – 2019

IMPRESSUM

Texte: © Copyright by Manuela Schoop

Umschlaggestaltung: © Copyright by Manuela Schoop

Verlag:

Manuela Schoop

Im Bendchen 22

50169 Kerpen

www.die-bischofbande.de

Lektorat: 

Agnes Spengler M.A.

c/o wortspenglerei.de

Wortspenglerei | Werkstatt für Lektorat und Text in München

Schlüsselbergstraße 23

81673 München

Illustrationen: 

indigodesign.at, generative KI, Midjourney

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, 2024

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Am 5. August 1905 gründete Franz Bischof, mit gerade mal neun Jahren, die Bischofbande. Fast alle Kinder aus dem kleinen im Süden liegenden verträumten Dorf Weißwald traten in die Bande ein, aber als erstes hatte er seinen besten Freund Karl Willem dazu eingeladen.

Die Kinder verbrachten zwei wunderbare Jahre miteinander. Doch die Harmonie fand ein jähes Ende, als ein heftiger Streit zwischen Franz und Karl entbrannte. Die restlichen Bandenmitglieder ergriffen verschiedene Parteien und die einstmals große Bande spaltete sich in zwei Gruppen. Karl wurde Anführer des anderen Teils, den er von nun an Willemsbande nannte.

Die beiden Banden hassten sich sehr und bekämpften sich, wo sie nur konnten.

Als die Kinder jedoch zu jungen Leuten herangewachsen waren, vergaßen sie allmählich ihre Streitigkeiten. Sie trafen sich nicht mehr in ihren Lagern und verbrachten ihre Zeit mit anderen Dingen. Die nächste Generation der Kinder, beeindruckt von den Bandenspielen, wollte nicht akzeptieren, dass es die Bischof- und die Willemsbande nicht mehr geben sollte. Und so beschlossen sie, deren Rollen zu übernehmen.

Kapitel 1

Juni 1977

Lächelnd musterte Michael Glasner die sechs kleinen Kinder, die vor ihm standen.

Er spürte die Freude der Kleinen darüber, dass sie nun die Bandentradition weiterführen durften.

»Setzt euch doch!«, begann er nach kurzem Zögern. Natürlich hatte er sich in den letzten Stunden Gedanken darüber gemacht, wie er die neue Generation einweisen würde, doch nun stand er hier und seine sorgfältig ausgearbeitete Rede war ihm entfallen.

»Wisst ihr schon, wer Anführer werden soll?«, fragte er, nachdem jeder einen Platz am Tisch eingenommen hatte.

»Nein«, schellte ihm die Antwort von allen entgegen.

»Na gut, das könnt ihr ja klären, wenn ich weg bin.« Michael kratzte sich kurz am Kopf. Was Wolf in diesem Moment wohl den neuen Willems erzählte? Schnell fokussierte er seine Gedanken wieder auf die aktuelle Aufgabe.

Er ging zum Schrank und holte zwei Bücher hervor.

Diese legte er dann behutsam auf den Tisch.

»Das sind die Bücher der Bischofbande. Behandelt sie immer wie ein Heiligtum. Hier im Bischofbuch steht alles Wichtige über die Bande und in der Chronik dürft ihr selbst euren Bandeneintritt, gute Streiche und die Weitergabe notieren. Es wäre gut, wenn ihr möglichst ordentlich und ohne Fehler schreibt.«

»Na, da bin ich raus«, bemerkte Christoph breit grinsend.

»Das Lager ist soweit in einem guten Zustand. Dennoch müsst ihr ab und zu Reparaturen durchführen, Bretter austauschen oder das Dach flicken, wenn Wasser reintropft. Wenn ihr etwas nicht könnt, fragt eure Eltern. Die helfen euch bestimmt.«

Michael schlug im Bischofbuch die Bandengesetze auf. »Es ist wichtig, dass ihr die traditionelle Feindschaft mit den Willems weiterführt. Wie ihr das Aufeinandertreffen mit denen gestaltet, ist eure Sache. Ich bitte euch nur, es nicht zu übertreiben. Es gibt klare Grenzen, die es nicht zu überschreiten gilt. Wir haben viele Konflikte durch Tischtennismatche klären können. Gibt es noch Fragen?«

Alle Kinder schüttelten schüchtern ihre Köpfe.

Michael griff in seine Jackentasche und legte die Lagerschlüssel auf den Tisch.

»Falls der gewählte Anführer doch noch Fragen haben sollte, kann er sich jederzeit an mich wenden. Ich wünsche euch alles Gute und viel Spaß als Bischofbande.«

Der ehemalige Anführer ließ nochmal einen letzten Blick durch das Lager gleiten, wandte sich dann zur Tür und verließ die Laube.

Erwartungsvoll beobachtete Jessica Bischof die anderen fünf Kinder. Charlotta Peters, ihre beste Freundin und Katja Breuer kannte sie ja schon, doch die Jungen waren ihr noch immer sehr fremd.

Natürlich waren sie in der gleichen Klasse, aber sie gab sich nur mit den Mädchen ab.

Da waren noch Christoph Arens, Patrick Thomas und Steffen Hintz.

