John Sinclair 1933 - Marc Freund - E-Book

John Sinclair 1933 E-Book

Marc Freund

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Beschreibung

Philipp Boyd konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal derart müde gewesen war. Er blinzelte und widerstand dem Reflex, sich die Augen zu reiben. Noch immer trug er die Gummihandschuhe, an denen sich noch Reste der ätzenden Lauge befanden.

Der kleine Raum, der an das Labor des Professors grenzte, wurde lediglich von zwei altmodischen Neonröhren erhellt, die gelegentlich flackerten.

Boyd streifte die Handschuhe ab und trat ans Waschbecken. Er drehte den Hahn auf und ließ sich das kalte Wasser über die Hände laufen. Das war der Moment, in dem er das schabende Geräusch zum ersten Mal hörte ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Strigor, der Menschensauger

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Maren/Bassols

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-1497-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Strigor, der Menschensauger

von Marc Freund

Philipp Boyd konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal derart müde gewesen war. Er blinzelte und widerstand dem Reflex, sich die Augen zu reiben. Noch immer trug er die Gummihandschuhe, an denen sich noch Reste der ätzenden Lauge befanden.

Der kleine Raum, der an das Labor des Professors grenzte, wurde lediglich von zwei altmodischen Neonröhren erhellt, die gelegentlich flackerten.

Boyd streifte die Handschuhe ab und trat ans Waschbecken. Er drehte den Hahn auf und ließ sich das kalte Wasser über die Hände laufen. Das war der Moment, in dem er das schabende Geräusch zum ersten Mal hörte …

Instinktiv blickte Boyd zu dem kleinen Fenster hinüber. Es war schon seit Stunden dunkel. Möglich, dass der Wind die Zweige der Trauerweide gegen die Scheibe geschlagen hatte und …

Da war das Geräusch wieder! Dieses Mal war Boyd sich sicher, dass es aus einer anderen Richtung gekommen war. Er drehte das Wasser ab und rieb sich mechanisch mit einem fleckigen Handtuch trocken. Er blickte zu dem Durchgang hinüber, der in einen Korridor führte, an dessen Ende sich eine breite Metalltür befand.

In diesem Moment ertönte das Kratzen erneut. Es klang dieses Mal aufdringlicher, fordernder. Boyd stellte sich einen Fingernagel vor, der langsam über eine Schiefertafel gezogen wurde.

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Und doch zwang ihn etwas dazu, sich dem dunklen Durchgang zu nähern. Im Korridor schaltete er das Licht ein, und eine nackte Glühbirne flammte auf, die an einem zu langen Kabel von der kalkweißen Decke baumelte.

Boyd fixierte die Tür am Ende des Korridors. Sie war verschlossen. Er wusste, was dahinter aufbewahrt wurde. Er und sein Kollege Nick Cunnings hatten es gesehen, wenn auch nur kurz. Der Professor hatte sie in ihre Arbeit eingewiesen. Sie brauchten nicht viel zu tun, außer dafür zu sorgen, dass sich kein Unbefugter der Kühlkammer näherte.

Nun zog es ihn selbst dorthin. Ja, Boyd fühlte sich wie ein Magnet, den es unweigerlich auf die Tür zutrieb.

Eine Stimme in seinem Innern wollte sich gegen diesen Drang wehren. Und tatsächlich hielt Boyd für einen Augenblick in seiner Bewegung inne.

Das kratzende Geräusch war noch immer da, und es wurde mit jeder Sekunde intensiver. Boyd presste sich die Hände gegen die Ohren, doch es half nichts. Und im selben Moment spürte er, wie die warnende Stimme in ihm immer leiser wurde, bis sie ganz verstummte.

Boyd dachte an seinen Kollegen. Wo steckte der, verdammt? Er hätte langst zurück sein müssen.

Dann kam ihm ein irrwitziger Gedanke. Hatte Nick es am Ende fertiggebracht, sich in der Kammer einzusperren?

