Darkest Sunlight - Leandra Seyfried - E-Book

Darkest Sunlight E-Book

Leandra Seyfried

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Beschreibung

**Eine Begegnung, die alte Wunden aufreißt. Eine zweite Chance, die sie heilen lässt.** Seit ihrer Kindheit sind Mona und die Nachbarsbrüder Ben und Lennart unzertrennlich. Doch kurz vor dem Start des Studiums, das sie mit Ben an der elitären Hohenfels-Universität beginnen wollte, stirbt dieser bei einem Autounfall. Von Trauer überwältigt flieht Mona aus München, ohne sich von Lennart zu verabschieden oder an der Beerdigung teilzunehmen. Als sie ein Jahr später zurückkommt und das Studium antritt, ist ausgerechnet Lennart ihr neuer Dozent. Er hat ihr nicht verziehen und möchte sich von ihr fernhalten – aber vergeblich. Denn zwischen Wortgefechten und Streitereien kommen verdrängte Gefühle von damals wieder zum Vorschein – und plötzlich stehen sie vor einem Rätsel, das sogar für die zwei Wissenschaftler eine Nummer zu groß ist. Lass dich von Mona & Lennart in einen Strudel der Gefühle mitreißen! //»Darkest Sunlight« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.// 

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Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

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Leandra Seyfried

Darkest Sunlight

**Eine Begegnung, die alte Wunden aufreißt. Eine zweite Chance, die sie heilen lässt.**

Seit ihrer Kindheit sind Mona und die Nachbarsbrüder Ben und Lennart unzertrennlich. Doch kurz vor dem Start des Studiums, das sie mit Ben an der elitären Hohenfels-Universität beginnen wollte, stirbt dieser bei einem Autounfall. Von Trauer überwältigt flieht Mona aus München, ohne sich von Lennart zu verabschieden oder an der Beerdigung teilzunehmen. Als sie ein Jahr später zurückkommt und das Studium antritt, ist ausgerechnet Lennart ihr neuer Dozent. Er hat ihr nicht verziehen und möchte sich von ihr fernhalten – aber vergeblich. Denn zwischen Wortgefechten und Streitereien kommen verdrängte Gefühle von damals wieder zum Vorschein – und plötzlich stehen sie vor einem Rätsel, das sogar für die zwei Wissenschaftler eine Nummer zu groß ist.

Wohin soll es gehen?

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Vita

Playlist

Danksagung

© Christian Franke

Leandra Seyfried wurde 1999 geboren und lebt gemeinsam mit ihrer Familie und Golden Retriever Anton in München, wo sie Medien- und Kommunikationsmanagement studierte. Sie ist eine Optimistin mit einer Schwäche für fiktive Welten aller Art: ob in Büchern, Filmen, Serien oder der Musik. Mit ihren Geschichten möchte sie Leserinnen und Lesern einen Zufluchtsort bieten – weit weg von der Realität.

Instagram: leandraseyfried

TikTok: leandraseyfried

Vorbemerkung für die Leser*innen

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Leandra Seyfried und das Impress-Team

Playlist

Sunlight – Hozier

Memories – Conan Gray

The Night We Met – Lord Huron

Somehow – Tom Odell

A Troubled Mind – Noah Kahan

silhouettes of you – isaac gracie

Daylight – David Kushner

Snow Angel – Reneé Rapp

Remind Me – Bastille

Loneliness – Birdy

It Can´t Be You – Ashe

Halley´s Comet – Billie Eilish

Die For You – LÈON

Count on Me – NEEDTOBREATHE

I Want It All – Duncan Laurence

This Will Be Our Year – The Teskey Brothers

I wish I could show you, when you are lonely or in darkness, the astonishing light of your own being – Hafiz

Für meine Eltern.

Für Salem, 1988.

Prolog

Mona

Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und tropfte auf den Reisepass in meiner Hand. Eilig wischte ich sie mit dem Ärmel meines rostfarbenen Strickpullovers fort und blinzelte heftig, um weitere zu verhindern.

Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich und trat an den Schalter heran, hinter dem ein Mitarbeiter der Lufthansa saß. Er sah auf, woraufhin ich mich an einem Lächeln versuchte, das einen bitteren Geschmack in meinem Mund hinterließ und schnell wieder verrutschte.

»Guten Abend, was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann mit den schwarzen Haaren und rückte seine durchsichtige Brille auf der Nase zurecht.

»Hallo«, begann ich und versuchte, meine Stimme so stark wie möglich klingen zu lassen, was mir nicht sonderlich gut gelang. »Ich möchte …« Der Satz erstarb auf meinen Lippen. Verdammt. Ich brachte es nicht übers Herz, die Worte auszusprechen. Sie waren so … endgültig und würden meine Entscheidung real machen.

Er hob beide Augenbrauen. »Haben Sie eine Frage? Oder wollen Sie ein Ticket kaufen?«

Ich nickte und spürte, wie meine Augen anfingen zu brennen. Wenn ich nicht in dem Schmerz ertrinken wollte, der tonnenschwer auf meiner Brust lastete, musste ich München verlassen. Und zwar so schnell es ging. »Ich möchte einen Flug nach Hamburg buchen.« Da waren sie: die sieben Worte, die mein Schicksal besiegelten.