»Wir müssen jetzt einen Anführer wählen«, bemerkte Charlie unsicher und setzte sich an den großen Tisch. Scheu folgten ihr die anderen Kinder.

»Also ich bin dafür, dass Jessica Anführerin wird, schließlich hat ihr Vorfahre die Bande gegründet«, sagte Katja nach einigem Zögern.

»Ich?« Verlegen errötete Jessica. »Nein, das kann ich nicht. Ich will nicht Anführer werden.«

»Wer würde es denn freiwillig machen?«, fragte Christoph.

Nur Steffen meldete sich.

»Du willst Anführer werden?« Freundschaftlich stieß Patrick seinen Tischnachbarn an. »Das bekommst du sicher gut hin.«

»Also ich habe auch nichts dagegen«, bemerkte Christoph. »Wählen wir Steffen?«

Alle nickten, und so wurde Steffen Hintz der neue Anführer der Bischofbande.

»Schaut mal, die knutschen da draußen«, rief Patrick, der von seinem Stuhl aus den besten Blick aus dem Fenster hatte, plötzlich.

Die Bischofbande lief aus dem Lager und beobachtete erst verwundert, dann lachend den ehemaligen Anführer der gerade ziemlich leidenschaftlich ein Mädchen küsste.

»Wie im Film«, fand Charlotta seufzend.

»Das ist die Lissi Neumann«, flüsterte Jessica ihren Freunden zu. »Sie war bei den Willems.«

Lissi und Michael hatten das Kichern der Kleinen gehört. Schnell trennten sich ihre Münder voneinander, dann liefen sie Hand in Hand in den Wald hinein.

»Bäh, das passiert mir garantiert nie.« Steffen schüttelte sich kurz. »Wie kann man sich als Bischof in eine Willem verknallen?«

Ratlos hoben alle die Schultern. Dann gingen sie gemeinsam zurück in das Lager, wo Steffen dann seinen ersten Eintrag in die Chronik der Bischofbande hineinschrieb.

Auf dem Heimweg musterte Charlie Jessica von der Seite. »Ist dir klar, dass du hättest Anführerin werden können? Diese Chance bekommst du nie wieder. Weshalb hast du dich nicht getraut?«

»Ich will nicht diese Verantwortung tragen. Wer weiß, wen die Willems wählen?«

»Patricks Schwester ist bei denen. Ob die beiden sich auch zu Hause streiten werden? Dumme Frage! Sie streiten sich, seit ich sie kenne. Wahrscheinlich wird sich bei ihnen nicht viel ändern.«

»Ja, die armen Eltern.«

»Da sind sie!«, hörten die beiden Mädchen plötzlich jemanden rufen, und in Sekundenschnelle waren sie von den Willems umringt.

»Wer ist euer Anführer?«, herrschte Justin Brehm Jessica herablassend an.

Verängstigt starrte Jessica ihn an, brachte aber kein Wort hervor.

Wie immer war er armselig gekleidet, seine dunklen Haare waren zu lang, die zerkratzten Schuhe ungeputzt. Niemals lächelnd blickte er ständig teilnahmslos vor sich hin und doch schienen ihn die Willems als Anführer gewählt zu haben.

Vielleicht lag es an dieser seltsam melancholischen Stimmung, die er ausstrahlte und die die anderen Kinder faszinierte? Mitleid war es sicher nicht.

Es war einfach so, dass er trotz seiner ärmlichen Erscheinung sehr Respekt einflößend war.

Alles in allem war er der ideale Anführer.

»Hey Bischof, hat es dir die Sprache verschlagen?«, rief Justin nun hochmütig.

»Steffen ist unserer Anführer«, antwortete Charlotta ebenso hochmütig, ergriff schnell Jessicas Hand und zog sie von den Willems fort.

»Mensch Jessi, was war gerade mit dir los? Weshalb hast du nichts gesagt?«, knurrte sie dabei böse.

»Sie haben Brehm gewählt.« Zögernd wandte sich Jessica noch einmal kurz zu den lachenden Willems um. »Ich habe Angst vor ihm, er ist immer so seltsam.«

»Das musst du dir nun aber schnell abgewöhnen! Als echte Bischof wirst du von nun an …«

»Ein Angriffsziel sein«, beendete Jessi leise Charlies Satz.

»Sie haben Justin Brehm gewählt«, war das Erste, was Jessica am nächsten Morgen in der Schule zu Steffen sagte.

»Ihn? Verdammt, das hatte ich befürchtet. Er wird kein leichter Gegner werden.«

Jessica zustimmend, drehte er sich zu dem neuen Willemsanführer um. Bewegungslos saß er in seiner Schulbank und starrte mit seinen bernsteinfarbenen Augen zur Tafel.

Solange Jessica sich erinnern konnte, hatte sie Angst vor ihm gehabt. Er war so anders als die anderen Kinder und dann besaß er diese verwirrend hellbraunen Augen, die sich nun auf sie richteten.

Ohne das Gesicht zu verziehen, blickte er sie an, ganz so, als würde er ihre Gedanken lesen können.

Erschrocken zuckte sie zusammen und wandte sich von ihm ab.