Fast spürte Boyd so etwas wie Erleichterung. Er bewegte sich weiter auf die Tür zu und wollte schon die Hände nach dem Rad ausstrecken, mit dem man sie öffnete, als er plötzlich zurückzuckte. Von der Tür ging eine eisige Kälte aus.

Natürlich, dachte er. Es war immerhin die Kühlkammer. Aber noch nie hatte er ein so intensives Empfinden eines Zustands erlebt.

Seine rechte Hand begann zu zittern. Rasch zog er sie zurück, doch der Frost war bereits auf seinen Körper übergegangen und ließ ihn erneut erschauern.

Öffne die Tür!

Boyd erschrak heftig. Er fuhr herum, um sich zu vergewissern, dass sich niemand von hinten angeschlichen hatte. Die Stimme war so nahe gewesen, als ob jemand ihm die Worte direkt ins Ohr geflüstert hatte.

Öffne sie!

Der Befehl stach Boyd ins Gehirn wie eine glühende Nadel. Er wusste, dass er sich dagegen wehren musste, doch sein Widerstand wurde von der eisigen Kälte eingefroren.

Beinahe wie ein Unbeteiligter musste er mit ansehen, wie sich seine Hände erneut nach dem Rad ausstreckten. Mit langsamen Bewegungen drehte er es nach links.

Ein leises Knacken ertönte, und die Tür sprang auf. Boyd zog sie ein Stück weit zu sich heran und beobachtete, wie aus der Kammer ein eisiger Nebel drang und über den gefliesten Fußboden kroch.

Es konnte nicht Nick sein konnte, der sich hinter der Tür befand. Dort lauerte etwas anderes, und es war nicht menschlichen Ursprungs. Und doch war Boyd unfähig, sich gegen die Gefahr zu wehren.

Das kratzende Geräusch hatte aufgehört. Die Tür schwang jetzt, wie von Geisterhand bewegt, weiter auf. Der Raum dahinter lag im Dunkeln, während der eisige Nebel nun bereits den halben Korridor bedeckte.

Wie angewurzelt stand Boyd da und starrte in die Dunkelheit hinein.

Es würde eine Weile dauern, bis sich seine Augen an die geänderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, doch diese Zeit ließ man ihm nicht. Er stolperte wie blind vorwärts, inzwischen einem fremden Willen gehorchend, der ihn unaufhörlich weitertrieb.

In dem Raum waren drei längliche Kisten aufgebahrt. Unter normalen Umständen hätte Boyd seinen Augen nicht getraut und wäre vermutlich davongerannt. Doch diese Umstände waren alles andere als normal.

Er setzte einen Fuß vor den anderen, ohne es zu spüren. In einer beiläufigen Bewegung wischte er das schmutzige Tuch von der ersten Kiste und registrierte, dass es sich dabei um einen Sarg handelte. Und der war aus Stahl.

Boyd blinzelte verwirrt.

Öffne!

Boyd stieß einen Schrei aus und presste sich die Handflächen gegen seine Ohren. Der Befehl hatte seinen Kopf gänzlich ausgefüllt. Er wollte, dass es aufhörte. Noch immer hallte die Stimme in seinem Schädel nach.

Er griff nach dem Hebel, der an der rechten Seite des Stahlsarges angebracht war, und zog ihn nach oben. Ein leises Zischen ertönte, so, als würde aus dem Innern Luft entweichen.

Boyd atmete schneller. Fassungslos musste er mit ansehen, wie der Deckel des Sarges im Dämmerlicht nach oben schwang. Etwas schälte sich heraus. Ein Schatten. Er wuchs zu einer bedrohlichen Größe heran. Boyd nahm einen modrigen Geruch wahr. Etwas in ihm wusste, dass er einer alten Macht gegenüberstand, der er nichts entgegenzusetzen hatte.

