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Blutsschwestern
Der dünne Nebel klebte am Boden und füllte die Talsenke aus wie schaumig geschlagene Milch in einer viel zu großen Tasse. Kaum ein Geräusch war zu hören in dieser Nacht.
Der Fahrradtunnel lag still und einsam da, nur spärlich erhellt von wenigen Lampen, an denen Spinnweben in langen, klebrigen Fäden herunterhingen. Dahinter kroch und wimmelte es bisweilen von allerhand Getier. Motten flogen um die winzigen Inseln im großen Meer der Nacht. Sie erzeugten kaum wahrnehmbare Laute, wann immer sie gegen das Lampenglas stießen.
In dieser Nacht jedoch befand sich noch etwas anderes hier unten. Etwas, das lauerte und erst wieder verschwinden würde, wenn es sein Verlangen nach Blut gestillt hatte ...
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Seitenzahl: 155
Cover
Impressum
Blutsschwestern
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Goddess_makers; Joe Therasakdhi/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8477-2
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Blutsschwestern
von Marc Freund
Der dünne Nebel klebte am Boden und füllte die Talsenke aus wie schaumig geschlagene Milch in einer viel zu großen Tasse. Kaum ein Geräusch war zu hören in dieser Nacht.
Der Fahrradtunnel lag still und einsam da, nur spärlich erhellt von wenigen Lampen, an denen Spinnweben in langen, klebrigen Fäden herunterhingen. Dahinter kroch und wimmelte es bisweilen von allerhand Getier. Motten flogen um die winzigen Inseln im großen Meer der Nacht. Sie erzeugten kaum wahrnehmbare Laute, wann immer sie gegen das Lampenglas stießen.
In dieser Nacht jedoch befand sich noch etwas anderes hier unten. Etwas, das lauerte und erst wieder verschwinden würde, wenn es sein Verlangen nach Blut gestillt hatte …
»Klar finde ich Tom süß«, rief Hannah Pearson, während sie sich in die Pedale ihres Fahrrads stemmte. »Deswegen hab ich ihn ja auch abblitzen lassen.«
»Hä?«, machte Morgan Leonard, die neben ihr fuhr. »Das kapiere ich irgendwie nicht. Ist mir zu hoch.«
»Oh, Mann, Morgan-Schätzchen«, gab Hannah zurück und rollte mit den Augen. »Du musst echt noch ne Menge lernen. So einen Typen muss man erst mal richtig krass vor die Wand laufen lassen.«
»Wieso das?«, fragte Morgan, die Mühe hatte, mit ihrer sportlichen Freundin mitzuhalten.
Sie beide waren siebzehn Jahre und besuchten zusammen die Oberstufe der Blandfort School in Bournemouth, Dorset.
Die dunkelhaarige Hannah – die niemals einen Fahrradhelm aufsetzte, nie! – drehte ihren Kopf leicht nach links und warf ihrer Freundin einen Blick über die Schulter zu.
»Weil du erst dann richtig interessant für sie wirst. Erst dann weißt du, ob ihnen wirklich was an dir liegt oder ob sie dich einfach nur rumkriegen wollen.«
Morgan dachte eine Weile über diese Worte nach, als sie die kaum befahrene Landstraße überquerten und auf einen Radweg wechselten, der parallel dazu verlief.
»Und wenn er es dann bei einer anderen versucht und du leer ausgehst?«, hakte sie nach, als sie wieder angefahren waren.
»Dann war er sowieso nicht der Richtige«, kam es von Hannah zurück, die sich wie üblich wieder einen Vorsprung von zwei Metern erarbeitet hatte. »Keine Sorge, das wirst du schon noch lernen.«
Morgan zuckte mit den Schultern und trat in die Pedale. Ihr Atem ging schneller, und auf ihren Wangen zeigten sich rote Flecken.
Es war eine dieser warmen Sommernächte, die die beiden Mädchen am Strand verbracht hatten. Ein paar Jungs hatten Musik mitgebracht – einer von ihnen sogar eine Gitarre –, und sie hatten alle miteinander getrunken, gelacht und getanzt.