»Ob Steffen gegen ihn ankommen wird?«, flüsterte sie Charlie ins Ohr.

»Na, das hoffe ich doch«, antwortete Charlie. »Bald wird es zur ersten Auseinandersetzung kommen, dann werden wir es sehen.«

Am späten Nachmittagtrafen die beiden Banden am See das erste Mal aufeinander.

Nervös betrachtete Jessica ihre neuen Feinde, Robert Tillner, Tina Thomas, Dirk Förster, Susan Henke und Stephan Gilgenbach.

Mit den meisten hatte sie schon zusammen im Sandkasten gespielt, und Tina hatte sie eigentlich immer besonders gemocht.

»Kein Wunder, dass sie dich gewählt haben«, sagte Justin ohne jegliche Regung im Gesicht. »Der Rest deiner Bande ist nur ein jämmerlicher Haufen.«

»Dasselbe könnte ich auch über dich sagen.« Spöttisch verzog Steffen seinen Mund. Ihm war es egal, dass Brehm nie lachte und immer versuchte, einschüchternd zu wirken. Das war doch alles nur Fassade.

Nur Sekunden später fielen die beiden Anführer übereinander her.

»Steffen macht sich gut«, bemerkte Christoph und Charlie nickte zustimmend.

Auch Jessica beobachtete interessiert die beiden kämpfenden Jungen.

Justin war verdammt gut. Es war, als würde er um sein Leben kämpfen, doch Steffen wehrte jeden Faustschlag gekonnt ab. Dann war plötzlich alles vorbei.

Steffens Hände und sein Gesicht waren voller Kratzer, und Justin wischte mit einem Ärmel über seine blutende Nase.

»Oh nein«, hörte Jessica ihn tonlos flüstern, während sie seine abgeknabberten Fingernägel betrachtete. »Das fehlt mir gerade noch.«

Doch schon ein paar Sekunden später rief er mit selbstsicherer Miene seine Bande zusammen und verschwand mit ihnen im Wald.

»Hey, Steffen, dem hast du es aber gezeigt!«, rief Katja begeistert.

»War es sehr schwer?«, fragte Jessica bewundernd.

»Es geht«, erwiderte Steffen strahlend. »Mit etwas Übung schaffe ich ihn locker.«

Die Gestalt, die am nächsten Tag in der Schule erschien, wirkte trauriger als sonst.

Seine Oberlippe war aufgeplatzt und ein großer blauer Fleck zog sich über seine rechte Wange.

»War Steffen das?«, fragte Patrick verwundert.

»Er sieht heute ramponierter aus als gestern Nachmittag«, meinte auch Christoph.

»Ich weiß nicht, schon möglich«, gab Steffen zurück. »Aber eigentlich blutete ja nur seine Nase.«

Neugierig drehte sich Jessica, die schon an ihrem Tisch saß, zu Justin um.

Er saß da wie immer, doch seine ganze Haltung verriet einen großen Zorn, der ihr Mitleid erweckte.

Er sah so einsam und verlassen aus.

Sein Blick fiel auf sie, seine bernsteinfarbenen Augen verengten sich und sein Gesicht verzog sich hasserfüllt.

Wieder einmal erschrak sie heftig und senkte schnell ihren Kopf.

Nach der Schule half sie ihrer Mutter beim Lebensmitteleinkauf.

Nur schnell vorbei, dachte Jessica und schielte kurz zu dem alten, halb verfallenen Haus in der Schäferstraße. Der Rasen davor war verwildert, die Farbe der Fassade abgebröckelt und in nur wenigen Fenstern hingen vergilbte Gardinen.

»Sieh mal, dort vorn ist Tante Ruth. Hallo Ruth!«, rief ihre Mutter fröhlich und winkte ihre Schwester zu sich.

»Oh, Mama, können wir nicht weitergehen?«, murmelte Jessica, während sie ängstlich zu dem alten Haus blickte.

»Weshalb?« Lächelnd umarmte Frau Bischof ihre Schwester. »Ruth, was machst du denn hier? Ich dachte, dass du noch in Berlin bist?«

»Oh, Mutter geht es wieder besser. Es war nicht nötig, dass ich dort noch länger bleibe.«

Verdammt, dieses Gespräch würde sich noch eine Weile hinziehen. Seufzend blickte Jessica wieder zu dem alten Haus.

Dort wohnte Justin Brehm mit seinem ständig betrunkenen Vater. Würde sie dort wohnen müssen, wäre sie sicher auch so missmutig. Zu allem Unglück sah sie, wie Justin eins der verschmutzten Fenster öffnete. Schnell huschte sie hinter ihre Mutter und hoffte, dass er sie nicht gesehen hatte.

Justin zog die alte Gardine zurecht und beobachtete dabei seine Feindin Jessica Bischof. Ah, sie hatte ihn gesehen und versuchte nun, sich vor ihm zu verstecken. Das war ja wieder mal typisch. Selbst für ein Mädchen war sie viel zu ängstlich und es war fast schon zu einfach, sie einzuschüchtern.

Er musste sie nur düster anschauen und schon war sie wie ein Kaninchen auf der Flucht.

