Dark Palace – Die letzte Tür tötet - Vic James - E-Book

Dark Palace – Die letzte Tür tötet E-Book

Vic James

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Beschreibung

Wer überlebt, und wem kannst du trauen? Englands magischer Adel schreckt bei seinen Intrigen vor keiner Brutalität zurück. Luke wurde unschuldig verurteilt und ist der Gefangene eines besonders grausamen Lords. Seine Schwester Abi versucht verzweifelt, ihn zu befreien. Wird sie es schaffen, bevor sein Willen vollständig gebrochen ist? Ein atemberaubender Kampf um die Macht, bei dem unvorhersehbar bleibt, wer welches Spiel spielt und wer gewinnt.

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Vic James

Dark Palace

Die letzte Tür tötet

Aus dem Englischen von Franca Fritz und Heinrich Koop

FISCHER E-Books

Für meinen Bruder Jonathan

Danke, dass du die Sache mit den Zahlen übernommen hast, so dass ich mich um die Sache mit den Worten kümmern kann.

Prolog Jenner

Jenner zog die Zügel an, worauf sein Pferd stampfend und schnaubend im langen blauschwarzen Schatten der Bäume zum Stehen kam. Er hatte den Hengst im Galopp über das Gelände getrieben.

Als er abstieg und einen Blick über die Schulter warf, sah er Kyneston in der Dunkelheit leuchten. Hoffentlich hatte ihn niemand beobachtet – er wollte nicht, dass irgendein Mitglied seiner Familie Zeuge davon wurde, wie sein Plan gelang. Oder scheiterte.

Das hier war Abis letzte Chance. Er durfte einfach nicht versagen.

Trotz seiner verzweifelten Appelle hatte sein Vater beschlossen, Abi und ihre Eltern wegen der Verbrechen ihres Bruders nach Millmoor zu verbannen. Ein Wagen des Arbeitszuteilungsamtes würde sie morgen abholen und in die Sklavenstadt bringen, also musste Jenner sie heute Nacht aus Kyneston herausschmuggeln.

Er ging einen Schritt vorwärts und legte eine Hand auf die sanft schimmernde Mauer, die das gesamte Anwesen umgab. Das Moos kitzelte, doch er drückte seine Handfläche fester darauf, bis er das Mauerwerk unter seinen Fingerspitzen spürte. Die Berührung erzielte die gewünschte Wirkung: Die Mauer begann zu leuchten – fast so, als hätte sich der Mörtel zwischen den Steinen in flüssiges Gold verwandelt.

Sein Bruder Silyen würde aufgrund seiner Funktion als Torwächter der Familie jetzt von Jenners Anwesenheit erfahren. Und das bedeutete, dass ihm nicht viel Zeit blieb.

Jenner hatte Abi vor sieben Monaten genau an dieser Mauer kennengelernt, als Silyen und er die Familie Hadley durch das Tor hereingeholt hatten. Morgen würde Sil sie wieder hinausschicken – es sei denn, Jenner gelang etwas, was er noch nie zuvor geschafft hatte. Als Mitglied der Familie Jardine konnte er das Tor zum Leben erwecken. Doch da er kein Geschick besaß, war er nicht in der Lage, es zu öffnen.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als das glühende Gitterwerk Gestalt annahm. Geschick-Licht strömte zur Mauerkrone und entfaltete sich zu Blüten und Ranken, zu Vögeln mit flammendem Gefieder und phantastischen Tieren. Als der letzte strahlende Strang das Familienmonogramm aufleuchten ließ, stand Jenner einen Moment schweigend da und bewunderte die Schönheit des Torbogens. Seit knapp einem Jahrzehnt hatte er sich nicht mehr gestattet, das Tor zum Leben zu erwecken, weil dessen Leuchten fast schlimmer war als ein vollständiges Versagen – die Tatsache, dass ihm dieses eine Wunder gewährt wurde, mehr aber auch nicht.

»Ich erinnere mich an das Jahr, in dem du dreizehn geworden bist«, sagte in diesem Augenblick eine Stimme direkt neben ihm. »Du hast der Mauer keine Ruhe gelassen. Und dann deine Bemühungen schlagartig eingestellt. Ich habe mich immer gefragt: Hat Vater dich geschlagen, um dich von der Mauer fernzuhalten, oder hast du einfach nur aufgegeben?«

Empört wirbelte Jenner herum. Wie hatte Silyen es geschafft, so schnell hier aufzutauchen? Und warum hatte Jenner ihn nicht kommen hören? Er konnte das alles nicht fassen.

»Willst du herausfinden, ob du mehr Glück hast als Leah und die kleine Libby?«, fragte Silyen, denn es gelang ihm jedes Mal, eine unangenehme Beobachtung mit einer noch schlimmeren Bemerkung zu toppen. »Ihr Versuch ist ziemlich genau an dieser Stelle gescheitert. Jetzt fehlen bloß noch Gavar und Abigail, und dann könnten wir die Szene noch mal nachstellen.«

Jenner nahm die Hand von der Mauer. Er dehnte die Finger, die sich danach sehnten, seinem jüngeren Bruder eine Ohrfeige zu verpassen. Aber so leicht ließ er sich nicht ködern.

Oder bot sich hier vielleicht eine ungeahnte Möglichkeit? Sil war so unberechenbar, dass man nie wusste, ob er sich möglicherweise einmal hilfsbereit zeigte.

»Wie wär’s, wenn du das Tor öffnest? Für Abigail.«

»Und mich damit Vaters Wunsch widersetze?«

»Seit wann interessierst du dich für Vaters Wünsche? Oder die von irgendjemand anderem? Du kümmerst dich doch immer nur um deine eigenen …«

»Tja, wenn du es so formulierst«, erwiderte Sil, gar nicht mal unfreundlich.

Er klopfte sich die Hände ab und wandte sich in Richtung der Bäume, wo sein schwarzes Pferd geduldig ein paar Grashalme rupfte. Silyen musste sich im Wald versteckt haben.

»Nein, warte! Es tut mir leid.« Jenner packte seinen Bruder am Arm. »Ich bin einfach nur wahnsinnig angespannt. Bitte. Abi hätte bei der Explosion des Ostflügels getötet werden können. Und jetzt … nach dem, was mit ihrem Bruder passiert … Sie hat bestimmt einen Schock erlitten. Millmoor ist der letzte Ort, den sie in diesem Zustand verdient hat.«

»Wenn das so ist …«, sagte Silyen und wandte sich ihm wieder zu, »dann versuch es doch mal selbst. Deswegen bist du schließlich hergekommen, oder? Um herauszufinden, ob dein Wunsch nicht vielleicht auf magische Weise doch noch in Erfüllung geht?«

Seine Stimme hatte einen hänselnden, spöttischen Ton. Und lediglich das Wissen, dass Silyens Geschick-Reflexe ihn schützen würden, hielt Jenner davon ab, auf seinen Bruder loszugehen.

»Arbeitest du heimlich daran, so hassenswert zu sein, Silyen, oder fällt dir das total leicht?«

»Es gibt nur eine einzige Person, die du wirklich hasst, Jenner, und das bist du selbst. Aber lass sich nicht von der Tatsache abhalten, dass du einen Zuschauer hast. Ich habe dich schon mein ganzes Leben dabei beobachtet, wie du vergebens versucht hast, Geschick anzuwenden.«

Jenner hätte nicht gedacht, dass sich sein Wunsch, das Tor für Abi zu öffnen, noch steigern ließ. Doch jetzt raste das brennende Verlangen durch seine Adern, seinen Bruder Lügen zu strafen.

Er packte das kunstvolle Gitterwerk, zog daran und erinnerte sich gleichzeitig, wie er Leah vor all diesen Monaten hierbei beobachtet hatte. Damals war er genau in dem Moment eingetroffen, als Gavar die Waffe erhoben und sie erschossen hatte – eine unbegreifliche Tat, die er bis heute noch nicht verstand.

Das Tor reagierte auf ihn genauso wenig wie auf Leah und Libby. Trotz des trügerischen Scheins fühlte sich das Gitterwerk unter seinen Fingern kalt an.

Und es spielte auch keine Rolle, dass er gewusst hatte, wie sein Versuch enden würde, und das Ganze zwecklos war. Wut und bittere Enttäuschung kochten in ihm hoch.

»Und, bist du jetzt zufrieden?«, brüllte er Sil an, von seiner eigenen lächerlichen Hoffnung zutiefst gedemütigt.

Aber in diesem Moment spürte er es, ein Prickeln in seinen Handgelenken und Adern. Es schoss warm durch seine Finger, als würde er sie über ein Feuer halten. Und es schien ebenso ein Teil von ihm zu sein wie sein warmes Blut.

Geschick.

Ruckartig hob Jenner den Kopf und starrte seinen Bruder an. In dessen dunklen Augen spiegelte sich das Flackern des Tors. Doch die Hoffnung, die Jenner jetzt bestimmt ausstrahlte, spiegelte sich nicht auf seinem Gesicht wider. Stattdessen runzelte Sil die Stirn.

Und in diesem Moment begriff Jenner, dass irgendetwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte. Das Tor öffnete sich noch immer nicht. Durch seine Adern mochte zwar Geschick strömen, aber er hatte das Gefühl, als wären seine Pulsadern aufgeschlitzt und als würde das Geschick wieder aus ihm herausschießen. Jenner spreizte die Finger und starrte sie ungläubig an, als könnte er sehen, wie die warme goldene Flüssigkeit ungenutzt von ihnen herabtropfte.

Verzweifelt schlang er die Finger um sein Handgelenk, als könnte er den Strom stillen. Doch er wusste, wie zwecklos das war. Schließlich verebbte das Gefühl der Wärme, bis er das Geschick nicht mehr spüren konnte.