Er wandte sich seinem Bildschirm zu und tippte etwas auf seiner Tastatur ein. »Mal sehen …« Er hob den Blick. »Heute Abend geht nur noch ein Flug.« Er checkte die Zeit in der unteren rechten Ecke seines Monitors. »Und zwar in fünfundzwanzig Minuten. Das ist vielleicht etwas knapp. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen stattdessen ein Ticket für den ersten Flug morgen Früh –«

»Nein, das passt«, unterbrach ich ihn so eilig, dass ich ein paar Silben verschluckte. »Ich nehme den Flug heute Abend.«

Was tust du bloß?, fragte ich mich verzweifelt, als ich die Bezahlung tätigte und darauf den Flugschein überreicht bekam. Ich hievte meinen schwarzen Koffer auf das Band, beobachtete nur kurz, wie der Lufthansamitarbeiter die Gepäckbanderole am Henkel festband, und verabschiedete mich. Ich warf einen letzten Blick über meine Schulter zu den Glastüren, hinter denen mich meine Tante Valentina und ihr Freund Aarón abgesetzt hatten. Ich wollte sie nicht verlassen. Ich wollte München nicht verlassen – die Stadt, die ich in den letzten neun Jahren meine Heimat genannt hatte.

Noch vor zwei Wochen wäre mir niemals in den Sinn gekommen, zu gehen. Ich hatte einen Plan gehabt, ein Stipendium, eine Zukunft. Der Start meines neuen Lebens war so nah gewesen, dass ich nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Doch dann hatte diese Zukunft Risse bekommen, ehe sie vor drei Tagen implodiert war …

Ich presste die Augen zusammen. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Körper und ich hörte die Stimme zum wiederholten Mal in meinem Kopf. »Ben hatte einen Unfall … Er hat es nicht geschafft.«

Ich drückte mir eine Hand auf den Magen, um die Übelkeit zu unterdrücken. Einen Fuß vor den anderen setzen, Mona. Einfach weitergehen.

»Nächster.« Die Frau am Sicherheitscheck winkte mich zu sich. Ich atmete zitternd aus, ehe ich meine Tasche in die Plastikschale und mein Handy daneben legte. Seit gestern befand es sich im Flugmodus und ich fürchtete mich vor dem Moment, an dem ich es wieder anschalten würde.

»Haben Sie Flüssigkeiten oder elektronische Geräte in der Tasche?«, erkundigte sich die Frau des Flughafenpersonals.

Ich schüttelte den Kopf, unfähig, etwas zu sagen. Meine Unterlippe zitterte und es kostete mich all meine Selbstbeherrschung, nicht die Fassung zu verlieren.

Als die Frau von meiner Tasche aufsah und mich mit ihren großen braunen Augen musterte, zog sie angesichts meines verweinten Gesichts besorgt die Brauen zusammen. Ich wich ihrem Blick aus, wandte mich ab und trat durch den Scanner.

Ein Teil von mir rechnete damit, dass jeden Moment jemand meinen Namen rufen und mich aufhalten würde. Eine Wunschvorstellung, denn nichts dergleichen geschah, weshalb ich mir einen Weg durch die Reisenden bahnte, über die Rollbahnen zum Gate hastete und mich in der Schlange anstellte, da das Boarding bereits begonnen hatte. Das Café neben dem Gate verströmte den Duft nach Pumpkin-Spice-Latte und über die Durchsage verkündete eine blecherne Stimme ein geändertes Gate für einen Flug nach Athen. Mein Blick glitt über die von Nieselregen bedeckten Scheiben, hinter denen der Flieger zu sehen war – ovale Fenster, die in die Dunkelheit strahlten, und eine glatte weiße Oberfläche, auf der sich die Reste der Dämmerung spiegelten.

Nachdem eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand durch das Drehkreuz getreten war, winkte mich die blonde Stewardess mit einem breiten Lächeln heran. »Ticket?«

Ich schob mir die Brille mit dem filigranen Goldrand auf die Nase zurück und wollte es ihr gerade überreichen, als meine Hand zögerte. Du begehst einen riesengroßen Fehler, schrie mir meine Vernunft zu.

Man sagte immer, dass man vor seinen Problemen nicht davonlaufen könne, was meiner Meinung nach nur zum Teil zutraf. Natürlich konnte ich dem Schmerz nicht entfliehen – er würde für immer in meine Zellen eingeprägt sein wie eine Abänderung meiner DNA. Doch es war die Umgebung, die den Schmerz verstärkte. All die Orte und Gegenstände, die sich automatisch mit Erinnerungen an die Vergangenheit aufgeladen hatten. Angefangen mit Lennarts Fenster, das ich von meinem aus sehen konnte …

Scheiße. Der Gedanke, in seine grünen Augen zu schauen und mein eigenes Leid darin gespiegelt zu sehen, war unerträglich.

Weshalb ich nicht bleiben konnte.

Wenn ich dieses Ticket nutzte und in den Flieger stieg, würde ich nicht nur München, sondern vor allem ihn zurücklassen. Es war feige und erbärmlich, aber ich war nicht stark genug, um hierzubleiben und den Schmerz zu ertragen. Ich wusste, dass ich mir das nicht verzeihen würde, allerdings sah ich keinen anderen Weg.

Ich blinzelte mehrmals hintereinander, wodurch sich eine Träne aus meinem Augenwinkel löste und über meine Wange glitt. Valentina hatte mich angefleht, zu bleiben. Für das Stipendium, für Lennart, für Bens Beerdigung. Schließlich hatte ich sie überreden können, mein Stipendium ein Jahr zu pausieren. Es war schlimm genug gewesen, dass Lennart letzte Woche verkündet hatte, dass er doch nicht mit Ben und mir an die Hohenfels-Universität komme … aber nun auch noch ohne Ben dort zu studieren? Ich wusste nicht, wie das gehen sollte. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so einsam gefühlt.

