Dark Palace – Für wen wirst du kämpfen? - Vic James - E-Book

Dark Palace – Für wen wirst du kämpfen? E-Book

Vic James

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Beschreibung

Das große Finale der packenden »Dark Palace«-Trilogie von Vic James Der magische Adel regiert England, und das Volk muss ihm dienen. Aber nun schlägt die Rebellion im Herzen des Landes zu. Abi Hadley konnte dank eines unerwarteten Verbündeten der öffentlichen Hinrichtung entkommen. Ihr Bruder Luke ist auf der Flucht mit Silyen Jardine, dem Undurchsichtigsten der Aristokraten. Während politische Konflikte eskalieren, muss jeder von ihnen entscheiden, wie weit er für seine Überzeugungen gehen will. Ein Symbol der Regierung geht in Flammen auf. Türen zwischen Welten öffnen sich – und schließen sich für immer. Doch der Kampf in den menschlichen Herzen wird der härteste von allen sein.

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Vic James

Dark Palace

Für wen wirst du kämpfen?

Aus dem Englischen von Franca Fritz und Heinrich Koop

FISCHER E-Books

Für Hilary und Giles

Alte Freunde, gute Freunde.

Danke, dass ihr an mich glaubt.

Prolog Midsummer

Der Pub »The Snubbing Post« am Themse-Ufer in Vauxhall war ein ziemlich gutes Versteck, wenn man in ganz London gesucht wurde. Er war schon einige Jahrhunderte alt und hatte nur winzige Fenster, die dank Pfeifenrauch und Autoabgasen von innen und außen mittlerweile blind waren.

In einem Raum im Obergeschoss saßen sechs Personen um einen großen Tisch. Sie warteten noch auf jemanden, aber Midsummer versuchte, sich deswegen keine allzu großen Sorgen zu machen. Renie hatte eine deutliche Wegbeschreibung bekommen und sollte den Pub eigentlich leicht finden. Doch sie war jetzt schon eine Viertelstunde zu spät. Andererseits war Renie eher eine Naturgewalt als ein kleines Mädchen – bestimmt würde sie bald eintrudeln.

Ihr Onkel Wesley war da, genau wie Rebecca Dawson, die ehemalige Sprecherin der Parlamentsbeobachter. Bei den anderen drei handelte es sich um Midsummers zuverlässigste Verbindungsleute in den Sklavenstädten: Emily aus Exton in Devon, Mac aus Auld Reekie, Edinburghs Sklavenstadt, und Bhadveer aus Portisbury, dem Rattenloch zwischen Bristol und Cardiff. Die drei waren Schmuggler: Sie schafften Waren in die Sklavenstädte hinein und Menschen aus den Städten hinaus. Gelegentlich betätigten sie sich auch als Saboteure und nahmen Maschinen, Bauteile oder brutale Wächter auseinander. Öffentlicher Aufruhr hatte bisher allerdings nicht zu ihrem Fachgebiet gehört. Ob Midsummer das ändern konnte?

»Lasst mich direkt zur Sache kommen«, wandte sie sich an die Anwesenden. »Der Blutmarkt war grauenhaft. Aber Gerüchten im Parlament zufolge wird das, was als Nächstes kommen soll, noch viel schlimmer. Wir müssen das Ganze schleunigst beenden. Meilyr Tresco und Dina Matravers sind tot. Ebenso mein geliebter Onkel, der frühere Kanzler. Kein einziger von uns Ebenbürtigen hat es richtig angepackt oder genug getan. Ich muss mich für unsere Arroganz entschuldigen – dafür, dass wir gedacht haben, diesen Kampf für euch gewinnen zu können. Denn Jardine rechtfertigt sein brutales Vorgehen gegen euch alle nur damit, es unseretwegen getan zu haben.«

Mac musterte sie, wobei seine blauen Augen ausdruckslos und hart blieben.

Emily nickte.

»Aber ich gebe nicht auf«, fuhr Midsummer fort. »Meine Freundin erwartet in wenigen Monaten unser erstes Kind, und unser Baby wird geschicklos sein. Ich bin nicht als Ebenbürtige hier und versuche, euch Befehle zu erteilen. Ich stehe als Mutter vor euch und als eine Frau, die viel zu oft miterleben musste, wie Menschen durch die Sklavenzeit gebrochen wurden. Ich bin hier, um euch zu bitten, mit euch kämpfen und für euch arbeiten zu dürfen, um dieses zugrunde gerichtete Land wieder aufzubauen.«

Das reicht, ermahnte Midsummer sich. Du solltest ihnen nicht deinen Willen aufzwingen – so wie die meisten Ebenbürtigen. Hör einfach nur zu. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und bemühte sich, nicht an ihrem Ohrpiercing herumzufummeln, während sie wartete.

Und als die anderen sich zu Wort meldeten und nach dem Was, Wo, Wann und vor allem Wie fragten, hörte sie zu.

»Unsere Leute in Schottland fragen sich bereits, wann bei uns ein Blutmarkt veranstaltet wird«, sagte Mac.

»Ich sehe das Ganze so …«, setzte Emily an und beugte sich vor.

Im selben Moment summte das Smartphone an Midsummers linker Hüfte. Sie hatte drei Handys dabei und wusste genau, wer ihrer Leute die Nummer von welchem Mobiltelefon hatte. Das linke Handy diente für geheime Kontakte außerhalb ihres unmittelbaren Kreises im Bore. Midsummer nahm das Gespräch an.

»Sie haben Renie.«

»Jon … bist du das?«

Midsummer sah, wie sich Sprecherin Dawson bei der Erwähnung des Namens ihres Sohnes aufsetzte.

»Die Sicherheitsleute haben das Mädchen am Themse-Tor zum Haus des Lichts geschnappt. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin. Kannst du herkommen?«, fragte er.

»Schwierig. Immerhin bin ich für deine Chefin Staatsfeind Nummer eins.«

Doch Midsummer zermarterte sich bereits das Hirn, wie sie das Problem lösen könnten. Sie ging zum veralteten Schiebefenster des Pubs und hievte es mit der freien Hand in die Höhe. Und richtig: Vom Dach führte eine Feuerleiter nach unten. Midsummer klemmte ihr Handy zwischen Schulter und Kinn, schwang sich aus dem Fenster und kletterte die Sprossen hinauf.

»Wo bist du?«, schnaufte Jon in sein Smartphone, während er weiterlief. »Die Sicherheitsleute werden Renie vom Blutmarkt wiedererkennen … und direkt zu Bouda schleifen. Aber vielleicht kann ich sie abfangen und die Kleine in Sicherheit bringen. Falls Bouda davon erfährt, sag ich einfach, dass es sich um eine Verwechslung gehandelt hat. Sie glaubt mir eher als irgendwelchen Sicherheitsleuten.«

»Was zum Teufel hat Renie dort eigentlich gemacht?«, fragte Midsummer aufgebracht.

Doch dann dämmerte es ihr … und sie spürte einen Stich im Herz. Das Mädchen war auf der Suche nach Abigail gewesen.

Nach ihrer Flucht vom Gorregan Square war Renie untröstlich gewesen. Sie gab sich selbst die Schuld daran, dass sie nicht in der Lage gewesen war, ihre Freundin auf den Rücken des Bronzelöwen zu ziehen, und war fest davon überzeugt, dass man Abi wieder verhaftet hatte.

Renie hatte von irgendwelchen Zellen berichtet, die sich im Kellergeschoss unterhalb von Boudas Büro befanden und in denen sie und die Männer aus dem Bore die Nacht vor dem Blutmarkt verbracht hatten. Bestimmt war sie zum Parlamentsgebäude zurückgekehrt, um einen Plan für Abis Rettung zu schmieden.

»Ich werde ein Ablenkungsmanöver durchführen, um dir Zeit zu verschaffen. Leg auf und beeil dich. Los, los, los!«, rief Midsummer in ihr Handy, bevor sie es wieder in ihre Tasche schob und aufs Dach hinaufkletterte.

Der »Snubbing Post« war ein alter Treffpunkt für Flussschiffer und grenzte direkt an die Themse. Von hier aus hatte man schräg über den Fluss einen Blick auf die zinnenbewehrte Fassade des Hauses des Lichts.

In der Nähe des Ufers konnte Midsummer drei Gestalten ausmachen, die miteinander rangen. Renie wehrte sich mit aller Kraft, aber die beiden Beamten hatten sie im Schwitzkasten, so dass der Kampf bald vorüber sein würde.

Die Ebenbürtige richtete ihren Blick auf das Dach des Parlamentsgebäudes, entdeckte dort, was sie brauchte, und sandte ihr Geschick quer über den Fluss. Ihr Ziel kauerte am Ende des Dachgiebels, und Midsummer zuckte zusammen, als ihr Geschick-Bewusstsein auf das Objekt traf und es zum Leben erweckte. Es war wesentlich größer als die Löwen, die sie auf dem Gorregan Square mit Leben erfüllt hatte: lang und mächtig. Sie spürte, wie es die schweren Hinterbeine ausschüttelte. Seine Krallen kratzten über die Dachziegel, dann riss es das gewaltige Maul auf.

Midsummer zitterte, während ihr Geschick in die beiden wuchtigen Schwingen strömte. Als ihre Macht die Kreatur von Schnauze bis Schuppenschwanz erfüllte, setzte sie die Schwingen in Bewegung.

Im gleichen Moment hörte sie, wie jemand neben ihr scharf die Luft einsog. Dawson und Emily starrten mit offenem Mund über den Fluss.