Silyen starrte ihn gebannt an.

»Ich dachte, ich könnte vielleicht …«, setzte er an, ohne jede Spur von Spott. Er klang fast verunsichert. Dann schüttelte sein Bruder den Kopf, wobei ihm die zerzausten Haare ins Gesicht fielen. »Du solltest Abigail und ihrer Familie jetzt besser Bescheid geben.«

»Was hast du getan?«, flüsterte Jenner. »Was war das gerade?«

»Ein Experiment.« Trotzig hob Sil das Kinn. »Und manchmal funktionieren Experimente nun mal nicht.«

»Was fällt dir ein?«, brüllte Jenner. »Wie kannst du es wagen, deine Spielchen mit mir zu treiben? Ich bin keins von deinen Experimenten. Ich bin dein Bruder, auch wenn Gavar und du … wenn ihr euch etwas anderes wünschen würdet.«

»Ich habe mir nie gewünscht, dass du nicht mein Bruder wärst«, sagte Silyen leise. »Und es tut mir leid.«

»So leid, dass du das Tor öffnest, damit Abi fliehen kann?«

Der Ausdruck der Reue verschwand so schnell von Silyens Gesicht, dass Jenner sich fragte, ob er sich ihn vielleicht bloß eingebildet hatte.

»Nein, so leid nun auch wieder nicht. Du solltest die Hadleys informieren. Aber warte lieber bis zum Morgen. Ich muss Luke heute Nacht an Crovan übergeben, und es wäre besser, wenn sie erst danach davon erfahren. Sie verdienen etwas Schlaf – und ich will nicht, dass sie sich einmischen.«

Sil pfiff sein Pferd heran, das langsam herübertrottete und ruhig dastand, während er sich in den Sattel schwang. Sein Blick schweifte über die Mauer. Dann packte er die Zügel und war im Nu verschwunden.

Jenner drehte sich ebenfalls zur Mauer um – für den Fall, dass das Tor dank einer letzten Laune seines Bruders ja vielleicht doch aufschwang.

Aber natürlich war das nicht der Fall. Das Licht schien aus dem Gitterwerk zu strömen. Die Vögel und Tiere verblassten, die Ranken und Blüten schrumpften, und das Strahlen zwischen den Mauersteinen wurde immer schwächer.

Jenner betrachtete seine Hände. Eine flüchtige Minute lang hatte er es gespürt: Geschick in seinen Adern, so lebenswichtig wie sein Blut oder sein Atem. Wie war es möglich, dass er ohne Geschick überhaupt leben, gehen und reden konnte?

In diesem Augenblick hätte er alles dafür gegeben, um selbst Geschick zu besitzen.

Einfach alles.

Als er wieder hochschaute, war das Tor verschwunden.

1Luke

Sie tauchten mitten in der Nacht auf, um ihn zu holen.

Nach der Gerichtsverhandlung am Morgen zuvor, die eine einzige Farce gewesen war, hatte man Luke eines Verbrechens für schuldig befunden, an das er sich zwar nicht erinnern konnte, das er aber ganz bestimmt nicht begangen hatte. Danach hatte Gavar Jardine ihn aus Kynestons Ostflügel geschleift und ihn hier hineingeworfen, in eine kleine Zelle unter der Küche.

Der gemauerte Raum war kalt und dunkel. Als Luke in der Finsternis herumtastete, stieß er auf eine Holztheke und ein paar leere Fässer. Die Luft besaß einen muffig-säuerlichen Geruch, der in jede Pore zu dringen schien. Kyneston gehörte nicht zu der Sorte von Anwesen, die über ein Verlies verfügten, und außerdem brauchten die Jardines niemanden einzusperren, um ihn an der Flucht zu hindern. Also musste es sich bei seiner Zelle um einen Teil des Weinkellers handeln.

Was bedeutete, dass nicht weit entfernt das Leben ganz normal weiterging und Hunderte von Ebenbürtigen sich noch immer in den Mauern Kynestons aufhielten. Seit dem Ball, bei dem Kanzler Zelston gestorben war, war so viel passiert: die Zerstörung und der Wiederaufbau des Ostflügels, Lukes Gerichtsverfahren, Crovans Geschick-Kampf mit Jackson und dessen katastrophales Ende. Zweifellos würden die Ebenbürtigen noch einen Weile auf dem Anwesen der Jardines bleiben, um alles durchzuhecheln, und zahllose Sklaven würden regelmäßig zwischen Küche und Keller und dem Speisesaal hin- und herlaufen.

Einer von den Leibeigenen besaß bestimmt einen Schlüssel zu diesem Raum. Oder konnte Abi informieren, die garantiert an den Schlüssel herankommen konnte.

Also verbrachte Luke die nächsten Stunden damit, gegen die Tür zu hämmern, um auf sich aufmerksam zu machen. Als seine Fäuste wund waren, trat er gegen die Tür – obwohl er natürlich wusste, dass nicht die geringste Chance bestand, sie einzutreten. Außerdem rief und schrie er so lange, bis er heiser war; dann gönnte er seiner Stimme eine kurze Pause, während er wieder mit den Fäusten gegen die Tür hämmerte und schließlich erneut losbrüllte.

Aber selbst diese körperliche Anstrengung erschöpfte ihn nicht annähernd so sehr wie die Verwirrung in seinem Kopf. In welche Richtung Luke seine Gedanken auch wendete, er landete jedes Mal in der gleichen Sackgasse – einer Mischung aus Unverständnis und Unkenntnis.

Irgendjemand hatte Zelston getötet, und offenbar war er selbst das gewesen. Allerdings trug er nur für die Tat die Verantwortung – nicht für die Absicht, die dahintersteckte.

Doc Jackson hatte ihn verteidigt. Aber Jackson war ein Aristokrat, ein Ebenbürtiger, und demzufolge hatte er Luke ebenfalls getäuscht und betrogen. Lukes Erinnerungen an die letzten vierundzwanzig Stunden bildeten ein Labyrinth, in dem er vollkommen orientierungslos umherirrte.

Als Stunde um Stunde verstrich und niemand kam, um ihn aus der Zelle zu befreien, sank Luke schließlich vollkommen erledigt gegen die Tür. Irgendwann musste er schließlich eingedöst sein, denn als er aufwachte, weil jemand von außen die Tür aufriss, sackte er vorwärts und fiel demjenigen auf die Stiefel.

Die Identität der Person ließ sich nur schwer erkennen, da er oder sie ein grellweißes Licht in der Hand hielt und Luke damit blendete.

»Ich bin nicht der Rettungstrupp«, sagte Silyen Jardine. »Tut mir leid.«

Steh auf, drängte eine winzige Stimme tief in Lukes Schädel. Steh auf und flieh.

Aber er war viel zu erschöpft, und seine Gliedmaßen gehorchten ihm nicht – weder seine bleischweren Beine noch seine blutig geschlagenen Hände. Luke öffnete den Mund, brachte allerdings nur ein Krächzen heraus.

Der junge Herr rümpfte die Nase und zog seine Füße unter Lukes zusammengesacktem Körper hervor. Dann krümmte der Ebenbürtige die Finger, woraufhin das Licht in seiner Hand erlosch. Eine Sekunde später kauerte er in der Dunkelheit über Luke, schob eine Hand in den Kragen von Lukes jetzt schmutzigem Oberhemd und drückte die andere gegen Lukes Schläfe.

Diese Berührung jagte einen Schauer durch Lukes Körper. Wenn die Ebenbürtigen einen nicht länger äußerlich quälten, konnten sie einen noch immer tief im Inneren verletzen.

Doch Luke spürte keinerlei Schmerz.

»Ich habe einige Fragen«, flüsterte Silyen. »Und im Moment bist du meine einzige Chance, darauf ein paar Antworten zu bekommen.«

Die kühlen Finger des Ebenbürtigen glitten über Lukes Wange. Als sie seinen Kiefer umfassten, hatte Luke einen verrückten Moment lang den Eindruck, dass Silyen Jardine sich vorbeugen und ihn küssen würde. Doch das, was dann passierte, war intimer und noch viel schlimmer. Tief in Lukes Innerem ruckte und zuckte irgendetwas bei dieser Berührung.

Silyen musste es ebenfalls gespürt haben, denn sein gruselig strahlendes Lächeln ließ sein Gesicht so aufleuchten, als hätte er sein Geschick-Licht wieder zum Vorschein geholt. Seine Hand wanderte zu Lukes Kehle hinab, und Lukes Herzschlag pulsierte unter dem Druck von Silyens schwieligen Fingern, als wollte seine Halsschlagader aufplatzen und sie beide mit hellrotem Blut besprühen.

Vor Lukes innerem Auge zeichnete sich ein ungebetenes Bild ab: Jackson, der nach Crovans Triumph auf allen vieren vor dem Parlament der Ebenbürtigen kauerte, während aus jeder seiner Poren reines Licht explodierte. Luke schloss die Augen, um diese unerträgliche Erinnerung zu verdrängen. Aber Silyen war ihm so nahe, dass er dessen federleichtem Atem nicht ausweichen konnte, als er der junge Herr ihm etwas zuflüsterte.

»Wenn du auf einen Fluchtversuch verzichtest, werde ich nicht zulassen, dass er deinen Willen bricht. Jedenfalls nicht so sehr, dass ich den Schaden nicht mehr reparieren kann«, raunte Silyen Jardine.

Dann verschwand die Hand und Luke hörte sich selbst erleichtert ächzen. Als er die Augen öffnete, sah er, wie der Junge aufstand und die Knie seiner Jeans sauberwischte.