Ich glaubte weder an eine höhere Macht noch an Wunder. Das Einzige, dem ich Glauben schenkte, war die Mathematik, die Wissenschaft, die Zahlen.

Also, Mona. Wie lauten die Fakten?

Fakt Nummer eins war, dass Zeit Wunden heilte.

Fakt Nummer zwei: Ich musste die Variable München aus der Gleichung herausnehmen, wenn ich wollte, dass die Rechnung aufging.

Weshalb mir letztendlich nichts anderes übrig blieb – meine Entscheidung stand fest. Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und überreichte der Stewardess das Ticket. Sie zog es etwas zu enthusiastisch über den Scanner und gab es mir übertrieben lächelnd zurück. »Guten Flug!«

Ich trat mit bleischwerem Herzen durch das Drehkreuz. Hoffentlich würde ich bei meiner Rückkehr stark genug sein, die Scherben aufzusammeln, die ich hinterließ.

1. Kapitel

Mona

1 Jahr später

Mit quietschenden Bremsen kam das Taxi vor dem Vorstadthaus zum Stehen. Ich atmete zittrig aus und ließ den Blick über die vertrauten weißen Fensterläden, den überwachsenen Vorgarten und den Apfelbaum schweifen, unter dem ein orange-roter Laubhaufen zusammengekehrt worden war. Rauch stieg aus dem Kamin empor und Efeu rankte sich am weißen Zaun entlang.

Es war verrückt. Das Haus von Valentina und Aarón sah mit all seinen Details genauso aus wie an dem Tag, an dem ich München verlassen hatte. Sogar die Körbe voller Äpfel auf den Stufen, die zur Eingangstür führten, und die filigrane Lichterkette, die das Sprossenfenster in der Küche schmückte, waren gleich. Ich hatte den Winter, Frühling und Sommer in München verpasst und war nun zur selben Zeit wie damals wieder hier. Einerseits fühlte es sich dadurch seltsamerweise an, als wäre keine Zeit vergangen. Andererseits wusste ich, dass sich alles verändert hatte.

Unwillkürlich glitt mein Blick zu dem Grundstück rechts daneben und dem Haus mit der dunkelroten norwegischen Holzfassade, in dem ich mindestens genau so viel Zeit verbracht hatte. Inzwischen war Lennart ohne Zweifel ausgezogen und promovierte an der Technischen Universität München. Im letzten Jahr war kein Tag vergangen, an dem ich mich nicht gefragt hatte, wo er war und was er tat. Es war seltsam, wie sich zwei Menschen Tag für Tag sehen, alles über den Alltag des anderen wissen und dann schlagartig zu Fremden werden konnten. Mittlerweile konnte ich nur grobe Vermutungen über sein Leben anstellen – Social-Media-Kanäle hatte er nämlich keine. Das wusste ich, da ich das stets aufs Neue überprüfte.

Inzwischen schrieb er garantiert bereits an seiner Doktorarbeit. Es war bizarr, wenn man bedachte, dass er nur drei Jahre älter war als ich. Dabei durfte man allerdings nicht außer Acht lassen, dass er hochbegabt war. Abitur mit sechzehn, Bachelor der Mathematik mit neunzehn und Master mit einundzwanzig – Lennarts Lebenslauf las sich wie der Wikipedia-Eintrag eines berühmten Wissenschaftlers.

Wenn ich an den chaotischen Jungen mit den braunen Locken dachte, wurde mir schwer ums Herz. Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte, hatte sich für immer in meinen Kopf eingebrannt. Manche Erinnerungen ließen einen wohl niemals los – sie waren wie eingerahmte Bilder in den Fluren unserer Köpfe, die wir bei Gedankengängen immer wieder durchschritten. Wir hatten in meinem Zimmer vor dem Fenster gestanden, er hatte sich zu mir hinuntergebeugt und mir einen Kuss auf die Stirn gegeben. »Ich wünschte, ich könnte mit euch gehen. Aber ich kann nicht.« Damals war mein größtes Problem gewesen, dass er nicht wie seit Jahren geplant mit Ben und mir an die Hohenfels-Universität hatte gehen wollen, um dort zu promovieren. Wir hätten nicht ahnen können, dass sich kurz darauf alles verändern würde. Dass ein Lastwagenfahrer Ben auf dem Fahrrad übersehen und eine einzige Sekunde ausreichen würde, um alles zunichtezumachen.

Inzwischen war es zehn Jahre her, dass ich Lennart und Ben kennengelernt hatte. Zu dem Zeitpunkt hatten sich die beiden selbst erst zwei Jahre gekannt: Lennarts Vater hatte Bens Mutter geheiratet und war dann in das Haus nebenan eingezogen. Verstanden hatten sich die beiden auf Anhieb – genau wie ich mich mit ihnen. Zu Beginn der Sommerferien hatte mich mein Vater in Stuttgart ins Auto gesetzt und schließlich hier abgeladen. »Deine Tante Valentina freut sich, wenn du sie über die Sommerferien besuchst. Bis in sechs Wochen, Schatz«, hatte er gesagt, ehe er mit seiner Freundin nach Polen gezogen war und ich ihn nie wiedergesehen hatte. Im Nachhinein war das der zugleich schlimmste und schönste Tag meines Lebens gewesen. Seltsam, wie nah solch gegenteilige Emotionen beieinanderliegen konnten. Denn an diesem Tag hatte ich zwar meinen Vater zum letzten Mal gesehen, dafür aber Lennart und Ben kennengelernt. Die Sommerferien waren wunderschön gewesen. Wir hatten Limonade gemacht und sie am Straßenrand verkauft, waren mit verkratzten Knien und Stöcken in der Hand durch Wälder gerannt und mit Valentina ins Freibad gefahren.

