Dark Land - Folge 023 - Marc Freund - E-Book

Dark Land - Folge 023 E-Book

Marc Freund

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Beschreibung

Er hatte Mühe, seine Augen zu öffnen. Wie lange hatte er geschlafen? Er wusste es nicht. Manchmal schien es ihm, als wäre das Zeitgefüge in Twilight City aus dem Takt geraten. Aus dem Gleichgewicht, dachte er. Genau wie er selbst.
Es wurde Zeit, dachte der Mann in dem schwarzen Priestergewand. Zeit, dass sich einige Dinge in TC änderten. Und er würde diese Veränderungen einleiten.
Heute war ein guter Tag dafür. Er fühlte es ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Was bisher geschah

Dunkle Vorzeichen

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

»Geisterjäger«, »John Sinclair« und »Geisterjäger John Sinclair« sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Timo Wuerz

Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-5352-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Was bisher geschah

Die Hauptpersonen dieses Romans sind:

Wynn Blakeston: Gestrandeter aus einer anderen Dimension

Abby Baldwin: Wynns beste Freundin

Theodore Winter: ehem. Reverend in TC

Litwark Hamilton: Industrieller, Winters Erzfeind

Johnny Conolly hat seine Mutter verloren. Sie wurde von einem Schnabeldämon brutal ermordet. Als dieser Dämon durch ein Dimensionstor flieht, folgt Johnny ihm.

Kurz darauf wird das Tor für immer zerstört, sodass es für Johnny keine Möglichkeit zur Rückkehr gibt. Das Dimensionstor spuckt ihn schließlich wieder aus – in einer anderen Welt. Er ist in Dark Land gelandet, genauer gesagt in Twilight City, einer Stadt voller Geheimnisse.

Menschen und Dämonen leben hier mehr oder weniger friedlich zusammen, und doch ist Twilight City voller Gefahren. Die Stadt ist zudem von einem dichten Nebelring umgeben, den kein Einwohner jemals durchbrochen hat. Niemand weiß, was hinter den Grenzen der Stadt lauert …

In dieser unheimlichen Umgebung nennt sich Johnny ab sofort Wynn Blakeston – für den Fall, dass irgendjemand in Twilight City mit seinem Namen John Gerald William Conolly etwas anfangen kann und ihm möglicherweise Übles will. Schließlich wimmelt es hier von Dämonen aller Art – und die hat Wynn in seiner Heimat immer bekämpft.

Wynn findet heraus, dass der Schnabeldämon Norek heißt und skrupelloser und gefährlicher ist als alle seine Artgenossen, die sogenannten Kraak.

Als Wynn wegen eines unglücklichen Zwischenfalls zu einer langen Haftstrafe verurteilt wird, zahlt der geheimnisvolle Sir Roger Baldwin-Fitzroy das Bußgeld und nimmt ihn in bei sich auf – warum, das weiß Wynn nicht.

Er lernt Sir Rogers Tochter Abby und seinen Diener Esrath kennen, die auch in Sir Rogers Villa leben. Er freundet sich mit Abby an, sie wird schon bald zu seiner engsten Vertrauten in dieser mysteriösen Welt.

Was Wynn nicht ahnt: Auch sein geheimnisvoller Gönner hat noch eine Rechnung mit dem Dämon Norek offen. Als es Sir Roger schließlich gelingt, Norek zu schnappen, liefert er den Kraak dem Wissenschaftler Dr. Shelley aus, der gleichzeitig Leiter des Sanatoriums Dead End Asylum im Deepmoor ist. Dieser verpflanzt Noreks Gehirn in einen anderen Körper und sperrt Norek in seinem Sanatorium ein.

Sir Roger aber präsentiert Wynn Noreks toten Körper, sodass der glaubt, der Kraak wäre für immer besiegt.

