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Sie hatten eine Grenze übertreten. Die beiden Männer in dem kleinen Boot wussten es. Es dümpelte durch den dichten Nebel, der hier draußen allgegenwärtig war.
Sonny Gardener, der jüngere der beiden Männer, starrte auf das verschnürte Bündel, das sie im Heck mit sich führten. Er wünschte sich, sie hätten etwas anderes benutzt als den verdammten Duschvorhang. Das Gesicht der dunkelhaarigen Frau zeichnete sich überdeutlich darunter ab. Ihr Mund, ihre Nase. Sonny konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Erinnerungen übermannten ihn. Ihr überraschter Gesichtsausdruck, als er plötzlich vor ihr stand, ihr den Telefonhörer aus der Hand riss und die lange Schnur dazu verwendete, um ...
Sonny hielt inne. Etwas hatte sich verändert, und plötzlich wusste er auch, was es war. Die Frau starrte ihn mit offenen Augen an!
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Seitenzahl: 148
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BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
»Geisterjäger«, »John Sinclair« und »Geisterjäger John Sinclair« sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Wuerz
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-4488-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Johnny Conolly hat seine Mutter verloren. Sie wurde von einem Dämon brutal ermordet. Als dieser Dämon durch ein Dimensionstor flieht, folgt Johnny ihm.
Kurz darauf wird das Tor für immer zerstört, sodass es für Johnny keine Möglichkeit zur Rückkehr gibt. Das Dimensionstor spuckt ihn schließlich wieder aus – in einer anderen Welt. Er ist in Dark Land gelandet, genauer gesagt in Twilight City, einer Stadt voller Geheimnisse – und voller Gefahren.
Die Fährte des Mörders führt ihn in einen Nachtclub, wo er mit der Polizei aneinandergerät.
Er wird abgeführt und zu einer Geldstrafe verurteilt – die er allerdings mangels hiesiger Mittel nicht begleichen kann. Daraufhin wird aus dem Bußgeld eine Haftstrafe: Fünfzig Jahre soll er einsitzen!
Er ist schon fast auf dem Weg ins Gefängnis, als ihn ein Polizist aus dem Transporter holt, um ihn woanders hinzubringen. Wohin und warum, das verrät ihm der unheimliche Panthermann nicht.
Auf dem Weg zu dem unbekannten Ziel kommt es zu einem Unfall. Und zwar zu einem, der absichtlich verursacht wird!
Wynn Blakeston, wie Johnny sich in dieser Welt inzwischen nennt – für den Fall, dass irgendjemand in Twilight City mit seinem Namen John Gerald William Conolly etwas anfangen kann und ihm möglicherweise Übles will –, hat gesehen, wie der andere Wagen auf sie zusteuerte. Allein am direkten Kurs des Fahrzeugs war zu erkennen, dass der Fahrer sie rammen wollte – aber mehr noch hat es sein Gesicht verraten, das Wynn in seinem letzten wachen Augenblick ganz deutlich gesehen hat: das Gesicht nicht irgendeines Dämons, sondern eines Schnabeldämons – und nicht irgendeines Schnabeldämons, sondern das Gesicht des Mörders seiner Mutter!
Als er nach dem Unfall erwacht, findet er sich in der Villa von Sir Roger Baldwin-Fitzroy wieder, in der auch dessen Tochter Abby und der dämonische Diener Esrath, ein sogenannter Naturalis, leben.
Sir Roger hat Wynn aus dem Gefängnis freigekauft – warum, das weiß Wynn nicht.
Doch im Moment ist auch etwas anderes für ihn wichtiger: Er will Rache am Mörder seiner Mutter!
Zusammen mit Abby begibt er sich auf die Suche nach dem Schnabeldämon. Inzwischen hat er rausgefunden, dass dieser Norek heißt und skrupelloser und gefährlicher ist als alle seine Artgenossen.
Auch Sir Roger und Esrath sind auf der Suche nach Norek, denn Sir Roger hat noch eine Rechnung mit dem Dämon offen.
Als es Sir Roger schließlich gelingt, Norek zu schnappen, verrät er Wynn davon nichts. Er sperrt Norek in eine Zelle tief verborgen in der geheimnisvollen Villa, wo niemand ihn jemals finden soll.
Denn Sir Roger weiß: Wenn Wynn zu seiner Rache an Norek kommt, gibt es keinen Grund mehr für ihn, in Twilight City zu bleiben. Er wird einen Weg zurück in seine Welt suchen, und das will Sir Roger um jeden Preis verhindern. Er braucht Wynn noch …
Sie kommen
von Marc Freund
Sie hatten eine Grenze übertreten. Die beiden Männer in dem kleinen Boot wussten es. Es dümpelte durch den dichten Nebel, der hier draußen allgegenwärtig war.