Damals hatte ich noch nicht gewusst, dass mein Vater mich am Ende der Ferien nicht wie ausgemacht wieder abholen würde. Gegen Ende der sechs Wochen war ich sogar traurig gewesen, dass ich mich von Lennart und Ben wieder verabschieden musste. Tja, man sollte aufpassen, was man sich wünscht. Im Nachhinein war es wohl das Beste gewesen, was mir hätte passieren können. Als uns bewusst geworden war, dass mein Vater nicht zurückkommen würde, hatten Valentina und Aarón alles getan, um ihr Zuhause auch zu meinem zu machen. Meine Mutter war gestorben, bevor ich Erinnerungen an sie hätte sammeln können, und mein Vater hatte mich zurückgelassen und seine Telefonnummer gewechselt – keine besonders gute Bilanz für eine Zehnjährige.

Valentina hatte mir ein Zimmer im ersten Stock eingerichtet und mich an einer Schule in der Nähe angemeldet, aber eine Weile hatte es nichts gegeben, was mich hätte aufmuntern können. Lennart und Ben hatten natürlich mitbekommen, was passiert war, und es sich von da an zur Aufgabe gemacht, es wenigstens zu versuchen. Ich wusste nicht, weshalb sie dem traurigen, einsamen Nachbarskind unbedingt hatten helfen wollen. Vielleicht aus Mitleid oder Anstand. Jedenfalls waren sie mir ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von der Seite gewichen. Sie hatten auf mich aufgepasst, mich zum Abendessen bei ihren Eltern eingeladen, mir geheime Orte in der Nachbarschaft gezeigt. Von diesem Moment an hatte es uns nur im Dreierpack gegeben. Beste Freunde, die alles teilten – über Jahre hinweg.

Bis sich die Dinge zwischen uns … verkompliziert hatten. Man könnte meinen, dass meine Gefühle für Lennart der Auslöser dafür gewesen waren, doch da ich mich bereits mit elf in ihn verliebt hatte, konnte das nicht der Grund gewesen sein.

Ich konnte mich nicht an den genauen Moment erinnern, in dem ich mir dieser Empfindungen für ihn bewusst geworden war. Vielleicht, als ich herausgefunden hatte, dass wir die Leidenschaft für Mathematik teilten. Während ich allerdings beim Lösen von Gleichungen strukturiert und analytisch vorging, war er mehr der durchgeknallte Professor-Typ, der seine Unterlagen verlegte, sich die Haare raufte und unterschiedliche Herangehensweisen ausprobierte. Wenn ich es mir genau überlegte, waren wir nicht nur an Gleichungen, sondern an das ganze Leben so rangegangen.

»Ist es das falsche Haus oder warum steigen Sie nicht aus?«, fuhr mich der Taxifahrer mit bayerischem Dialekt an.

Ich zuckte zusammen und wurde abrupt in die Realität katapultiert. »Sorry, nein, es ist das richtige. Ich war nur in Gedanken«, erklärte ich und sah in den Rückspiegel, aus dem mir die müden Augen des Mannes entgegenblickten.

»Aha. Das macht dreiundachtzig Euro.«

Dafür, dass man vom Flughafen bis nach Obermenzing eine halbe Stunde brauchte, war das eine Menge Geld, doch ich verkniff mir den Kommentar. Ich bezahlte, lehnte seine Hilfe ab und hievte meinen Koffer selbst aus dem Wagen. Ich sah dem eierschalenfarbenen Taxi hinterher, ehe es um die Ecke bog und aus meinem Sichtfeld verschwand.

Mein Mund war wie ausgetrocknet, als ich meinen Koffer auf den Gehweg hob und an das Gartentor herantrat. Ich drückte probehalber dagegen und stellte fest, dass Valentina es nach wie vor nicht repariert hatte – es schwang direkt nach innen auf. Ich ging zur Eingangstür und blickte auf meine Armbanduhr mit den filigranen goldenen Verzierungen und dem abgewetzten Lederband. Ich war drei Stunden und vierzehn Minuten zu früh. Valentina und Aarón erwarteten mich nicht vor zwanzig Uhr, doch nach einem ganzen Jahr machten drei Stunden wohl auch keinen Unterschied mehr.

Ich suchte in meiner Tasche nach einer Haarspange und klemmte mir meine hellbraunen Locken damit aus dem Gesicht, ehe ich die Klingel drückte. Der klare Ton sickerte durch den Türrahmen und durchschnitt die Stille der Vorstadt. Würden sie mich wie vor zehn Jahren mit offenen Armen empfangen? Oder war der Schaden, den ich angerichtet hatte, zu groß?

Zuerst ertönten Schritte auf dem Parkett, dann wurde die Tür schwungartig aufgerissen. Vor mir stand Valentina, ihre blonden Haare zu einem unordentlichen Knoten aufgetürmt. »Mona!« Ihre Augen füllten sich auf der Stelle mit Tränen, als sie mich ins warme Licht des Hauses und gleichzeitig in ihre Arme zog. Ich ließ meine Zweifel vor der Haustür, nahm einen tiefen Atemzug und atmete den Duft nach Zuhause, Sicherheit und Kartoffelsuppe ein.