Wenn er ein Bischof wäre, würde er ganz anders auftreten … aber nein, er musste ja leider in diese, seine Familie hineingeboren werden.

Traurig sah er sich in seinem schäbigen und lieblos eingerichteten Kinderzimmer um. Selbst die Armut würde er ohne Probleme hinnehmen, wenn nur seine Mutter wiederkommen oder sein Vater keinen Alkohol mehr trinken würde.

»Jetzt hört endlich auf, mit mir zu diskutieren!«, rief Frau Thomas eine Woche später verzweifelt. »Ihr feiert euren Geburtstag zusammen! Wisst ihr eigentlich, wie sehr mich eure Banden nerven?«

»Wir haben dich gewarnt.« Patrick warf Tina noch einen anklagenden Blick zu und lief dann zur Haustür, an der eben die ersten Gäste geklingelt hatten.

»Hey Patrick!«, rief Charlie fröhlich. »Ist schon jemand da?«

»Alles Gute«, sagte Jessica lächelnd.

»Nein, ihr seid die Ersten«, antwortete Patrick. »Geht schon mal ins Wohnzimmer!«

Aus den Augenwinkeln sah er Justin den Weg zum Haus kommen. Schnell zog er die Mädchen in den Flur und warf vor Justins Nase die Tür zu.

»Sehr witzig«, knurrte dieser erbost und klingelte kurz.

Nach ein paar Sekunden öffnete Tina ihm. »Hallo Justin. Du bist hier der erste von den Willems. Geh doch schon mal ins Wohnzimmer!«

»Hallo Tina, ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag.« Langsam schlenderte er zum Wohnzimmer, ließ sich gegenüber der Bischof in einen Sessel fallen und musterte sie eingehend. Wie sehr er sie doch hasste! Dieses Mädchen symbolisierte alles, was er verabscheute und ersehnte, eine liebevolle Familie, ein behütetes Leben ... Nein, sie war die Bischof, das war das allerschlimmste.

Sie war sehr hübsch mit ihren langen dunkelblonden Haaren, den graugrünen Augen, der perfekten Nase und den schön geschwungenen Lippen. Wenn er sich dagegen sah …

Er hatte sich nicht mal ein Geschenk für Tina leisten können. Zum Glück verstand sie das.

»Was starrst du mich so an?«, fauchte er sie zornig an.

Die Augen vor Entsetzen aufgerissen, fuhr Jessica hoch und lief zu dem Sessel, auf dem Charlotta saß.

»Ich will hier weg«, flüsterte sie leise in ihr Ohr.

»Wir dürfen keine Schwäche zeigen«, erwiderte Charlie ebenso leise.

»Du hast recht«, murmelte Jessica und kehrte zum Sofa zurück. Warum kam Steffen nicht endlich, und wo blieben die anderen?

»Was ist mit dir los?«, fragte Justin spöttisch. »Deine Vorfahren würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie dich Heulsuse sehen könnten.«

»Lass sie in Ruhe Brehm, sie ist dir nicht gewachsen!«, fauchte Charlie und richtete sich auf. »Das müsste sogar dir zu schäbig sein.«

Sie ließ ihren Blick langsam über ihn gleiten und ihre Miene spiegelte deutlich wieder, wie armselig sie seine Gestalt fand.

Auch Jessica musterte ihn. Sein dunkles, welliges Haar war wieder zu lang, das Shirt nicht sauber, die Hosen nur schlecht an den Knien geflickt und auch die Schuhe hatten dringend eine Reparatur nötig.

»Was weißt du denn, Peters?«, erwiderte Justin hasserfüllt. »Die Bischof ist mehr als schwach.«

»Vielleicht hat sie keine Führungsqualitäten«, gab Charlie zu. »Dennoch besitzt sie etwas, was du nie haben wirst.«

»Und das wäre?«

»Wenn du zu blind bist, um das zu sehen, kann ich dir auch nicht helfen. Jessi ist etwas ganz Besonderes und viel zu gut für dich.«

Errötend wich Jessica Justins prüfendem Blick aus. Liebend gerne hätte sie etwas sagen und Justins Anfeindungen etwas entgegensetzen wollen, doch sie konnte es nicht. Wie sie ihre Sensibilität ... oder war es doch Feigheit, verabscheute.

Voller Panik sah sie, wie Justin auf sie zukam und direkt vor ihr stehen blieb.

»Was soll an dir schon Besonderes sein?«, fragte er mit gefährlich ruhiger Stimme. »Du bist der größte Feigling, den ich kenne.«

Steffen, wo bist du, fragte sich Jessica.

Krank vor Entsetzen schloss sie ihre Augen. Vielleicht würde er ja verschwinden, wenn sie nur fest daran glaubte?

Es war so einfach, Jessica Bischof in die Defensive zu bringen. Sie besaß kein bisschen Mumm in den Knochen.

Spöttisch stieß er mit einer Hand gegen ihre Schulter. »Du bist eine Schande für deine Bande.«

Sie war wirklich keine Herausforderung.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie ihre Freundin ankam und ihn wegschubsen wollte.