Doch einen Ausweg aus Dark Land scheint immer noch in weiter Ferne, und Wynn muss sich mit dem Gedanken anfreunden, dass sein Aufenthalt in dieser Welt wohl noch länger andauern wird. Mit Abbys Hilfe hat er inzwischen einen Job beim Twilight Evening Star ergattert, der größten Zeitung von TC. Als man dort erkennt, dass er für Größeres bestimmt ist, steigt er vom Archivar zum Reporter auf.

Und schon bald stellt Wynn fest, dass noch ganz andere Aufgaben in TC auf ihn warten …

Währenddessen ist Abby dem Geheimnis ihrer verstorbenen Mutter ein Stück näher gekommen. Offenbar war diese eine Hexe, und Sir Roger scheint eine düstere Vergangenheit zu haben. Nun fragt Abby sich, ob das Erbe ihrer Mutter auch in ihr schlummert …

Dunkle Vorzeichen

von Marc Freund

Er hatte Mühe, seine Augen zu öffnen. Wie lange hatte er geschlafen? Er wusste es nicht. Manchmal schien es ihm, als wäre das Zeitgefüge in Twilight City aus dem Takt geraten. Aus dem Gleichgewicht, dachte er. Genau wie er selbst.

Das rechte Augenlid löste sich aus der verkleisterten Tränenflüssigkeit, die sein halbes Gesicht bedeckte.

Der Mann mit dem schulterlangen, grauen Haar nahm das Dämmerlicht wahr, das durch die schmutzigen Scheiben seiner Wohnung eindrang. Er lag rücklings auf dem Boden und starrte gegen einen kniehohen Glastisch, an dessen Rand eine beinahe leere Bierflasche gerollt war. Ein Tropfen hing im Flaschenhals, als könne er sich nicht entscheiden, ob er herunterfallen sollte oder nicht.

Es wurde Zeit, dachte der Mann in dem schwarzen Priestergewand. Zeit, dass sich einige Dinge in TC änderten. Und er würde diese Veränderungen einleiten.

Heute war ein guter Tag dafür. Er fühlte es …

Reverend Theodore Winter rollte sich auf die Seite, rülpste dabei laut und kam schließlich auf die Knie. Seine Handballen stützten sich auf dem klebrigen Dielenboden seines Wohnzimmers ab. Für einen Augenblick wurde ihm schwindlig. Er versuchte, die flackernden Lichter der Unterzuckerung von seinen Netzhäuten zu blinzeln.

Wie lange?

Wie lange hatte er in diesem Zustand in seiner Wohnung vor sich hinvegetiert? Waren es Tage gewesen, Wochen oder gar Monate?

Was auch immer in Twilight City geschehen war, er hatte es vermutlich verschlafen.

Sein Blick fiel auf die leeren Flaschen, die in seinem Wohnzimmer kreuz und quer verteilt lagen. Dazwischen, auf dem Glastisch, lag ein Fixerbesteck. In der Wohnung roch es nach kaltem Schweiß und Erbrochenem. Oh ja, er hatte einiges verpasst, wie es aussah.

Theodore Winter setzte sich aufrecht, nahm dabei die abgemagerten Finger mit den langen Nägeln zu Hilfe.

Seltsam. Sein erster Gedanke war, sich diese vergilbten Klauen spitz zu feilen und sie zu härten, um diesem verdammten Hamilton damit aber mal so richtig durch die feiste Visage zu fahren.

Über Winters trockene Lippen drang ein heiserer Laut, der nur entfernt an ein Lachen erinnerte.

Er zog sich am Tisch hoch und kam auf seinen Füßen zu stehen, zunächst noch leicht schwankend, mit den Schienbeinen gegen die Tischkante gedrückt.

Als er die ersten Schritte in Richtung Badezimmer tat, war es, als wäre er gerade dabei, das Laufen neu zu lernen. Er ignorierte dabei das rebellierende Gefühl in seinem Magen, das ihn daran erinnerte, dass er vermutlich seit Tagen schon nichts mehr gegessen hatte.