»Ich habe dich unendlich vermisst«, flüsterte sie in meine Haare, woraufhin ich sie noch fester umarmte.

»Ich dich auch«, antwortete ich wahrheitsgemäß und spürte die Schuldgefühle tonnenschwer auf meinen Schultern lasten.

Sie löste sich aus meinem Griff und musterte mich. »Du siehst erwachsen aus.«

»Ich war nur ein Jahr weg. Und wir haben uns in der Zwischenzeit gesehen, also …«

»Nur ein Jahr? Blass siehst du auch aus. Das muss an Hamburg liegen. Hast du auch nur einen Sonnenstrahl abbekommen?«

Ich zog den Koffer ins Innere des Hauses, schloss die Tür hinter mir und rückte meine Brille zurecht. »Genügend«, entgegnete ich, was absolut gelogen war.

Als ich Valentina und Aarón vor einem Jahr angefleht hatte, mich von hier wegzubringen, war Aarón derjenige gewesen, der genügend Mitleid mit mir gehabt hatte, um seine Cousine Sofía in Hamburg anzurufen – keine Stunde später hatte ich im Auto in Richtung Flughafen München gesessen. Sofía hatte mich vom Flughafen Hamburg abgeholt und in den ersten Wochen in ihrem Gästezimmer schlafen lassen. Aaróns Cousine war klein, still und besaß ein Kino in der Sternschanze. Nachdem sie mich dort Vollzeit angestellt hatte, hatte ich mir ein kleines Zimmer in der Nähe gesucht, um ihr nicht mehr länger zur Last zu fallen. Wenn ich nicht gearbeitet hatte, war ich in meinem Zimmer gewesen. Erbärmlich, ich weiß. Es war ein Abschnitt, den ich so schnell wie möglich hinter mir lassen wollte – der Geruch von Popcorn würde mich von nun an vermutlich immer an die schlimmste Zeit meines Lebens erinnern. Grandios. Entspannte Kinoabende konnte ich mir wohl bis ans Ende meiner Zeit in die Haare schmieren.

»Nicht jeder kann solch einen natürlichen goldenen Teint haben wie du«, meinte ich, um die Wahrheit zu überspielen, und sah in ihre dunkelbraunen Augen. Die Schwester meines Vaters war am besten mit einem sanften Nieselregen zu vergleichen. Als er mich bei ihr abgeladen hatte, war sie gerade einmal dreiundzwanzig gewesen. Sie war kein Mutterersatz geworden, wie eine Tante fühlte sie sich allerdings auch nicht an. Sie war mehr wie meine ältere, sensiblere Schwester, die mich Anrufe in ihrem Namen tätigen ließ, wenn sie sich beschweren wollte, aber sich selbst nicht traute.

Ich zog die braunen Stiefel aus und stellte sie an den gewohnten Platz, den sie offenbar für mich freigehalten hatten. Valentina schlang einen Arm um meine Schultern und zog mich ins Haus. »Komm rein. Aarón kann es kaum mehr erwarten.«

Wir gingen an der mit beigem Teppich ausgelegten Treppe vorbei ins Wohnzimmer. Die Dielen knarrten unter meinen schwarzen Socken und das Geräusch war Balsam für meine Seele. Ich ließ den Blick über das senfgelbe Sofa bis hin zu dem übervollen Bücherregal schweifen und nahm jedes Detail in mich auf.

»Wie war der Flug? Hat alles geklappt? Warum hast du nicht gesagt, wann du landest? Wir hätten dich gern abgeholt.«

Ich öffnete meinen Mund, um zu antworten, als …

»Dios mío!« Ich fuhr herum. Aaróns olivfarbene Haut hatte in dem Licht einen goldfarbenen Unterton, sein schwarzer Schnurrbart war akkurat getrimmt. Er trug eine Schürze und in der Hand hielt er einen Kochlöffel, von dem eine helle Flüssigkeit auf das Parkett tropfte. »Mona! Du bist schon da!« Er lachte laut auf und breitete die Arme aus.

Ich konnte nicht anders, als sein Grinsen und die Umarmung zu erwidern.

»Mi amor!«, rief er laut und schlug mir derart fest auf den Rücken, dass es mir die Luft aus den Lungen presste. Es hatte sich nichts geändert: Aarón war das Gewitter und Valentina der Nieselregen, der darauf folgte. Sie hatten damals gerade einmal sechs Monate in diesem Haus gewohnt, das Aarón von seinen Eltern geerbt hatte, als sie mich bei sich aufgenommen hatten. Er war ebenso Familie, wie Valentina es war. »Bin ich froh, dich wieder bei uns zu haben.« Er klopfte mir erneut auf den Rücken. »Bitte geh nicht mehr weg.«

»Sie beginnt nächste Woche ihr Studium«, stellte Valentina schmunzelnd fest.

»Aber dann fahren wir jedes Wochenende an den Bodensee und besuchen dich«, meinte er.