Justin packte sie an ihrem rechten Handgelenk und schleuderte sie von sich. Charlie stolperte ein paar Schritte zurück und blickte ihn vorwurfsvoll an. »Warte nur, bis Steffen kommt.«

»Meinst du, ich habe Angst vor ihm?« Sein wütender Blick richtete sich nun wieder auf Jessica. »Hey Feigling, sag doch auch mal ein Wort. Aber nicht mal das kannst du!«

Verängstigt wich Jessica vor ihm zurück. Sie hasste sich für ihre Mutlosigkeit, dennoch war sie nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.

Tränen traten in ihre Augen und liefen unaufhaltsam über ihre Wangen.

Erleichtert registrierte sie, dass die Zimmertür sich öffnete und die restlichen Bandenmitglieder lachend und laut durcheinanderredend das Zimmer betrat.

Schnell wischte sie über ihre Augen und lief zu Steffen.

»Da bist du ja endlich«, seufzte sie erleichtert und klammerte sich Hilfe suchend an seinen Arm.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Bischofanführer besorgt und blickte, die Stirn runzelnd, zu Justin Brehm, der nun umringt von seiner Bande, nur wenige Meter entfernt stand.

»Nein, Brehm ist fast auf Jessi losgegangen«, fauchte Charlie wütend. »So schlimm habe ich ihn noch nie erlebt.« Kurz erzählte sie, was geschehen war.

»Das wird er büßen!«, schwor Steffen und drückte Jessica kurz an sich. »Begib dich nie wieder allein in seine Nähe!«

»Nein, das werde ich auf keinen Fall.«

Wenig später saßen die beiden Banden an einer langen, festlich gedeckten Tafel, aßen Kuchen und tranken Kakao.

»Sieh dir nur Brehm an!«, flüsterte Charlie noch immer erbost. »Er sitzt da wie ein König und lässt sich von seiner Bande feiern.«

»Ich will nicht zu ihm sehen«, erwiderte Jessica leise. »Er ist so schrecklich.«

Dennoch glitten ihre Augen zu ihm. Auch Justin sah in ihre Richtung, und ihre Blicke trafen sich kurz.

Erschrocken rückte sie näher zu dem neben ihr sitzenden Steffen und berührte sanft seinen Arm. »Er schaut her. Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren soll.«

»Du machst gar nichts«, flüsterte Steffen und blickte zu Justin, der Jessica noch immer grimmig anstarrte.

Verärgert nahm er seine mit einem Stück Kuchen beladene Gabel, hielt sie wie ein Katapult und schleuderte das cremige Stück in Justins Gesicht.

Überrascht und nicht wenig entsetzt warteten nun alle Bandenmitglieder auf eine Reaktion von Justin.

Der Willemsanführer nahm ebenfalls ein Stück Kuchen und warf es voller Wucht in Steffens Gesicht.

»Tortenschlacht!«, rief Charlie begeistert und tatsächlich flogen nur wenige Sekunden später die ersten Kuchenstücke durch das Zimmer.

Kapitel 2

Ende Mai 1979

»Mist, ich hasse Division«, brummte Jessica und fuhr mit einer Hand durch ihr langes Haar. »Diesen dämlichen Rechenweg kapiere ich nie.«

»Kein Problem, ich erkläre es dir noch mal«, sagte Katja entspannt. Der Umgang mit Zahlen war ihr schon immer leichtgefallen und deshalb bekam sie fast nur Einsen im Matheunterricht.

Jessica seufzte, während sie sich in der Schulbibliothek umsah, die jetzt in der Freistunde zum Glück von niemand anderem besucht wurde. »Ein paar Grünpflanzen könnten dem Raum guttun.«

»Jessica, wir müssen lernen. Vergiss nicht, dass wir schon morgen die Mathearbeit schreiben.«

Jessica stand auf und lief zu dem geöffneten Fenster. »Nein schon gut, wir machen gleich weiter. Ich brauche nur eben eine kleine Pause.«

»Da bin ich dabei«, gestand Katja und streckte sich kurz. »Eine halbe Stunde haben wir noch bis zur Hofpause. Wir können aber auch heute Nachmittag noch etwas üben.«

»Psst!« Jessica versteckte sich neben dem Fenster und machte Katja ein Zeichen, zu ihr zu kommen.

»Die Willems«, flüsterte sie dabei.

Schnell schlich Katja zu ihrer Freundin und zusammen lauschten sie, was die Willems unter dem Fenster zu besprechen hatten.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Tina. »Justin kommt gleich aus seinem Kurs. Also, ich habe euch zusammengerufen, weil ich mir wirklich Sorgen um ihn mache. Wenn seine Noten nicht endlich besser werden, bleibt er sitzen. Ich werde heute mit ihm im Lager für die Mathearbeit üben. Dort darf er auf keinen Fall durchfallen.«

Robert nickte zustimmend. »Die Situation bei ihm zu Hause wird anscheinend immer schlimmer. Das zieht ihn runter. Ich glaube, er hat letzte Nacht im Lager geschlafen. Dieses Wochenende kann er zu mir. Ich habe das schon mit meinen Eltern besprochen.«

»Ich bringe ihm morgen das Frühstück mit«, sagte Susan leise. »Ist es nicht schrecklich, dass sein Vater nicht mal dafür sorgen kann?«