»Ist das …«, drang Macs Stimme über die Dachkante. »Ist das etwa ein Drache?«

Er pfiff anerkennend, doch Midsummer nahm ihn kaum wahr. Die Sicherheitsleute zerrten Renie bereits in Richtung Parlamentstor.

Schneller. Sie musste schneller werden. Andererseits musste sie sichergehen, dass sie die Kreatur fest im Griff hatte. Wenn sie den Drachen fehlsteuerte, würde er in das Gebäude krachen – und Renie zerquetschen oder die Beamten, die Midsummer nicht verletzen wollte.

Beeil dich, Jon, dachte Midsummer, während sie die Kreatur über dem Parlamentshof aufsteigen ließ.

Die Sicherheitsleute waren stehen geblieben und starrten entgeistert in die Höhe.

Midsummer wollte allerdings nicht riskieren, ihnen Renie mit Hilfe des Drachen zu entreißen. Seine Krallen würden ihre Haut aufschlitzen, ihren Schädel durchbohren oder ihren dürren Körper in die Tiefe stürzen lassen. Midsummer wollte dieses Risiko zwar nicht eingehen, würde aber nicht davor zurückschrecken – wenn das die einzige Möglichkeit war, Renie da rauszuholen.

Sie wendete den Drachen und sandte ihn tiefer. Renie wand sich noch immer im Griff der Beamten. Das Mädchen würde jede Gelegenheit ergreifen, ihnen gegen das Schienbein zu treten oder in eine Hand zu beißen und zu fliehen.

Endlich stürmte Jon auf den Vorplatz. Er hatte die Hände an den Mund gelegt und brüllte irgendetwas – vermutlich den Befehl, Renie freizulassen.

Midsummers Herz machte einen Satz, zusammen mit ihrer vergoldeten Kreatur. Jon konnte ab jetzt übernehmen. Er würde das Mädchen in Sicherheit bringen und Bouda irgendeine Geschichte über eine Verwechslung unterjubeln: Die Kleine war gar nicht das Kind, das vom Blutmarkt geflohen war, sondern einfach nur irgendein Teenagermädchen, das im Rahmen einer Mutprobe das Gelände betreten hatte.

Doch in diesem Moment bemerkte Midsummer aus den Augenwinkeln, wie sich eine weißblonde Gestalt in Richtung Vorplatz bewegte. Und wie irgendetwas explosionsartig aus dem Fluss hochschoss und ihren Drachen rammte. Midsummer krümmte sich und stöhnte auf. Ihre Brust fühlte sich plötzlich beengt an, und ein Gefühl beißender Panik brannte in ihrer Kehle. Sie schlug sich gegen die Stirn, um ihre Gedanken zu sammeln.

Konzentrier dich.

Dort unten stand Bouda Matravers, mit erhobenen Händen, als würde sie den Wind und den Himmel dirigieren. Aber die Luft war nicht das Element, das sie ihrem Willen unterordnete: Bouda hatte ein Stück der Themse herausgerissen, es in ein gewundenes Reptil verwandelt und in die Höhe steigen lassen.

Messerscharfe Widerhaken erstreckten sich über das gesamte Rückgrat ihres Monsters, und über seinem Kopf ragte fächerförmig ein Nackenkragen auf. Zwischen den eiszapfenartigen Zähnen züngelte eine gespaltene Zunge. Zwei weite Flügel trugen den massiven Rumpf, während ein endloser Schwanz das Flusswasser hochpeitschte.

Ein geflügelter Lindwurm.

Wer hätte gedacht, dass Bouda dazu fähig war? Midsummer jedenfalls nicht. Niemand hatte geahnt, welche Kräfte diese Frau besaß, bis sie am Tag zuvor die Wasserwand und die gewaltige Flutwelle auf dem Gorregan Square erschaffen hatte. Und jetzt das hier: eine glänzende Bestie, durch deren Adern leuchtendes Geschick pulsierte, das in ihrem Wasserkörper einen schillernden Regenbogen erzeugte.

Eine atemberaubende Leistung. Die alles ruinieren würde.

Schweißperlen rannen über Midsummers Augenbrauen und prickelten auf ihrem rasierten Schädel, während sich ihr Drache im Griff des Lindwurms wand.

Bouda hatte Renie bestimmt gesehen, und nicht einmal Jons glattzüngige Ausreden würden ihr nun noch etwas vormachen können. Die Sicherheitsleute waren aus ihrer Starre erwacht und schleiften Renie die Stufen hinauf, die vom Ufer zum Vorplatz führten. Jetzt blieb nur noch eine Chance: Midsummers Drache musste sich aus dem Griff des Lindwurms befreien und das Mädchen den Beamten entreißen.

Midsummer trat mit den Hinterbeinen nach ihrem Gegner. Das Kreischen des Lindwurms schlug Wellen in der Themse, und er ließ den Nackenkragen an seinem Kopf vorschnellen. Einige der Eiszapfenzähne fanden ihr Ziel, woraufhin Midsummer sich hart auf die Zunge beißen musste, um einen Schrei zu unterdrücken. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund. War dieser Kampf für Bouda ähnlich kräftezehrend? Musste sie ihre Kreatur ebenfalls beseelen, um sie zu beherrschen? Oder war ihr Lindwurm lediglich eine Waffe?

Midsummer lief die Zeit davon. Die Beamten hatten Renie inzwischen auf den Vorplatz geschleift, und obwohl Jon mit ihnen diskutierte, konnte er ihnen nicht den Weg versperren – einer der Männer schwenkte eine Waffe. Midsummer schwanden die Kräfte.

Der Lindwurm wand sich immer enger um den Rumpf ihres Drachen, als würde er den nahenden Sieg spüren.

Und in dem Moment wusste Midsummer, was sie tun musste. Sie ließ den Drachen in die Tiefe sinken, gestattete seinen Flügeln zu erschlaffen. Keuchend schnappte sie nach Atem, während sie den Lindwurm zwang, den Körper des Drachen in der Luft zu halten. Und dann spürte sie, wie das Reptil seinen Griff lockerte, im Versuch, auch die erschlafften Flügel des Drachen zu umschlingen. Als sich der gewundene Rumpf des Lindwurms triumphierend zusammenzog, dehnte Midsummer die massiven Flügelspitzen ihres Drachen ruckartig aus. Die Schwingen rissen sich los und schnitten durch das schimmernde Reptil. Der Lindwurm explodierte in einem Hagel schillernder Tropfen, die einen Regenbogen über dem Fluss bildeten.

Midsummer taumelte zurück und spürte, wie Arme nach ihr griffen – die anderen auf dem Dach fingen sie auf. Aber ihr blieb keine Zeit, zu triumphieren oder Bouda eines Blickes zu würdigen. Schnaufend drehte Midsummer sich um, auf der Suche nach Renie. Inzwischen zweifelte sie nicht länger an ihrer Fähigkeit, den Drachen zu dirigieren und das Mädchen den Beamten zu entreißen.

Doch Renie und die Wachmänner waren verschwunden.

1Abi

Du bist wach!«, sagte eine Stimme, als Abi die Augen öffnete. Daisy sprang auf das Bett und schlang die Arme um sie. »Du hast bis Mittag geschlafen.«

Abi befreite sich aus der Umarmung ihrer Schwester – und wich zurück, als sie die anderen Personen im Zimmer bemerkte. »Normalerweise wache ich nicht vor Publikum auf.«

»Siehst du«, sagte Gavar Jardine zu der alten Frau, die neben ihm stand, »ich habe dir ja gesagt, dass sie wieder ganz die Alte sein wird.«

Die alte Frau lächelte sie freundlich, fast schon gütig an, und plötzlich stürmten die Erinnerungen auf Abi ein: Gavar, der sie aus den Trümmern des Gorregan Square zog. Die Motorradfahrt. Dieses Haus, irgendwo auf dem Land, in dem Gavars altes Kindermädchen wohnte, seine kleine Tochter Libby – und, wie er versprochen hatte, auch Daisy. Die ungläubige Freude, ihre Schwester wiederzusehen.

Abi hatte heiß geduscht und den Dreck und das Blut vom Gorregan Square von ihrem Körper geschrubbt. Doch mit ansehen zu müssen, dass Menschen sich wie Tiere benahmen und einen anderen, vollkommen wehrlosen Menschen in Stücke rissen – was auch immer er verbrochen haben mochte –, hatte einen Schandfleck tief eingebrannt, der sich nicht abwaschen ließ. Und auch die atemraubende, grauenvolle Gewissheit, dass sie als Nächste an der Reihe gewesen wäre, ließ sich nicht auslöschen.

Am schlimmsten war allerdings der dumpfe Schmerz in ihrer Brust beim Gedanken an Jenners Verrat: Er hatte versprochen, sie in Sicherheit zu bringen – und sie dann an seinen Vater ausgeliefert. Sie mochte den Messern der Menge auf dem Blutmarkt entkommen sein, aber dennoch war etwas aus Abi herausgerissen worden: ihr Herz.

Sie hatte einfach nicht aufhören können zu weinen, bis diese alte Frau mit einem weichen, frisch gewaschenen Nachthemd, einem Becher Kamillentee und zwei Schlaftabletten neben ihr erschienen war. Abi hatte die Pillen geschluckt, war nach oben in dieses kleine Gästezimmer gegangen und in eine Art Bewusstlosigkeit versunken.

»Danke«, sagte sie jetzt und schaute über die Schulter ihrer Schwester hinweg die alte Frau an. Ihr Name war Griffith. »Genau das habe ich gebraucht. Und danke, dass ich hier sein darf.«

»Danke nicht mir«, antwortete Griffith, und ihr Gesicht legte sich in Falten, als sie lächelte. »Danke Master Gavar.«

Abi wandte sich ihm zu. Das stolze Gesicht und seine Größe waren so einschüchternd wie immer, doch er strahlte nicht mehr diesen kalten Hochmut aus, den sie von ihm kannte. Er hielt seine kleine Tochter auf dem Arm.

