Danke, Frère Roger - Klaus Hamburger - E-Book

Danke, Frère Roger E-Book

Klaus Hamburger

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Beschreibung

Erinnerungen an Frère Roger – zum 75. Jahrestag der Kommunität von Taizé Millionen von Menschen kennen die »Nächte der Lichter« und die Lieder aus Taizé. Klaus Hamburger, der dort unter den Brüdern lebte, teilt seine persönlichen Erinnerungen an den Gründer der Gemeinschaft – Frère Roger.  Dieser gilt als eine der großen religiösen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, widmete sein Leben der Ökumene, war Gottsucher, Liebender und Zweifelnder. Vor 75 Jahren bekannten sich die ersten sieben Brüder zu ihrem sogenannten Lebensengagement. Heute gehören der Communauté de Taizé, die große Jugendtreffen veranstaltet, rund 100 Brüder aus über 30 Ländern an. Klaus Hamburgers biografische Einblicke beleuchten nicht nur Frère Rogers visionäre Rolle in der ökumenischen Bewegung, sondern auch die transformative Kraft der Taizé-Gemeinschaft. Hamburgers persönlichen Anekdoten bieten einen einzigartigen Blick in das Herz einer Bewegung, die Generationen von Gläubigen inspiriert hat.

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Seitenzahl: 227

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Klaus Hamburger

Danke, Frère Roger

Persönliche Erinnerungen an den Gründer von Taizé

Mit Skizzen von Wolfram Heidenreich

Knaur eBooks

Über dieses Buch

»Gott ist die Liebe«

So fasst Frère Roger, der Gründer der Gemeinschaft von Taizé, sein Credo zusammen. Deshalb konnte er nicht anders, als Gott und die Menschen zu lieben. Seine selbst empfundene Unzulänglichkeit verwandelte er in Wärme, die Millionen von Menschen in Bewegung setzte. Sie kamen und kommen in das Dörflein Taizé im Süden Burgunds, zur »Nacht der Lichter« auf Kirchentagen und zu Treffen überall auf der Erde.

 

Mit diesem Buch formuliert Klaus Hamburger nach mehr als drei Jahrzehnten in Taizé seinen persönlichen Dank – und spricht damit vielen aus dem Herzen.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.bene-verlag.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Ankunft

Kindersegen

Abwesenheitsnotiz

Danke, Frère Roger

Suchbewegungen

Die Gabe der Stille

Herzenssache

Spielraum

Rosenkranz

Liebesgedicht

Das Wagnis der Gemeinschaft

Zeichenhaft

Gemeinschaftsgeist

Quellwasser

Heimatlos

Das Geheimnis der Gastfreundschaft

Menschenfreundlichkeit

Feldversuch

Verwöhnpotenzial

Freiräume

Der Nerv der Kirche

Altarstufen

Gegenseitigkeit

Ausnahmezustand

Überquerung

Die Würde der Welt

Friedfertigkeit

Barrierefreiheit

Freiheitsdrang

Anwaltschaft

Die Zügel des Geldes

Die Schönheit der Dinge

Lebenspraktisches

Klangfarben

Anziehend

Zwischenberichte

Die Liebe der Menschen

Zukunft

Todesstunde

Blickrichtung

Rückenwind

Anstifter

Frère Rogers Lebensweg

Frère Rogers Bücher

Meiner Mutter

Allen, die an diesem Buch Freude haben

© Wolfram Heidenreich

Ankunft

Kindersegen

© Wolfram Heidenreich

Ein stattlicher Stubenwagen steht im halbdunklen Zimmer des verwinkelten Appartements im 6. Pariser Arrondissement. Wir sind von Notre-Dame herübergekommen, von einem Abendgebet, bei dem die Kathedrale bis auf den letzten Platz besetzt war und auf der mächtigen Orgel Gesänge begleitet wurden, bei denen alle mitsingen konnten. Jugendliche aus ganz Europa sind an jenem Dezemberabend in der französischen Hauptstadt, und der Kardinal hatte seiner Ortskirche zugerufen, aufzuwachen und dankbar wahrzunehmen, dass Jugendliche von überallher zu ihr gekommen sind.

 

Frère Roger hatte vor den Altarstufen sitzend von Indien erzählt, wo er einige Wochen verbracht hat. Es geht nicht um Europa, das damals in zwei Blöcke zerrissen ist, sondern um die ganze Erde. In Indien hatte er sich zusammen mit jungen Leuten in den Heimen Mutter Teresas um Kinder gekümmert, die ohne menschliche Zuwendung auch einen lauen indischen Winter nicht überlebt hätten. Eines von ihnen, ein sechs Monate altes Mädchen, schloss er spontan ins Herz.