Valentina lehnte sich zu mir und flüsterte: »Keine Angst, das rede ich ihm schon noch aus.« Sie zwinkerte. »Jedes dritte Wochenende reicht vollkommen.«

»Los, du musst etwas essen«, sagte er nun und führte mich an den Esstisch heran, auf dem langstielige weiße Kerzen in goldenen Haltern brannten. »Du bist heute einmal übers Land gereist, du musst einen Riesenhunger haben.«

Ich verkniff mir ein Lachen und setzte mich an den runden Tisch. »Bei dir klingt das, als wäre ich mit der Kutsche angekommen.«

Valentina setzte sich auf ihren üblichen Platz links neben mir und während Aarón Suppe in die Teller gab, fühlte es sich beinahe an wie früher. Jeden Abend hatte er für uns gekocht und die Stunde, in der wir gemeinsam gegessen hatten, war heilig gewesen. Doch es war eben nur beinahe wie früher.

Ich blickte durch das Fenster über der Spüle zu dem Haus der Familie Adler. Wenn Häuser Seelen hätten, wäre diese gebrochen. Ich schluckte schwer, in dem Moment, in dem ich das dunkle Wohnzimmerfenster sah. Normalerweise wäre ich nach dem Abendessen rüber gegangen, um Zeit mit Lennart und Ben zu verbringen. Ich schüttelte leicht den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben und mir nichts anmerken zu lassen.

Eine Weile aßen wir, sprachen über neue Geschäfte in der Stadt und darüber, dass unser Lieblingsrestaurant in Nymphenburg den Zitronenkuchen von der Karte genommen hatte. Zusammengefasst: Wir tanzten um das eigentliche Thema herum, wie drei Vögel, die sich um ein Nest stritten, weshalb ich nach einer Weile beschloss, den Anfang zu machen. »Also«, meinte ich und zog das Wort in die Länge. »Wie geht es den Adlers?«

Valentina legte ihren Löffel auf dem beigefarbenen Tischset ab. »Wir haben keinen Kontakt mehr.«

Ich sah erschrocken auf. Sie waren Freunde gewesen, hatten viel gemeinsam unternommen. Was war geschehen? »Ist es wegen mir?« Weil ich weggegangen war, mich die Adlers nun hassten und nicht einmal mehr mit Valentina und Aarón in Kontakt bleiben wollten?

Aarón schüttelte den Kopf. »Nein, sie haben sich einfach zurückgezogen. Ich bringe ihnen manchmal Apfelkuchen vorbei, aber es ist nicht wie vorher.«

Vorher. Zu der Zeit, als Ben noch gelebt hatte.

»Die Beerdigung«, begann ich und sprach mit einem Mal viel leiser. »Wie war sie?« Die Frage spukte mir nun schon ein Jahr im Kopf herum, nur hatte ich mich weder bei unseren Telefonaten noch während Aarón und Valentinas Besuch im Sommer getraut, sie zu stellen.

Valentina stützte ihr Kinn auf den Händen ab und seufzte. »Es war schrecklich. Obwohl ich ursprünglich dagegen war, dachte ich spätestens in dieser Kirche, dass das Pausieren des Stipendiums und deine Zeit in Hamburg womöglich doch das Richtige waren.«

Meine Kehle schnürte sich zu. Valentina legte ihre Hand auf meine. »Erzähl, wie geht es dir? Und ich will eine ehrliche Antwort. Jetzt, da du wieder hier bist, kannst du mich nicht wie am Telefon einfach abwimmeln.«

Ich biss mir auf die Zunge. Ich wusste, was sie hören wollte. Nämlich, dass es nach wie vor schwer war, ich jedoch nach vorn sehen würde. Dass ich mich bereit fühlte, mein Studium nächste Woche zu beginnen. Die Wahrheit war allerdings, dass die 371 Tage rein gar nichts verändert hatten. Ich hatte zwar nicht jeden Tag auf Lennarts Fenster starren müssen und nicht in jeder Ecke dieser Stadt ein Stück von Bens, Lennarts und meiner Vergangenheit gesehen …

Doch nun? Nun kam all das umso stärker zurück. Inzwischen war ich fest davon überzeugt, dass man schmerzhafte Erinnerungen eine gewisse Anzahl an Malen im Kopf durchgehen musste, bevor man weitermachen konnte. Das eine Jahr hatte meine zerbrochenen Teile nicht zusammengesetzt – ich hatte lediglich die Heilung aufgeschoben.

Aber das konnte ich nicht zugeben. Es war meine Idee gewesen, München zu verlassen, und nun sollte ich ihnen sagen, dass es mir genauso schlecht ging, wie vor einem Jahr? Auf keinen Fall.

»Ich bin nervös«, meinte ich stattdessen. »Nächste Woche ist der Studienbeginn und der Gedanke, ohne Lennart und Ben zu studieren, fühlt sich falsch an.« Es fühlte sich nicht nur falsch, sondern wie eine unüberwindbare Hürde an, die im letzten Jahr keinen Zentimeter niedriger geworden war.

»Sie waren ein großer Teil deines Lebens, deine allerbesten Freunde. Es ist normal, dass sie dir fehlen«, erwiderte Valentina. »Ich bin immer noch der Meinung, dass du dich bei Lennart melden solltest …«

»Stimmt«, erwiderte ich. »Eine gute Idee.« Ich nahm mein Telefon zur Hand und tat, als würde ich seine Nummer wählen. »Oh, hi, Lennart. Tut mir leid, dass ich in dem Moment abgehauen bin, in dem du mich am meisten gebraucht hättest, aber … na ja, jetzt bin ich wieder in München und dachte, wir könnten uns treffen. Alles klar, bis dann.« Ich legte das Telefon zur Seite.