Die Party war noch nicht einmal vorbei gewesen, als Hannah und Morgan aufgebrochen waren. Sie gehörten jedoch nicht zu denen, die es immer bis zuletzt aushalten mussten und dabei am Ende womöglich immer am lautesten lachten, während sie langsam aber sicher die Kontrolle über sich verloren.
»Kann es sein, dass du selbst auf Tom stehst?«, fragte Hannah nach einer Weile, nachdem Morgan nicht mehr geantwortet hatte.
Die brünette Tochter eines Versicherungsangestellten spürte, wie sich die Flecken auf ihren Wangen miteinander verbanden, als hätten sie sich abgesprochen. Sie schwitzte, und ihr Kopf schien unter dem dämlichen Fahrradhelm regelrecht zu glühen.
Morgan hörte Hannah kichern, was sie wütend machte. Sie hatte keinerlei Erfahrungen mit Jungs, was sie mit siebzehn fast schon zu einer Spätzünderin unter ihren Freundinnen machte.
»Quatsch«, stieß sie aus und reckte mutig ihr Kinn nach vorne.
»Ach, komm«, antwortete Hannah lachend. »Ich hab doch deinen Blick gesehen, als er am Lagerfeuer Gitarre gespielt hat. Du hast ihn ja regelrecht aufgefressen.«
»Blödsinn«, konterte Morgan. »Das sagst du nur, weil es dir so gegangen ist.«
»Morgan ist verlie-hiebt«, trällerte Hannah und jagte im selben Augenblick mit ihrem knallroten Rad ein steiles Gefälle hinunter, auf den Fahrradtunnel zu, der unter der Landstraße entlangführte.
Von einer Sekunde auf die andere war sie aus Morgans Blickfeld verschwunden.
Die Brünette – Lieblingsfächer Kunst und Geschichte bei Mister Smith – fühlte Wut in sich aufkeimen. Wut auf die schlanke, schöne, sportliche Hannah Pearson. Gepaart mit Eifersucht und vielleicht auch ein wenig Neid. In dieser Hinsicht waren Hannah und Morgan einfach ganz normale heranwachsende Frauen, die sich selbst gern beste Freundinnen nannten.
Morgan trat in die Pedale, fest entschlossen, den Rückstand wettzumachen. Sie erreichte die Kuppel des Hügels und bremste kurz ab.
Unten, kurz vor der schwarzen Öffnung, die den Eingang des Fahrradtunnels markierte, befand sich eine Laterne, die ihr trübes Licht in die Nacht hinaus sandte und von zahlreichen Insekten belagert wurde. Morgan konnte selbst von hier oben die vielen kleinen, schwarzen Punkte erkennen, die um die Lampe herumwuselten. Sie würde gut daran tun, den Mund geschlossen zu halten, wenn sie in den Tunnel einfuhr.
Morgan stieß sich ab und setzte die Füße auf die Pedale. Treten würde sich nicht müssen, eher das Gegenteil. Wer hier nicht aufpasste oder rechtzeitig vor dem Tunnel abbremste, lief Gefahr, einen sauberen Sturz hinzulegen, der einem wahrscheinlich eine Woche Krankenhaus einbrachte, ganz sicher jedoch ein paar wirklich schmerzhafte Schürfwunden – und nebenbei den Spott der ganzen Klasse.
Morgan spürte den Fahrtwind, der ihr heißes Gesicht kühlte, wenigstens für einen Moment.
Sie befand sich bereits auf der Gefällstrecke und tat ihr Bestes, um mit der Rücktrittbremse die Geschwindigkeit auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, als sie aus dem Tunnel heraus ein Geräusch hörte, das ihr den Schreck in die Glieder fahren ließ.
Ein Rad war irgendwo da unten in der Dunkelheit scheppernd und rasselnd umgefallen, was nur bedeuten konnte, dass Hannah einen Unfall gehabt hatte.
Morgan hatte die halbe Strecke hinter sich gebracht. Sie ließ der Bremse jetzt mehr Spiel und beschleunigte somit das Tempo augenblicklich. Sie achtete auf weitere Geräusche aus dem Tunnel, vernahm jedoch keine.