Mutter Teresa, die ein Gespür für einmalige Situationen hatte und wusste, wem man vertrauen konnte, legte es ihm einfach in die Arme. Sie scheute keine Mühe, einen Pass für dieses Kind zu besorgen, was angesichts zwielichtiger Adoptionen in Indien schon damals schwierig war. Frère Roger konnte die Kleine im Flugzeug über Rom nach Paris mitnehmen. Als er mit ihr im Arm die Gangway hinunterstieg, blies ihm der Wind ins Gesicht. Er war müde, weil er in Indien nicht gut geschlafen hatte. Er hatte stets einen leichten Schlaf.

 

Nun aber war das Kind in seinem Bettchen in duftigen Kissen geborgen. Geneviève, die jüngste Schwester Frère Rogers, war nach Paris gereist, um zu helfen. Sie hatte in dem kleinen burgundischen Dorf Taizé schon eine Generation vorher Kriegswaisen aufgezogen.

Ich trat näher, schaute lange in den Stubenwagen und konnte mich nicht losreißen. Ein winziges, tiefbraunes Gesicht in der weichen weißen Kissenlandschaft, die Augen im Schlaf geschlossen. Gerade noch auf irgendeiner Pritsche in einem armen, lauten Stadtteil von Kalkutta, wo das Leben eines Mädchens nicht viel wert war, und nun geborgen, wie ich es als Kind selbst erlebt hatte.

 

Es müssen mir Bilder durch den Kopf gegangen sein, die ich aus meinem eigenen Fotoalbum kannte. Als Baby mit meiner Mutter, die einen Morgenmantel trägt, in einem Zimmer mit formschönen Möbeln der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Unser Wohnzimmer, mein Wohnzimmer, in dem, wie auf anderen Fotos zu sehen ist, ein Adventskranz auf dem Tisch stand, bevor ihn der Christbaum in der Zimmerecke ablöste. Ich freute mich für dieses Kind und das Glück, das ihm widerfuhr. Frère Roger muss mich beobachtet haben, ich hatte es nicht bemerkt.

 

Kurz darauf, als wir nach Taizé zurückgekehrt waren, fragte er mich, ob ich bereit wäre, mich um die kleine Marie zu kümmern. Das war mehr, als ich je erwarten konnte. Kaum ein Vierteljahr vorher hatte ich mich seiner Gemeinschaft angeschlossen, war ein Bruder wie er und bekam nun den schönsten Auftrag – eine Aufgabe, die kein Kloster zu vergeben hat, die aber bei ihm in Taizé möglich war: Ich kümmerte mich im Vorraum von Frère Rogers Zimmer um ein Kind, als wäre es mein eigenes, mit einer Liebe, die nach dem Evangelium dem Umgang mit Kindern zukommt.

 

Ich war froh, dass damals schon die Einwegwindeln erfunden waren und es einen Apparat gab, in dem man gleichzeitig sechs Fläschchen sterilisieren konnte. Ich wusste, wie man die Nahrung anrührt, und hatte gesehen, wie meine Mutter, die noch ein Kind bekam, als ich schon sieben Jahre alt war, das Fläschchen an das geschlossene Augenlid hielt, um sicher zu sein, dass die Milch nicht zu heiß war.

Bald fand ich heraus, wie man auch ein nervöses Baby – kein Wunder, bedenkt man, was die Kleine in den ersten sechs Monaten nach ihrer Geburt durchlebt hatte – zum Einschlafen bewegen konnte. Ich stellte mich mit ihr vor eine alte burgundische Wanduhr. Während das Pendel gleichmäßig hin- und herschwang sagte ich immer wieder leise ticktack, ticktack, bis Marie, des Schreiens müde, widerstandslos aus der Wiege meiner Arme in ihr Bettchen sank und sofort regelmäßig atmend schlief.

 

Das Mädchen wog für sein Alter viel zu wenig. Ich konnte es in einem Handwaschbecken baden, so schmächtig war es. Ein Kinderarzt wurde gerufen. Maries Leben stehe trotz der Aufbaukost, die sie bekam, und bei aller Fürsorge immer noch auf der Kippe, gab er vorsichtig zu verstehen.