»Ich glaube, dafür fehlen mir die Worte«, sagte Abi schließlich. »Du hast nicht nur mich gerettet, sondern uns alle, indem du dem Blutmarkt ein Ende bereitet hast.«

Abi spürte, wie sich die Arme ihrer Schwester um sie legten.

Der Erbe von Kyneston senkte den Kopf. »Das hätte doch jeder getan.«

»Aber es hat niemand getan. Außer dir.«

»Nun gut.« Gavar räusperte sich. »Griff hat etwas zum Anziehen für dich gefunden. Wenn du fertig bist, komm runter zum Essen. Dann können wir besprechen, wie es jetzt weitergeht.«

Als alle das Zimmer verlassen hatten, wusch sich Abi und zog den Rock und die altmodische Strickjacke an, die Griff für sie herausgelegt hatte. Beim Blick in den Spiegel sah sie die Masse von Haarverlängerungen, mit denen sie ihr Äußeres vor ein paar Tagen verändert hatte.

Doch einige Menschen verbargen ihr wahres Selbst in ihrem Inneren. Wie hatte sie sich bloß so in Jenner täuschen können?

Sie kannte die Antwort. Sie hatte sich erlaubt, an Märchen zu glauben. All diese Romane über hübsche männliche junge Ebenbürtige – Jenner war direkt ihren Seiten entsprungen, und der tragische Makel seiner Geschicklosigkeit hatte ihn nur noch verletzlicher gemacht. Noch liebenswerter. Was war sie doch für eine Idiotin gewesen.

Sie war keineswegs »ganz die Alte«, nachdem sie Zuflucht gefunden und eine Nacht geschlafen hatte. Das würde sie nie mehr sein. Diese Abi war auf dem Gorregan Square gestorben, verraten von ihren eigenen romantischen Illusionen.

Abi verzieh ihrem verflossenen Ich seine Naivität, trauerte ihm aber nicht nach.

Unten in der Küche bot sich ihr eine unwirklich häusliche Szene. Die Anwesenden hätten eine Familie sein können: ein junger Vater mit seinen beiden Töchtern und eine Großmutter am Herd, die Rührei zubereitete. Abi ging zu ihr.

»Kann ich helfen?«

»Nein, Liebes. Setz dich und iss.«

Das tat sie. Die Eier waren genauso, wie Mutter sie machte, mit ganz viel Butter. Abi hatte sich immer über zu viel Cholesterin und gesättigte Fettsäuren aufgeregt, doch inzwischen wusste sie, dass man auf viel schlimmere Art sterben konnte, und so packte sie ihren Toast ordentlich voll.

Danach zu urteilen, was Luke ihnen über das Leben in der Sklavenstadt erzählt hatte, würde Mum in Millmoor wohl kaum ein solches Mittagessen zubereiten. Wohnten sie und Dad überhaupt zusammen? Bei verheirateten Paaren war das in der Regel der Fall – aber die Rachsucht der Leute, die sie dorthin verfrachtet hatten, war nicht zu unterschätzen.

Wo auch immer ihre Eltern steckten, ob zusammen oder getrennt – Abi hoffte inständig, dass sie in den letzten Tagen nicht ferngesehen hatten. Für Mum und Dad war es schon schlimm genug gewesen zu erfahren, dass Luke zur Verdammung verurteilt und von Crovan gefangen gehalten wurde. Abi mochte sich gar nicht erst vorstellen, was passieren würde, wenn ihre Eltern hörten, welches Schicksal ihr bevorstand – auch wenn sie nicht glaubte, dass die Jardines ihre Flucht überall bekanntmachen würden.

»Was berichten sie darüber?«, erkundigte sie sich. »Über das, was heute Morgen passiert ist, meine ich. Ich wette, keiner spricht davon, dass Midsummer Zelston Bronzelöwen zum Leben erweckt hat und wir alle entkommen konnten.«

Gavar setzte eine finstere Miene auf. »Mein Bruder hat gegen Mittag die offizielle Stellungnahme verlesen. Er ist wirklich gut darin, die Ausreden meiner Familie vorzutragen.«

Jenner, dachte Abi. Er meint Jenner. Sie presste ihren Daumen gegen die scharfen Zinken ihrer Gabel und wartete, dass sich ihr rasendes Herz beruhigte, während Gavar die beiden Mädchen zum Spielen in den Garten schickte.

»Er hat mein Eingreifen als ›Irrtum eines vernarrten Vaters‹ bezeichnet«, fuhr Gavar fort. »Angeblich hätte ich irrtümlich meine Tochter in der Menge gesehen und das Geschehen nur so lange unterbrechen wollen, bis man sie in Sicherheit gebracht hatte. Terroristen hätten die Gelegenheit genutzt, um Feuerbomben auf die Plattform und in die Menge zu werfen. Und angeblich hat meine Frau dann die Situation gerettet und mit Hilfe ihres Geschicks den Brunnen in die Luft gesprengt, um das Feuer zu löschen und die Verdächtigen festzusetzen, die sofort wieder festgenommen wurden. Es gab natürlich jede Menge Bilder von dieser Wasserwand. Die Kameras lieben Bouda.«

»Und das glauben die Leute?«

»Die Medien bringen es immer wieder, und bloß darauf kommt es an. Jeder, der dort war, kann bezeugen, dass es nicht so war, aber diese Leute bekommen keine Sendezeit. Und diejenigen, die es zu laut bestreiten, werden zu Astrid Halfdan geschleppt und zum Stillschweigen gebracht. Oder schlimmer.«

Diese Version der Ereignisse war als Ausrede mehr als fadenscheinig. Doch angesichts der Tatsache, dass die Jardines die Medien kontrollierten und alternative Versionen im Keim ersticken konnten, würde sie vermutlich ausreichen.

»Wir müssen über dich sprechen«, fuhr Gavar fort. »Ich habe folgenden Vorschlag: Ich kann dich auf dem Seeweg in eine der irischen Provinzen bringen. Du könntest dich unter falschem Namen an der Universität in Dubhlinn einschreiben. Man wird nach dir suchen, Abi. Mein Vater und Bouda mögen keine offenen Fragen. Sie werden dich jagen – dich und alle anderen, die entkommen sind. Auf den Kopf von Midsummer Zelston wird eine Belohnung ausgesetzt, die höher ist als die Summe, die ich meinem Weinhändler schulde.«

»Echt, so viel?«

Sie tauschten einen Blick, aber dieser Scherz entlockte keinem von beiden ein Lächeln.

»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, widersprach Abi. »Mein Bruder wird noch immer von Crovan für ein Verbrechen gefangen gehalten, das er nicht begangen hat. Wie kann ich ihn da im Stich lassen?«

»Aber was kannst du denn schon für ihn tun, Abigail? Nichts. Diese Burg ist mit einem uralten Bann der Crovans belegt. Niemand, der einigermaßen bei Verstand ist, würde auch nur über eine Befreiung nachdenken.«

»Meilyr Tresco hat es getan. Und er ist deshalb dort gestorben.«

Jetzt war es passiert. Abi hatte es ausgesprochen. Meilyr war nicht mehr da. Ebenso wenig wie Dina. Keiner von beiden konnte mehr verletzt werden, da jemand die Wahrheit darüber erfuhr, wie Meilyr umgekommen war.

»Du meinst, es war kein Selbstmord? Ich dachte, er wollte nicht mehr weiterleben, weil man ihm sein Geschick genommen hatte …«

Gavar hörte schweigend zu, während Abi von der vermasselten Befreiung und deren schrecklichem, unnötigem Ende erzählte. Als sie fertig war, fuhr sich der Erbe von Kyneston mit der Hand durch sein kupferrotes Haar. Diese Geste erinnerte sie augenblicklich an Jenner und ließ sie unwillkürlich zusammenzucken.

»Abi, es tut mir leid, doch dein Bruder kommt aus dieser Burg nicht heraus. Ich kann ihn nicht retten, aber dich schon. Und in ein paar Jahren, wenn das alles vorbei ist, kann ich vielleicht deine Eltern frühzeitig aus Millmoor herausholen und sie zu dir bringen. Das ist das mindeste, was ich tun kann – bei allem, was deine Familie meinetwegen erdulden musste. Aber Luke …«

Trotz allem musste Abis Herz sich immer noch in ihrem Brustkorb befinden, denn ein Stück davon erstarrte bei Gavars Worten zu Eis. Stimmt: Er war nicht so schlecht, wie sie gedacht hatte. Ja, er besaß Spuren von Anstand. Aber er würde keine Anstrengungen für einen Jungen unternehmen, von dem er wusste, dass er unschuldig war. Und jede Zukunft, in der Gavar genügend Einfluss besaß, um ihre Eltern aus Millmoor herauszuholen, war eine Zukunft, in der die Jardines nach wie vor über das Land herrschten.

Als sie auf seinem Motorrad vom Gorregan Square geflohen waren, hatte sie gehofft, Gavar hätte das Zeug dazu, sich gegen seine Familie aufzulehnen. Aber scheinbar hatte sie sich geirrt.

»Denk darüber nach«, riet Gavar ihr. »Solange kannst du hierbleiben. Hier bist du sicher – komm, ich zeige es dir.«

Er führte sie hinaus in das golden schimmernde Licht des späten Nachmittags. Daisy und Libby spielten ausgelassen Nachlaufen, und Gavar fing seine Tochter auf und hob sie hoch. Das kleine Mädchen jauchzte vor Freude, als er sie in die Luft warf.