»Dennoch müssen wir vorsichtig sein«, gab Dirk zu bedenken. »Ihr wisst, dass Justin keine Hilfe will.«

»Ja, aber darauf sollten wir keine Rücksicht nehmen. Wenn er sitzen bleibt, haben wir ein riesiges Problem. Da wäre nicht nur der Spott der Bischofbande, den ich mir gar nicht vorstellen will. Wir wären den ganzen Schultag ohne Anführer«, meinte Stephan. »Ich gehe gleich morgen früh nochmal alles für Deutsch mit ihm durch.«

»Gut, dann sind wir uns einig«, fasste Tina zusammen. »Wir werden uns mehr anstrengen und Justin helfen.«

Alle nickten und liefen dann gemeinsam in Richtung Schuleingang,

»Puh, das war ja ...«, sprachlos plumpste Katja auf einen Stuhl.

Auch Jessica war zu geschockt über das, was sie da eben gehört hatte, als dass sie hätte was sagen können.

»Ich muss mal zur Toilette«, murmelte sie schließlich. »Wenn ich zurück bin, können wir weiter üben.«

Sie lief langsam in Richtung Toiletten, als sich eine Klassenzimmertür öffnete. Der Willemsanführer trat heraus und kam ihr mit grimmigem Gesichtsausdruck entgegen.

An jedem anderen Tag hätte Jessica sofort kehrtgemacht und wäre auf schnellstem Wege zurück zur Bibliothek gelaufen, doch das eben Gehörte hinderte sie daran.

Sie sah diesen Jungen plötzlich mit anderen Augen. War er nur so wütend und unnahbar, weil er unglücklich war? Verflixt, er bekam nicht mal regelmäßig Essen zu Hause! Er tat ihr leid, doch sie konnte ihm nicht helfen. Sie war die Bischof,wie er sie immer nannte. Von ihr würde er nie etwas annehmen.

Justin bemerkte ihren mitleidigen Blick und der machte ihn zornig.

»Was schaust du so blöd?«, fuhr er sie an.

Erschrocken zuckte Jessica zusammen, doch sie bewegte sich nicht vom Fleck.

Was ist denn mit der los?, fragte Justin sich verwundert. Normalerweise brauchte er sie nur anzusehen und sie lief heulend davon.

»Ich …« Jessica errötete leicht. »Wenn du irgendwie Hilfe brauchst …«

Ach, daher wehte der Wind!

»Du spinnst wohl?«, schrie er. Wutentbrannt stieß er sie zur Seite und rannte schnell wie der Wind an ihr vorbei und verschwand in das Treppenhaus.

Der Stoß kam so unerwartet und heftig, dass sie den Halt verlor und mit dem Hintern auf dem Boden landete.

»Oh, das wird ein blauer Fleck«, murmelte sie und stand, sich die schmerzende Stelle reibend, langsam auf. Gut, sie hatte verstanden. Brehm wollte keine Hilfe akzeptieren, hatte sie aber bitter nötig. Ein Glück, dass er die Willems hatte. Alle aus der Bande machten sich offensichtlich Sorgen und würden ihm bestimmt helfen, wieder auf die Beine zu kommen.

Schnell lief sie zur Bibliothek zurück.

Eine halbe Stunde später in der Hofpause.

»Wie erbärmlich er wieder aussieht«, meinte Charlie mit verzogenem Mund. »Seine Kleidung ist ja heute mal wieder der Hammer.«

»Das ist doch nicht seine Schuld«, murmelte Jessica leise.

»Wenn er nicht aufpasst, dann bleibt er dieses Jahr sitzen«, bemerkte Christoph.

Spöttisch blickten die Bischofs zu Justin, der umringt von seiner Bande auf der anderen Seite des Schulhofs stand.

Jessica und Katja beteiligten sich nicht an diesen Spötteleien und musterten den Willemsanführer verständnisvoll.

Die Willems ihrerseits lachten ebenfalls offenbar über die Bischofbande. Justin verzog jedoch wie immer keine Miene.

»Deine Schwester riskiert mal wieder eine ganz schön dicke Lippe«, bemerkte Katja und wies zu Tina, die die ganze Zeit über redete und damit die Willems zum Lachen anstiftete.

»Hört bloß auf! Ich muss sie schon immer zu Hause ertragen. Ständig drängt sie sich in den Vordergrund«, erwiderte Patrick.

»Gut, bringen wir doch mal ein bisschen Bewegung in die Pause!«, beschloss Steffen plötzlich und ging zu den Willems.

Schnell folgten ihm die Bischofs.

»Na?«, grüßte Justin und stieß Steffen mit seiner Schulter an.

»Na?« Steffen stieß mit aller Wucht zurück, doch Justin bemühte sich, fest auf beiden Füßen stehen zu bleiben.

»Du willst Streit?«, schlussfolgerte der Willemsanführer leise, während er seinen Gegner musterte.

Steffen ließ sich davon nicht einschüchtern. Zu oft hatten sie dieses Spielchen hinter sich gebracht.