Sonny Gardener, der jüngere der beiden Männer, starrte auf das verschnürte Bündel, das sie im Heck mit sich führten. Er wünschte sich, sie hätten etwas anderes benutzt als den verdammten Duschvorhang. Das Gesicht der dunkelhaarigen Frau zeichnete sich überdeutlich darunter ab. Ihr Mund, ihre Nase. Sonny konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Erinnerungen übermannten ihn. Ihr überraschter Gesichtsausdruck, als er plötzlich vor ihr stand, ihr den Telefonhörer aus der Hand riss und die lange Schnur dazu verwendete, um …
Sonny hielt inne. Etwas hatte sich verändert, und plötzlich wusste er auch, was es war. Die Frau starrte ihn mit offenen Augen an!
»Melvin! Großer Gott Melvin, sie ist … sie lebt noch!«
Sonnys Schrei gellte über das Deck des kleinen Kahns, der jetzt scheinbar vollkommen zum Stillstand gekommen war.
Hastige Schritte näherten sich vom Bug her. Etwas fiel scheppernd zu Boden, begleitet vom Fluchen des Herannahenden.
»Was redest du da? Was ist hier los, verdammt?«
Sonny starrte seinen Komplizen aus großen Augen an. Melvin würde wissen, was zu tun ist. Er wusste in solchen Dingen immer Rat. Melvin Oaks, dem keiner so leicht etwas vormachte. Ein Mann, der es verstand, sich Respekt zu verschaffen, und das nicht nur unter seinesgleichen, sondern auch unter der Dämonenbrut.
Der Mann stand neben Sonny wie ein Baum. Seine Muskeln spielten unter dem zerschlissenen Hemd.
»Wovon, zum Teufel, redest du da?«
Sonny Gardener, der immer hatte so sein wollen wie andere und den das Glück in seinem Leben nun wirklich nicht gerade geküsst hatte, sah zu der eingewickelten Frau hinüber. Sie lag still und stumm da, Mund und Augen fest verschlossen.
»Ich … hör zu, es tut mir leid. Ich muss mich getäuscht haben. War vermutlich ein bisschen viel in letzter Zeit.« Sonny Gardener hob ein imaginäres Glas an seine Lippen und brachte es in Schräglage.
Melvin Oaks blickte auf den sitzenden Mann herunter, sah ihn eine ganze Weile abschätzend an, bevor er lediglich ein Wort sagte: »Idiot!«
»Wie weit müssen wir noch?«, hakte Sonny nach, der sich den Kragen seiner Jacke hochschlug und die Arme frierend um seinen Oberkörper legte.
»Nicht mehr weit«, lautete die Antwort.
Es war exakt die Antwort, die Sonny befürchtet hatte, weil sie genau so vage und nichtssagend war, wie alles hier draußen. Er hatte die Frau nicht gekannt, die sie aufgesucht hatten. Es war abgelaufen wie immer. Irgendjemand war mit Melvin in Kontakt getreten, und der hatte schließlich alles in die Wege geleitet. Es war schon mehrfach passiert, dass Melvin einfach ohne Vorankündigung vor Sonnys armseliger Behausung am Hafen aufgetaucht war und Sonny erst auf dem Weg zu ihrem Einsatzort erfahren hatte, worum es ging.
Die Frau eines Geschäftsmanns soll sie gewesen sein. Vermutlich irgendein reiches, verwöhntes Flittchen, das sich eingeheiratet hatte und ihr Leben lang nie selbst hatte für sich sorgen müssen. Sonny hatte nie in ihre Augen gesehen, während er es tat, wofür er und Melvin irgendwann mehr schlecht als recht bezahlt wurden. Sie wurden niemals für das bezahlt, was sie taten, sondern dafür, dass sie hinterher keine Fragen stellen. Und daran hielten sie sich, allen voran Sonny, der wusste, dass eine Frage zu viel hier unten am Hafen schnell den Tod bedeuten konnte, wenn nicht sogar Schlimmeres.