Frère Roger saß tagsüber stundenlang neben dem Bettchen. Mit der rechten Hand beschrieb er Blätter auf seinen Knien, mit der linken hielt er das Händchen des Kindes. Später sagte er zu mir, er habe auch in diesen Wochen nicht infrage gestellt, dass Gott die Liebe ist. Das Leben der Kleinen sei für ihn eine Gottesgabe. Solange sie in seiner Nähe sei, wolle er sie nicht mit Zweifeln oder Wehklagen behelligen. Selbst wenn das Kind nur kurze Zeit auf der Erde weilte, sollte es Vertrauen erleben, von Menschen umgeben sein, die auf die Liebe Gottes setzen. Ich hatte bis dahin niemanden kennengelernt, der so innig an Gott und seiner Güte hing, sie so vollkommen verinnerlicht hatte.

 

Wir erlebten eine einzigartige Weihnachtszeit. Frère Roger ließ keine Gelegenheit aus, sich an der Anwesenheit der Kleinen zu erfreuen, und konnte sich dennoch zurückziehen, um sich von den Strapazen der langen Reise zu erholen. Aus seinem Zimmer klangen das Weihnachtskonzert von Corelli herüber und französische Weihnachtslieder wie »Entre le bœuf et l’âne gris« – »Zwischen dem Ochs und dem grauen Esel«. Es wärmte einem das Herz.

An einem Spätnachmittag hatte Frère Roger in seinem Zimmer Kinder aus dem verschneiten Dorf zu Gast. In den Fächern eines Schranks türmten sich allerlei Geschenke, die er bei Einkaufstouren auf vielen seiner Reisen zusammengetragen hatte.

 

Nach Epiphanias, dem Fest der Erscheinung des Herrn, zog das kleine Mädchen, dessen Genesung bald Fortschritte machte, in das Haus von Frère Rogers Schwester, in eine Familie mit kleinen Kindern.

 

Auch als Marie größer wurde, verging kein Tag, an dem sie Frère Roger nicht in seinem Zimmer besuchte. Dort gaben sich Brüder und Gäste die Türklinke in die Hand. Das Kind verfolgte das Geschehen mit großen Augen. Einmal, da meldeten sich schon die ersten Zähne, spielte es unter dem Tisch, an dem Frère Roger die Gespräche zu führen pflegte. Munter kaute es auf den untersten Knöpfen der Soutane eines katholischen Bischofs herum, der dem Prior derweil schwierige Fragen stellte.

 

Frère Roger war Maries Pate. Auch als sie in die Schule kam, sorgte er sich um alles, was sie brauchte. Sie fuhr mit ihm zu unzähligen Abenden, an denen er in den großen Kirchen europäischer Städte Wortgottesdienste hielt. Da saß sie an seiner Seite, schlief bisweilen während der Ansprache ein und war wieder wach, wenn er mit den Jugendlichen anschließend noch Gespräche führte. Sie hatte eine Aufgabe. Mit ihr, so bekannte Frère Roger einmal, fühle er sich unter den vielen Menschen nicht allein.

Frère Roger mit seinem Patenkind Marie

© Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland / Hans Lachmann

Noch in späteren Jahren wusste sie seinen Rat zu schätzen und schlug doch selbstbewusst ihren eigenen Weg ein. Als sie studierte und heiratete, konnte sie nicht mehr in Taizé wohnen. Die Nähe zu ihrem Paten blieb eine innige Verbindung. Sie bekam nach ihrer Ausbildung eine Tochter, die sich ihrerseits ohne Scheu in der Gemeinschaft derer bewegte, die mit Frère Roger zusammenlebten. Bei seinem jähen Tod war Marie noch keine dreißig Jahre alt. Sie trauerte um ihn wie vielleicht niemand sonst auf der Welt.

Abwesenheitsnotiz

Wenn ein Papst zu segnen vergisst, muss etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein. Als die Heiligen Väter sich noch nicht wieder einfach Bischof von Rom nannten, dafür im Hochsommer in Castel Gandolfo residierten, geschah das, am dritten Mittwoch im August 2005.

*

Auf dem kleinen Balkon über dem Eingangsportal der Residenz steht unter einer großen Uhr an der Fassade ein weiß gekleideter Mann mit einem Blatt Papier in der Hand. Bestürzt eröffnet er der Menge, die sich auf dem Platz davor zusammengeschoben hat, er könne es kaum fassen, aber am Vorabend sei ein Mann getötet worden, von dem er gerade noch ein Schreiben erhalten habe. Der Schock steht ihm, der so gar nicht für das Unberechenbare gemacht ist, ins Gesicht geschrieben.