»Jetzt wollen wir Abigail mal den funkelnden Zaun zeigen«, sagte er zu Libby und stupste seine Nase gegen ihre. »Hilfst du mir?«

Die Locken der Kleinen flogen auf und ab, als sie nickte, und Gavar führte sie zu dem Zaun, der das Haus umgab. Es war ein gewöhnlicher, hübsch angestrichener Zaun aus Pfosten und Latten. Gavar hockte sich davor und umschloss Libbys kleine Hand mit seiner.

»Das ist so cool«, flüsterte Daisy Abi ins Ohr. »Pass auf.«

»Der Zaun ist nicht gerade die Mauer von Kyneston«, erklärte Gavar, »aber er erfüllt seinen Zweck und verbirgt das Haus. Die Leute gehen einfach daran vorbei. Ich habe dabei etwas angewendet, das Silyen einmal mit meiner Londoner Wohnung gemacht hat, als zu viele meiner Exfreundinnen in unpassenden Momenten auf der Matte standen.«

Er drückte die rechte Hand seiner Tochter gegen den Zaun und bedeckte sie mit seiner eigenen. Kurz darauf schlängelten sich Fäden von Geschick-Licht um seine Finger, und ein Leuchten wie bei einem Sonnenuntergang umrahmte die Zaunpfähle.

»Griff, Libby und deine Schwester kommen und gehen, wie sie wollen«, erläuterte Gavar und richtete sich auf. »Aber die paar Tage, die du hier bist, solltest du dich unauffällig verhalten.«

Ein paar Tage.

Dann erwartete er also von ihr, sich schnell zu entscheiden. Er erwartete, dass sie sein Angebot annahm.

Das sollte sie auch, denn es war das Vernünftigste, was sie tun konnte. Und sie sollte darauf drängen, dass Daisy jetzt mit ihr kam und nicht irgendwann in der Zukunft. Gavar mochte zwar glauben, dass Abis Schwester und Libby dank seiner Vorsichtsmaßnahmen in Sicherheit waren, doch es war gefährlich, sich in der Nähe der Jardines aufzuhalten.

Konnte sie das tun – Daisys Sicherheit erkaufen und dafür Luke im Stich lassen?

»Komm, lass uns ein bisschen Gemüse ernten«, forderte Griffith sie auf, während der Erbe von Kyneston sich in eine Art wildes Rugby für Kleinkinder mit den beiden Mädchen stürzte.

Ein wenig Smalltalk wäre eine willkommene Abwechslung von ihrer Grübelei, beschloss Abi. Sie folgte der alten Frau um die Ecke des Fachwerkhauses zu einem Küchengarten, in dem sich Zuckererbsen um Himbeersträucher rankten und die Erde fruchtbar und gesund roch.

Das hier war ein ruhiger und friedlicher Ort, weit entfernt von der grausamen und korrupten Welt auf der anderen Seite des Zauns.

»Sie haben ein sehr schönes Haus. Leben Sie schon immer hier?«

»Master Gavar hat es für mich gekauft, als meine Zeit als Nanny vorbei war. Er besucht mich gelegentlich, und seit die kleine Libby auf der Welt ist, bringt er sie immer dann mit, wenn sich die Wut seines Vaters wieder einmal gegen uneheliche Nachkommen von Ebenbürtigen richtet. Gavar ist sehr großherzig und zahlt mir sogar eine Pension.«

Griffith nannte eine Summe, die Abi aus Gavars Spalte im Rechnungsbuch von Kyneston kannte – mit dem Unterschied, dass sie dort als monatliche Lagergebühr für seine Zigarrensammlung aufgeführt war.

»Haben Sie sich nur um Gavar gekümmert oder um alle drei Jardine-Jungs? Ich kann mir überhaupt keinen von ihnen als Kind vorstellen.«

Griffith lächelte. »Ich kann noch immer kaum glauben, dass sie inzwischen erwachsene Männer sind – oder zumindest fast. Ich habe die beiden Älteren betreut; erst als Silyen geboren wurde, kam eine neue Kinderfrau und übernahm dann Jenner und ihn.«

Abi versuchte, sich das Ganze vorzustellen: Gavar hatte vermutlich stets ein wachsames Auge auf Silyen gehabt, während der im Garten herumgetobt war, genauso wie Abi auf Daisy aufgepasst hatte.

Und Jenner? Hatte er zugeschaut, geschicklos und neidisch? Die nächste Frage kam völlig unvermittelt aus ihrem Mund.

»Glauben Sie, dass Jenner jemals Geschick besessen hat?«

Griffith seufzte. »Keiner von uns, der als Sklave an diesem Ort war, hat sich das nicht gefragt, Abigail. Wir sind keine Experten, aber zu Anfang hatte ich nie das Gefühl, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Seltsame Dinge geschahen rund um Jenner, genauso wie um seine Brüder. Die Gärtner machten Witze darüber. Sie behaupteten, wenn sie Lady Thalias Schnittblumen zum Blühen oder ihr Frühstücksobst zum Reifen bringen wollten, mussten sie es nur über Nacht in Master Jenners Zimmer stehen lassen.«

»Wann haben diese seltsamen Vorkommnisse aufgehört?«

»Das kann ich gar nicht sagen.« Griffith schüttelte den Kopf. »Auf seine Art war Silyen ebenso anstrengend wie Gavar. Und so trat Jenner mit der Zeit mehr und mehr in den Hintergrund. Irgendwann fiel den Leuten auf, dass er überhaupt kein Geschick an den Tag legte, und das brachte ihm eine gewisse Aufmerksamkeit – allerdings nicht von der Sorte, die sich jedes Kind wünscht. Er wurde getestet, musste sich vor das Tor stellen und versuchen, es zu öffnen. Jenner hing an der Frau, die sich um ihn kümmerte, wie es jedes Kind tun würde. Lord Whittam schlug sie, um Jenner dazu zu bringen, ihn aufzuhalten oder ihre Verletzungen zu heilen, aber das konnte er nicht. Wenn man an ihrer Tür vorbeiging, hörte man sie vor Schmerz stöhnen und Jenner schluchzen. Ahhh …«

Griffith zog ein Stofftaschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke und reichte es Abi. Weinte sie etwa schon wieder?

»Die Leute kritisieren meinen Gavar. Aber ich sage dir, dieser Junge ist anders als der Rest seiner Familie: Bei ihm bekommt man genau das, was man sieht. Und das ist viel wert – selbst wenn man das, was man sieht, nicht besonders mag. Bei all den anderen Jardines weiß man nie so genau, was sie denken.«

Stimmte das wirklich? Abi wischte sich die Tränen weg, als das Geschrei begann.

Es kam von Gavar, und er klang sehr wütend.

Abi stürmte auf das Haus zu, bog um die Ecke und blieb dann wie angewurzelt stehen: Mitten im Vorgarten, unter den Weiden, wo sie gespielt hatten, stand Daisy, den Arm schützend um Libby gelegt. Als ihre kleine Schwester sie näher kommen sah, winkte sie hektisch und bedeutete ihr, sie solle zurückbleiben. Gavar stand wahrscheinlich mit einem Besucher vor dem vorderen Tor. Wer auch immer es war – er würde Abi und die beiden Mädchen nicht sehen können.

Abi versuchte angestrengt zu verstehen, was gesagt wurde – wünschte sich aber dann voller Entsetzen, sie hätte es nicht getan.

»Ich weiß, dass das Hadley-Mädchen hier ist«, sagte Bouda Matravers.

»Und ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Verschwende nicht meine Zeit, Gavar. Sie kümmert sich um deine Tochter, und ich habe diesen schrecklichen Manchester-Akzent genau gehört.«

Moment mal. Bouda sprach von einem »Hadley-Mädchen«, aber … Daisy?

Sie tauschte Blicke mit ihrer kleinen Schwester. Daisy stand die nackte Angst ins Gesicht geschrieben.

Das reichte. Abi schlich näher heran und blieb außer Sichtweite von Bouda, bis sie zu ihrer Schwester und Libby gelangte. Sie schüttelte Daisy, die wie versteinert war, und zeigte dann zu Griffith. »Geh!« Abi bewegte nur lautlos die Lippen und schob ihre kleine Schwester vorwärts. Sie sah zu, wie die alte Frau die beiden Mädchen durch die Hintertür ins Haus führte. Griff würde von innen alle Riegel vorschieben.

Und dann schlich Abi noch näher an die beiden heran. Was konnte Bouda Matravers schon von Daisy wollen? Gavar schrie nicht mehr, sondern spuckte die Worte förmlich aus, als schmeckten sie sauer.

»… kann verstehen, warum Vater mich in London haben will. Er will zeigen, dass ich noch immer zum Team Jardine gehöre, obwohl ich heute Morgen dieses grausige Schauspiel gestoppt habe. Aber dazu braucht er weder meine Tochter noch die Person, die sich um sie kümmert.«

»Du scheinst den Ernst der Lage nicht zu begreifen, Gavar. Erstens: Die Einheit der Familie ist unerlässlich nach dem, was du getan hast. Zweitens: Die Gefangenen sind entkommen. Alle, bis auf diese verdreckte Göre, die wir heute Morgen wieder einfangen konnten. Wir brauchen auch die anderen. Und jetzt wird es interessant: Aus welchem Grund ist Renie wohl um das Parlament herumgeschlichen? Sie dachte, wir hätten Abigail. Also kann das Mädchen nicht bei Midsummer sein, sondern muss sich irgendwo in London versteckt halten. Wenn ihre kleine Schwester bei uns in Aston House ist, wird sie vermutlich versuchen, mit ihr Kontakt aufzunehmen.«

»Du bist verrückt«, entgegnete Gavar, obwohl Abi ihn kaum hörte, weil sie am ganzen Körper zitterte. Sie hatte gerade erst begriffen, dass sie Renie hatten, als ihr dämmerte, dass Bouda Daisy als Köder benutzen wollte … um sie selbst in die Falle zu locken.