»Hannah?«, rief sie. »Alles in Ordnung.«
Es kam nichts zurück.
Der Tunneleingang wurde groß und größer. Oft schon hatten die beiden Mädchen ihn passiert. Morgan erkannte die alten, gemauerten Backsteine, die über ihr einen Rundbogen beschrieben. Das Licht ihrer Fahrradlampe erfasste einen Teil der ehemals weiß getünchten Innenwand. Sie war überzogen von Graffitis, die sich mit unbeholfenen, primitiven Zeichnungen und irgendwelchen kryptischen Botschaften abwechselten.
Morgan tauchte in den Tunnel ein. Das schmatzende Geräusch ihrer feuchten Reifen wurde von den niedrigen Wänden zurückgegeben.
»Hannah? Was ist passiert?«
Morgan bemerkte, dass sie vollkommen außer Atem war. Die innere Aufregung brach sich Bahn.
Die junge Radfahrerin verengte ihre Augen leicht zu Schlitzen. Der Tunnel beschrieb eine leichte Linkskurve. Dahinter, das wusste Morgan, befand sich eine Lampe an der Decke.
Hannah antwortete nicht.
Ihre Freundin wartete ein paar Sekunden ab, dann setzte sie sich wieder in Bewegung. Ihr Herz schlug schneller, als ihr Rad die Kurve beschrieb. Im Schein der Lampe lag Hannahs Fahrrad am Boden.
Morgan erschrak und ließ ihr Rad ausrollen. Sie sprang vom Sattel und lehnte es an die Wand.
Es gab keinen Zweifel, das war Hannahs Fahrrad. Das mit den Stickern am Rahmen und am Schutzblech. Morgan hätte es unter tausenden erkannt.
Nur Hannah war verschwunden.
Morgan rief noch ein paar Mal den Namen ihrer Freundin, bis sie einsah, dass es keinen Sinn hatte. Entweder Hannah wollte nicht antworten … oder sie konnte nicht.
Morgan Leonard trat näher an die Stelle heran, an der das Unglück passiert sein musste. Auf dem Zementboden lag zerbrochenes Plastik. Die vordere Lampe war bei dem Sturz beschädigt worden. Sie war beinahe vollkommen abgerissen worden.
Das war es allerdings nicht, was Morgan wirkliche Sorgen bereitete. Das waren die Blutflecke, die sie neben dem Fahrrad fand.
Drei breite Kleckse, die dieselbe Farbe wie das Rad daneben hatten. Ihre Oberflächen glänzten im Schein des Tunnellichts.
In einer beiläufigen Bewegung löste Morgan den Kinnriemen ihres Fahrradhelms und setzte die lästige Kopfbedeckung ab.
Sie blickte sich um. Am Ausgang des Tunnels waberte dichter Nebel am Boden. Dahinter lag die Talsenke.
»Hannah? Wo steckst du? Komm schon, das ist nicht mehr lustig! Ich hab eine Scheißangst!«
Morgans Worte verhallten ungehört. Sie erzeugten in dem engen Tunnel einen hohlen Laut, ein unheimliches Echo.
Das Mädchen bückte sich, um das Rad aufzuheben. Sie lehnte es an die Wand des Tunnels, dicht neben der Stelle, an der behauptet wurde, dass ein gewisser Gordon Keene schwul sei. Untermauert wurde diese Aussage mit einer eindeutigen Zeichnung, bestehend aus dunkelblauer Fingerfarbe.
Als Morgan das scharrende Geräusch vom Tunneleingang hörte, fuhr sie auf der Stelle herum und stieß einen abgehackten, heiseren Laut aus.
Mitten in der Öffnung, schwarze Dunkelheit im Rücken und die Füße im Bodennebel versunken, stand jemand.
Eine Gestalt, leicht gekrümmt. Lauernd.
Die Silhouette erinnerte Morgan an eine alte Frau, doch schien ihr dies in diesem Augenblick vollkommen absurd.