Unruhe ist dem Kirchenmann von jeher zuwider, wie man in seiner bayerischen Heimat sagt. Als Professor für Theologie ging er auf und davon, als 68er-Studenten an seiner Universität die ersten Vorlesungen sprengten. Kann denn nichts bewahrt werden, ist man nirgendwo geborgen? Ein Mord an einem Ort, der ganz im Zeichen der Versöhnung und des Friedens steht, an einem alten, weisen Mann, der gegen niemanden die Hand erhob? Eine Gewalttat durch eine Frau, die nicht einmal religionspolitische Absichten verfolgt, sondern bei aller Verwirrtheit ein anspruchsvolles geistliches Leben führen will, was sie von Kloster zu Kloster treibt?

 

»Herr, lass den Toten ruhen im Frieden, den die Welt nicht geben kann«, sagt die weiße Gestalt auf dem Balkon, wendet sich um, verschwindet im Dunkel der Gemächer und ist im Nu zurück. Auf dem Platz sind viele schon auf die Knie gesunken. Sie beten das Angelus-Gebet des Papstes mit und empfangen mit gesenktem Kopf den ersehnten Apostolischen Segen.

*

Ein nach römisch-katholischen Kategorien rangniedriger Laienbruder aus Burgund hatte Papst Benedikt XVI. in seinem Schreiben mitgeteilt, dass er zu geschwächt sei, um ihn auf einem internationalen Treffen, dem sogenannten Weltjugendtag, wiederzusehen. Das wäre tags darauf in Köln gewesen. Der kleine Bruder und der große Kirchenmann hatten eines gemeinsam: Elektrogitarrenriffs im Gottesdienst lehnten sie ab. Ihr Verhältnis zu jungen Leuten konnte indes unterschiedlicher kaum sein. Joseph Ratzinger hatte streng genommen keines, sieht man von den Studenten ab, die zu seinen Schülerkreisen zugelassen wurden. Bei Frère Roger war das ganz anders. Für ihn verging bis ins hohe Alter kein Tag ohne Gespräche mit unterschiedlichsten jungen Frauen und Männern aus allen Himmelsrichtungen.

 

Er hatte in einem Landstrich, wo Burgund fast menschenleer ist, dauerhaft den Übergangszustand einer Zeltstadt geschaffen. Dort machten im Lauf der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen junger Leute aus aller Welt einen Zwischenhalt, der sich tief in ihren Lebensweg einschnitt. Sie fuhren aus Taizé anders weg, als sie gekommen waren, ohne recht erklären zu können, warum.

Ungewohnt war für viele von ihnen die erfrischende Erfahrung, dass sie in Taizé nicht auf Kreise von Gleichgesinnten trafen, sondern auf ganz anders Geprägte, die längst nicht alle ihre Heimatkirche von innen kannten. Das machte ihr Leben weit. Sie erfuhren, dass sich in Taizé, gerade in den Gottesdiensten, wie von selbst zusammenfügte, was anderswo, auch auf Weltjugendtagen, die nicht der Ökumene verpflichtet sind, ängstlich, bisweilen herzlos auseinandergehalten werden sollte. Das machte ihr Leben tief. Längst verständigten und verstanden sich in dem Dorf nördlich des Beaujolais christliche und nichtchristliche Jugendliche aller Couleur, ohne auf eine Weltinitiative von Kirchenamts wegen gewartet zu haben.

 

Ihre Tagebucheinträge, Skizzen und Schnappschüsse füllen zahllose bunt eingebundene Hefte und Alben der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre. Heute tummeln sich, fröhlich gepostet von ihren Kindern und Enkeln, deren Eindrücke und Berichte in allen Spalten und Ritzen des Internets.

Es gibt keine »Selfies« mit Frère Roger. Dazu starb er zu früh. Die Kurzvideos, auf denen Jugendliche heute nach allen Regeln der Kunst durch Taizé rappen, konnte er sich nicht mehr vorspielen lassen. Was zu seinen Lebzeiten über seine fünfundsechzig Jahre in Taizé dokumentiert wurde, ließ er links liegen, kartonweise Fotos, Tondokumente auf Spulen, Kassetten und Festplatten, schwarz-weiße, später farbig aufgezeichnete Fernsehsendungen, zahllose Zeitungsausschnitte, wohlgesinnte und kritische Bücher.