Jetzt hatten sie den Hafen weit hinter sich gelassen, viel zu weit nach Sonnys Geschmack. Er wusste, dass hier draußen üble Gefahren lauerten. Zuletzt hatte es eine Gruppe von Abtrünnigen zu spüren bekommen, die es beinahe geschafft hatte, Twilight City mit einem Schiff zu verlassen. Doch dann hatte sie alle zusammen der Teufel geholt. Das war es zumindest, was man sich erzählte.[1]
Sonny wollte nicht zu denen gehören. Verdammt, er wollte doch nur ein paar Beads, um sich in dieser kalten, unbarmherzigen Welt von TC über Wasser zu halten. Und jetzt dümpelten sie hier herum und suchten nach einer geeigneten Stelle, um die Leiche über Bord zu werfen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie diesen Ort schon vor einer guten Stunde erreicht. Aber Melvin war in diesen Dingen ja immer so furchtbar gewissenhaft.
»Wir sind gleich da«, meldete sich der Ältere in diesem Moment zu Wort. »Wir erreichen die tiefen Gewässer. Hier ist kaum je einer vor uns gewesen, Son.«
»Ja, schon gut«, antwortete der Jüngere, dem es bei diesen Worten eisig den Rücken hinunterlief.
»Kümmere dich jetzt um die Gewichte. Mach sie an den Füßen fest. Aber achte darauf, dass du sie gut zuschnürst. Sie dürfen nicht zu früh reißen.«
»Geht in Ordnung, Mel«, antwortete Sonny und erhob sich von der Seekiste, die hinter dem kleinen Führerhaus stand. Endlich gab es etwas zu tun. Endlich nicht mehr herumsitzen und die Tote anstarren, eine Tätigkeit, bei der man den Verstand verlieren konnte.
Er stakte zu dem Bündel hinüber und langte in den gelben Eimer neben sich, in dem sie alles mögliche Zeugs aufbewahrten, was sie später vielleicht nochmal gebrauchen konnten. Daraus fingerte er ein paar Schnüre und Seilenden heraus und machte sich an die Arbeit. Bei ihrer Abfahrt hatten sie mehrere Steine an Bord genommen, die dafür sorgen sollten, dass die Frau auf den Grund des Meeres sank.
Als sie darüber sprachen, hatte Melvin gesagt, dass sie vermutlich ohnehin nicht in einem Stück unten ankommen würde, weil sich irgendein Viech den Leckerbissen auf dem Weg hinunter schnappen würde. Sonny war sein Lachen im Hals stecken geblieben, als er Melvins ernsten Gesichtsausdruck gesehen hatte.
Er verscheuchte diese Gedanken. Sonny arbeitete präzise, hatte den ersten Stein bereits fest am Fußende des Pakets verknotet.
Er griff gerade nach dem zweiten, einem dicken Granitblock, als er die Bewegung wahrnahm. Zunächst war es nur ein kurzes Zucken gewesen, dann jedoch begann der Körper der Frau sich aufzubäumen. Die Folie des Duschvorhangs knisterte, raschelte.
»Heilige Scheiße!«, schrie Sonny und prallte unsanft auf sein Steißbein.
Er starrte auf das Bündel, auf den Kopf der Frau. Sie hatte die Augen wieder geöffnet, und dieses Mal wusste Sonny, dass es nicht nur ein Produkt seiner Fantasie war.
Sie starrte ihn an. Zunächst ungläubig, dann verzweifelt und zu guter Letzt hasserfüllt. Ihre Lippen, die an der durchsichtigen Folie klebten, formten sich zu einem Schrei.
Ein dumpfer Laut drang unter dem Vorhang hervor. Ein anklagender Laut.
»Melvin! Großer Gott, Melvin, sie ist nicht tot! Ich … ich hatte recht!«
Sein Komplize trat in sein Sichtfeld. Sonny erkannte nur die Hosenbeine seines Gefährten. Doch Melvin stand falsch herum, ging rückwärts. Beinahe wäre er in die Frau hineingetreten, die nun nach Leibeskräften begann, sich aus der extrem dehnbaren Folie zu befreien.
Sonny konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Abwesend zupfte er an Melvins rechtem Hosenbein. »Hörst du denn nicht? Wir … wir müssen etwas tun. Sie ist nicht tot.«
»Vergiss die Schlampe«, antwortete Melvin monoton, »wir haben hier gerade ein ganz anderes Problem.«
Widerwillig löste Sonny den Blick von der grässlichen Szene, die sich direkt vor seinen Augen abspielte. Er drehte seinen Kopf und versuchte, in die Richtung zu blicken, in die Melvin sich gewandt hatte. Sonny rappelte sich auf, nachdem er noch immer nichts erkennen konnte.