Er räumte die Duschecke frei, in der sich schmutzige Wäsche stapelte, legte seinen Talar ab, unter dem er nackt war, und drehte das Wasser auf. Eiskalt kam es aus den verkalkten Rohren. Aber genauso brauchte er es. Die Kälte weckte seine Lebensgeister, zumindest diejenigen, die bereit dazu waren, mit ihm ein neues Abenteuer einzugehen.

Nahezu zwei Stunden später saß er in seiner kleinen Küche vor einer Tasse dampfendem Kaffee, den er sich mit dem letzten Rest Pulvers aus der verbeulten Blümchendose im Küchenschrank aufgebrüht hatte.

Dabei dachte Reverend Winter über eine Frage nach: Was, um alles in der Welt, hatte ihn geweckt? Nicht einfach die Augen öffnen und zum Fixerbesteck greifen lassen, sondern aufgeweckt?

Ihm war, als hätte er eine Stimme gehört, kurz bevor er zu sich gekommen war. Nein, nicht eine, es waren sogar mehrere Stimmen gewesen. Sie sagten etwas, riefen durcheinander. Winter hatte kein Wort verstanden. Zumindest dachte er das. Je länger er allerdings darüber nachdachte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass er sehr wohl mitbekommen hatte, was die Stimmen von ihm wollten.

Er hatte die Zügel zu lange schleifen lassen. Eine Regung des schlechten Gewissens machte sich in ihm breit.

Er leerte seine Tasse und fuhr sich mit der Hand durch den grauen Bart, der ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Der Kaffee tat seine Wirkung. Winter fühlte sich ausgeruht und in Anbetracht seiner körperlichen Verfassung sogar vital und lebendig.

Er wusste, dass das normalerweise vollkommen unmöglich war. Er hätte jetzt schon nahezu tot sein müssen. Doch es gab da etwas, das ihn mit neuer Lebensenergie versorgte. Und es wurde verdammt noch mal Zeit, diese verflixten Zügel wieder in die Hand zu nehmen, bevor es jemand anderes tat.

Er stand auf und schob den Stuhl mit einem scharrenden Geräusch zurück. In diesem Moment schlug etwas gegen seine Fensterscheibe.

Winter drehte den Kopf. Er war nicht einmal erschrocken, denn er rechnete fest damit, dass etwas passieren würde.

Er trat an das Fenster heran, hinter dessen Milchglasscheibe sich ein dunkler Schatten abzeichnete.

Seine Wohnung befand sich im dritten Stock. Dennoch hatte sich irgendetwas auf dem Fensterbrett niedergelassen.

Reverend Winter bekam den Griff zu fassen und drehte ihn herum.

Das Fenster schwang widerwillig nach innen auf.

Draußen hockte ein großer Vogel. Die Flügel und die Krümmung des Schnabels erinnerten Reverend Winter an einen Adler, nur dass sein Gefieder schneeweiß war.

»Mein Freund«, sagte der ehemalige Anführer der Trinity Church. »Ich erkenne dich sofort. Wie schön, dass es dich noch gibt.«

Das Tier trippelte unruhig vor dem Fenster hin und her.

Winter verengte seine Augen zu Schlitzen. »Du bist nicht zufällig hier, nicht wahr? Du … du hast eine Botschaft für mich.«

Als ob der Vogel antworten wollte, stieß er sich mit einer kraftvollen Bewegung seiner rasiermesserscharfen Krallen ab und breitete seine gewaltigen Schwingen aus. Der weiße Vogel beschrieb einen Halbkreis in der Luft und kehrte schließlich mit einem auffordernden Krächzen auf das Fensterbrett zurück.