Der Schatten näherte sich, und mit einem Mal glühten im Dunkel zwei rötliche Punkte auf, die Boyd fixierten.

Er starrte hinein. Er atmete schneller, wollte nur noch weg, doch seine Beine waren schwer wie Blei.

Plötzlich war der Schatten plötzlich über ihm. Der Gestank wurde bestialisch, und das Letzte, was Boyd in seinem Leben wahrnahm, waren zwei nadelspitze Reißzähne, die sich mit furchtbarem Druck in seinen Hals bohrten.

***

Er war zu weit gegangen, und jetzt würden sie ihn die Konsequenzen spüren lassen. Nick Cunnings rannte um sein Leben. In ihm tobte die Gewissheit, dass er nicht einmal in den belebten Straßen Londons vor ihnen sicher war. Sein Herz hämmerte im trommelnden Rhythmus seiner Schritte.

Ihm war die Flucht gelungen, doch wie lange konnte er seine Verfolger täuschen? Sie waren irgendwo hinter ihm, und sie holten auf. Das erste Mal in seinem Leben wurde ihm bewusst, was Todesangst war.

Cunnings hetzte weiter. Hinter ihm heulte der Motor eines Wagens auf. Eine schwarze Limousine hatte die Kreuzung passiert und bog in seine Richtung ab.

Er schrie innerlich vor Verzweiflung auf. Jetzt drehte er sich doch um, er konnte nicht anders. Er glaubte, zu erkennen, wie auf der Beifahrerseite die Fensterscheibe ein Stück weit heruntergelassen wurde. Der Lauf einer Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer wurde sichtbar!

Nick tauchte nach rechts weg, in eine schmale Gasse. Er war jetzt allein. Er rannte immer weiter, nur weiter!

Scheinwerfer wurden hinter ihm aufgeblendet. Sie hatten ihn wieder!

Ein krächzender Laut drang aus Cunnings Kehle. Er rannte weiter in die Dunkelheit hinein – und wäre beinahe gegen die Mauer an ihrem Ende geprallt!

Cunnings keuchte. Jetzt war er verloren. Es sei denn …

Er visierte die Mauer an. Wie viele Sekunden blieben ihm noch, bevor die schwarze Limousine heran war? Zwei, höchstens drei.

Cunnings überlegte nicht lange. Er trat drei hastige Schritte zurück. Das musste als Anlauf genügen. Dann rannte er auf die Mauer zu und legte seine letzte Kraft in den alles entscheidenden Sprung.

Im selben Moment schlug eine Kugel neben ihm in die Mauer und flog sirrend als Querschläger davon.

Er durfte jetzt nicht aufgeben. Cunnings bekam den Mauersims zu fassen. Seine Hände packten zu und umklammerten den kalten Stein. Er zog sich daran in die Höhe.

Irgendwo unter ihm quietschten Reifen. Der Wagen kam zum Stehen, und im selben Augenblick wurde eine Tür aufgerissen.

Nick suchte an der Mauer Halt und schwang sein rechtes Bein hinüber. Als der zweite Schuss fiel, ließ sich Cunnings auf der anderen Seite der Mauer fallen. Er landete auf dem Kopfsteinpflaster, und ein scharfer Schmerz schoss durch seinen rechten Knöchel.

Cunnings wusste, dass er hier nicht bleiben konnte. Humpelnd schleppte er sich weiter. Vermutlich war sein Fußgelenk verstaucht, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Die Männer hinter ihm hatten bewiesen, dass sie keine Skrupel kannten. Sie wollten ihn umbringen.

Irgendwo hinter dem Hindernis hörte Cunnings einen Motor aufheulen. Sie versuchten es also über einen anderen Weg.

Weiter!

Auf der anderen Seite der Gasse wurde die Gegend wieder belebter. Vereinzelt waren die Häuser erleuchtet, und ein paar Yards weiter befand sich eine Kreuzung.