Und doch … die Frau trug ein Sommerkleid, dessen Saum bis auf den Boden reichte, als wäre er mit dem Nebel verwachsen.
Die Gestalt kam näher. Sie bewegte sich mit kleinen, fast zierlich wirkenden Schritten vorwärts.
Morgan ließ die Hand sinken, in der sie noch immer den Helm hielt. Dass ihre Finger sich öffneten und den Gegenstand aus ihrer Umklammerung entließen, spürte sie kaum. Auch das darauffolgende klappernde Geräusch nahm sie nicht wahr.
Sie hatte nur Augen für die Gestalt, die sich immer weiter näherte. Die Alte hatte ihre Haare hoch toupiert. Sie wirkten im Licht der Lampe bläulich-weiß, auf irgendeine unangenehme Weise krank und brüchig, so wie die Spinnweben am gegenüberliegenden Tunneleingang.
Die Frau musterte sie. Morgan wich unter ihrem Blick zurück.
Die Jüngere starrte auf das Gesicht der unheimlichen Gestalt. Die Wangen wirken hohl, die Haut darüber wie dünnes Pergament. Zahlreiche blaue Äderchen schimmerten hindurch, verdichteten sich zu den Schläfen hin.
Der Mund wirkte wie das schlaffe Maul eines Aals. Was Morgan für verschmierten Lippenstift gehalten hatte, war in Wirklichkeit Blut. Hannahs Blut.
Die Gewissheit traf Morgan wie der tiefe Stich einer Nadel.
Das Mädchen wich einen weiteren Schritt zurück.
»Wo ist Hannah? Was haben Sie mit ihr gemacht?«
Die Alte, jetzt kaum mehr als zwei Meter entfernt, legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Ihre roten Lippen bebten dabei in gieriger Aufregung, als wollte die Frau den letzten Rest Nässe darauf einsaugen.
Morgan ahnte, dass sie keine weitere Antwort mehr zu erwarten hatte. Sie drehte sich auf der Stelle um und rannte.
☆
Die flachen Absätze ihrer Schuhe hämmerten über den harten Betonboden, so sehr, dass es bereits schmerzte.
Morgan wagte es nicht, sich umzublicken. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie an ihr Fahrrad. Aber es an sich zu nehmen hätte wertvolle Zeit gekostet, die ihr die Alte ganz sicher nicht gewährt hätte, das wusste sie.
Sie musste aus dem Tunnel heraus, den verdammten Hügel rauf und dann auf die Straße zurück. Vielleicht hatte sie Glück, und es kam ein Wagen, den sie stoppen konnte.
Der Tunneleingang lag vor ihr. Morgan hetzte weiter. Sie spürte, wie Spinnweben nach ihren Haaren griffen und sich darin verfingen.
Irgendwo hinter ihr glaubte sie, die Geräusche von Schritten wahrzunehmen. Die Alte war also noch immer dort, folgte ihr vermutlich, wenn auch lange nicht so schnell.
Morgan rannte mit geöffneten Lippen. Sie saugte die schwüle Luft ein und stieß sie doppelt so intensiv wieder aus. Sie spürte, wie ihr Herzschlag in ihr pochte, es hinter ihren Schläfen hämmerte, bis sie dieses Geräusch ganz auszufüllen schien.
Das Ende des Tunnels offenbarte sich ihr genau wie das andere. Eine dunkle, fast kreisrunde Öffnung, das untere Drittel nahezu vollständig bedeckt und ausgefüllt von Nebel, der träge über den Boden kroch.
Aber da war noch mehr. Eine Gestalt schoss aus der Dunkelheit heraus, mitten in den Eingang hinein.
Leicht federnd kam sie auf die Füße.
Morgan schrie auf. Ein schriller Laut, pure, freigesetzte Angst, die sich in diesem Augenblick bahnbrach. Sie bremste ab und hatte für einen Moment Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten.
Vor ihr stand eine alte Frau, die sie höhnisch angrinste. Das dünne, helle Haar hing ihr wirr in die Stirn und gab ihr einen verwegenen Ausdruck.