 

Er fürchtete, sich selbst im Weg zu stehen oder den Bildern nachzueifern, die andere sich von ihm machten. Er wollte unverbildet bleiben, weder besonders selbstbezogen noch abgelenkt durch Lob und Tadel. Wenn man von diesem Entschluss abrückt, warnte er immer wieder, stirbt man geistlich, wird man geistlos. Es ist Frère Roger zu Lebzeiten wohl verborgen geblieben, wie tief er in die Herzen vieler Menschen fand, denen er manchmal nur flüchtig begegnen konnte. Dass es besser sei, nicht so genau zu wissen, was man anderen bedeutet, wie man auf andere wirkt, stand für ihn fest.

*

Seinen Lebensweg leiteten zwei Überzeugungen. Die Christen müssten sich versöhnen, schon allein der Welt zuliebe. Und: Man kann nur unter schwierigen Verhältnissen schöpferisch sein. So machte sich der 1915 geborene Schweizer Pastorensohn, der mit sieben Geschwistern aufgewachsen war, im Jahr 1940 aus der behüteten Schweizer Heimat auf in das Kriegsgebiet Frankreich. Er hatte Theologie studiert und während einer schweren Krankheit lange über den Sinn des Lebens nachgedacht, war fromm und politisch wach geworden.

 

Fromm hieß für ihn, über die Grenzen seiner Konfession hinauszugehen. Er entschloss sich, mit Christen verschiedener Herkunft zusammenzuleben, und erwarb dafür eine bis dahin unverkäufliche Liegenschaft in der Nähe der weltbekannten Abteiruine von Cluny. Notdürftig richtete er das Haus für eine Gemeinschaft von Männern her, in einer Gegend, die einst gespickt mit Mönchen war. Politisch wach bedeutete, dass er in diesen Jahren, bisweilen unter Lebensgefahr, Menschen beistand, die vor seiner Tür unter Krieg, Besatzung, Kollaboration und Gefangenschaft litten, Juden und andere Verfolgte der Nazi-Terrorherrschaft.

 

Als die Zeiten besser wurden und man wieder ungehindert reisen konnte, sprach sich sein mutiger Versuch schnell herum. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde der winzige Ort Taizé vom Rückzugsort für eingeweihte Einzelgäste zu einem schier unumgänglichen Anlaufpunkt für junge Leute, die, der Welt und dem Leben zugewandt, nicht davor zurückschrecken, dreimal am Tag in einer Kirche zu beten.

Danke, Frère Roger

In der Nacht und am Tag nach dem Attentat zeigt sich beim Weltjugendtag in Köln mit der Unaufhaltsamkeit eines Naturereignisses, wer Frère Roger für die zusammengeströmten jungen Leute ist. Ausgerechnet in Deutschland, das er stets als eine geschundene Nation betrachtete, die es schwer mit sich selbst, aber auch mit ihren zahlreichen Nachbarn hat. Ein Land, dessen Kultur seinen Vater geprägt hatte.

Die Nachricht vom Mord in Burgund verbreitet sich am Rhein in Sekunden. Fassungslose Abwehr – »Gott, lass es nicht wahr sein« – weicht stummer Ergebung in das Undenkbare. Eine Welle stiller Ergriffenheit geht durch die Programmpunkte des Weltjugendtages. Tränen fließen. Tausende Teelichte brennen.

 

© Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland / Hans Lachmann

Und es wird eine Tiefe spürbar, die bei solchen Veranstaltungen schnell zu verflachen droht. Keine jugendbewegte Stimmungskanone vertreibt sie, keine geistliche La-Ola-Welle schwemmt sie weg. Als die Papst-Party auf dem Marienfeld vorüber ist, hängt irgendwo am Drahtzaun neben einer Bühne, über einer Ansammlung marienblauer Müllsäcke, ein ungelenk beschriftetes Tuch, verziert mit einer unbeholfen gezeichneten Silhouette der Taizé-Taube: »Danke, Frère Roger«. Das Tuch wiegt schwerer als jede feierliche Danksagung für einen Heiligen. Frère Roger ist in den Herzen, wie es niemand herbeireden oder herbeibeten kann.

*

Frère Roger brauchte keine etablierte Struktur, kein bezuschusstes Budget, keine Fürsprache Hochgestellter, um dahin zu gelangen. Das alles hat er stets abgelehnt. Er bestritt die Seelsorge an jungen Leuten mit seinen bloßen Armen und leeren Händen. Überzähliges Geld floss in Hilfsmaßnahmen – 1945 für deutsche Kriegsgefangene in Frankreich, später, an der Jahrtausendwende, zu Entrechteten nach Südostasien.