»Wozu brauchst du Abigail überhaupt?«, fuhr Gavar fort. »Du hältst doch noch so viele andere für deinen nächsten Blutmarkt gefangen.«

»Du hast die Geschichte gehört, die Jenner verbreitet hat – dass sie alle wieder festgenommen wurden. Das ist unsere Version, und einstweilen können wir daran festhalten. Aber wir müssen diese Gefangenen wieder präsentieren, bevor die Leute anfangen, sich zu fragen, was wirklich passiert ist. Der Blutmarkt war eine Machtdemonstration, Gavar. Und du hast sie ruiniert.«

»Vater will also, dass ich zurückkomme, damit wir glückliche Familie spielen können – und dass ich Daisy Hadley mitbringe. Was, wenn ich nicht mitmache? Vielleicht gefällt mir ja mein ruhiges Leben auf dem Land.«

»Dann ist der nächste Schritt ganz einfach. Ich lasse die Eltern von Millmoor in eine Hochsicherheitseinrichtung bringen. Wenn wir Abigail nicht bald wieder ergreifen, werde ich verkünden, dass wir die Eltern zum Verhör in Astrids Suite bringen – es sei denn, sie stellt sich freiwillig.«

Abi biss sich in die geballte Faust, um nicht aufzuschreien oder sich auf Bouda zu stürzen. Ihre Mum und ihr Dad in den Händen von Astrid Halfdan?

»Das ist alles«, erklärte Bouda. »Ich sollte jetzt besser wieder zurückreisen. Midsummer Zelston hat heute Morgen eine lächerliche Show abgezogen – einen direkten Angriff auf das Parlament. Wenn wir sie schnappen, widerfährt ihr die gleiche Gerechtigkeit wie Meilyr. Glaub mir: In dieser Sache willst du nicht auf der falschen Seite stehen, Gavar. Und du wirst dich nicht hier auf dem Land verstecken und so tun können, als würde nichts von alldem geschehen.«

Sie rief jemandem außer Sichtweite etwas zu, und unmittelbar darauf sprang ein Motor an.

»Tja, verstecken ist offensichtlich keine Option, denn dieses Haus sollte eigentlich verborgen sein. Wie hast du es gefunden?«

Abi konnte sich genau vorstellen, wie Bouda sich in den Stöckelschuhen, die sie stets trug, auf der Stelle umdrehte und ihren perfekt geschminkten Mund zu einem Lächeln verzog.

»Wir haben immer gewusst, dass du in dieses Dorf fährst. Es bestand bisher nur nie die Notwendigkeit, das Haus ausfindig zu machen. Selbst jetzt kann ich es nicht sehen. Aber du scheinst vergessen zu haben, dass wir verheiratet sind. Unsere Geschicke haben sich an unserem Hochzeitstag miteinander verbunden. Ich weiß also, dass sich direkt hinter dir ein Gebäude befindet, das von deinem Geschick durchdrungen ist. Und weißt du was?«, sagte Bouda mit gesenkter Stimme. »Es ist stark. Und du auch. Du bist der Erbe deines Vaters. Mein Ehemann. Wir sind deine Familie, Gavar. Stell dir bloß vor, was wir gemeinsam alles schaffen könnten – wenn du endlich aufhören würdest, uns wie deine Feinde zu behandeln.«

In der kurzen Stille, die darauf folgte, malte sich Abi aus, wie Boudas Fingerspitzen über Gavars Gesicht fuhren, wie sie ihre blutroten Lippen auf seine drückte.

Dann wurde eine Wagentür zugeschlagen, und Bouda war verschwunden.

Kurz darauf stürmte Gavar Jardine zurück zum Haus, während er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte. Abi lief ihm hinterher.

»Hast du zugehört?« Er schaute grimmig. »Warum können sie mich nicht in Ruhe lassen? Warum könnt ihr mich nicht alle in Ruhe lassen?«

»Ich habe dich nicht darum gebeten, mich herzubringen! Rennst du wirklich sofort zurück zu deiner Familie, wenn deine Frau pfeift und dein Vater mit dem Finger schnippt?«

Gavar wirbelte so schnell herum, wie man es einer Person von seiner Größe und Masse gar nicht zugetraut hätte. Abi wich zurück und hielt sich schützend einen Arm vors Gesicht, um einen Schlag abzuwehren, der nicht kam. Doch der Erbe packte sie am Handgelenk und beugte sich vor, bis sich ihre Gesichter beinahe berührten – sie konnte das violettrote Blut unter seiner Haut aufwallen sehen.

»Die einzige Familie, die ich habe, ist meine Tochter. Niemand und nichts anderes zählt. Sie alle nicht. Du nicht. Du wirst morgen nach Dubhlinn fahren. Ich werde heute Nachmittag alles in die Wege leiten. Damit ist die Sache für mich erledigt.«

Dann ließ er sie los. Der Abdruck seiner Finger blieb als weißer Schatten seiner Wut auf ihrem Handgelenk zurück.

Im Haus herrschte den Rest des Tages über eine fast unerträgliche Stimmung. Später am Nachmittag, als Libby ihr Schläfchen machte, ging Abi mit Daisy nach draußen. Sie schlenderten über die kleinen Pfade durch die Gemüsebeete, und Abi erklärte ihrer Schwester, Gavar wolle, dass sie nach Irland ging.

»Das ist eine gute Idee«, fand Daisy und nickte. »Da bist du sicher.«

»Aber was ist mit Luke?«

»Denk doch mal nach. Wenn Gavars Dad wirklich so verrückt und schlecht ist, wie lange kann er sich dann halten? Gavar und Bouda werden die Regierung übernehmen, und dann wird er Luke freilassen. Er hat ihn ja auch aus Millmoor rausgeholt, nicht wahr? Gavar mag es nur nicht, wenn die Leute etwas von ihm erwarten.«

Abi starrte ihre kleine Schwester verblüfft an. »Du bist elf. Wie kannst du da über Politik nachdenken?«

»Das ist doch eigentlich gar keine Politik. Bloß Familienangelegenheiten. Besonders bei denen. Ich will, dass es dir gutgeht, Abi.«

Und als Daisy die Arme um sie schlang, erinnerte Abi sich wieder daran, dass sie wirklich erst elf war. Ein Kind, hineingestoßen in eine erbarmungslose Erwachsenenwelt, deren Regeln sie zwangsläufig sehr schnell begriffen hatte. Abi umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.

Wieder zurück im Haus teilte sie Gavar mit, dass sie nach Dubhlinn reisen würde – je eher, desto besser. Der Erbe sah erleichtert aus und ging danach ins Nebenzimmer, um jemanden anzurufen; Abi vermutete, dass diese Kontaktperson in Gavars drogenlastiger Vergangenheit als Playboy mehr als nur einen illegalen Auftrag für ihn erledigt hatte.

Da diese Frage geklärt war, verlief das Abendessen überraschend entspannt. Anschließend spielten sie alle zusammen ein einfaches Brettspiel und ließen Libby gewinnen.

Als Daisy die Kleine ins Bett brachte, ging Griffith mit Abi durchs Haus und suchte Sachen zusammen, die Abi in den ersten Tagen ihres Exils brauchen würde: Kleidung, Toilettenartikel, eine Rolle Banknoten.

»Du brauchst ein Buch zur Ablenkung, damit du während der Überfahrt nicht seekrank wirst«, meinte sie. »Ein kluges Mädchen wie du liest doch bestimmt viel.«

Abi schaute sich gehorsam die Bücher im Regal an. Es war vollgestopft mit dicken Taschenbüchern. Offenbar hatte Griffith eine Vorliebe für Krimis. Abi verzog das Gesicht. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, waren Geschichten von Sicherheitsleuten, die verbissen Menschen verfolgten und zur Strecke brachten. Sie ging in die Knie und sah das unterste Fach durch. Darin standen Märchen- und Bilderbücher, die sie zum Teil aus ihrer eigenen Kindheit kannte.

»An das hier erinnere ich mich noch«, sagte sie und zog Missgeschicke der Monarchen heraus. Die absurden Geschichten aus der Zeit der Könige waren im Stil eines Comichefts illustriert: der irre König Canute, der sich einbildete, er hätte Geschick, und versuchte, die Flut umzukehren. Henry I., der Vielfraß, der beim Aalessen erstickt war. (Abi musste daran denken, wie Luke bei dieser Geschichte immer angeekelt aufgeschrien hatte.)

»Ach ja, die Jungs haben es geliebt. Master Gavar hat sich kaputtgelacht, und der kleine Silyen … Nun, er war zu jung für all die Scherze, aber er war so fasziniert, dass er tatsächlich mit dem Herumzappeln aufhörte.«

»Haben Sie ihnen daraus vorgelesen?«

»Das da unten ist die Gutenachtgeschichten-Bücherei von Kyneston.«

Abi betrachtete das Buch in ihrer Hand und versuchte vergeblich, sich diese Zeit vorzustellen. Dann beugte sie sich vor, um es wieder an seinen Platz zu stellen.