»Na, meine Kleine? Hast du dich verlaufen?«
Aus Morgans Kehle drang ein keuchender Laut, als die brüchige Stimme an ihr Ohr drang.
Die Frau vor ihr ähnelte in gewisser Weise der anderen – der Frau, die Hannah auf dem Gewissen hatte –, allerdings war sie etwas kleiner und trug ein schwarzes Abendkleid, das so wirkte, als würde es aus einem anderen Jahrhundert stammen. Was vermutlich sogar der Fall war, dachte Morgan.
Sie wich zurück, bis sie eine Bewegung in ihrem Rücken spürte. Sie wusste, dass sie einen Fehler begangen hatte.
Zwei Arme schlossen sich blitzschnell von hinten um ihre Taille.
Morgan starrte auf zwei dürre Hände, Finger mit grell lackierten Nägeln, spitz gefeilt. Sie verschränkten sich vor ihr, als hätte sich ein eisernes Band um ihren Bauch gelegt.
Das Mädchen stemmte sich gegen diesen Griff, doch es wurde schnell klar, dass die Alte die Stärkere von ihnen war.
»Du willst doch nicht etwa stiften gehen?«, hauchte ihr eine unangenehme Stimme ins Ohr. Sie klang tief und grollend. Böse und gemein.
»Lassen Sie mich los!«, schrie Morgan Leonard. »Ich … ich weiß, was Sie mit Hannah gemacht haben.«
»Wirklich?«, höhnte die Frau vor ihr. Sie strich sich ihre Haare aus der Stirn. Dann verzog sie ihre dünnen Lippen zu einem Lächeln. »Das kann ich mir, ehrlich gesagt, kaum vorstellen.«
Morgan hörte für einen Moment auf, sich zu wehren. Sie starrte auf die Lippen der Alten, wie sie sich leicht öffneten. Etwas blitzte darunter hervor. Eckzähne, die spitz wie Nadeln zuliefen. Zähne, die es gar nicht geben durfte.
Morgan Leonard unternahm einen letzten Versuch, aus dem Klammergriff auszubrechen, doch sie scheiterte kläglich.
Sie hob ihren Kopf und stieß einen schrillen Schrei aus.
Sie schrie immer noch, als sich die Albtraumzähne tief in ihre Halsschlagader bohrten.
Jemand saugte ihr das Leben aus ihrem Körper. Morgan vernahm die sabbernden, schlürfenden Laute der alten Frau an ihrem Hals.
Die schwarze, nebeldurchsetzte Öffnung schien näher zu kommen und sich dabei auszuweiten. Morgan war, als stürzte sie kopfüber hinein.
Manche Leute, sagt man, sehen zum Zeitpunkt ihres Todes ein helles Licht am Ende eines Tunnels. Für Morgan Leonard traf das nicht zu.
☆
Ein fettes Insekt schlug mit einem klatschenden Geräusch gegen das Visier des Motorradhelms. Peter Crawford stieß einen leisen Fluch aus, entschied aber, dass die Sicht noch ausreichte, um weiterfahren zu können.
Immer wieder reckte er seinen Kopf nach links hinüber, wo neben der Fahrbahn der Radweg verlief. Allzu weit konnten Hannah Pearson und Morgan Leonard auf ihren Rädern noch nicht gekommen sein.
Peter hatte sich das kleine, silberne Handtäschchen unter seine Jeansjacke geklemmt. Es gehörte Morgan, und Peter hätte einiges dafür getan, es ihr heute Abend noch persönlich zu übergeben. Immerhin war er derjenige, der das Ding im Sand gefunden hatte. Morgan musste es bei ihrem abrupten Aufbruch vor etwa fünfzehn Minuten glatt vergessen haben.
Noch hatte er von seinen beiden Klassenkameradinnen keine Spur gesehen. Überholt hatte er sie auf keinen Fall. Zudem war es unwahrscheinlich, dass sie einen anderen Weg genommen hatten.