 

Das Programm seiner weltumspannenden Jugendtreffen, in Taizé und bald auch in den Metropolen der Erdteile, passte auf ein DIN-A4-Blatt, der Ablauf seiner Gottesdienste ebenfalls. So blieb Raum für alles, was sich nicht festschreiben, nicht auf Papier bannen lässt. Ein Leben lang voll und ganz da sein, herzlich dem Menschen des Augenblicks zugewandt. Diese Sprache wurde in allen Erdteilen und Ländern verstanden und geschätzt. Die Dutzende Briefe, in denen er den jungen Leuten seine Überlegungen auseinandersetzte, waren eindringlich und glaubwürdig, weil sie dieser Zuwendung entsprangen. Dennoch stellte sich in seinem Leben keine Idylle, keine Romantik ein.

 

Manche verkannten Frère Roger, belächelten oder fürchteten ihn, je nachdem. Neid und Eifersucht ließ er über sich ergehen, er hielt es für Zeitverschwendung, ja für einen Verrat am Glauben, sich mit ihnen zu befassen.

*

Damit ist Entscheidendes gesagt. Man muss Frère Roger nichts andichten, Poet war er selbst. Wer behauptet, ihn durchschaut zu haben, erliegt einer Täuschung. Wenn ich genau wüsste, wer Frère Roger war, würde ich nicht über ihn schreiben. Schreiben ist Suche, ein Weg. So fügen sich die Seiten dieses Buches nicht zu einem abgerundeten geistlichen Porträt. Sie verdanken sich nicht der gewagten Absicht, das Vermächtnis von Frère Roger vorzulegen. Sie bergen nicht die »Fioretti«, die Blümlein des Roger von Taizé, die einmal als Anekdotensammlung sprießen mögen. Sie kommen nicht jenen in die Quere, die die historische Wahrheit über das Leben von Frère Roger zusammentragen, erforschen und theologisch aufarbeiten. Sie enthalten keinen autorisierten Bericht, sie sind das glatte Gegenteil einer offiziellen Verlautbarung. So kann vieles wegbleiben, was anderswo wiederholt und eingehend geschildert wurde.

 

Dieses Buch ist der nachdenkliche Versuch, ein Dankeschön niederzuschreiben. Es schildert Frère Roger als einen Menschen, der in vielfältigen Beziehungen lebte. Eine von ihnen, einzigartig wie jede andere, langjährig und doch zurückhaltend, war die, in der ich mit ihm stand. Froh will ich Frère Rogers gedenken, wie er mir ans Herz gewachsen ist. Anhand einiger Begebenheiten, die nicht vergessen kann, wer sie miterlebt hat oder dem sie mehr als einmal von ihm erzählt wurden, unternehme ich einen kleinen Streifzug durch seine Welt. Vieles habe ich im Lauf der Jahre in seiner Gemeinschaft verstanden, anderes wurde mir später klar. Manches habe ich vielleicht falsch aufgefasst, wie es in jeder Beziehung vorkommt. Es wird einleuchten, dass man sich einer Person nur persönlich zuwenden kann. So halte ich mich an das, was mich dauerhaft beeindruckt hat. Es bleibt Fragment.

 

Man kann Nachweise sammeln, um Frère Roger als großen Ordensgründer hinzustellen, als akademisch bewanderten Theologen, als Baumeister der Ökumene, als Fachmann pädagogisch umsichtiger Seelsorge, als politisch unerschrockenen Christen, als Heiligen für die Altäre. Aber warum? Frère Roger hatte von allem etwas. Frei nach dem Briefeschreiber Paulus, war er es sich indes schuldig, wie mir scheint, sein Leben so zu führen, als hätte er von alldem nichts.

Er sonnte sich nie in dem Gefühl, ein Liebling Gottes und der Welt zu sein. Er war scheu. Er hütete sein Herz vor Machtstreben und Geltungssucht. Nach der Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen 1989 wollte ein Fernsehreporter von ihm wissen, warum er die Kette mit der Medaille gleich nach der Zeremonie abgenommen habe. Er fand diese Frage keiner Antwort würdig. Wen ging das etwas an? Frère Roger konnte auch eine Zumutung sein und anecken.

 

Er bewahrte im Herzen, was dort bleiben musste, und tastete das auch bei anderen nicht an. Mit seinem Taktgefühl hat er der Kirche mehr gegeben als durch glaubensgewisse Taten, es war ihm wichtiger als der Erfolg.