Reverend Winter streckte den rechten Zeigefinger aus und stocherte damit vor dem Vogel herum. »Du willst mir etwas zeigen. Das habe ich verstanden. Warte einen Augenblick. Ich … ich bin sofort so weit.«

Er fühlte sich plötzlich wieder stark, jetzt, wo er eine neue Aufgabe hatte. Er wusste nicht genau, worin sie bestand, aber allein die Tatsache, dass er von einer höheren Macht gebraucht wurde, ließ neue Energie in seine Adern schießen.

Längst war er wieder in seinen schwarzen Talar geschlüpft, als er die Wohnungstür aufriss und die Stufen des Treppenhauses hinunter hastete.

Ein froschgesichtiger Nachbar, der unter ihm wohnte und gerade dabei war, seine Wohnungstür aufzuschließen, sah ihm verwundert entgegen. »Dass man Sie noch mal wiedersieht, hätte ich auch nicht gedacht. Nach allem, was man aus Ihrer Wohnung so gehört hat.«

»Finde dich damit ab, Krötenfratze«, rief Winter im Vorbeilaufen.

Die lautstarke Antwort seines Nachbarn nahm er bereits nicht mehr wahr, da er bereits die Haustür anpeilte.

Auf der untersten Stufe lag ein Stapel alter Ausgaben des Twilight Evening Star, den er mit einem gezielten Tritt beiseite kickte.

Über dem Eingangsbereich des grauen, mehrgeschossigen Hauses ging ein Papierregen nieder. Doch Reverend Winter befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits draußen auf der Straße. Er reckte den Kopf, und es dauerte keine zwei Sekunden, da hatte er schon seinen weißgefiederten Begleiter entdeckt.

Mit einem hohlen Krächzen stieg der Vogel in die Luft und flog die Straße hinauf, die im weiteren Verlauf zur Trinity Church hinaufführte, seinem ehemaligen Arbeitsplatz.

Alles schien ihm so weit weg, seit er vom Kirchenrat ausgeschlossen und suspendiert worden war. Der Rat hatte sich damals gegen ihn verschworen, weil er herausgefunden hatte, dass Winter bisweilen schwarze Messen in seiner Wohnung zelebriert hatte. Allen voran hatte dieser Dreckskerl Litwark Hamilton Hetze gegen ihn betrieben. Hamilton, der Industrielle, der jährlich tausende von Beads in die Trinity Church fließen ließ. Er war es auch gewesen, der gleich einen Nachfolger für Winter parat gehabt hatte. Einen Mann namens Spring. Ausgerechnet.

Spring war ein Mann gewesen, der manipulierbar war, wenn man ihm nur genug anbot.

War?

Woher sollte Winter wissen, dass sein Nachfolger nicht mehr existierte?

Die Zeitungen im Hausflur. Reverend Springs Foto war auf dem Titelblatt abgebildet gewesen, zusammen mit dem Gesicht eines höchstens sechzehnjährigen Jungen.

Familiendrama, hatte die Schlagzeile gelautet. Um Reverend Winters Lippen spielte ein Lächeln. Das erste Mal, dass diese verfluchte Zeitung gute Neuigkeiten brachte, dachte er.

Über ihm wurde ein Krächzen laut.

Winter reckte den Kopf in die Höhe und erkannte den weißen Vogel, der ihn direkt zur Kirche hinüberführte.

Das riesige, graue Gebäude wirkte selbst am Tag trist und unheimlich. Es war ein kalter Bau, der keine Besucher anlockte. Nur solche, die eine feste Absicht hatten, das Gemäuer zu betreten.

So wie Winter jetzt.

Er kannte sich hier aus. Die Kirche war quasi sein Zuhause gewesen, bis man ihn von hier vertrieben hatte. Er kannte viele Geschichten, die sich um diese Mauern rankten. Nicht alle, vielleicht nicht einmal die meisten, aber es waren einige sehr düstere darunter, wie die des eingemauerten Dämons, der irgendwo in den Katakomben hausen sollte. Lynar war sein Name. Winter glaubte nicht daran, dass es sich um eine Legende handelte.