Dahinter waren Menschen! Cunnings musste es gelingen, dort unterzutauchen. Er biss die Zähne zusammen. Tränen des Schmerzes verschleierten ihm die Sicht.

Schneller! Er musste schneller sein, verdammt. Gleich konnten die anderen hier sein.

Cunnings humpelte auf die Straße, als ein Wagen aus der Dunkelheit heran schoss. Zwei Scheinwerfer wurden sichtbar, die ihn blendeten. Reifen quietschten, und alles, was Cunnings noch tun konnte, war, in einer verzweifelten Aktion die Arme in die Höhe zu reißen.

***

Es war ein gelungener Abend gewesen, wie Bill und ich ihn schon lange nicht mehr erlebt hatten. Denn schließlich kam ich im Moment kaum zum Durchatmen. Mein letzter Fall um den wiedererwachten Götterwolf Lykaon hatte mich ganz schön geschlaucht. Aber letztendlich hatten wir ja doch noch Erfolg gehabt.

Nachdem wir es in letzter Zeit vermehrt mit neuen, teilweise sehr starken Gegnern zu tun bekommen hatten, von denen immer wieder welche entkommen waren, war ich froh, dass zumindest das Thema Lykaon abgehakt war. Zwar waren Boris Baranov und Egeas Demeter noch nicht gefasst, doch eine Fahndung lief, und ich war zuversichtlich, dass wir auch diese beiden bald schnappen würden.

Also hatte ich mir eine kleine Verschnaufpause gegönnt und mich mit meinem alten Freund auf ein Ale im Reader’s Pub getroffen, einer kleinen, gemütlichen Kneipe im Süden Londons, nicht weit von Bill und Sheila Conollys Bungalow gelegen.

Es war bereits dunkel geworden, als wir den Pub verließen. Ich klopfte Bill zum Abschied auf die Schulter. Dann stieg ich in den Rover, den ich zuvor in einer kleinen Seitenstraße geparkt hatte. Ein leichter, kühler Wind war aufgekommen.

Ich startete den Motor und fuhr an. Es war jetzt kurz nach zehn Uhr abends, und ich verspürte den Wunsch, in meiner Wohnung eine heiße Dusche zu nehmen und mich danach schlafen zu legen. Je länger ich über diese spontane Idee nachdachte, desto besser gefiel sie mir.

Als ich nach einiger Zeit immer schläfriger wurde, tastete meine Hand suchend nach dem Knopf des Autoradios. Ich schaltete es ein, und in diesem Augenblick passierte es.

Eine Gestalt schälte sich von links aus der Dunkelheit und stand plötzlich mitten auf dem Fahrstreifen!

Mein Licht musste den Mann blenden, denn er riss die Arme hoch und schirmte gleichzeitig seine Augen gegen die Helligkeit ab. Ich stieg nach Kräften auf die Bremse.

Der Rover schlingerte und drohte für einen schrecklichen Moment sogar nach rechts auszubrechen. Ich raste auf den Mann zu, der wie angewurzelt stehen geblieben war und noch immer keine Anstalten machte, sich zu rühren.

Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden. Der Wagen wurde langsamer und kam nur wenige Zoll weit vor dem Mann zum Stehen.

Durch die Windschutzscheibe beobachtete ich, wie der Mann sich leicht nach vorne beugte, um sich auf der Motorhaube abzustützen. Rasch schaltete ich das Warnlicht ein und sah in den Rückspiegel. Zum Glück war die Straße wenig befahren. Der Rover war der einzige Wagen auf der Fahrbahn.

Ich riss die Tür auf und sprang heraus. »Sind Sie in Ordnung, Sir?«, fragte ich.

Der junge Mann, er mochte kaum älter als Anfang zwanzig sein, blinzelte. Er war vollkommen außer Atem und starrte mich an, als stünde der Leibhaftige vor ihm.

»Sind Sie verletzt?«, fragte ich, als er nicht reagierte.