»Nein, nein«, protestierte Griffith. »Es ist dir ins Auge gefallen, also solltest du es behalten. Ein vertrautes Buch ist vermutlich genau das Richtige, um dich jetzt ein wenig zu trösten. Und wenn du es anschaust, denkst du hoffentlich daran, dass sie alle drei einmal Kinder waren. Wir alle sind das, wozu das Leben uns macht, Abigail.«

Es hörte sich an wie eine Lebensweisheit – solange man den Satz nicht allzu genau unter die Lupe nahm. Denn die Welt war voller Menschen, denen das Leben viel übler mitgespielt hatte als den Jardine-Jungs und die trotzdem anständiger waren. Abi biss sich auf die Unterlippe und steckte das Buch in ihre Tasche.

Als sie an diesem Abend schlafen ging, stellte Abi die Tasche auf den Stuhl neben ihrem Bett. Sie döste jedoch nur unruhig, und als sie aufwachte, war es noch dunkel.

Sie setzte sich auf und sah sich in dem gemütlichen Zimmer um – in dieser Zuflucht, die Gavar Jardine ihr so unerwartet angeboten hatte und die Daisy weiterhin Schutz bieten würde.

Aber dieses Cottage war nicht der richtige Ort für sie, genauso wenig wie Dubhlinn. Sie musste nach London. Sie konnte sich nicht länger verstecken und davonlaufen. Jetzt galt es zu kämpfen.

Wenn man sie nicht daran hinderte, würden Lord Jardine und Bouda das ganze Land in einen Blutmarkt verwandeln. Großbritannien selbst würde in Fesseln gelegt, damit die Ebenbürtigen zu ihrem Vergnügen daran zerren konnten.

Es war Zeit, die Ketten des Landes zu sprengen und es zu befreien.

Abi zog sich an und nahm ihre Tasche. Sie hatte die Treppenstufen schon vorher überprüft. Die zweite von oben quietschte, also übersprang sie sie auf dem Weg nach unten. In der Küche schrieb sie einen kurzen Brief an Gavar.

Sag Daisy, dass ich in Dubhlinn bin und es sicherer war, in der Nacht aufzubrechen, lautete ihr letzter Satz.

Sie faltete das Papier zusammen, öffnete es dann aber noch einmal, um noch etwas hinzuzufügen.

Du bist besser als deine Familie. Davon bin ich überzeugt – und ich hoffe, dass du es eines Tages auch sein wirst.

Sie schulterte ihre Tasche, nahm den Schlüssel aus der Schüssel bei der Hintertür und trat ins Freie.

In dem mondbeschienenen Garten umschloss sie den Schlüssel fest in ihrer Hand. Es hatte Vorteile, die Tochter eines Automechanikers zu sein.

Aber wenn es eines gab, das Gavar ihr nie verzeihen würde, dann das.

Ein paar Minuten später donnerte sie auf seinem Motorrad die Straße entlang.

2Luke

Es hatte Vorteile, der Sohn eines Automechanikers zu sein.

Luke mochte zwar keine offiziellen Fahrstunden gehabt haben, aber er war von allen dreien am ehesten in der Lage, den Wagen zu fahren – auch wenn das nicht viel zu bedeuten hatte. Er fluchte, als ein anderes Auto sie an der Abzweigung nach Colchester schnitt. Die plötzliche Ausweichbewegung entlockte Silyen ein Stöhnen: Er saß in sich zusammengesackt auf dem Beifahrersitz, die Stirn gegen das Seitenfenster gelehnt. Vom hinten kam ein heiseres Lachen, wo Dog zusammengerollt auf dem Rücksitz lag, wie ein echter Hund auf einer Autofahrt.

Luke versuchte, seine zitternden Hände am Steuer unter Kontrolle zu bringen, und wischte sich die Innenflächen auf seiner schmutzigen Jeans ab, bevor er den Gang wechselte. Doch als er auf die Straße starrte, spielten sich vor seinem geistigen Auge immer wieder die gleichen grauenhaften Szenen ab: Julian, der herausgeführt und mitten auf dem Gorregan Square angekettet wurde, flehend und bettelnd. Das Blut und die Schreie, die darauf folgten. Und dann wurde Abi auf die Plattform gebracht, um seinen Platz einzunehmen.

Alles, was danach geschah, erschien ihm wie ein Traum: das Feuer, die Löwen, die Wasserfontänen, die wie Geysire in die Höhe schossen, alles hinwegfegten und Luke über den gesamten Platz gegen die Marmorbalustrade schleuderten. Der Aufprall hatte ihn ohnmächtig werden lassen.

Silyen hatte ihn mit ein paar leichten Schlägen ins Gesicht wieder geweckt; dann hatte Dog ihn auf die Füße gezogen. Luke hatte verzweifelt nach Abi gesucht – außer sich vor Wut und Angst, weil er seine Chance verpasst hatte, sie zu retten. Aber sie war bereits gerettet worden, hatte Silyen gesagt. Von Gavar Jardine.

Luke musterte den Ebenbürtigen auf dem Beifahrersitz mit einem kurzen Blick. Konnte er Silyen glauben? Der Junge hatte keinen Grund zu lügen. Trotzdem: Warum sollte Gavar Abi retten wollen?

Andererseits hatte der Erbe von Kyneston den Blutmarkt gestoppt, als Renie auf das Schafott geführt wurde. Vielleicht war das alles sogar für einen Jardine zu viel gewesen.

Silyen hatte Luke zur nächstgelegenen befahrenen Straße geschleppt und dort nur die Hand gehoben, um einen Wagen dazu zu bringen, mit quietschenden Reifen anzuhalten. Dog hatte den bemitleidenswerten Fahrer aus dem Auto gezerrt, Luke hinters Lenkrad geschoben, und der bizarrste Roadtrip der Geschichte hatte seinen Anfang genommen – mit Silyens Anwesen Far Carr als Ziel.

Luke trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und versuchte, die Geschehnisse zu verarbeiten. Er hatte gesehen, wie Bronzelöwen zum Leben erwacht und über den Platz gesprungen waren, um die Gefangenen zu retten – unter ihnen Renie. Laut Silyen war die Animation der Löwen das Werk einer Ebenbürtigen namens Midsummer Zelston. (Als er den Nachnamen gehört hatte, war Luke zusammengezuckt: Offenbar war sie die Nichte des Kanzlers, den er gegen seinen Willen hatte töten müssen.) Sie hatte Lukes Freundin und die anderen Gefangenen in Sicherheit gebracht.

Konnte es wirklich so geendet sein, dass bis auf die ersten beiden Opfer des Blutmarkts alle entkommen waren? Er wagte es kaum zu glauben.

»Du bist so still«, sagte er schließlich zu Silyen, der noch immer am Fenster kauerte. »Das macht mich ganz nervös.«

»Ich fahre bloß nicht gern Auto«, antworte der Junge schwach. »All die Technik.«

»Und du bist dir wirklich sicher, dass es Gavar war? Warum sollte er Abi mitnehmen?«

Silyen schaute ihn an. Seine dunklen Augen hatten Ringe und wirkten eingefallen, aber er konnte sie nach wie vor verdrehen. »Ein verspätetes Gefühl von Ritterlichkeit? Unserem Vater eine lange Nase drehen? Gavar versteht ja nicht einmal sich selbst, und ich habe es schon lange aufgegeben.«

»Ist sie bei ihm sicher?«

Silyen wandte sich ab. »Jedenfalls sicherer als beim Rest der Familie.«

Da hatte er recht. Luke versuchte, seine Angst und seine Frustration darüber zu verdrängen, dass es ihm mit Coiras Hilfe zwar gelungen war, von Crovans Burg zu fliehen, er seine Schwester jedoch genau in dem Augenblick verloren hatte, als sie zum Greifen nahe schien.

Er konnte sich nur auf Silyens Worte verlassen, was ihren momentanen Aufenthaltsort betraf. Ihm blieb keine andere Wahl, und deshalb saß er jetzt in diesem Auto. Hinzu kam, dass er als verurteilter Mörder und entflohener Häftling gesucht wurde. Daher war ein öffentlicher Platz, auf dem es nach einem so schweren Zwischenfall von Leuten des Sicherheitsdienstes wimmelte, nicht gerade der beste Aufenthaltsort für ihn.

Far Carr lag an der Küste, einige Stunden Autofahrt Richtung Osten. Vielleicht konnte Abi zu ihnen stoßen – das abgeschiedene Anwesen war gut geeignet, um sie zu verstecken.

Und was war mit Coira? War sie noch immer auf Eilean Dòchais und entschlossen, den Unmenschen zur Verantwortung zu ziehen, der ihr Vater war – Lord Crovan? Wie würde Crovan reagieren? Würde er sie von der Burg werfen? Sie einsperren? Oder noch Schlimmeres? Wenn Luke sie doch bloß überreden könnte, ebenfalls nach Far Carr zu kommen.

Natürlich stand es ihm wohl kaum zu, Gäste auf Silyens Anwesen einzuladen, schon gar nicht eine flüchtige Rebellin und eine ausgerissene geheime Erbin. Luke traute dem Jungen nach wie vor nicht: Er wusste zu wenig über dessen wahre Interessen und Motive. Doch in seiner Gegenwart hatte er nicht das Gefühl, in unmittelbarer Gefahr zu sein – eine ungeheure Verbesserung im Vergleich zu der Gesellschaft, in der er sich fast das ganze vergangene Jahr über befunden hatte.

Diese Gedanken beschäftigten ihn so sehr, dass er viel zu langsam fuhr – denn der Fahrer des Wagens, der sie überholte, lehnte wütend auf der Hupe. Sofort richtete Luke seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Zunächst einmal musste er heil nach Far Carr gelangen.

Die Straße überquerte die Flussmündung südlich von Ipswich, wo die Sonnenstrahlen von den Metallblechwänden der Konservenfabriken reflektierten.