Er war in der Lage, eigene Vorhaben und Pläne selbst zu durchkreuzen, angefangen bei der größten Versammlung junger Leute, die es in Taizé je gab, der Eröffnung des Konzils der Jugend von 1974. Da hatte das Nest für drei verregnete Spätsommertage 40 000 Einwohner, auf jedes Bruchsteinhaus im Dorf kamen hundert Zelte. Der Schlamm auf den gerade noch rechtzeitig abgemähten Feldern und bald auf den Straßen des Hügels war so hoch, dass er wie ein Kaffeesatz wirkte, aus dem die Jugend der Welt emsig versuchte, Anzeichen einer besseren Zukunft zu lesen.

 

Als viele dachten, nun sei Taizé auf Erfolgskurs, im Begriff, die Kirchen zu erobern, schaltete Frère Roger zurück und erklärte die darauffolgenden Treffen bescheiden zu Stationen eines ständigen Pilgerwegs, der von Taizé aus auf schmalem Pfad durch die Welt führen sollte. Das haben viele nicht verstanden, nicht verwunden. Die Enttäuschung unter den jungen Leuten, die sich über Jahre begeistert auf »ihr« Konzil vorbereitet hatten, saß tief. Für sie war Frère Roger auf halbem Weg stehen geblieben. Vielleicht spürte er, dass am Ende der Wegstrecke das Trugbild einer traumhaften Kirche in einer schönen neuen Gesellschaft am bitteren Alltag zerschellt wäre.

Konzil der Jugend 1974. Große Zelte erwarten die Teilnehmenden zu Gespräch und Gebet

© Stefan Eigner

 

Erklärt hat er sein Verhalten nicht, aber eines wohl begriffen: Ein unbeweglicher Ort, auch Taizé, konnte keine Welt für sich sein, abgesondert wie der Planet des Kleinen Prinzen, den Antoine de Saint-Exupéry beschrieben hat. Die Welt der Christen ist der des Reiches Gottes verwandt, das Jesus nicht an einen Ort gebunden sah, sondern an das Leben. Sein Lebensweg war das Reich Gottes, von dem man nicht sagen kann: Hier ist es oder dort ist es, sondern: Es ist schon mitten unter euch, es ist euch näher als ihr glaubt, unmittelbarer als alles, auch alle Orte, auf die man mit dem Finger zeigen kann.

*

Ein Mensch steht nicht für einen Ort, sondern für eine ganze Welt – für seine Welt. Der Ausflug über die Wege eines nicht einzuordnenden, gerne sanften und leisen, bisweilen stürmischen und sperrigen, mehr selbstbewussten als selbstsicheren Menschen lohnt sich allemal. Eines Menschen, der kaum jemand kalt ließ und viele wärmte. Frère Roger gab zu denken, mehr noch zu fühlen. Warum war das so? Wie gelangte er in das Herz der Menschen, beispielsweise meines?

*

Am 13. Oktober 1974 erhält Frère Roger den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Am Vorabend der Preisverleihung, es ist schon dunkel, schlage ich mich als bärtiger, frischgebackener Zivildienstleistender vom Hauptbahnhof zu der Frankfurter Stadtteilkirche durch, wo ein Abendgebet und Abendessen warten und man auch übernachten kann. Es herrscht reges Treiben, als ich dort eintreffe. In Schrittgeschwindigkeit rollt ein VW Käfer mit der Menge mit. Von der Rückbank klettert Frère Roger aus dem zweitürigen Gefährt und entdeckt mich im Strom der vorbeiziehenden Jugendlichen. »Oh, un visage connu« – »ein bekanntes Gesicht«, ruft er, obwohl er mich in Taizé nur einmal kurz gesehen hatte, und umarmt mich. So erging es bestimmt unzähligen anderen. Aber Frère Roger spielte nie. Es war echte Zuneigung, keine Floskel. Sie kam aus dem Herzen und galt für einen Augenblick nur mir.

 

Da war nichts von Herablassung, von dem Gedanken, wie froh musst du sein, dass du mir begegnen darfst. Es war gerade andersherum, zumindest kam es mir nach Jahren in seiner Nähe so vor. Frère Roger war unermüdlich auf der Suche nach redlicher Vertrautheit. Er fühlte sich, vielleicht sein Leben lang, in der Fremde. Das konnte man, teilte man sein Leben lange genug, in flüchtigen Momenten wahrnehmen. In einem überraschten oder verträumten Blick, an einer scheinbar nichtigen Bemerkung, auf die man sich erst Jahre später einen Reim zu machen vermochte.