»Er ist reisefähig«, verkündete Silyen in seinem üblichen achtlos-schroffen Tonfall. Seine Worte waren an jemanden gerichtet, der am anderen Ende des schwach beleuchteten Flurs stand. »Ich werde seine Kyneston-Bindung am Tor aufheben. Dann gehört er Ihnen. Komm schon, Luke. Lass deinen neuen Herrn und Meister nicht warten.«

Silyen streckte ihm seine schlanke Hand entgegen. Doch Luke starrte einen Moment darauf, wandte sich dann ab und klammerte sich stattdessen an den Türpfosten. Als er sich mühsam daran hochzog, war das nur zum Teil vorgespielt, aber dadurch verschaffte er sich ein paar wertvolle Sekunden zum Nachdenken.

Deinen neuenHerrn und Meister.

Er war gerade dahintergekommen, wen Silyen damit meinte, als die Person, die am Ende des Flurs wartete, ein eigenes Geschick-Licht hochhob und Lukes Schlussfolgerung bestätigte: Lord Crovan. Er sah genauso aus wie wenige Abende zuvor, als Luke ihm in der Eingangshalle die Reisetasche abgenommen hatte. Sein Mantel war bereits zugeknöpft. Reisebereit.

Innerhalb nur einer Nacht und eines Tages war Luke zum Mörder, dann zum Angeklagten und schließlich zum Gefangenen geworden. Während des Tumults nach Jacksons Duell mit diesem Mann, bei dem der Doc Luke hatte verteidigen wollen, hatte Luke Lord Jardines Urteilsverkündung kaum gehört. Doch jetzt erinnerte er sich wieder: schuldig.

Für schuldig befunden und an Lord Arailt Crovan ausgehändigt, zum Abtransport auf dessen schottisches Anwesen. Kein Wort über eine mögliche Freilassung. Kein Wort über eine mögliche Revision des Urteils. Luke konnte förmlich hören, wie ein weggeworfener Schlüssel klirrend in einen tiefen Schacht fiel.

Aber er durfte nicht zulassen, dass Crovan ihn vernahm. Das Geschick des Mannes würde Lukes Erinnerungen an den Verein zutage fördern und damit seine Freunde in Millmoor in Gefahr bringen.

Andererseits musste Luke unbedingt herausfinden, was wirklich während des Balls passiert war, um seine Unschuld zu beweisen. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Familie.

»Meine Schwestern … Meine Eltern … Ist mit ihnen alles in Ordnung?«, wandte er sich in drängendem Ton an Silyen.

»Sie werden nach Millmoor gebracht«, erwiderte Silyen. »Unter den jetzigen Umständen ist das der sicherste Ort für sie.«

Luke schnappte erneut nach Luft. Jetzt, da er wusste, wozu die Ebenbürtigen fähig waren, empfand er den Gedanken, dass seine Familie weit von ihnen entfernt sein würde, als Erleichterung. Aber er wusste auch aus eigener Erfahrung, welche Grauen Millmoor bereithielt: die brandgefährlichen Arbeitsbedingungen, die beiläufigen Brutalitäten und Ungerechtigkeiten, die Tatsache, dass neben Daisys Schulbildung auch ihr Wachstum an diesem gnadenlosen Ort verkümmern konnte.

»Ach ja, die Kleine bleibt hier«, fügte Silyen hinzu. »Auf Gavars speziellen Wunsch.«

Daisy würde auf Kyneston bleiben?

Doch Luke blieb keine Zeit für weitere Fragen. Crovan schritt durch den Flur, blieb vor Luke stehen und betrachtete ihn mit leicht angewiderter Miene.

»Was soll diese Verzögerung? Ich möchte von hier verschwinden, bevor der Mob aufwacht und einen weiteren Tag mit Klatsch und Tratsch und endlosen Völlereien verbringt. Du gehörst jetzt mir, Junge. Also komm.«

Luke biss sich auf die Lippe und folgte dem Mann durch die schummrigen Gänge des großen Anwesens. Jeder Fluchtversuch war zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn es ihm gelang, Crovan und Silyen zu entkommen – was sehr unwahrscheinlich war –, bestand nicht die geringste Chance, Kynestons Mauer zu überwinden. Er würde sich irgendwo auf dem Gelände verstecken müssen, und vermutlich würde die Jagd nach ihm den Ebenbürtigen ein großartiges Freizeitvergnügen bieten. Kynestons Stallungen hielten dafür genügend Pferde und Hunde bereit, und der Hundemaster hätte garantiert seine helle Freude daran.

Nein, der Moment zur Flucht würde kommen, wenn sie erst einmal unterwegs waren. Die Fahrt nach Schottland würde den ganzen Tag dauern. Bestimmt würden sie zwischendurch anhalten. Lukes Hirn lieferte ihm Bilder von Crovan, der in eine Autobahnraststätte stiefelte und herrisch nach Kaffee verlangte. Das würde garantiert für Ablenkung sorgen.

Silyen hatte ihn ermahnt, keinen Fluchtversuch zu unternehmen. Tja, Luke hatte nicht vor, in nächster Zeit irgendwelche Ratschläge von Silyen Jardine zu beherzigen.

Silyens restliche Worte ergaben auch nicht viel Sinn. Der junge Herr hatte einige Fragen, vermutlich im Zusammenhang mit Crovan, bei deren Beantwortung Luke ihm irgendwie helfen sollte? Zu blöd, dass er sie Luke dann nicht gestellt hatte.

Inzwischen hatten sie die Küchentür erreicht – den Lieferanteneingang, an dem Luke nur wenige Tage zuvor gestanden und darüber nachgedacht hatte, ob er sich in einem der Wagen der Ebenbürtigen verstecken und vom Gelände schmuggeln lassen sollte, um zu seinen Freunden in Millmoor zurückzukehren. Zu Doc und Angel. Das Gefühl des Verrats, das er empfunden hatte, als er die wahre Identität der beiden erfuhr, nagte noch immer an ihm.

Als Crovan sich der Tür näherte, riss eine Haussklavin sie für ihn auf. Ein kalter Wind schlug ihnen entgegen, während sie in die Nacht hinaustraten. Luke schauderte, aber das lag nicht einzig an der eisigen Luft. In Crovans Burganlage würde er vermutlich den Rest seines Lebens in einem Verlies verbringen. Ständig kalt, ständig im Dunkeln. Möglicherweise würde er eines Tages mal voller Wehmut an seine Nacht in Kynestons Weinkeller zurückdenken.

Nein, so durfte er nicht denken. Denn sonst war nicht nur sein Körper gefangen, sondern auch sein Geist. Gebrochen und von Angst erfüllt. Er würde da schon irgendwie rauskommen. Er musste es einfach schaffen.

Im Freien öffnete eine weitere Haussklavin die Tür eines glänzenden Fahrzeugs, dessen Motor leise brummte. Crovan stieg bereits auf der anderen Seite ein. Eine dritte Sklavin hielt die Zügel von Silyens schwarzem Pferd, und der junge Herr schwang sich behände in den Sattel, während das Tier schnaubte und mit den Hufen scharrte.

»Steig ein«, fauchte Crovans Stimme aus dem Heck des Fahrzeugs.

»Bitte sag meiner Familie, dass ich sie alle liebhabe«, platzte Luke hervor und schenkte der Sklavin, die ihm die Tür aufhielt, einen flehentlichen Blick. »Sag ihnen, dass es mir leidtut und wir uns wiedersehen werden.«

Die Frau starrte mit ausdrucksloser Miene geradeaus. Falls sie ihn gehört hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Groll kochte in Luke hoch, doch er riss sich zusammen. Die Angst vor den Ebenbürtigen bewirkte, dass die Menschen so eingeschüchtert reagierten. Das hatte Jackson ihm beigebracht.

Jackson. Der selbst ein Ebenbürtiger war.

Luke wusste nicht, ob er ihm jemals verzeihen konnte.

»Bitte«, flehte Luke die Frau ein weiteres Mal an. Dann zog er den Kopf ein und stieg in den Wagen.

Das Fahrzeug fuhr ohne eingeschaltete Scheinwerfer los, da Silyen vor ihnen her ritt und die Umgebung in sanftes Geschick-Licht tauchte. Luke drehte den Kopf, um noch einen letzten Blick auf Kyneston zu werfen. Selbst zu dieser späten Stunde wirkte das Anwesen majestätisch. Licht glühte entlang der Balustrade und ließ die Silhouette der Glocke in der hell erleuchteten Kuppel hervortreten. Auch hinter einigen Fenstern brannten noch Lampen.

Aber Lukes Blick wurde unwiderstehlich von dem goldenen Schein angezogen, der innerhalb des Eisenskeletts des riesigen Ostflügels pulsierte. Luke hatte mitten darin gestanden, als es explodiert war. Und keine zwölf Stunden später hatte er während seines Gerichtsverfahrens erneut darin gestanden. Dieser unfassbare Wiederaufbau des Gebäudes war Silyen Jardines Werk gewesen.

In diesem Augenblick erinnerte Luke sich wieder an Silyens Worte im Weinkeller.

An die Worte, die Luke verdrängt hatte, weil er lieber nicht darüber nachdenken wollte. Wenn du auf einen Fluchtversuch verzichtest, werde ich nicht zulassen, dass er deinen Willen bricht. Jedenfalls nicht so sehr, dass ich den Schaden nicht mehr reparieren kann. Eine Art Versprechen. Allerdings auch eine Drohung. Reparieren. Aber davor: das gewaltsame Brechen seines Willens.

Verstohlen warf Luke einen Blick auf den Mann neben ihm. Crovan starrte aus dem Fenster, von Lukes Anwesenheit und allem anderen scheinbar unberührt.