Luke konnte sich nicht an den Namen der hiesigen Sklavenzone erinnern, wusste aber, dass hier Fischfang betrieben und der Fang verarbeitet wurde – eine weitere Möglichkeit, seine Jahre abzuleisten, die ihm einst attraktiver erschienen war als die heruntergekommenen Fabriken und Büros von Millmoor. Ein hübscher Trick, dachte er: als ob eine Art der Sklaverei besser sei als die andere, wo doch die Sklavenzeit selbst so himmelschreiend ungerecht war.

Irgendwann wurde die Landschaft anmutiger; die Wolken hingen tief und dichte Heckenreihen und vereinzelte Häuser unterbrachen die Horizontlinie. Die Straßen schrumpften zu einspurigen, von Bäumen überdachten Pisten, auf die Licht in allen Schattierungen von Grün fiel. Als das Navigationssystem versagte, richtete Silyen sich auf und erklärte Luke, wie er fahren sollte. Sie rollten an einem leeren, mit Holzschnitzeln bedeckten Parkplatz vorbei. Von den Einheimischen kam doch bestimmt niemand hierher, um mit seinem Hund Gassi zu gehen?

Dann sollte Luke den Wagen anhalten und begriff, dass man nicht näher an das Anwesen herankam.

»Trautes Heim«, verkündete Silyen, der sichtbar aufatmete, weil die Fahrt endlich vorbei war. »Ich frage mich, was mein Personal wohl von den neuen Bediensteten seines Herrn halten wird: sein männlicher Begleiter und sein treuer Hund?«

Luke verschluckte sich fast. »Sein was?«

Auf dem Rücksitz lachte Dog sein heiseres Lachen.

Es war noch eine weitere Steigerung einer bereits bizarren Situation. Luke würde das Anwesen eines Ebenbürtigen weder als Sklave noch als Gefangener betreten, sondern als Gast.

Oder, wie es schien, als männlicher Begleiter. Er erschauderte.

»Ich könnte dir deinen eigenen Butler zur Verfügung stellen«, sagte Silyen. »Würde dir das gefallen? Rix hat Hunderte von Sklaven. Auf diese Art hat er wohl versucht, ihnen den Aufenthalt in einer Sklavenstadt zu ersparen. Weiß der Himmel, was sie alle machen – das Gras mit einer Nagelschere schneiden, könnte ich mir vorstellen.«

»Warum brauchst du überhaupt Sklaven?«, wollte Luke von ihm wissen. »Ich meine, selbst wenn man mal die ganze Sache von wegen Sklaverei ist falsch außer Acht lässt, ist es ja nicht so, als müsste man sich um uns drei kümmern. Und es wäre doch bestimmt gut, Privatsphäre zu haben.«

Niemand würde etwas ausplaudern können, falls Abi hierhinkam. Niemand würde herumschnüffeln, falls Coira hier auftauchte. Das wäre perfekt.

»Keine Sklaven?«, fragte der Ebenbürtige nachdenklich. »Privatsphäre. Hm, warum sollten wir die brauchen, Luke?«

Seine Augen funkelten anzüglich, und wieder prustete Dog auf dem Rücksitz los. Bitte, lieber Gott, dachte Luke und kniff die Augen fest zu, bitte mach, dass Silyen Jardine nicht mit mir flirtet.

»Ich dachte dabei eher an die Jahrhunderte der Ausbeutung und Sklaverei«, sagte er vorsichtig. »Wirklich nicht besonders schön.«

»Nun, wenn du es so siehst … Das wäre ja ziemlich einfach. Dazu existiert ein rechtlicher Präzedenzfall. Aber ich warne dich: Hier kommen keine Pizzalieferdienste hin, und nach einer Woche von Dogs Kaninchenpastete wirst du mich wahrscheinlich anflehen, es mir noch mal anders zu überlegen.«

Silyen schwang die Beine aus dem Wagen und ging auf den Wald zu.

Luke drehte sich zu Dog um. »Was ist so lustig?«

»Keine Sklaven? Dann stehst du … ganz allein auf dem Putzplan, Hadley … und zwar für immer.« Er bleckte die Zähne zu einem wilden Grinsen und rutschte vom Rücksitz herunter.

Schnell zog Luke die Wagenschlüssel aus der Zündung und steckte sie ein – allerdings nicht, ohne vorher einen Blick auf die Tankanzeige zu werfen. Knapp unter halbvoll. Genug, um ihn weit von hier fortzubringen, wenn es sein musste. Dann ging er den beiden hinterher, in den Wald hinein.

Das Trio folgte einem Pfad, dessen Verlauf Luke sich einzuprägen versuchte, bis sie an die Mauer um Far Carr gelangten. Sie bestand aus Backsteinen, genau wie die Mauer um Kyneston, beschrieb aber zahlreiche Kurven. Als sie näher kamen, sah Luke, dass die Backsteine gipsartig waren und bröckelten; das Geschick-Licht schimmerte nur schwach. Neben einem niedrigen Eisentor befand sich ein kleines, aber hohes Pförtnerhäuschen.

»Gut«, sagte Silyen. »Ihr beiden duckt euch, während ich das hier erledige. Mit einem entflohenen Mörder aufzutauchen ist vielleicht noch cool, aber zwei von eurer Sorte zeugen von einem Mangel an Phantasie.«

»Willst du sie wirklich freilassen?«

»Na ja, du hast mich schließlich nett darum gebeten.«

»Weißt du«, sagte Luke, »Weltfrieden, Frauenrechte und ein Ende aller Hungersnöte wären auch eine gute Sache.«

Silyen grinste. »Treib es nicht zu weit, Hadley.«

Dog stieß ihn in das Pförtnerhäuschen – ein verstaubtes, kaum genutztes kleines Gebäude, in dem Luke niesen musste –, und die beiden sahen durch das verschmierte Fenster, wie aus Richtung des Tors ein helles Licht aufflackerte. Kurz darauf trafen nach und nach die Arbeiter von Far Carr ein, herbeigerufen durch einen geschickten Befehl. Einige atmeten schwer, als sie vor Silyen stehen blieben, denn sie waren aus allen Winkeln des weitläufigen Anwesens herbeigelaufen. Darunter waren auch etliche Kinder: Offenbar hatte Rix einen Ort für Familien schaffen wollen, wo sie ihre Sklavenzeit gemeinsam ableisten konnten.

Aber er hatte ebenfalls von Lukes Körper Besitz ergriffen, um Kanzler Zelston zu töten. Bei dieser Vorstellung bekam Luke eine Gänsehaut, obwohl er keinerlei Erinnerung daran hatte. Ein Übergriff war noch immer ein Übergriff, selbst wenn das Opfer sich an nichts erinnern konnte. Was Rix getan hatte, ließ sich durch nichts rechtfertigen. Doch das hatte auch schon vor Jacksons Bestrafung und seinem Tod gegolten. Vor Crovan und Eilean Dòchais. Vor dem Blutmarkt.

Wenn man Luke eine Waffe in die Hand drücken und ihn noch einmal vor Whittam Jardine stellen würde, wäre dann Geschick-Zwang erforderlich, damit er abdrückte?

Oder würde er es bereitwillig tun?

Die Vorstellung war verstörend, und Luke war froh, als Silyen diese Überlegungen mit einem kurzen Händeklatschen beendete. Inzwischen hatten sich mehrere hundert Menschen um den Ebenbürtigen versammelt. Bei ihrem Anblick traf Luke ein ganz neuer schrecklicher Gedanke. Wohin würden sie wohl jetzt geschickt? Nach Süden, in die Fischfabriken? In den Bore im Norden? Kinder erwartete an diesen schrecklichen Orten ein viel schlimmeres Schicksal als ein Sklavendasein auf Far Carr.

War das etwa Silyens Vorstellung von einem grausamen Scherz?

Zu spät. Daran hättest du denken sollen, bevor du schlau daherredest, Luke.

Silyen breitete die Hände aus wie ein Zauberer, der gerade einen Trick vorgeführt hat und auf den Applaus des Publikums wartet.

»Ich lasse euch frei«, sagte der Ebenbürtige. »Eure Tage sind abgeleistet. Egal, wie lange eure Sklavenzeit hier noch dauert, und selbst wenn ihr erst letzte Woche gekommen seid: Ihr habt keine weitere Schuld zu begleichen.«

Luke blinzelte verblüfft. Frei? Abgeleistet? Einfach so? Offensichtlich dachten die Leute dasselbe, denn ein ungläubiges Stimmengewirr entstand – das jedoch sofort erstarb, als Silyen die Hand hob.

»Unter einer Bedingung«, erklärte er mit einem spöttischen Lächeln. »Nicht unangemessen unter diesen Umständen. Ihr geht sofort. Auf der Stelle. Jeder, der sich nach zwei Stunden noch innerhalb dieser Mauern aufhält, wird von mir persönlich in den Bore verfrachtet.«

Danach wurde die Szene ziemlich schnell zu einer Farce. Die meisten drehten auf dem Absatz um und rannten auf das Haus zu. Einige versuchten, Silyen zu danken, der ganz perplex wirkte, als eine Frau mittleren Alters sich vorbeugte, um ihm die Hand zu küssen. Eltern führten ihre Kinder eilig durch das Tor ins Freie, um kein Risiko einzugehen. Luke hörte, wie sie strenge Anweisungen erteilten, ihre Sprösslinge sollten warten und sich nicht vom Fleck rühren, bevor sie ins Haus zurückliefen, um ihre Habseligkeiten zu holen. Genauso hätten Mum und Dad auch gehandelt.