Sie hatten das Gebäude erreicht. Gerade als Winter die Seitentür ansteuerte, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr.

Hoch oben aus dem Gebälk des alten Glockenturms lösten sich gleichzeitig etwa ein Dutzend Schatten.

Sie kreisten einmal um den Turm herum und stießen dann in die Tiefe herab.

»Die weißen Vögel«, flüsterte Winter.

Er wusste, wer sie waren. Sie waren vor einiger Zeit mit dem weißen Schiff gekommen, das noch immer unten im Hafen von TC vor Anker lag. Seit ihrer Ankunft hatten sie sich im Glockenturm eingenistet.

Es gehört dazu, dachte Winter. Etwas hat nicht nur die Kirche ausgewählt, sondern mich. MICH!

Winter packte den eisernen Ring und zog die Seitentür auf. Er öffnete sie bis zum Anschlag. Seine Blicke folgten fasziniert den Vögeln, wie sie einer nach dem anderen durch die Öffnung stießen und in das Innere der Kirche vordrangen.

Winter folgte ihnen.

Der Innenraum wurde durch eine Vielzahl von Kerzen erhellt. Sie brannten ewig. Das hatten sie schon immer getan. Niemand, der sich um sie zu kümmern schien. Sie waren einfach da. Ein ewiges Feuer, das erst erlöschen würde, wenn eine neue Zeit herangebrochen war.

Die kleinen Flammen fauchten und züngelten, wenn die weißen Vögel an ihnen vorüberstreiften. Die Luft war erfüllt vom Geräusch ihrer Schwingen.

Winter lief den breiten Mittelgang des Kirchenschiffs entlang, blieb in Höhe der siebenten Stuhlreihe stehen, breitete die Arme aus und hob den Kopf zur Decke.

Dort befand sich ein gewaltiger Engel, der in das Deckengewölbe eingearbeitet war. Ein Meisterwerk der Architektur. Winter ließ seinen Blick über die Flügel schweifen. Viel zu lange war er nicht mehr hier gewesen.

Beinahe widerwillig setzte er sich wieder in Bewegung, steuerte auf den Altar zu, über dem ein riesiges Kreuz aus Metall hing.

Winter wusste, dass sich hinter dem Altar eine unscheinbare Tür befand, die in das kalte, graue Gestein eingelassen worden war.

Er wusste auch, wohin sie führte: in die verborgenen, labyrinthartigen Katakomben. Ein Ort, an den schon einige gegangen waren, die nie wieder zurückkehren sollten.

***

Die Stufen, die in die Tiefe führten, waren alt und ausgetreten.

Winter hastete sie herunter, dem Schein seiner Taschenlampe folgend, die tatsächlich noch immer in einer Nische im Gestein am oberen Ende der Treppe gelegen hatte.

Auf Winters rechter Schulter hockte der weiße Vogel, der ihm den Weg hierher gewiesen hatte. Es schien, als wäre er fortan sein ständiger Begleiter.

Der Reverend spürte, wie sich die scharfen Krallen sanft gegen seine Haut drückten.

Sie erreichten das Ende der Treppe.

»Wohin jetzt?«, fragte Winter das Tier, das sich kurz darauf von seiner Schulter abstieß und durch den engen Gang in die Dunkelheit flog, als gehörte dies zu einem tausendfach wiederholten Ritual zwischen den beiden.

Reverend Winter richtete den Strahl seiner Taschenlampe aus, bis er irgendwo in der Ferne die Augen des Vogels wie zwei Bernsteinmurmeln in der Dunkelheit aufleuchten sah.

Winter gelangte in einen achteckigen Raum. Vor einer grauen Steinmauer blieb er stehen. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken.

Lynar ist tot.

Der eingemauerte Dämon hatte seinen letzten Funken unheilvolles Leben ausgehaucht. Die Erkenntnis traf Theodore Winter wie ein Schlag.