»Ja.« Hochmütig blinzelte Steffen seinen Erzfeind an. »Du armseliges Würstchen.«

Armselig! Dieses Wort konnte Justin nicht ertragen. Nur zu gut wusste er, dass sein Äußeres unansehnlich war. Aber das war doch nicht seine Schuld!

Zornig ging er auf Steffen los und prügelte auf ihn ein.

Angelockt durch die lauten Anfeuerungsrufe der um die beiden Kämpfenden Versammelten, kamen zwei Lehrer zu den Kindern, zerrten Steffen und Justin auseinander und zogen beide in das Zimmer des Direktors.

»Was habt ihr euch dabei gedacht?«, fragte der Direktor streng und blickte enttäuscht zu den Jungs, doch keiner von ihnen wollte antworten.

Steffen wendete seinen Kopf zur Seite, und Justin presste bockig seine Lippen zusammen.

»Gut, wenn das so ist, werde ich eure Eltern benachrichtigen.«

Am nächsten Tag fiel sofort jedem auf, dass Justin nicht in der Schule war.

»Er scheint krank zu sein«, überlegte Robert laut, während er unsicher zu der Bischofbande blickte, die am anderen Ende des Raumes zusammenstand.

»Komisch, gestern ging es ihm noch gut«, erwiderte Dirk. »Ob er Angst vor der Mathearbeit hat?«

»Blödsinn, ich habe gestern Nachmittag mit ihm im Lager geübt. Er konnte alles«, fauchte Tina erbost. »Vielleicht hat er sich nur verspätet?«

»Schau dir mal die Willemsbande an«, flüsterte Charlie zu Jessica. »Die kommen wohl nicht mal einen Tag ohne ihren Anführer aus?«

»Meinst du nicht, dass es uns ähnlich gehen würde?«, erwiderte Jessica. Sie hatte ein ungutes Gefühl im Magen. »Sie machen sich Sorgen, schließlich fehlt Brehm nie im Unterricht. Er ist doch froh, wenn er nicht bei sich zu Hause sein muss.«

»Hey Jessi«, bemerkte Patrick amüsiert. »du verteidigst unseren Sonnenschein Brehm in letzter Zeit ziemlich häufig. Bist wohl verknallt in ihn?«

Verlegen errötete Jessica. »Quatsch, natürlich nicht. Aber selbst dir dürfte ja wohl nicht entgangen sein, dass es ihm nicht gut geht.«

Patrick winkte ab. »Was geht mich das an? Er ist unser Feind und der Rest interessiert mich nicht.«

Jessica konnte nicht verstehen, wie man so unsensibel sein konnte. Sie blickte hilfesuchend zu Steffen, aber auch er wirkte ziemlich desinteressiert.

Das war der Moment, in dem ihr klar wurde, welchen Beruf sie später mal ergreifen würde.

Am Nachmittag begleitete Jessica ihre Mutter beim Einkauf.

»Holst du mir eine Packung Salz?«, fragte Frau Bischof, während sie in das Regal griff und eine Flasche Öl herausnahm.

»Mach ich«, schnell lief Jessica den Gang zurück.

»Ach, hallo Martha. Also jetzt hat er es aber übertrieben«, begrüßte die Mutter von Robert ihre Bekannte.

»Oh, guten Tag, Bettina. Wer hat was?«

»Brehm, der alte Säufer. Hätte seine Frau den Jungen nur mitgenommen, dieses selbstsüchtige Biest. Ach, du weißt das noch gar nicht? Er hat den Kleinen krankenhausreif geprügelt.«

Jessica, die gerade um die Ecke kam, hatte die letzten Worte noch gehört. Schnell versteckte sie sich hinter einem Stapel Dosenbohnen.

»Und dabei ist Justin die Treppe runtergefallen. Dass der Kleine unglücklich ist, hat doch jeder gesehen, aber niemanden hat es gekümmert. Die Schule hätte schon längst das Jugendamt einschalten müssen. Ich möchte mir nicht vorstellen, was er die ganze Zeit durchmachen musste.«

»Justin ist im Krankenhaus?« Betroffen fasste sich Frau Bischof an das Herz. »Was wird jetzt mit ihm geschehen?«

»Nun, soweit ich weiß, hat sich das Jugendamt endlich eingeschaltet.«

»Tanja hätte ihn damals mitnehmen sollen. Aber wie du schon sagst, hatte sie schon immer nur an sich selbst gedacht, selbst damals in der Schule. Kein Kind hat solche Eltern verdient.«

Innerlich aufgewühlt starrte Jessica auf die Salzpackung in ihren Händen. Verdammt, genau das hatte sie den ganzen Tag über befürchtet. Klar konnte sie Brehm nicht ausstehen, aber so einen schrecklichen Vater hatte sie ihm nicht gewünscht. Lag er wirklich im Krankenhaus? Und wie sollte es nun weitergehen?

»Ich habe gehört, dass er jetzt bei seiner Tante wohnt«, erzählte Patrick ein paar Tage später im Lager. »Ihr kennt doch Frau Freymann. Sie besitzt den Imbiss, mehrere Jeansshops und was weiß ich noch alles.«

»Er braucht jetzt also nicht mehr in diesem verfallenen Haus zu leben?«, fragte Jessica.