Peter beschleunigte seinen Motorroller und hielt weiter Ausschau. In etwa dreihundert Metern trennte sich der Radweg von der Landstraße, indem er sie unterirdisch kreuzte. Peter kannte die Strecke in- und auswendig. Ebenso kannte er die alte Unterführung mit ihrem Tunnel, in dem sich bereits so viele Einwohner aus der Umgebung von Bournemouth verewigt hatten.
Aber er hielt es für unmöglich, dass die beiden Mädchen diesen Streckenabschnitt bereits hinter sich gelassen hatten. Sie mochten mit ihren Rädern flott unterwegs sein, aber so schnell waren sie ganz sicher nicht gewesen.
Peter verlangsamte sein Tempo ein wenig und hielt nach den Lichtkegeln ihrer Fahrradlampen Ausschau. Nichts.
Er gelangte an die Stelle, an der der Radweg dem Gefälle folgte, während die Straße weiter geradeaus über den Tunnel führte.
Peter blickte nach rechts, wo der Radweg nach etwa fünfzig Metern wieder aus der Versenkung auftauchte. Auch dort war niemand zu sehen.
Obwohl … so ganz stimmte das nicht. Pater Crawford passierte die Zufahrt zu einem schmalen Feldweg.
Ein ungutes Gefühl machte sich in dem jungen Mann breit, als er den schwarzen Van entdeckte, der dort mit laufendem Motor geparkt war.
Im Schein der Rücklichter sah er die Abgase aus dem Auspuff entweichen. Die Fahrertür stand halb offen. Vom Fahrer selbst war hingegen nichts zu sehen.
In Peters Magengegend krampfte sich etwas zusammen. Aus einem Instinkt heraus bewegte er den Gashebel und beschleunigte. Dann war die Szene vorbei.
Nur das Bild des wartenden Vans wollte Peter nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wenn er die Lichter der Fahrräder der beiden Mädels gesehen hätte, wäre alles okay gewesen. Aber die waren nun mal leider nirgendwo zu entdecken. Und irgendetwas in Peter flüsterte ihm zu, dass dies auch nicht mehr der Fall sein würde.
Kurzentschlossen blickte er in den Rückspiegel und wendete den Motorroller auf der einsamen Fahrbahn. Er fuhr ein kurzes Stück in gemäßigtem Tempo zurück und gestattete sich den Luxus, das Licht auszuschalten. Ein kurzes Stück später schaltete er auch den Motor aus und ließ die Maschine am Straßenrand ausrollen. Dort stellte er sie ab. Mit einem Mal hatte er es eilig, seinen Helm abzusetzen, und nestelte nervös an dem Riemen herum.
Jetzt nahm er das Geräusch wahr, dass der Van auf der anderen Straßenseite verursachte.
Peter Crawford blickte sich um, dann setzte er sich in Bewegung. In leicht geduckter Haltung überquerte er die Straße und blieb oberhalb des Fahrradtunnels an dem weiß gestrichenen Geländer stehen.
Er beugte sich leicht vornüber und starrte auf das glänzende Dach des Wagens hinunter.
In diesem Augenblick nahm er eine Bewegung wahr. Jemand bewegte sich mit schnellen Schritten aus dem Tunnel heraus. Ein dunkel gekleideter Mann. Und er trug eine Frauenleiche auf dem Arm.
Peter riss den Mund auf, als er Morgan Leonard erkannte, deren Kopf schlaff über dem Unterarm des Mannes nach unten hing. Ihr Hals war blutüberströmt, ihre Jacke war getränkt und dunkel verfärbt. Und dicht unterhalb ihrer weit aufgerissenen Augen, die ziellos an ihm vorbei in den Himmel starrten, befanden sich ein paar kleinere rote Spritzer, die von hier oben wie blutige Tränen aussahen.
Peter Crawford wandte sich rasch ab und biss in seine rechte Faust, um den Schrei zu unterdrücken, der mit aller Macht aus ihm heraus wollte.
Der Schüler zwang sich zur Ruhe. Er schloss für die Dauer von drei Sekunden die Augen und versuchte, die Bilder, diese grässlichen Bilder aus seinem Kopf zu verbannen. Jetzt bereits wusste er, dass ihm das für den Rest seines Lebens nicht mehr gelingen würde.