Luke gestattete es sich nicht oft, an seine Eltern zu denken. Sie waren in Millmoor und in Sicherheit. Daisy und Abi hingegen lebten bei Gavar Jardine, nach wie vor inmitten dieser bösartigen Familie. Wo hielten sie sich auf? Bestimmt nicht immer noch in London, in Aston House.

Luke tastete nach dem Autoschlüssel in seiner Hosentasche. Würde Silyen ihn genauso durch das Tor gehen lassen wie die ehemaligen Bediensteten von Rix?

Warum interessierte sich Silyen überhaupt so für ihn?

Luke hatte eine Ahnung, die sich auf seine Beobachtung gründete, dass der Ebenbürtige ein paarmal etwas zu lange in seine Richtung geschaut hatte, und auf ein paar anzügliche Andeutungen, die er in dessen Worten gehört zu haben glaubte. Aber so verstörend die Vorstellung auch war, dass Silyen auf ihn stand: Sie war weitaus weniger beunruhigend als alle anderen Gründe, warum man das Interesse eines geschickten Soziopathen wecken sollte.

Gründe wie beispielsweise irgendeine geschickte Manipulation oder ein Experiment – wie in der Nacht, als er zum ersten Mal vor den Toren von Kyneston abgeladen worden war und gespürt hatte, wie das Geschick des Ebenbürtigen bis in sein Innerstes vorgedrungen war.

Oder Gründe, die den unheimlichen Zwischenfall auf Eilean Dòchais erklären mochten, als Crovan versucht hatte, Lukes Erinnerungen an die Ermordung Zelstons anzuzapfen, indem er die Barriere des von Rix auferlegten Stillschweigens durchbrach. In der halluzinatorischen Landschaft, in der dies geschehen war, hatte ein sonnenheller, seidenfeiner Faden Luke mit einer leuchtenden Präsenz verbunden, bei der es sich nur um Silyen Jardine gehandelt haben konnte. Worin bestand bloß diese Verbindung?

Wie auch immer: Silyen wollte offenbar, dass er blieb.

Aber wollte Luke das überhaupt?

Mehr als alles andere wollte er zu Coira zurückkehren. Doch sie war nicht die einzige Person, an die er denken musste. Silyen war nämlich auch seine Verbindung zu Gavar – der inzwischen beide von Lukes Schwestern in seiner Gewalt hatte.

Außerdem hatte der Ebenbürtige gerade Hunderte von Menschen mit ein paar einfachen Worten die Freiheit geschenkt. Luke vermutete, dass Silyen der Ansicht war, die Abhängigkeit vom System der Sklavenzeit schwäche die Ebenbürtigen und führe dazu, dass sie ihre Geschick-Gabe vernachlässigten. Daneben schien der Junge nur wenig Liebe und Respekt für seine Familie übrigzuhaben – und das galt besonders für seinen Vater.

Reichten diese Dinge aus, um gemeinsame Sache zu machen? Um Silyen für einen offenen Widerstand gegen das grausame Regime seines Vaters zu gewinnen? Denn mit jemandem wie ihm an der Seite im Kampf um Gerechtigkeit konnten die Ebenbürtigen nicht wegsehen – und vielleicht waren ja dadurch endlich Veränderungen möglich.

»Ihr könnt rauskommen.« Silyen betrat das Pförtnerhäuschen. »Sie sind damit beschäftigt, zu packen und wegzurennen. Wir müssen die Grenze abgehen. Sobald sie das erste Dorf erreichen, wird sich herumsprechen, was ich getan habe. Und wenn mein Vater die Neuigkeit erfährt, könnt ihr darauf wetten, dass wir schon bald Besuch bekommen. Rix hat nie etwas an der Mauer hier gemacht, also stecken bloß ein paar Überreste an Geschick darin. Dagegen muss ich etwas unternehmen.«

»Und wir? Wirst du uns wieder anbinden, wie in Kyneston?«

Silyen legte den Kopf auf die Seite. Jetzt sah er aus wie ein Vogel, und Luke erwartete fast, dass er gleich die Augen nach oben verdrehen und glänzende schwarze Flügel ausbreiten würde.

»Muss ich das, Luke?«

Luke atmete lange aus. Er konnte es nicht länger aufschieben. Silyens Plauderton, seine Rettungs- und Befreiungsaktionen – nichts von alldem konnte davon ablenken, dass Luke noch immer eine Erklärung brauchte.

»Warum hast du es zugelassen, dass Crovan mich mitnimmt? Du weißt, was er mit den Menschen anstellt – wie grauenvoll diese Burg ist. Du hast herausgefunden, was Rix in der Nacht getan hat, als Zelston starb, und du hättest es deinem Vater oder dem Parlament mitteilen können. Dann wäre ich vielleicht nicht zur Verbannung verurteilt worden, und Jackson hätte sein Geschick nicht verloren. Vielleicht wäre er dann noch am Leben.«

Zu seinem Entsetzen riss Lukes Stimme plötzlich ab wie ein Blatt Papier. Seine Augen brannten, und er blinzelte, konnte die Tränen aber nicht aufhalten. Er sah Jackson vor sich, heulend auf Händen und Knien, mit goldenen Tränen in den Augen, während Crovan das Geschick aus ihm herausriss. Er sah ihn tot in der Halle von Eilean Dòchais liegen, wo sich sein Blut über die Steinplatten ergoss.

Solange er lebte, würde Luke diese Szenen nicht vergessen. Ja, er wollte gegen das Regime der Ebenbürtigen kämpfen, weil es das einzig Richtige war. Und weil er sich für die Grausamkeit rächen wollte, die ihm und anderen widerfahren war: Abi, die hingerichtet werden sollte. Renies gestohlene Kindheit. Selbst Dog, dessen Frau vergewaltigt und aus dessen Trauer Gräueltaten erwachsen waren.

Aber »das Richtige« war nichts anderes als eine Vorstellung. »Rache« war nichts anderes als Wut. Lukes wahrer Antrieb verbarg sich dagegen tief in seinem Herzen – all das, was er Jackson verdankte und von ihm gelernt hatte. Nie würde er seinen Mentor vergessen, der einem verängstigten, in einer Sklavenstadt alleingelassenen Teenager seine Freundschaft angeboten und ihm beigebracht hatte, zu träumen und mehr zu wagen.

Silyen starrte Luke an, als sehe er ihn zum ersten Mal. Und wenn schon …

Als der Ebenbürtige sprach, klang er defensiv.

»Ich habe dafür gesorgt, dass nie die Gefahr bestand, dass du … schlecht behandelt wirst. Ich habe Vater gesagt, was wir von dir erfahren müssten, würde dich zu wertvoll machen, um dir Schaden zuzufügen. Also hat er Crovan spezielle Anweisungen erteilt.«

»Schaden zufügen? Er foltert Menschen. Er tut es immer und immer wieder und sorgt jedes Mal dafür, dass sie es wieder vergessen. Wusstest du das? Du musst doch gewusst haben, dass er das mit Dog gemacht hat. Und trotzdem bist du zum Tee vorbeigekommen, als wärt Crovan und du die besten Freunde.«

»Kaffee, um genau zu sein.«

Luke holte mit der Faust gegen Silyen aus, bevor sein Gehirn registrierte, was er da tat – denn es hätte ihm gesagt, dass es sinnlos war: Man konnte Ebenbürtigen keine Schläge verpassen. Wie zu erwarten, taumelte er zur Seite und krachte gegen die Wand des Pförtnerhäuschens.

Er brauchte einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen. Den Rücken gegen die Backsteinmauer gelehnt, sah er Silyen an. Er fühlte sich vollkommen ungeschützt und wusste, dass er jämmerlich aussehen musste, aber das war ihm egal. Der Ebenbürtige sollte es ruhig sehen. Er musste begreifen, dass das, was für ihn Übermut und Intrige gewesen war, für andere Schmerz und Leid bedeutet hatte, Leben oder Tod. Denn wenn Silyen das nicht verstehen konnte, bestand keinerlei Hoffnung – und Luke brauchte gar nicht erst zu versuchen, ihn zu überzeugen.

Silyen wirkte … unsicher.

»Luke, wenn du nicht auf dem Gorregan Square aufgetaucht wärst – und ich würde immer noch gerne wissen, wie du das geschafft hast –, dann hätte ich dich in den nächsten Tagen bei Crovan rausgeholt. Ich gebe zu, ich hätte es früher tun sollen.«

»Aus welchem Grund?«, fragte Luke den Jungen und schaute ihm in die Augen.

»Ich habe es dir am Morgen der Verhandlung gesagt und noch einmal, als du Kyneston verlassen hast. Ich sagte, du würdest irgendwohin kommen, wo du von Nutzen bist, da ich Antworten auf ein paar Fragen brauchte. Du weißt, worum es bei diesen Fragen ging: Ich musste herausfinden, wie der Akt des Stillschweigens funktioniert.«

»Von Nutzen? Fragen und Antworten? Du hast mich zu einem Wahnsinnigen geschickt, um etwas herauszufinden?«

»Im Grunde geht es bei allem immer nur darum, etwas herauszufinden.«

»Wirklich? Wie wäre es mit: weil es richtig ist? Oder: um die Welt zu einem besseren Ort zu machen?«

Wieder huschte ein Ausdruck der Unsicherheit über Silyens Gesicht. Luke stellte sich vor, wie das Gehirn des Ebenbürtigen alle möglichen geistreichen Erwiderungen durchratterte: Wie würdest du »richtig« definieren? Ein besserer Ort für wen?

Aber Silyen sagte nichts dergleichen.

Er antwortete überhaupt nicht.

Nun, vielleicht war das ein Anfang.

»Das dauert mir … zu lange«, knurrte Dog und trat an ihnen vorbei aus dem Pförtnerhaus.