Luke war das Ganze so leid. Er war es leid, dass die Ebenbürtigen ihn benutzten. Dass er für Jackson nur eine Figur in einem Spiel gewesen war. Dass er für Crovan nur ein Objekt war, das er zerstören würde, und für Silyen ein Ding, das er wieder reparieren würde – jeder mit seinen eigenen, unergründlichen Motiven.

Solange es Ebenbürtige gab, würde er niemals frei sein, würde Großbritannien niemals frei sein. Ein Ende ihrer Herrschaft würde nicht genügen, denn mit solch einer Macht ausgestattet, würden sie – trotz eventueller Rückschläge – letztendlich wieder gewinnen. Und immer wieder.

Sie würden niemals aufhören zu gewinnen.

Luke lehnte sich gegen die Autotür und ballte nutzlos die Fäuste. Verzweiflung würde ihm jetzt auch nicht weiterhelfen.

Als der Wagen gerade zum Stehen kommen wollte, flammte vor ihnen ein blendendes Licht auf, woraufhin der Fahrer fluchte und der Wagen kurz ins Schleudern geriet: Silyen hatte das Tor zum Leben erweckt.

»Steig aus«, befahl Crovan, während er seine langen Beine aus der Tür schwang. Danach drehte er den Kopf und schaute zu Luke in den Wagen. »Gleich wirst du mir gehören, Junge.«

Und dann lächelte er, wirklich und wahrhaftig – das schrecklichste Lächeln, das Luke je gesehen hatte. Seine Beine versagten ihm fast den Dienst, als er ausstieg.

Silyen wartete bereits am Tor, dessen Geschick-Licht in alle Richtungen sprühte, als wäre es aus dem gleichen Material gefertigt wie die Wunderkerzen, die Lukes Mum früher immer für die Bonfire Night gekauft hatte. Woraus bestand dieses Licht? Woher stammte Geschick? Wozu war es wirklich fähig?

»Zeit zum Abschied«, sagte Silyen, dessen bleiches Gesicht im Schein des glühenden Tors grell leuchtete. »Zumindest vorläufig. Ich werde jetzt deine Bindung an Kyneston entfernen. Versuch, dem Drang zu widerstehen, mir einen Kinnhaken zu verpassen, nur weil du jetzt dazu in der Lage bist.«

Irgendetwas tief in Lukes Innerem zerbrach. Er konnte fast hören, wie es knackte. Unwillkürlich musste er an das Vorhängeschloss an Dogs Käfig im Hundezwinger denken … daran, dass Silyen es einfach heruntergepflückt und die zerbrochenen Metallteile auf den Boden hatte fallen lassen.

»Spürst du es?«, fragte Silyen.

Er musterte Luke eindringlich, und dieser erinnerte sich an ihre erste Begegnung, nach der albtraumhaften Fahrt im Laderaum eines Sicherheitstransporters, als er keine Ahnung gehabt hatte, wohin man ihn von Millmoor aus verfrachten würde. Er hatte befürchtet, man würde ihn in ein Hochsicherheitsgefängnis oder Lager für Lebenslängliche bringen. Stattdessen war er in Kyneston gelandet. Damals war er erleichtert gewesen.

»Spürst du es?«, wiederholte Silyen.

Und in diesem Augenblick spürte Luke es.

Das, was Silyen in seinem Inneren zerbrochen hatte – die Sklavenbindung an Kyneston –, war vollkommen unbedeutend im Vergleich zu dem, was sie beide noch immer verband. Luke erinnerte sich wieder an das Gefühl bei ihrer ersten Begegnung. Damals hatte er den Eindruck gehabt, dass der Ebenbürtige ihn auseinandernahm, so wie sein Dad einen Motor zerlegte. Danach hatte Silyen ihn wieder zusammengesetzt, allerdings mit einem zusätzlichen Bauteil, und Luke hatte sich gefühlt, als würde sein gesamtes Inneres wie feiner Sand durch Silyens Finger rinnen.

Luke drehte sich der Magen um. Was war das für eine Verbindung zwischen ihnen?

Als er hochschaute, traf sich sein Blick mit Silyens. Die Augen des Ebenbürtigen waren so schwarz wie in jener ersten Nacht. Doch dieses Mal reflektierten sie nicht das Funkeln der Sterne, sondern den schimmernden Goldschein des Tors. Würde sein überwältigendes Geschick ihn eines Tages von innen verglühen lassen? Und würde Luke mit ihm zusammen verbrennen?

Eine Hand an Lukes Schulter zog ihn herum.

»Fertig?«, fragte Crovan, wobei er Luke ansah, seine Frage aber an Silyen richtete. »Gut. Dann wollen wir mal.«

Auf der anderen Seite des Tors wummerte irgendetwas in der Luft. Luke spürte den Luftdruck der Rotorblätter, als ein Hubschrauber jenseits der Kyneston-Mauer landete.

Also würde man ihn nicht in einem Wagen fortbringen. Und aus einem Hubschrauber konnte man nicht entkommen. Luke mochte zwar verzweifelt sein, aber er war nicht völlig verrückt.

Dann vielleicht in der Sekunde zwischen Verlassen des Tors und Erreichen des Hubschraubers? Angestrengt spähte er durch das glühende Gitterwerk. Seine kurzfristige Arbeit als Landschaftsgärtner verriet ihm, dass Silyen einen Weg eingeschlagen hatte, der von der Straße jenseits der Mauer fortführte, und dass er das Tor an einer Stelle erschaffen hatte, wo das Anwesen an weites Grünland grenzte – besser geeignet für eine Hubschrauberlandung.

»Gib acht, Junge.«

Crovan verpasste Luke eine leichte Ohrfeige. Dann glitten seine Finger tiefer und zeichneten eine Linie quer über Lukes Hals, als würde der Ebenbürtige ihm symbolisch die Kehle aufschlitzen – eine überraschend grobe Drohung.

Im nächsten Moment rang Luke nach Luft, als sich etwas um seinen Hals schlang und sich zuzog. Er riss die Hände hoch und versuchte, es wegzukratzen. Aber er konnte seine Finger nicht darunterschieben – das Ding lag zu flach und glatt auf seiner Haut.

Es handelte sich um ein goldenes Halsband.

Panisch schaute Luke zu Silyen und sandte ihm einen stummen Hilferuf zu. Doch der Ebenbürtige grinste nur.

Und dann schwang Kynestons Tor auf.

2Abi

Jenner hatte die unerträgliche Nachricht überbracht, dass Luke bereits fort war, und ihnen anschließend die kaum weniger schreckliche Tatsache eröffnet, dass der Rest der Familie aufgeteilt werden würde: Daisy sollte in Kyneston bleiben, während man Abi und ihre Eltern nach Millmoor bringen würde.

In diesem Moment war Abi sofort klar geworden, was sie zu tun hatte. Auf der Fahrt nach Millmoor hatte sie einen Anfall von Reisekrankheit vorgetäuscht, damit der Wagen am Straßenrand anhielt – und dann hatte sie sich in die Büsche geschlagen und war geflohen.

Das lag nun fast eine Woche zurück. Jetzt stand sie an einem Strand, während die Lichter mehrerer Bars und Restaurants helle Streifen auf das aufgewühlte Meer zeichneten. Abi atmete die salzig-scharfe Luft ein. Sie war ihrem Ziel so nahe. Irgendwo da draußen lag die Insel mit der Burg Highwithel.

Meilyr Trescos Stammsitz – der vom reichen Ebenbürtigen zum Revoluzzer gewandelte junge Erbe von Highwithel, der Abis Bruder auf unsägliche Weise hintergangen hatte: Er hatte von Lukes Verstand und seinem Körper Besitz ergriffen, um Kanzler Zelston zu töten.

Oder war das doch das Werk eines noch Unbekannten gewesen und Meilyr stattdessen der Freund und Verteidiger ihres Bruders? Falls das stimmte, hatte er – im Versuch, Luke vor den grauenhaften Folgen einer Verurteilung zu bewahren – dafür einen schrecklichen Preis gezahlt: den Verlust seines Geschicks.

Welche dieser Möglichkeiten entsprach der Wahrheit? Sie würde es bald herausfinden.

Abi stapfte spritzend ins Meer und schnappte nach Luft. Eisiges Wasser lief in ihre Schuhe, durchnässte ihre Jeans und machte jeden ihrer Schritte bleischwer. Grober Sand und kleine Kiesel verrutschten unter ihren Füßen.

Sie musste es einfach herausfinden, denn durch ihre Flucht hierher hatte sie alles zurückgelassen, was ihr etwas bedeutete. Ihre kleine Schwester, in der Obhut des launischen Kyneston-Erben Gavar Jardine. Ihre Eltern, die inzwischen in der Sklavenstadt Millmoor sein mussten und bestimmt außer sich waren vor Sorge über die Trennung von ihren drei Kindern. Der junge Mann, den sie vermutlich liebte, sofern sie sich diese Gefühle gestattete – der geschicklose zweite Sohn von Englands mächtigster Familie: Jenner Jardine.

Obwohl es Abi als das geringste Opfer in dieser abscheulichen Aufzählung erschien, hatte sie schließlich auch die Zukunft aufgegeben, von der sie selbst immer geträumt hatte. Sie war jetzt eine flüchtige Sklavin. Jenseits von Recht und Ordnung. Welches Schicksal ihr auch bevorstehen mochte, es hatte vermutlich sehr wenig mit der Anstellung als Krankenhausärztin und dem adretten Reihenhäuschen samt Ehemann und Kindern zu tun, das sie sich immer ausgemalt hatte.

Diese Welt war viel grausamer, als sie es sich vor fast einem Jahr, beim Ausfüllen des Antrags für ihre Familie – zur Ableistung ihrer Sklavenzeit auf Kyneston –, hätte vorstellen können. Darüber hinaus hatte die Aufdeckung der Wahrheit Abi und die Menschen, die sie liebte, so viel gekostet.