Als er über das kleine Führerhaus ihres Kutters blickte, erkannte er es. »Großer Gott, was ist das?«
Sonny Gardener hatte die Worte mehr geflüstert. Und tatsächlich hatte er im Nu die Frau vergessen, die keinen Meter hinter ihm verzweifelt um ihr Leben kämpfte.
Der junge Mann hatte nur noch Augen für das, was sich direkt vor ihnen aus dem Nebel schälte.
Wie aus dem Nichts war es aufgetaucht. Ein Schiff so groß wie ein Häuserblock. Ein weißer Segler mit hohem Schanzkleid, das es dem Betrachter nahezu unmöglich machte, einen Blick auf das Deck zu werfen. Obwohl es nahezu windstill war, pflügte der Gigant durch das Wasser. Begleitet wurde das Schiff von einem Schwarm weißer Vögel, die Sonny entfernt an Adler erinnerten und die er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte.
Der Anblick war gigantisch. Und zugleich auch bedrohlich, denn der Koloss von einem Schiff raste direkt auf sie zu!
Melvin war der Erste, der reagierte. Er hechtete nach vorne auf das Führerhaus zu, um das Ruder ihres Kahns herumzureißen.
Etwas sagte Sonny, dass es zu spät war. Viel zu spät. Er fand allerdings nicht die richtigen Worte, um Melvin dies mitzuteilen. Zu fasziniert war er von dem unglaublichen Anblick, der sich ihm bot.
So sieht also das Ende aus, dachte er. Für jemanden, der an die Existenz eines Gottes glaubte, und so jemand war Sonny Gardener, hatte der Allmächtige sein Schiff ausgeschickt, jetzt und hier am Tag des Jüngsten Gerichts. Es war gekommen, um diejenigen aufzunehmen, die ihm die Treue gehalten hatten, während alle anderen mit der Welt um sie herum ins Verderben gestürzt wurden.
Und Sonny Gardener gehörte zu jenen anderen, das war ihm immer klar gewesen, und nun wurde ihm diese Tatsache noch einmal bestätigt.
Im Führerhaus des Kutters schrie Melvin wie von Sinnen, doch Sonny nahm ihn nicht mehr wahr. Auch dass die Frau hinter ihm ihre Bemühungen eingestellt hatte und nun selbst mit großen Augen auf das starrte, was sich da zu ihnen Bahn brach, registrierte er nicht mehr. Irgendwo über ihm krächzte einer der Adler einen letzten Gruß. Dann bäumte sich der Bug des Schiffes haushoch über ihnen auf und sauste auf sie nieder.
Sonny Gardener reckte seinen Kopf ins Licht, als das Ungetüm auf sie niederging und den Kutter mitsamt allem Leben darauf zerschmetterte und für immer unter sich begrub.
***
»Das da vorne muss er sein. Halten Sie an.«
Sergeant Kajahn verlangsamte das Tempo und ließ den Dienstwagen langsam am Straßenrand ausrollen. »Sehen wir uns das mal an.« Er tauschte einen kurzen Blick mit seiner Vorgesetzten, Lieutenant Bella Tosh, die ihm knapp zunickte.
Sie öffneten die Türen, stiegen aus und gingen nebeneinander das letzte Stück zu Fuß.
»Ein brauner Novo Spezial«, stellte Kajahn fest, als sie in die Gasse einbogen.
Er musste keinen Blick auf Toshs Notizen werfen, um das Kennzeichen zu vergleichen. Er hatte es sich eingeprägt.
Von zwei Seiten gingen sie auf das Fahrzeug zu. Bella zog am Griff der Fahrertür. »Nicht abgeschlossen«, sagte sie, während sie mit einer Taschenlampe ins Innere des Wagens leuchtete. Es war zwar gerade erst kurz nach Mittag, doch das hieß in Twilight City nicht viel. Es wurde niemals richtig hell.
Kajahn zuckte mit den Schultern. »Der Wagen war doch sowieso gestohlen. Ich meine, etwas Besseres hätte dem Dieb doch gar nicht passieren können, als dass der Wagen noch mal geklaut werden würde und wir die falsche Person verfolgen.«
»Vorausgesetzt, der Wagen hatte zu dem Zeitpunkt schon seinen Zweck erfüllt«, dachte Bella laut nach.
Sie beugte sich nach rechts, öffnete das Handschuhfach und kramte darin herum. Die Polizistin fand eine angebrochene Packung Schokoladenkekse, die sie nach kurzem Schnuppern daran leicht angewidert wieder zurücksteckte. Sie betätigte an der Innenseite der Fahrertür einen kleinen Hebel und hörte, wie der Kofferraum mit einem schnappenden Geräusch aufsprang.