 

Seine Geste, die mich für Sekunden, die ich nicht vergessen kann, aus den anderen heraushob, war auch Ausdruck eigener Fragen: Wo bin ich? Was widerfährt mir? Wie geschieht mir? Wie geht es jetzt weiter? Es war der Ausbruch aus der Einsamkeit eines Menschen, der, als er allenthalben schon als Stifter von Gemeinschaft gefeiert wurde, sich selbst erst einmal nach Verbundenheit sehnte. Es ging um zwei Menschen, um zwei in diesem Augenblick, wie bei jeder wirklichen Begegnung, wo sich der eine vorwagt, ohne zu wissen, wie er aufgenommen wird, und der andere ihn empfängt, ohne recht zu wissen, ob und wie das gelingt.

 

Eine Beziehung reicht von Erfüllung bis zur Verlassenheit. Gerade die dunkle Seite hat Frère Roger kennengelernt. Er hat das oft nur angedeutet. Manche schoben seine Empfindlichkeit wie seine Empfänglichkeit auf frühe Erfahrungen wie die, dass seine Mutter ihn einmal als Kind abends im Garten vergessen hatte. Er war unter einem Baum eingeschlafen – vielleicht unter den Klängen der drei Klaviere im Pfarrhaus, deren Tasten kaum zur Ruhe kamen – und erst nachts aufgefunden worden.

 

Andere hätten sich in ihrer Verletzlichkeit und Einsamkeit nach außen hin gepanzert, Frère Roger brachte das nicht fertig. Wenn er es einmal versuchte, weil er mit seinen Kräften am Ende war, hat er es nachträglich bitter bereut. Er war, was er oft Kindern zuschrieb, wie weiches Wachs, in das sich alles einprägte. Fand er in die Herzen vieler Menschen, weil er es nicht abstreifen konnte, arglos wie ein Kind zu sein?

*

Es soll offenbleiben, was offenbleiben muss. Würde man behaupten, das wahre Gesicht eines Menschen zu kennen, wäre damit die Beziehung zu Ende. Die zu Frère Roger endet für mich nicht. Weniger mit ihrer Stärke und Vollkommenheit kommen Menschen einander nahe als durch ihre Schwäche, auch ihr Scheitern. Es kann zu Tränen rühren, wird man in manchen Augenblicken der inneren Armut eines andern gewahr.

Etwas von solcher Armseligkeit war auch in Frère Roger, das verheimlichte er nie, weder vor Tausenden in einer Kirche noch im Zwiegespräch. Er war aber zu etwas fähig, das nicht jedem Menschen gelingt. Er konnte seine selbst empfundene Unzulänglichkeit in eine Wärme verwandeln, die ein paar Millionen Menschen in ein Dörflein im Süden Burgunds gezogen und in Bewegung gesetzt hat zu kleinen und großen Begegnungen überall auf der Erde.

*

Frère Roger betrachtete sie, die dem Ruf seiner Gemeinschaft folgten, nicht als Anhängerschaft. Wenn ihm einmal im kleinen Kreis mit Blick auf die vielen jungen Leute die Bezeichnung »unsere Jugendlichen« herausrutschte, klang das nach liebevoller Nähe, nicht nach Besitzerstolz.

Dasselbe gilt auch umgekehrt. Frère Roger gehört vielen, jeder und jedem auf eine eigene Weise. Eine Weile unterschrieb er sein kurzes Grußwort auf der ersten Seite des Rundbriefs aus Taizé mit »Roger, votre frère – euer Bruder« – ich bin an eurer Seite, euch nicht fern, in Christus, der euch nicht im Stich lässt, euch nicht der Verlassenheit anheimgibt. Da wurde es manchem warm ums Herz, dessen Eltern längst geschieden waren, und auch einem Behüteten wie mir.

Suchbewegungen

Etwas von dieser Wärme spürte ich, ohne sie deuten zu können, als wir, ein Freund und ich, auf einer langen Frankreichreise in das Dorf Taizé kamen. Am Glockenturm vorbei, hinter dem sich der Bereich der Communauté verbarg, fuhren wir auf das Gelände der Jugendtreffen. Das war 1972, während der Olympischen Spiele. An eine Zaunlatte geheftet, bog sich im leichten Wind die abgerissene Titelseite einer Bild-Zeitung. Mit dem Foto vom Kapuzenmann auf einem Balkon wurde vom Attentat im Münchner Olympiadorf berichtet. Dieses Geschehen schien im Zeitalter der Schreibmaschine und des Wählscheibentelefons weit weg. Das unmittelbare Erleben war stärker als die Botschaften der Medien. Auf dem Hügel nördlich von Cluny beschlich mich bei der Ankunft jedenfalls ein Gefühl wie zu Weihnachten.