Unbeholfen hievte sie ihre langen Beine in das Boot, das unter ihr hin und her schaukelte.

Sie musste Luke retten. Und sie würde dafür sorgen, dass Meilyr ihr dabei helfen würde.

Das Schwanken des flachen Boots hatte etwas nachgelassen. Ihre Jeans war bis zum Oberschenkel durchnässt, aber Abi machte sich keine Sorgen, dass sie sich erkälten könnte. Sie hatte sich eine warme Segeljacke gekauft, und außerdem würde ihr Körper damit beschäftigt sein, Aminosäuren in einen Adrenalinstoß umzusetzen, um pulsierendes Blut durch ihre Adern zu jagen.

Sie erinnerte sich an das Medizinlehrbuch, in dem sie diese Information gelesen hatte. Als Ärztin hätte sie vielen Menschen helfen können.

Doch Luke hatte deutlich größere Träume gehegt.

Er hatte gegen die Sklavenzeit und gegen die Ebenbürtigen gekämpft. Wenn man bedachte, dass sie sich während der Aufstände in Millmoor Sorgen um seine Sicherheit gemacht hatte, während er einer der Unruhestifter gewesen war! Sobald sie ihren kleinen Bruder das nächste Mal zu Gesicht bekam, würde sie ihm ordentlich die Leviten lesen.

Denn sie weigerte sich, den Gedanken zu akzeptieren, dass es möglicherweise kein nächstes Mal geben würde.

Abi fischte den Schlüssel für den Außenbordmotor aus ihrer Jeanstasche und fummelte einen Moment damit herum, bis er ins Schloss passte. Die Tatsache, dass sie mit einem Automechaniker als Dad groß geworden war, half ihr dabei nicht unbedingt. Aber ihre Fähigkeiten wuchsen von Minute zu Minute: zuerst Diebstahl und Flucht und jetzt Einbruch. Sie hatte den Schlüssel erst eine Stunde zuvor in ihren Besitz gebracht – im Büro des kleinen Veranstalters, der Robbenbeobachtungstouren anbot, unten an der Mole.

Stockend erwachte der Außenborder zum Leben. Abi legte die Hand auf die Pinne und drehte sie versuchsweise. Mit dem Ergebnis zufrieden, heftete sie den Blick auf die rote und die grüne Signallampe, die den Ausgang von Ennors Hafen markierten, und steuerte darauf zu.

Das hier war ihr zweiter Versuch, Highwithel zu erreichen, Großbritanniens abgelegenstes Ebenbürtigen-Anwesen im Zentrum der Scilly-Inseln vor der Südwestküste Englands. Überhaupt bis hierherzukommen hatte schon ziemlich lange gedauert.

Nach der Flucht aus dem Wagen des Arbeitszuteilungsamtes, der ihre Eltern und sie nach Millmoor bringen sollte, war Abi per Anhalter nach Exeter gefahren. Von dort aus hatte sie den Zug nach Penzance und die Fähre nach Ennor genommen, zur größten der Scilly-Inseln. Aber hier war sie nicht weitergekommen.

Ennor war ein beliebter Touristenort. Da nur diejenigen ins Ausland reisen durften, die ihre Sklavenzeit bereits absolviert hatten, stellten die warmen, windgepeitschten Scilly-Inseln so ziemlich das exotischste und am weitesten entfernte Urlaubsziel dar, das Großbritannien zu bieten hatte.

Deshalb hatte Abi noch am Tag ihrer Ankunft versucht, eine ahnungslose Touristin zu spielen, die für ihr Leben gern die Burg besichtigen wollte. Doch diese Bitte war von den örtlichen Wassertaxis höflich abgelehnt worden. Abi spürte, dass die Insulaner ihren Herren treu ergeben waren. Der Name Tresco tauchte überall auf: nicht nur auf dem Rumpf der kleinen Fischerboote, sondern auch auf dem im Wind schaukelnden Aushängeschild des Pubs. Die Inselbewohner würden die Geheimnisse des Anwesens nicht gegenüber irgendwelchen Fremden preisgeben.

Abi musste sich etwas einfallen lassen. Der Archipel umfasste 146 Inseln, von denen aber lediglich 145 auf der Karte eingetragen waren, die sie aus der Schublade in Kynestons Verwaltungsbüro gestohlen hatte. Und keine der zahlreichen Inseln trug den Namen Highwithel. In der örtlichen Bibliothek hatte sie eine Luftaufnahme der Inseln aufgetrieben und dieses Foto mit der Karte verglichen. Die Angaben stimmten überein. Also waren sowohl das Luftbild als auch die Karte nachträglich bearbeitet worden – oder Highwithel tauchte auf Fotografien einfach nicht auf.

Also versuchte Abi, das Problem anders anzugehen. Die Ebenbürtigen würden irgendwann beliefert werden müssen, mit Lebensmitteln und all den kleinen Luxusgütern, die eine aristokratische Familie schätzte.

Ennor war ein freundlicher Ort mit einer entspannten Atmosphäre. Könnte ganz Großbritannien so aussehen, wenn die örtlichen Lords gütig statt grausam wären? Inmitten der bunten Einkaufsstraße stach ein Geschäft heraus: ein piekfeiner Delikatessenladen, in dessen Regalen Abi ein paar extrem teure Markenprodukte aus London entdeckte, die auch die Jardines bevorzugt hatten. Die einzigen Gewöhnlichen, die sich diese Dinge leisten konnten, waren diejenigen, die ihre Sklavenzeit früh abgedient und danach Karriere gemacht hatten. Abi ging jede Wette ein, dass die Trescos ihre Lieferungen von diesem Geschäft bezogen.

Auf den ersten Blick konnte Abi nirgends ein Auftragsbuch erkennen – der Laden verfügte wahrscheinlich über ein elektronisches Bestellsystem. Aber als sie um die Straßenzeile herumgelaufen war und sich der Hintertür des Geschäfts näherte, sah sie, dass mehrere Warenkisten zum Hafen hinuntertransportiert wurden, um per Boot zugestellt zu werden. Jede der Kisten war ordentlich mit Namen und Adresse des Kunden versehen. Bestimmt würde ihre Intuition sie nicht täuschen. Also brauchte sie die Lieferungen nur sorgfältig im Auge zu behalten.

Die nächsten beiden Tage verbrachte sie auf einer Bank in der Nähe der Hafenmole, während ihr Verstand fieberhaft die anderen Möglichkeiten durchging. Sollte sie einfach einen Brief schreiben? Nein. Sie musste Meilyr Tresco direkt in die Augen schauen können, wenn sie von ihm Antworten zu Lukes Schicksal verlangte. Oder sollte sie vielleicht Jenner anrufen? Sie hatte einen Teil des Geldes, das sie aus Kynestons Verwaltungskasse entwendet hatte, zum Kauf eines billigen Handys genutzt, und ihre Finger schwebten ein paarmal über dem Tastenfeld, um die Nummer des Verwaltungsbüros zu wählen. Doch Abi war sich nicht sicher, inwiefern Jenner ihr helfen konnte, und sie wollte nicht riskieren, ihn in die Sache hineinzuziehen.

Am dritten Tag entdeckte sie endlich eine große Lieferung an der Mole, deren Kisten diskret mit »TRESCO/Highwithel« beschriftet waren.

Abi sprintete um den Hafen herum und zum höchsten Punkt der Insel, hinauf zu einer Kapelle, in der die Fischerfamilien früher während eines Sturms besorgt auf die Rückkehr ihrer Lieben gewartet hatten. Sie richtete sich auf, ignorierte das Seitenstechen und fürchtete einen schrecklichen Moment, dass sie das Boot bereits aus der Sicht verloren hatte. Doch da war es, weit draußen, vor Ennor.

Nachdem es schließlich um eine kleine Insel im Westen gebogen war und dahinter verschwand, hatte Abi eine klare Vorstellung von seiner eingeschlagenen Richtung. Ihre Landkarte zeigte, dass diese Route zu drei Gebieten im scheinbar offenen Meer führte, die sie bereits als mögliche Orte für eine versteckte Insel ausgemacht hatte.

Ihr erster Versuch in der Nacht zuvor hatte nichts gebracht. Also saß sie jetzt ein weiteres Mal in einem »geliehenen« Boot und steuerte das zweite Gebiet an.

Als sie über die Schulter schaute, die Hand fest auf dem tuckernden Außenborder, konnte sie die roten und grünen Hafenlichter nicht mehr erkennen. Der Wind frischte auf, während sie eine westliche Richtung einschlug, und wühlte das Meer auf, so dass sich das Boot schaukelnd durch die Wellen pflügte.

Würde sie kentern und ertrinken? Oder würde dieses kleine Wasserfahrzeug auf den Felsen zerschellen und sie mit in den Untergang reißen? Vielleicht wurde sie aber auch von einer Strömung erfasst, die sie weit auf die offene See hinaustrieb, wo sie schutzlos den Elementen ausgesetzt war und verdursten würde. In dem Fall würde sie Luke nicht retten können. Möglicherweise starb er in Crovans Verlies, und der Kummer über seinen Tod würde ihre Eltern umbringen. Und dann wäre Daisy ganz allein auf dieser Welt.

Hör auf damit, ermahnte sie sich entschlossen. So darfst du nicht denken.

Abi berührte kurz die Rettungsweste, die sie über der Segeljacke trug, tastete anschließend nach der Plastikröhre der Signalfackel in ihrer Tasche und tätschelte die Gezeitentabelle und Seekarte in ihrer Innentasche. Seit ihrer Flucht vor einer Woche hatte sie sich schon mehrfach bei diesen Handlungen ertappt – kleine Rituale zur Beruhigung ihrer Nerven. Sie wusste, dass es sich dabei um eine Stressreaktion auf die traumatischen Ereignisse in Kyneston handelte. Kein besonders gesundes Verhalten, aber es fiel ihr schwer, damit aufzuhören, zumal sie damit die Stimmen in ihrem Kopf zum Schweigen brachte.