Die Aura des einst so mächtigen Dämons war erloschen wie eine Kerze im Wind. Nichts deutete mehr auf seine Anwesenheit hin, die einst hier unten so deutlich zu spüren gewesen war.

Hinter ihm kicherte jemand. Eine hohe, helle Stimme, wie die eines Kindes.

Reverend Winter wirbelte auf der Stelle herum. Sein suchender Blick bekam einen Fetzen roten Stoffs zu fassen, der wie ein Schleier aufwallte und im selben Augenblick verschwunden war.

Hastige Schritte entfernten sich in der Dunkelheit.

Was war das gewesen?

Der weiße Vogel, der sich wieder auf Winters Schulter niedergelassen hatte, gab ein tiefes Krächzen von sich und trat unruhig von einem Bein auf das andere. Dieses Mal tat es weh, doch Winter spürte kaum, wie die Krallen des Tiers den Talar und seine Haut darunter aufritzten.

Mit klopfendem Herzen stand Winter da, leuchtete mit seiner Lampe in den Gang hinein, in dem er vor Sekunden noch die Erscheinung wahrgenommen hatte.

Sie war verschwunden.

Was auch immer das zu bedeuten hatte, überlegte er, gehörte offenbar zu den Geheimnissen der Trinity Church, über die er nicht genau Bescheid wusste. Das beunruhigte ihn. Doch er durfte nicht vergessen, dass er hier unten einen Auftrag zu erledigen hatte. Der weiße Vogel hatte ihn nicht umsonst hierhergeführt.

Wie um dies zu unterstreichen, stieß sich der Vogel erneut ab, flog zu der gegenüberliegenden Wand und blieb dort sitzen.

Er trippelte auf der Stelle herum und gab krächzende Laute von sich.

Der Mann im schwarzen Talar trat auf ihn zu und leuchtete die Mauer mit seiner Lampe ab. Mit seiner freien linken Hand strich er über das Gestein und erkannte beim genaueren Hinsehen dünne Fugen, die darin verliefen.

Es gab keinen Zweifel daran, dass er sich hier vor einem weiteren Durchlass befand. Theorore Winter drückte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, bis aus dem Innern der Tür ein leises, schnappendes Geräusch zu hören war.

Mahlend und rumpelnd setzte sich die steinerne Tür wie automatisch in Bewegung und drehte sich zur Seite, sodass ein Durchgang entstand.

Ohne zu zögern trat Reverend Winter hindurch und befand sich in der nächsten Sekunde in einem fensterlosen Raum, in dem drei große, ebenfalls aus Stein gefertigte Särge aufgebahrt waren.

»Junge, Junge«, stieß Winter aus, der auf das Podest zusteuerte. Seine Stimme klang zwischen den grauen Wänden brüchig und trocken.

Der weiße Vogel hatte sich auf dem mittleren Sarg niedergelassen, der der prunkvollste unter den Dreien war.

Auf dem Deckel lag eine dicke Schicht Staub.

Reverend Winter beugte sich darüber und wischte die darunter verborgene Inschrift frei.

Er kniff die Augen zusammen und entzifferte den Namen, den ein Steinmetz vor hunderten von Jahren in den Deckel gehauen haben mochte.

Es war sein eigener!

***

»Nun mach schon, Junge«, rief der Mann mit dem zerfurchten Gesicht, der bereits sein Leben lang Fischer gewesen war. »Pack endlich mit an, oder soll ich etwa die ganze Arbeit alleine machen?«

»Nein, ich bin schon da«, rief Djacar, ein junger Mann von knapp zwanzig Jahren. Der Blondschopf beeilte sich, vom Heck des alten Kutters zur Steuerbordseite zu eilen, wo Bruce D’arby sich daranmachte, die Netze einzuholen.

Beinahe wäre der Junge auf dem nebelfeuchten Deck ausgeglitten, konnte sich gerade noch fangen und am erfahrenen Seemann abstützen.