Kajahn erreichte ihn als Erster. Als Bella ihn erreichte, beugte er sich über das Innere. Als er seine Hand hob, befand sich etwas darin, das die Polizistin erst auf den zweiten Blick erkannte. Sie nahm es ihrem dämonischen Mitarbeiter aus der Hand und prüfte es im Schein ihrer Taschenlampe.
»Ein Stück Folie«, stellte sie sachlich fest. »Wo haben Sie das gefunden?«
Kajahn deutete auf den Verschluss des Kofferraums. »Es muss sich da verfangen haben. Vielleicht war etwas Schweres darin eingewickelt, das man hier herausgehievt hat.«
Bella Tosh ließ das Material durch ihre Finger gleiten. »Es fühlt sich ziemlich dick an. Was kann das sein?«
»Vielleicht ein Stück Plane von einer Baustelle«, schlug Kajahn vor.
Bella nickte und steckte das Stück Folie in ihre Jackentasche. »Vielleicht können die Kollegen im Labor etwas damit anfangen. Haben wir sonst noch was?«
Der hochgewachsene Sergeant schüttelte den Kopf. »Fehlanzeige. Keine Hinweise darauf, wer den Wagen zuletzt gefahren haben könnte.« Er warf einen Blick die Straße hinunter, die direkt zum Hafen führte. »Da geht es zum Pier. Möglich, dass der Fahrer etwas dort hinuntergeschafft hat.«
»Wenn es tatsächlich ein schwerer Gegenstand war, könnten es auch zwei Personen gewesen sein«, antwortete Bella. »Sie trugen es die Gasse hinunter und schafften es vielleicht auf ein Boot.«
»Das würde erklären, warum sie keine Verwendung mehr für den gestohlenen Wagen hatten«, ergänzte Kajahn.
Bella Tosh ließ den Kofferraumdeckel zufallen. »Es könnte sich so abgespielt haben oder vollkommen anders. Auf jeden Fall wird der alte Mister Stone froh sein, dass sein Auto wieder aufgetaucht ist.«
»Was fangen wir jetzt damit an?«
Bella ließ einen Blick über die wenig vertrauenswürdigen Fassaden der umliegenden Häuser wandern. »Wir könnten hier mal ein bisschen rumfragen, ob jemand etwas gesehen oder gehört hat, auch wenn ich nicht glaube, dass das viel bringen wird.«
Kajahn folgte den Blicken seiner Vorgesetzten und schüttelte den Kopf. »Sieht ziemlich unbewohnt aus. Vielleicht haben wir unten am Hafen mehr Erfolg.«
Bella Tosh nickte. »Einverstanden. Versuchen wir unser Glück.«
Sie machten sich auf den Weg, die enge Gasse hinunter. Kaum hatten sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als plötzlich die Kirchenglocken begannen, wie wild zu läuten.
***
Mit Ereignissen, die sich später als einschneidend und bedeutend für die Zukunft erweisen, verhält es sich in den meisten Fällen so, dass jeder, der sie miterlebt hat, weiß, wo er sich zu dem Zeitpunkt aufgehalten hat, als der ganze Zinnober begann.
Als die vor unzähligen Jahren verstummten Glocken der Trinity Church von Twilight City ohne erkennbaren Grund wieder zu läuten begannen, befand sich Reverend Theodore Winter auf der Toilette, inmitten seiner großen Sitzung, die er für gewöhnlich täglich nach der Einnahme seines Mittagessens abhielt. Sein Kopf hob sich über den Rand der letzten Ausgabe des Twilight Evening Star, den er heimlich las, obwohl es weiß Gott (und der musste es immerhin wissen) bessere Blätter gab, vor allem seriösere. Aber es hatte schon seinen Grund, warum er den TES ausgerechnet hier an diesem Ort las.
Reverend Winter erblickte sein Gesicht in dem etwas zu tief hängenden Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Er registrierte den verwirrten Ausdruck in seinen Augen, starrte sich für einen Moment lang selbst an, bevor ihm die Zeitung aus den Händen glitt und auf den rauen Steinfußboden segelte.
Die Glocken.
Der Geistliche dieses Bezirks erledigte rasch, was es hier noch für ihn zu tun gab, und kleidete sich in Windeseile an. In seiner Aufregung vergaß er, an der rostigen Kette neben dem Spülkasten zu ziehen. Nun, das Leben steckt voller Überraschungen.