Stimmen, die darauf beharrten, dass die ganze Geschichte nur ihre Schuld war. Sie hatte ihren Eltern versichert, dass Luke und Daisy einwilligen würden, mit ihnen gemeinsam ihre Sklavenzeit zu absolvieren. Sie hatte vorgeschlagen, sich für ein Anwesen zu bewerben. Sie hatte es nicht geschafft, Luke aus Millmoor herauszuholen, bevor er sich auf Meilyr Tresco und dessen illusorische Ideen einlassen konnte.

Natürlich wusste sie, dass diese Gedanken nicht ganz rational waren. Aber trotzdem hatte sie das Gefühl, als wäre es ihre Verantwortung, alles wieder geradezubiegen. Sie würde alles tun, was dafür erforderlich war – einschließlich ein Boot, das kaum größer als eine Badewanne war, durch die Nacht zu steuern, auf der Suche nach einer unsichtbaren Burg.

Inzwischen hatte sie Dutzende Inseln hinter sich gelassen, deren Klippen hell schimmerten, während sich die felsige Küste in der Dunkelheit darunter verlor. Wolken zogen über das Antlitz des abnehmenden Monds. Sein Licht war heute schwächer als gestern. Morgen würde es noch dunkler sein.

Endlich passierte das Boot die letzte bewohnte Insel auf der Karte. Die Fenster der einzigen Farm leuchteten als gelbe Rechtecke in der Nacht, wie goldene Portale zu einem Geschick-Reich. Bis hierhin war sie gestern gekommen, bevor sie weiter nach Westen gefahren war. Heute Nacht würde sie sich nach Norden wenden.

Ihre Hand auf der Pinne war vor Kälte inzwischen steif, doch sie drehte den Außenborder und spuckte mehrere Haarsträhnen aus, als der Wind ihr den zerzausten Zopf ins Gesicht peitschte. Dann gab sie Gas und fuhr so schnell, wie sie es sich zutraute. Das Boot hüpfte wie ein Stein über die Meeresoberfläche. Luke hatte immer ein Händchen dafür gehabt, Steine übers Wasser zu hüpfen zu lassen – bestimmt acht- oder neunmal hintereinander.

Ich werde dich zurückholen, Bruderherz, schwor sie sich.

Gischt spritzte ihr ins Gesicht. Aber das war auch das Einzige, das in ihren Augen brannte, das Einzige, was sie schmecken konnte, das Einzige, das über ihre Wangen zu ihren gesprungenen Lippen hinunterlief.

Dann flaute der Wind ab. Die Gischt verschwand.

Der Außenborder erstarb.

Das Boot fuhr nicht mehr weiter.

Hatte sie den Motor durch zu starkes Beschleunigen ruiniert? Wie hatte sie nur so dumm sein können?

Abi beugte sich über den Außenborder, drehte den Schlüssel ergebnislos hin und her, zog ihn aus dem Schloss und versuchte es danach erneut. Nichts. Das Meer schwappte bedenklich unter dem zerbrechlichen Rumpf des kleinen Boots.

Im nächsten Moment fiel Abi gegen den Motor, weil sich das Boot plötzlich in Bewegung setzte. Reglos lag sie da und umklammerte das Dollbord, während ihr bewusst wurde, was das bedeutete.

Das Boot wurde mit Hilfe von Geschick bewegt.

Der Himmel und das Meer vor ihr wirkten schwarz. Abi schaute über die Schulter. Die Lichter des Farmhauses waren verschwunden. Sie blickte nach oben.

Der Mond war verschwunden. Die Sterne ebenfalls. Um sie herum herrschte nur tiefe Finsternis.

Schließlich entdeckte sie eine Insel, bevor ihre Angst vollends von ihr Besitz ergriff. Abis Herz setzte einen Schlag aus. Und danach noch einen.

Highwithel ragte, dem Namen entsprechend, hoch auf. Der Mond war wieder zu sehen, und in seinem schwachen Schein leuchtete die Insel elfenbeinfarben, durchsetzt von schwarzen Schatten. Ihre Seiten bewegten sich unheimlich, wie die Flanken eines Lebewesens. Abis stockendes Herz erwachte panisch aus seiner Starre, als die Felsen in Hunderten Bruchstücken auseinanderplatzten. Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder die schreckliche Explosion von Kynestons Ballsaal … bis sie erkannte, dass es sich um Seevögel handelte. Eine gewaltige Schar stob auf und kreiste kreischend über der Insel.

Auf der Kuppe der Insel lag eine Burg, die nahtlos aus den Felsen aufragte: hohe Mauern, von mächtigen Strebepfeilern gestützt. Zwar konnte Abi keine Zinnen entdecken, doch mehrere Ecktürme überragten die Mauer. Ob es sich dabei einst um Wachtürme gehandelt hatte?

Das Boot bewegte sich mittlerweile mit gleichmäßiger Geschwindigkeit über das Wasser. Vom Meer ging jetzt keine Gefahr mehr aus.

Aber was war mit der Insel? Wie würde der gebrochene Erbe von Highwithel sie empfangen?

Die Küste kam näher. Abi kniete aufrecht im Boot und hielt eine Hand schützend vor die Augen, als zwei Lichter vor ihr blendend aufleuchteten: eine glühende goldene Kugel, bei der es sich nur um Geschick-Licht handeln konnte, und eine leuchtstarke Taschenlampe mit einem grellweißen Lichtstrahl.

Vor ihr lag das Ende der Mole, auf der drei Personen standen: eine hochgewachsene, schlanke Frau – das Geschick-Licht in ihrer Hand beleuchtete ihre weißblonden Haare und ihre eleganten Züge. Eine Ebenbürtige. Daneben sah Abi ein dürres Kind mit wilden Haaren, dessen Gesicht vom Licht der Taschenlampe verdeckt wurde. Und zwischen den beiden stand Meilyr Tresco.

Die Frau musste Bodina Matravers sein, Mistress Boudas Schwester. Abi erinnerte sich daran, wie Bodina und Meilyr Seite an Seite Kynestons Ballsaal betreten hatten. Danach hatte Abi die junge Ebenbürtige während des Chaos nach der Explosion erneut gesehen. Sie hatte sich über einen Sklaven gebeugt, der unter einem Stahlträger lag. In ihrem paillettenbesetzten Kleid hatte sie wie ein Engel gewirkt, der seine übernatürlichen Kräfte dazu nutzte, den Mann zu befreien und zu heilen.

Waren diese beiden Ebenbürtigen Lukes Verbündete?

Oder seine Verräter?

Das Boot glitt auf die Mole zu. Das Kind legte die Taschenlampe beiseite, kniete sich hin und warf Abi ein Seil zu. Warum machte das nicht Master Meilyr?, fragte Abi sich. Das hier war schließlich seine Insel. Dachte er vielleicht, dass das unter seiner Würde war? Eine weitere Aufgabe, die er lieber einem Sklaven überließ – genau wie die Ermordung des Kanzlers?

Abi befestigte das Boot, schaute auf der Suche nach einer Leiter in die Höhe und blickte stattdessen dem jungen Ebenbürtigen direkt ins Gesicht. Weder das warme Geschick-Licht der Frau neben ihm noch sein ordentlich gestutzter Bart konnten seine gramzerfurchten Gesichtszüge kaschieren.

Zur Vorbereitung auf ihr Medizinstudium hatte Abi ehrenamtlich im Krankenhaus ihrer Mutter ausgeholfen. Dort hatte sie ähnliche Gesichter gesehen – auf den Stationen, wo Pflegepersonal und Besucher nur mit gedämpfter Stimme sprachen und wo man manchmal ein unterdrücktes Schluchzen aus einem Zimmer hörte. Der Ebenbürtige stützte sich schwer auf einen Stock.

»Abigail Hadley«, sagte er mit heiserer Stimme, »ich bin Meilyr Tresco. Dein Bruder hat mich als ›Doc Jackson‹ gekannt. Willkommen auf Highwithel.«

Abi stemmte ihre Füße gegen die Bootswände und richtete sich auf.

»Ich bin nicht hergekommen, um der Familie Tresco einen Freundschaftsbesuch abzustatten«, sagte sie. »Ich bin nur aus einem einzigen Grund hier: Ich werde meinen Bruder zurückholen.«

Tresco reichte dem Sklavenmädchen seinen Stock. Anschließend beugte er sich steif zu Abi hinunter und streckte ihr seine Hand entgegen, während Bodina seinen Arm umklammerte, um ihm Halt zu geben.

»Dann sind wir schon zwei«, sagte er.

Abi sah den gequälten Ausdruck, der über Trescos Gesicht zuckte, als er ihr über die letzte Stufe der glitschigen Metallleiter auf die Mole hinaufhalf. Sein Duell mit Crovan hatte mehr zerstört als nur sein Geschick.

Tresco führte sie zu einer rutschigen Steintreppe, deren Stufen in den Fels gehauen waren. Hier erlebte Abi eine Überraschung. Das Kind mit der Taschenlampe war gar keine Sklavin – oder nicht mehr. Sie stellte sich selbst als Renie vor, eine Freundin von Luke, den sie in Millmoor kennengelernt hatte.

»Ich geh mit Abi schon mal vor«, wandte Renie sich an die Ebenbürtigen, ohne eine Spur von Ehrerbietung in der Stimme. »Dann kann ich ihr erklären, wer wir alle sind.«

Bodina Matravers nickte; ihre Hand stützte noch immer Meilyrs Arm.