Langsam schüttelte er den Kopf. Noch immer hatte er kein einziges Wort gesprochen.

Ich trat zwei Schritte näher und überprüfte im Gehen vorsichtshalber den Sitz meiner Beretta im Schulterholster.

Der Mann vor mir zitterte. Von ihm schien keine Gefahr auszugehen, doch ganz sicher konnte man sich nie sein.

»He, Mister«, rief ich, dieses Mal energischer. »Was ist mit Ihnen? Sind Sie okay?«

Jetzt erst schien er mich wahrzunehmen. Etwas in seinem Blick klärte sich. Er sah sich um, schaute mich an und löste langsam seine Hände von der Motorhaube.

»Ja«, sagte er keuchend. Sein Brustkorb hob und senkte sich in schneller Folge. Der Mann vor mir musste über weite Strecken gerannt sein.

»Sorry, Mister«, fuhr er fort. »Ich habe Sie nicht gesehen. Es tut mir leid.«

»Es ist ja nichts passiert«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. »Sie sind sicher, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist?«

Jetzt lächelte er sogar. »In Ordnung?«, wiederholte er. »Ich sehe nicht so aus, was?«

»Ehrlich gesagt, nein«, gestand ich und fand Gelegenheit, mein Gegenüber zu mustern.

Der Mann war definitiv keinen Tag älter als zweiundzwanzig, hatte flachsblondes Haar, das ihm schweißnass am Kopf klebte. Seine Haut war blass, wenn man von der leichten Rötung durch das Laufen absah. Er trug Jeans, abgetragene Turnschuhe und über seinem dunklen Shirt eine dünne Jacke.

»Ich hatte Streit mit ein paar Jungs«, sagte er und deutete mit seinem rechten Daumen hinter sich.

Ich konnte niemanden erkennen, die Straße war nach wie vor leer.

»Sie sind gerannt«, stellte ich fest. »Was sind das für Jungs?«

Wieder lächelte er, doch etwas in seinem Blick gefiel mir nicht. Er hatte Angst, das sah ich sofort.

Der Mann winkte ab. »Ein paar Typen aus … aus meiner Gang. Wir hatten Streit, und sie wollten mir eins auswischen.«

Ich glaubte ihm nicht. Die Art, wie er sprach und dabei meinen Blick mied, verriet mir, dass er nicht die Wahrheit sagte.

»Wir müssen die Straße räumen«, sagte ich entschieden. Ich ging zum Rover zurück und öffnete die Beifahrertür. »Steigen Sie ein.«

Der junge Mann sah sich nach allen Seiten um, dann folgte er meiner Einladung ohne Widerrede.

Ich umrundete den Wagen und ließ mich hinter das Lenkrad fallen. »Wo kommen Sie her?«, wollte ich wissen.

Mein neuer Beifahrer entspannte sich etwas. Er atmete tief durch. »Aus London. Lambeth, um genau zu sein.«

Ich nickte. »Und wo wollten Sie hin? Einen Wagen scheinen Sie nicht zu haben, oder?«

Der andere schüttelte den Kopf. »Könnten … könnten Sie mich vielleicht zu Hause absetzen? Es ist nicht weit, und wenn Sie wollen, bezahle ich Ihnen auch die Fahrt.«

»So weit kommt es noch«, sagte ich lachend. »Ich fahre Sie, wenn Sie mir sagen, wo Sie wohnen.«

Er nannte mir die Lambert Street, die einige Blocks weiter lag, und ich fuhr los.