Patrick blickte sie schmunzelnd an. »Er wohnt jetzt luxuriöser, als wir alle zusammen. Frau Freymanns Haus steht in unserer Straße. Es ist eine riesige Villa mit einem Swimmingpool und einer Sauna. Einen Porsche hat sie auch. Fehlt nur noch der Butler. Oh verdammt, jetzt wird mir der Blödmann wohl öfter über den Weg laufen.«

»Da hat Brehm ja richtig Glück gehabt. Er hätte auch in ein Heim kommen können. Dann hätten die Willems aber dumm aus der Wäsche geschaut«, meinte Katja.

»Nicht nur die, befürchte ich«, sagte Jessica.

»Seine Tante hat auch durchgesetzt, dass er den Monat nicht zur Schule kommen braucht. Er muss den ganzen Schulstoff allerdings in den Sommerferien nachholen«, flüsterte Christoph neidisch. »Sie ist gestern mit ihm nach Italien gereist.«

»Was, der Idiot ist jetzt über vier Wochen nicht da?«, rief Steffen überrascht. »Mit wem soll ich dann kämpfen? Der Rest von den Willems ist doch keine Herausforderung.«

»Du könntest ja mal mein Schwesterchen ärgern. Die Zicke hat es richtig verdient«, schlug Patrick vor.

»Ich glaube, das wäre mir zu langweilig«, murmelte Steffen nachdenklich. »Tina ist tatsächlich die Einzige bei den Willems, die Führungsqualitäten hat. Vielleicht sollte ich mich jetzt wirklich auf sie konzentrieren? Aber was soll ich denn mit einem Mädchen anfangen? Ich kann mich ja wohl kaum mit ihr schlagen. Die ist ja fast einen halben Kopf kleiner als ich.«

»Du könntest sie wegen ihrer Haarfarbe ärgern«, meinte Katja.

»Nein, da würde ich mir wegen Patrick blöd vorkommen«, wehrte Steffen ab.

»Hey, hast du was gegen meine Haarfarbe?«, rief Patrick sauer.

»Ach, quatsch, aber an Tina ist kaum was auszusetzen«, erwiderte Katja nachdenklich. »Aber auch sie wird eine Schwachstelle haben.«

»Ich muss sie nur herausfinden.« Voller neuem Elan erhob Steffen sich und lief zur Lagertür. »Los, lasst uns die Willems suchen!«

Es war schon später Nachmittag, als schließlich beide Banden am See aufeinandertrafen.

Jessica bemerkte in den Gesichtern der Willems eine große Unsicherheit.

Wahrscheinlich hatten sie lange über einen Stellvertreter diskutiert, waren aber zu keinem Ergebnis gekommen.

»Na, Willems.« Steffen blieb vor Tina stehen und blickte sie abschätzend an. »Ohne Brehm seid ihr wohl nur ein Häufchen Feiglinge. Wollt ihr euch jetzt vor uns verstecken, bis er wieder da ist?«

Erschrocken trat Tina einen Schritt zurück. »Warum fragst du mich?«

»Einer von euch muss dran glauben. Ich habe mich für dich entschieden.«

»Ach, das hast du einfach mal so entschieden? Ich soll wohl nicht gefragt werden?«, fuhr sie ihn nach kurzem Zögern an.

»Nein, das hatte ich nicht vor.« Steffen grinste sie an. Die Auseinandersetzung mit der Rothaarigen schien lustig zu werden.

Wütend trat seine Feindin nun wieder näher. »Du willst dich mit mir … uns anlegen? Kein Problem, Hintz. Vielleicht brauch ich ein bisschen Übung, aber du wirst diese Entscheidung sicher bereuen.«

»Wir werden sehen«, erwiderte Steffen ruhig. »Da du jetzt Bescheid weißt, kannst du dich auf deine Aufgabe vorbereiten.«

Er drehte sich zu den Bischofs um. »Kommt, lassen wir den Jammerhaufen allein.«

»Wir sind kein Jammerhaufen!«, fauchte Tina wütend hinter ihm her.

Steffen drehte den Kopf erneut zu ihr und musterte sie abfällig. »Du wirst in Zukunft genug Gelegenheiten haben, mich zu überzeugen.«

„Worauf du dich verlassen kannst!“, rief Tina zornig.

Steffen lachte nur laut.

»Los, wir gehen zu Frau Kunze und kaufen uns ein paar Fritt-Streifen [1]. Ich habe fünfzig Pfennig dabei.«

Am nächsten Tag sollte Steffen für seine Mutter ein paar Einkäufe erledigen. Da es Samstag war, musste er sich sputen, weil Frau Kunze den Laden schon um dreizehn Uhr schloss.

Mit dem Fahrrad raste er durch Weißwald. Aus den Augenwinkeln sah er auf dem Spielplatz nahe der Schule, dass Tina dort auf dem Klettergerüst saß. Ansonsten war niemand zu sehen. Schnell bremste er, wendete das Rad und näherte sich vorsichtig. Das Fahrrad stellte er hinter einem Busch ab und schlich dann zum Klettergerüst.

Tina erblickte ihn erst, als er vor sie sprang.