Während Renie und Abi die Felstreppe hinaufstiegen, setzte das Mädchen zu seinem Bericht an. Das Ganze hatte als eine Gruppe angefangen, die sich regelmäßig getroffen hatte, erzählte sie. Der »Millmoorer Gesellschafts- und Spieleverein«. Bodina Matravers hatte sie alle aus der Sklavenstadt geschmuggelt, als man Luke in Crovans Gewahrsam gegeben hatte.

»Wir hatten keinen Schimmer, dass sie eine Ebenbürtige ist«, erklärte Renie. »Das gilt auch für Jackson. Ich meine, Meilyr. Es hat ’ne Weile gedauert, bis wir uns daran gewöhnt hatten.

Aber Dina hat jeden Einzelnen von uns gesucht und gefunden. Sie hat uns erzählt, dass Luke verhaftet worden war und von einem der Ebenbürtigen verhört werden würde – was bedeutete, dass der Verein auffliegen konnte, selbst wenn Luke wie ein Grab schweigen würde. Dina hat uns zu einem Transporter gebracht und dann einfach aus Millmoor hinausgefahren, während die Sicherheitsleute an den Kontrollpunkten in die andere Richtung geguckt haben. Das muss an Dinas Geschick gelegen haben«, fügte Renie nachdenklich hinzu. »Ich hab mich immer gefragt, wie sie das hingekriegt hat. Ich dachte, es würde daran liegen, dass sie hübsch ist.«

Das Mädchen stieß ein leises Lachen aus, das eher zu jemandem gepasst hätte, der deutlich älter war als sie. Renie hatte eine Begabung fürs Geschichtenerzählen, und Abi hörte fasziniert zu, während sie ihr erzählte, dass der Verein anfangs nur ein paar gute Werke in der schrecklichen Sklavenstadt hatte tun wollen. Abi spürte, wie sie vor Stolz errötete, als Renie von ihrer ersten Begegnung mit Luke berichtete.

»Er hat mich vor ein paar wirklich üblen Typen gerettet, und ich hab mich dafür noch gar nicht richtig bedankt. Aber das werd ich nachholen. Keine Sorge, Abi: Wir sind genauso fest entschlossen, ihn zurückzuholen, wie du. Der Doc – Meilyr – wird keine Ruhe geben, bis Luke wieder bei uns ist.«

Nachdem der Erbe von Highwithel von der zum Scheitern verurteilten Kanzlervorlage zur Abschaffung der Sklavenzeit erfahren hatte, hatten sich die Aktivitäten des Vereins verändert. Sie hatten Sabotageakte gegen Millmoors Verwaltung durchgeführt. Schließlich war es im Januar zum Aufstand gekommen.

»Luke war daran beteiligt?« Abi konnte es noch immer kaum glauben.

»Beteiligt? Er hat den besten Teil vorgeschlagen: die Stilllegung des Maschinenparks. Dieser Junge ist echt gut. Wenn irgendetwas getan werden muss, sagt er das – und macht sich später Gedanken darüber, wie das Ganze laufen soll.«

Das klang tatsächlich nach Luke, dachte Abi und hielt sich an den Felsen fest, als ihre Hacke von der feuchten Steinstufe abrutschte. Über ihr kreisten und kreischten die Seevögel. Der Gedanke an das Leben, das ihr Bruder in Millmoor geführt hatte, versetzte ihr einen Stich ins Herz. Er hatte all diesen Menschen so nahegestanden – Menschen, die ihr vollkommen fremd waren.

Wenn Luke und sie während seiner Anwesenheit auf Kyneston doch bloß mehr geredet hätten! Aber er hatte all das für sich behalten. Vielleicht, weil er gewusst hatte, wie sehr sie diese Aktivitäten missbilligt hätte? Oder lag es daran, dass das Attentat auf Kanzler Zelston bereits damals in der Planung gewesen war und Luke sich freiwillig daran beteiligt hatte?

Das war das dritte Szenario in dieser ganzen Geschichte – das Szenario, über das Abi nicht hatte nachdenken wollen. Möglicherweise war Luke von Meilyr Tresco ausgenutzt worden. Oder von jemand völlig anderem.

Oder er hatte sich freiwillig dafür gemeldet.

Nein. Abi konnte sich gut vorstellen, dass ihr Bruder sich an allem möglichen Ärger beteiligte – sogar an diesen Gesetzesverstößen, von denen Renie ihr erzählt hatte. Aber einfach so einen Mann zu erschießen? Einen Mann, der nichts verbrochen hatte, der nur die Gallionsfigur des Geschick-Regimes war? Der sogar selbst den Vorschlag zur Abschaffung der Sklavenzeit gemacht hatte? Nein, das hätte Luke niemals freiwillig getan – das wusste Abi genau.

Inzwischen befanden sie sich schwindelerregend hoch über dem Meer. Abi blieb kurz stehen, um nach Luft zu schnappen, und schaute nach unten. Keine gute Idee, da die gähnende Dunkelheit dafür sorgte, dass sich ihr der Kopf drehte. Der goldene Schein des Geschick-Lichts war weit unter ihnen. Meilyr Tresco hatte offenbar größte Mühe, die Stufen zu erklimmen.

»Was ist mit ihm los?«, fragte Abi, während sie beobachtete, wie er quälend langsam nach oben kletterte. »Ich meine, ich weiß zwar von der Geschichte mit seinem Geschick, weil ich zu der Zeit selbst auf Kyneston war, aber hier geht es doch bloß darum, eine Treppe hinaufzusteigen. Dafür braucht man schließlich kein Geschick.«

Renie verzog das kleine, verhärmte Gesicht. Ihr lag wirklich sehr viel an Meilyr, erkannte Abi – was für den Ebenbürtigen sprach. Abi war allerdings nach wie vor entschlossen, sich ihre eigene Meinung zu bilden.

»Er hat Schmerzen«, antwortete Renie. »Schreckliche Schmerzen, die einfach nicht aufhören. Das hat Dina zumindest gesagt. Sie hat versucht, ihm mit ihrem Geschick zu helfen, genau wie der Rest der Familie. Jackson – Meilyr – meint, er wäre wie ein undichter Eimer. Er kann förmlich spüren, wie Dina ihr Geschick in seinen Körper strömen lässt. Aber es fließt sofort wieder aus ihm heraus.«

Während Abi und Renie nach unten schauten, setzte sich Bodinas sanftes Geschick-Licht plötzlich in Bewegung und kam rasch auf sie zu. Die Ebenbürtige nahm die Stufen schneller, als jeder normale Mensch es gekonnt hätte, und war schon bald bei ihnen, nicht im Geringsten außer Atem.

»Lauft schon vor«, sagte sie. »Ich werde ihn tragen müssen und möchte ihm dabei etwas Privatsphäre gönnen.«

»Ihn tragen?«, fragte Abi ungläubig. Doch dann erinnerte sie sich wieder an den Stahlträger. Dieses schlanke Mädchen konnte vermutlich ein Elefantenjunges tragen, wenn es sein musste.

»Er wird heute Abend auch nicht mehr mit dir reden können, wofür er sich entschuldigen möchte«, fuhr Dina fort. »Im Schlaftrakt müsste noch ein Gästezimmer frei sein, in der Nähe der anderen. Renie kann es dir zeigen. Auch du bist bestimmt sehr müde.«

Ihre letzten Worte klangen eher nach einer Anweisung als nach einer Frage. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und lief die Stufen wieder hinunter.

Abi murrte innerlich. Allerdings hatte Dina recht: Sie war tatsächlich erschöpft. Während der vergangenen Woche hatte sie vor Sorge um Luke, ihre Eltern und Daisy kaum geschlafen. Außerdem hatte sie ständig mit einem Ohr auf Sirenen gehorcht: Sie hatte damit gerechnet, dass die Polizei jeden Moment in ihr kleines Hotel in Ennor stürmen würde, wo sie unter falschem Namen eingecheckt hatte.

Aber sie hatte es bis hierher geschafft. Jetzt konnte sie sich ausruhen, wenigstens eine Nacht lang.

Sie folgte Renie die letzten Spitzkehren der Felstreppe hinauf und dann in die große, dunkle Eingangshalle der Burg. Die Müdigkeit ließ jeden ihrer Schritte schwer werden. Das Mädchen führte Abi durch ein Labyrinth enger Korridore, bis sie schließlich eine Tür aufdrückte. Das Licht ihrer Taschenlampe fiel auf ein schmales Bett mit einer dicken Wolldecke.

»Wie wär’s mit diesem Zimmer?«, meinte Renie. »Meins ist direkt gegenüber.« Das Mädchen schaute Abi in die Augen; der Ausdruck auf ihrem Gassenkindgesicht ließ sie deutlich älter erscheinen. »Gönn dir eine Mütze Schlaf. Und quäl dich nicht mit Schuldgefühlen. Du brauchst all deine Kräfte für Luke.«

»Danke«, sagte Abi, betrat den Raum und schloss dankbar die Tür. Sie hatte kaum ihre Kleidung abgelegt, als ihr Kopf auch schon auf das Kissen sank und sie zum ersten Mal seit Tagen tief und fest schlief.

ı

Als sie aufwachte, war es bereits hell. Sie war sich nicht sicher, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte – irgendein weit entfernter Lärm. Kreischende Seevögel vielleicht oder Wellen, die gegen die Felsen in der Tiefe gekracht waren.

Einen Moment lang lag Abi reglos da und sammelte ihre Gedanken. Heute würde sie herausfinden, wer tatsächlich für Zelstons Tod verantwortlich war. Und ob Meilyr Tresco ihr helfen würde, Luke zu retten. Seine Worte auf der Mole am Abend zuvor waren zumindest vielversprechend gewesen.