»Ich heiße übrigens Nick«, sagte mein Begleiter nach einer Weile. »Und ich bin Ihnen wirklich dankbar.«

Ich lächelte. »Wofür denn, Nick?«

»Na ja, die Jungs, wissen Sie … Die sind eigentlich ziemlich harmlos. Nur in einigen Dingen verstehen sie eben keinen Spaß.«

»Die da wären?«

Er schien zu überlegen. »Das Übliche«, antwortete er mit einem Lachen, das aufgesetzt klang. »Frauen. Ich hab einem von ihnen die Freundin ausgespannt.«

Ich glaubte ihm nicht, aber was hatte ich mit ihm und seinen Schwierigkeiten zu schaffen? Ich war froh, dass ich ihn nicht überfahren hatte, verdammt!

Wir erreichten die Lambert Street, und ich setzte ihn vor einem hässlichen Block ab, der aus mehreren Mietswohnungen bestand. Ich wünschte ihm eine gute Nacht und sah ihm nach, wie er sich dem Hauseingang zuwandte und darin verschwand.

Nur wenige Stunden später wünschte ich mir, mich mehr für ihn und seine Schwierigkeiten interessiert zu haben. Aber da war es bereits zu spät …

***

Die heiße Dusche hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Ich war im Anschluss daran am vergangenen Abend in die Federn gekrochen, ohne nochmals einen Gedanken an Nick, meinen unfreiwilligen Anhalter, zu verschwenden.

Da ich momentan keinen Fall zu bearbeiten hatte, was selten genug vorkam, machte ich mich am nächsten Morgen mit dem Wagen auf den Weg zum Yard. Ich war kaum unterwegs, als mich das helle Klingeln eines Handys aufschrecken ließ. Unwillkürlich tastete ich nach meiner linken Brusttasche und fingerte mein Smartphone heraus. Es war ausgeschaltet.

Das Klingeln und Vibrieren im Fahrzeuginnern wurde immer aufdringlicher. Schließlich entdeckte ich den Störenfried im Fußraum auf der Beifahrerseite. Dort leuchtete ein fremdes Handy-Display auf. In dem Moment, als ich mich zur Seite beugte und nach dem Telefon angelte, verstummte es. Natürlich!

Ich suchte eine Möglichkeit, links ran zu fahren und fand sie in einer großzügigen Parklücke, die ein paar Yards weiter in meinem Sichtfeld auftauchte. Ich nahm sie als Geschenk an und bugsierte den Rover zielsicher hinein.

Ich betrachtete das schmale Handy in meiner Hand, und plötzlich musste ich das erste Mal wieder an den jungen Mann von gestern Abend denken. Der tragbare Quälgeist musste ihm beim Aussteigen aus der Jackentasche gefallen sein.

Ich seufzte und sortierte in Gedanken das Londoner Straßennetz. Die Lambert Street bedeutete auf meinem Weg zum Yard keinen nennenswerten Umweg, also beschloss ich, dem zerstreuten jungen Mann sein Eigentum vorbeizubringen.

Ich benötigte einen Moment, um mich wieder in den Verkehr einzufädeln. Dann aber erreichte ich die Lambert Street etwa zwanzig Minuten später.

Das Blaulicht sah ich, als ich mich den Wohnblocks näherte, die auf der rechten Straßenseite lagen. Zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei standen vor dem Haus mit der Nummer neun. Dicht daneben, halb auf der Straße, stand ein Krankenwagen mit laufendem Motor.

Sofort wurde ich unruhig. Etwas stimmte nicht, und im selben Moment begannen dunkle Vorahnungen, sich in mir breitzumachen. Ich dachte an Nick und die »Jungs«, die hinter ihm her gewesen waren. Sollten sie ihn am Ende doch noch gefunden haben?

Ich parkte den Wagen in einer Stichstraße, die von der Lambert Street abzweigte, und lief die wenigen Schritte zurück.

Ein uniformierter Beamter sah mir entgegen und deutete auf das gelbe Absperrband, als er erkannte, dass ich auf den Eingang zur Nummer neun zusteuerte. Bereits im Gehen zog ich meinen Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn dem Mann vor die Nase.

Der Beamte nickte und hob seine Hand zum Gruß.

»Was ist hier passiert?«, wollte ich wissen.