Zum ersten Mal seit einer Woche gestattete Abi sich einen Funken Hoffnung.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Hastig setzte sie sich auf und zog die Bettdecke hoch.

»Abi?«

Sie kannte diese Stimme.

Aber das konnte einfach nicht sein. Er war doch in Kyneston. Woher sollte er wissen, dass sie hier auf Highwithel war? Und wie sollte er hergekommen sein?

»Abi, ich bin’s. Darf ich reinkommen?«

»Ja!«, quietschte sie, sprang dann aus dem Bett und zog den Saum ihres T-Shirts herunter.

Im nächsten Augenblick stürmte Jenner durch die Tür und riss sie in seine Arme. Er hob sie hoch und wirbelte sie herum. Ihr Kopf drehte sich nach wie vor, als er sie schließlich absetzte, denn jetzt küsste er sie, als wäre er davon überzeugt gewesen, dass er sie nie wiedersehen würde.

Und Abi erwiderte den Kuss, weil auch sie nicht damit gerechnet hätte, ihm noch einmal zu begegnen.

Wie konnten die Leute nur behaupten, dass dieser Junge kein Geschick besaß? Seine Hände brannten förmlich auf ihrer Haut, als bestünden sie aus goldenem Feuer. Sein Griff um ihre Hüften war so leidenschaftlich, dass es fast schmerzte.

Vielleicht hatte sie ja doch nicht alles verloren. Nicht alles.

»Woher hast du gewusst, dass ich hier bin?«, fragte sie, als sie sich einen Moment lang voneinander lösten und sich ansahen. »Wie bist du hergekommen?«

Jenner legte den Kopf auf die Seite, und das einfallende Sonnenlicht ließ seine Sommersprossen und kupferroten Jardine-Haare aufleuchten.

»Die Landkarte hat mich darauf gebracht«, erklärte er lächelnd. »In dem Moment, als ich von deiner Flucht aus dem Wagen erfuhr, habe ich mich daran erinnert, dass du bei der Schublade mit den Landkarten gestanden hast. Und als ich nachgesehen habe, ist mir aufgefallen, dass die Karte der Scilly-Inseln fehlte. Daraufhin habe ich Armeria Tresco kontaktiert, um sie vorzuwarnen, dass du möglicherweise bei ihr auftauchen würdest.

Nach den ganzen Ereignissen war zu Hause wahnsinnig viel zu tun. Aber ich bin so schnell wie möglich aufgebrochen, damit ich in der Nähe sein konnte. Meine Familie denkt, ich würde eine Verwaltungsreise zu einigen unserer Besitztümer machen. Dina hat mich gestern Abend angerufen und mir mitgeteilt, dass du hier bist. Also bin ich zur Küste gefahren, wo sie mich heute Morgen mit dem Hubschrauber abgeholt hat.«

Die Hubschrauberlandung. Dadurch war sie geweckt worden.

»Au!« Jenner rieb sich den Arm, als Abi ihm einen Hieb verpasste. »Wofür war das denn?«

»Dafür, dass du mich hättest mitnehmen können«, schimpfte sie, nachdem sie ihm zuerst einen Entschuldigungskuss gegeben hatte. »Gib mir ein paar Minuten, damit ich mich anziehen kann. Und dann sollten wir herausfinden, wie unsere Gastgeber mir bei der Rettung meines Bruders helfen wollen.«

3Luke

Als Luke die Augen öffnete, leuchtete die Welt so hell wie Geschick-Licht – fast so, als stünde das Zimmer in Flammen.

Mit einem Ruck setzte er sich auf.

Der Raum um ihn herum war nicht nur blendend grell, er vibrierte auch. Nachdem seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, sah er das Innere eines Hubschraubers, und die Erinnerungen kehrten schlagartig zurück: der Abschied von Kyneston; das Tor.

Das Halsband.

Seine Finger tasteten nach seiner Kehle und fanden es: ein flaches Band, warm und glatt wie Haut.

Luke schaute hoch. Ihm gegenüber saß Arailt Crovan und musterte ihn. Seine Augen waren zwar hinter einer Nickelbrille verborgen, aber sein auf die Seite gelegter Kopf erinnerte Luke an einen Vogel, der einen Wurm inspizierte.

Crovan war jedoch nicht die Quelle des goldenen Lichts; diese lag jenseits des Hubschraubers. Luke warf dem Ebenbürtigen einen kurzen Blick zu, bevor er sich vorbeugte, bis sich sein Sicherheitsgurt spannte, und aus dem Fenster spähte.

Draußen erwartete ihn ein glitzernder Sonnenaufgang von solch überwältigender Schönheit, dass es ihm den Atem verschlug.

Während seiner Kindheit hatten seine Familie und er die Sommerferien oft in den Moorlandschaften des Nationalparks North York Moors oder in den sanften Hügeln des Peak District verbracht. Natürlich hatten sie keine Fernreisen machen können, weil sie ihre Sklavenzeit noch nicht abgedient hatten. Doch das hatte Luke nicht gestört. Begeistert hatte er sich Wettrennen mit Abi zum windigen Gipfel irgendeines Berges geliefert oder Daisy dabei geholfen, die aufeinandergestapelten Steine der Wegzeichen zu zählen.

Aber das, was er jenseits der Fensterscheibe entdeckte, war atemberaubender als alles, was er je gesehen hatte. In weiter Ferne glitzerte das Meer. Entlang des Horizonts erstreckte sich eine Insel, deren Hügelkette in der aufgehenden Sonne schimmerte.

Weiter im Inland leuchtete eine goldene Wasserfläche – ein See. Die schwarze Silhouette der Burg in der Mitte des Lochs hätte dessen Schönheit eigentlich beeinträchtigen müssen, doch sie verlieh ihm stattdessen eine dunkle Erhabenheit.

Die Burg wirkte eher hoch als breit und besaß auf der unteren Hälfte des Mauerwerks kein einziges Fenster. Der obere Bereich war von Schießscharten durchsetzt, deren unregelmäßige Anordnung keine Rückschlüsse auf den Aufbau der Räume hinter der Mauer zuließ. Ganz oben befand sich ein riesiges Fenster, mit mehr Bleiverstrebungen als Glas, während an einer Ecke ein zinnenbewehrter Turm aufragte. Die gewaltige Festung stand auf einem Felsen in der Mitte des Sees. Aber weit und breit war keine Brücke zu sehen.

»Eilean Dòchais«, verkündete Crovan, sichtlich zufrieden. »Seit tausend Jahren der Stammsitz meiner Familie. Der Name bedeutet ›Insel der Hoffnung‹, was Silyen unglaublich amüsant findet. Ich halte den Namen dagegen für passend. Denn dies ist der Ort, von dem die Gesellschaft sich erhofft, dass er euch Verurteilte unter Kontrolle hält. Der Ort, von dem ich mir erhoffe, meine eigenen Forschungen vorantreiben zu können, mit der Hilfe von euch allen.«

Er wandte den Blick von der Burg ab und drehte sich zu Luke um. Das Licht der aufgehenden Sonne spiegelte sich in den Gläsern seiner Brille und verwandelte seine Augen in goldene Scheiben, die an ein Blutopfer als Wegzoll zum Übergang in die nächste Welt erinnerten.

»Es ist der Ort, an dem meine Gäste hoffen, dass ihre Strafe eines Tages enden möge. Und dass dieser Moment bald kommt.«

Mit unergründlicher Miene ließ Crovan sich gegen die Sitzlehne sinken. Luke versuchte, die Tatsache zu ignorieren, dass sein gesamtes Inneres sich gerade aufgelöst und in pure, alles durchdringende Angst verwandelt hatte. Er ballte die Hände zu Fäusten und krümmte die Zehen, um sich an seinen Körper zu erinnern. An dessen Stärke und Kraft, die er in Millmoor und durch die Arbeit auf Kyneston aufgebaut hatte. An seine Entschlossenheit, die er ebenfalls in der Sklavenstadt entwickelt hatte. An seine Familie und Freunde, die in Gefahr schwebten und möglicherweise noch immer seine Hilfe brauchten.

Er würde nicht zulassen, dass dieser Mann seinen Willen brach. Er würde sich dem Grauen dieses trügerisch schönen Ortes nicht beugen. Er würde nicht an Dog denken, der ein Soldat gewesen war und Ebenbürtige getötet hatte und den Crovan irgendwie in eine Kreatur verwandelt hatte, die auf allen vieren kroch, an der Leine einer alten Frau.

Mit einer geschmeidigen Bewegung tauchte der Hubschrauber in Richtung Burg hinab. Dann ruckte er kurz, als der Pilot ein paar Hebel betätigte – sie landeten am Ufer, nicht auf der Insel –, und schwebte schließlich ruhig die letzten Meter bis zum Boden hinunter.

»Steig aus«, befahl Crovan, woraufhin Luke gehorchte.

Seine Hand griff nach dem Band an seiner Kehle. Hatte das Geschick des Mannes ihn zum Gehorsam gezwungen? Oder hatte es sich bloß um einen Reflex gehandelt?

Es war nun mal eine Tatsache, dass jeder britische Staatsbürger ein Halsband trug, auch wenn man es nicht sehen konnte. Millionen Menschen, die den Ebenbürtigen blind gehorchten. Die unter erbärmlichen Bedingungen ihre zehn Jahre Sklavenarbeit ableisteten. Die Herrschern unterworfen waren, die sie weder wählen noch kritisieren konnten. Die an ein Land gebunden waren, das sie erst dann verlassen konnten, wenn sie ihre Sklavenzeit abgedient hatten. Und die das alles einfach als vollkommen normal hinnahmen.

Da war es doch besser, ein sichtbares Halsband zu tragen. Denn auf diese Weise wurde man immer daran erinnert.