»Lustig«, meinte Valentina, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich freue mich, zu sehen, dass dein Sarkasmus in Hamburg nicht verloren gegangen ist.«

»Valentina.« Ich sah sie eindringlich an. »Wenn dir jemand das Herz auf die schlimmste Art und Weise gebrochen hätte, würdest du diese Person auch nie wiedersehen wollen.«

In der ersten Woche hatte Lennart mich jeden Tag mehrmals angerufen, doch ich hatte nicht abgenommen. Sein Name auf meinem Sperrbildschirm und die daneben wachsende Zahl der verpassten Anrufe hatten mir jedes Mal aufs Neue vor Augen geführt, was für ein schlechter Mensch ich war. Wenn ich rangegangen wäre, hätte ich mich dem Schmerz und der Realität stellen müssen, wäre womöglich eingeknickt und nach Hause gekommen. Eines Tages hatten die Anrufe dann aufgehört. Es hatte sich wie eine Erleichterung und ein Stich ins Herz zugleich angefühlt. Die letzte Verbindung zu den Adler-Brüdern – durchbrochen.

Ich nahm die Stoffserviette mit den kleinen Gänsen darauf in die Hand und faltete sie geistesabwesend. »Wohnt er noch hier?«

Aarón schüttelte den Kopf und zerstörte die Hoffnungen, die ich nicht hätte haben dürfen. »Er ist ausgezogen.«

Ich nickte stumm, dabei braute sich auf der Höhe meines Herzens ein gewaltiger Sturm zusammen. Alle hatten weitergelebt und sich dem Schmerz gestellt – nur ich hatte jeden von mir fortstoßen und wegrennen müssen.

»Wie waren die letzten Wochen in Hamburg?«, fragte Aarón nun und verschränkte seine Hände auf dem Tisch. Ich spürte, dass er immer mehr in die Rolle des Psychologen schlüpfte, der er war.

»Ich habe weiterhin in Sofías Kino gearbeitet und zugesehen, wie alle anderen ihr Leben weiterleben, neue Leute kennenlernen und sich verlieben.«

»Klingt hervorragend«, entgegnete Aarón ironisch.

»Oh, es war fantastisch.«

»Du hast dich selbst bestraft.«

Ich wollte protestieren, rutschte allerdings unter seinem eindringlichen Blick unruhig hin und her. Schließlich knickte ich ein. »Ja, okay. Ein bisschen vielleicht. Es wäre nicht fair gewesen, weiterzuleben und Spaß zu haben, während Ben … tot ist und Lennart den Verlust durchlebt.«

»Du hast den Verlust auch durchlebt«, warf Valentina ein. »Du hast das Recht, wieder glücklich zu sein.«

Zu meinem Entsetzen spürte ich, dass meine Augen brannten. Hör sofort damit auf, du musst dich unter Kontrolle haben! Ich klopfte mit beiden Händen auf meine Oberschenkel. »Okay. Wo ist Shakespeare?«, fragte ich und sah mich nach dem weißen Kater um. »Ich würde gern hören, was er dazu zu sagen hat.«

Aarón rieb sich die Schläfen. »Du nutzt deine Ironie als Schutzwall, Mona. Lange kann das allerdings nicht gutgehen.« Er zeigte mit dem Löffel auf mich. »Du distanzierst dich von dem Schmerz, aber irgendwann kommt der Tag, an dem er dich einholt.«

Meine Unterlippe begann zu zittern, weshalb ich mich eilig erhob. »Ich sehe nach, ob ich ihn finde oder ob du ihn immer noch heimlich fütterst und er derart zugenommen hat, dass er träge geworden ist und von einem Auto überfahren wurde«, meinte ich und schlang je einen Arm um Aaróns und Valentinas Schultern. »Danach packe ich den Koffer aus. Sehen wir uns später?« Mein Lächeln fühlte sich wie eine Maske an und ich musste die Worte hervorpressen, damit meine Stimme nicht brach.

Sie brummten eine Zustimmung, woraufhin ich jedem einen Kuss auf die Wange gab, meinen Koffer schnappte und ihn unter Ächzen nach oben trug. Dort angekommen, drangen Valentinas und Aaróns gesenkte Stimmen an meine Ohren. Ich schloss die Augen und ließ die Schultern sinken. Sie sorgten sich um mich und fragten sich ohne Zweifel noch immer, was damals vor Bens Tod zwischen ihm, Lennart und mir vorgefallen war. Doch ich konnte mich ihnen gegenüber nicht öffnen, wie sie es sich von mir erhofften … Es fiel mir ja bereits schwer, es vor mir selbst zuzugeben. Meiner Meinung nach hatte ich kläglich versagt. Ich hatte mein Leben auf Eis gelegt und es meinem zukünftigen Ich überlassen, die Scherben aufzusammeln – blöd war nur, dass ich auch heute nicht stark genug dafür war.

Auf der Schwelle zu meinem Zimmer blieb ich stehen und tastete nach dem Lichtschalter. Längst vergessene Erinnerungen fanden ihren Weg zurück, als ich den Blick über das Einzelbett aus weißem Holz, die beigen Wände und die Bilderwand unter der großen Kommode schweifen ließ.

Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich das weiße Fellknäuel, das sich auf meiner ebenfalls weißen Tagesdecke zusammengerollt hatte. »Shakespeare!«, rief ich und kniete mich neben das Bett. Ich vergrub die Finger in seinem Fell und nahm sein zerknautschtes Gesicht zwischen meine Hände. »Hast du mich vermisst?« Er drehte den Kopf weg. »Äh, hallo?« Da war nichts – kein Schnurren, nicht einmal ein zuckendes Ohr. »Wow, Shakes«, murmelte ich. »Nicht so überschwänglich. Ich war ja nur ein Jahr weg, kein Grund gleich vor Freude auszuflippen.«

Ich ließ die Luft aus meinen Lungen entweichen und trat an den Schreibtisch heran, der direkt vor dem Fenster stand. Als ich die Lampe anknipste, warf sie ihren warmen Schein auf die Unterlagen darauf. Alles war noch exakt so, wie ich es hinterlassen hatte. Die Checkliste mit den Materialien, die ich für das Studium besorgen musste, der Kalender aus dem vergangenen Jahr und der Brief der Hohenfels-Universität. Ich griff danach und zog das veraltete Willkommensschreiben daraus hervor. Wir freuen uns, Sie im Wintersemester 2022/23 an unserer Fakultät begrüßen zu dürfen! Ich biss mir auf die Wangeninnenseite und nahm den goldenen Anstecker aus dem Umschlag, der dem Brief beigelegen hatte. Die Hohenfels-Universität hatte keinen Dresscode, dafür war es verpflichtend, den Anstecker zu tragen, um ein Gefühl des Zusammenhalts herzustellen. Ich drehte ihn zwischen meinen Fingerspitzen und betrachtete die eingravierte Schrift: Hohenfels-Universität, est. 1720. Darunter war eine Eule zwischen einem Mond und einer Sonne abgebildet, die mir vorwurfsvoll entgegen starrte.

Ich legte die Brosche neben dem dunkelblauen Wälzer mit dem Titel Angewandte Algebra ab, den ich mir von Lennart ausgeliehen und nie zurückgegeben hatte. Mit beiden Händen nahm ich das Buch hoch, blätterte durch die Seiten und fuhr mit den Fingerspitzen über die Notizen, die er mit seiner krakeligen Schrift an den Rand geschrieben hatte. Ich hob den Blick und sah aus meinem Fenster, das Lennarts direkt gegenüber lag. Hinter den halb geöffneten Jalousien war nichts als Dunkelheit zu erkennen – eine Metapher für die Leere, die Ben und Lennarts Abwesenheit in mir hinterlassen hatte.

In diesem Augenblick fiel ein zusammengefaltetes Stück Papier aus den Seiten. Als ich erkannte, was es war, verkrampfte sich mein Magen so schmerzhaft, dass ich mich mit weiß hervorstehenden Knöcheln am Schreibtisch festhalten musste. Nachdem der stechende Schmerz nachgelassen hatte, richtete ich mich auf. Ich würde den Zettel nicht auffalten, das würde ich nicht aushalten. Stattdessen schob ich ihn zurück in das Lehrbuch und klappte es eilig zu, ehe ich es auf den Stapel der Dinge legte, die ich mit zur Uni nehmen würde. Ich stieß die Luft aus und starrte an die Decke. Wie soll ich jemals nach vorn sehen?, dachte ich. Warum kann nicht alles wieder sein wie früher?

2. Kapitel

Mona

Frühling vor einem Jahr

Ich griff zwischen den Holzstreben des Gartentors hindurch, betätigte den Hebel und betrat das Grundstück der Familie Adler. Nachdem ich das Tor hinter mir geschlossen hatte, lief ich am Haus vorbei durch den Garten bis zur Hintertür.

Auf der Terrasse aus dunklem Holz befanden sich mehrere Bänke und Stühle, über denen eine Lichter- und eine bunte Wimpelkette gespannt worden waren. Links neben mir befand sich ein kleiner Teich, in dem vier Goldfische schwammen, die Lennart nach Wissenschaftlern benannt hatte. Nur er konnte sie auseinanderhalten … vielleicht behauptete er das aber auch nur.

Eine Brise ging durch die Bäume, die den Garten einrahmten, als ich die Tür öffnete. Sie war selten verschlossen und geklopft hatte ich seit Jahren nicht mehr.

»Ich bin da«, rief ich, streifte meine Sneaker ab und ging an der Kücheninsel des in hellen Blautönen eingerichteten Hauses vorbei in Richtung des Esszimmers. Vor einem Sprossenfenster, durch das man direkt auf unser Haus blicken konnte, stand ein rechteckiger Glastisch. Ben saß am Kopf des Tisches und war derart in den Inhalt seines Ordners vertieft, dass er nicht einmal aufsah. Als Begrüßung schob er lediglich den Stuhl links von sich nach hinten. Es war der, auf dem ich immer saß.

Lennart jedoch hob seinen dunkelbraunen Lockenkopf und lächelte mich schief an, was zur Folge hatte, dass mein Puls sofort auf das Doppelte anstieg. Er hatte mich schon immer überragt, doch im letzten Jahr hatte er einen weiteren Wachstumsschub gehabt und die eins neunzig geknackt. Er beobachtete mich aus seinen moosgrünen Augen, während ich den Jutebeutel von meiner Schulter auf den Boden gleiten ließ und mich in den Stuhl ihm gegenüber setzte. »Hi«, hauchte ich, nahm seine dichten Wimpern und den kleinen Leberfleck auf seiner Wange wahr.

»Hey«, entgegnete er und klappte den Bildschirm seines Laptops etwas herunter. »Wo warst du den ganzen Vormittag?«

Ich verzog das Gesicht. »Ich habe Valentina beim Reparieren des Gartentors geholfen.«

Nun sah auch Ben von seinen Unterlagen auf. Er war kleiner im Gegensatz zu Lennart, hatte schwarzes Haar und einen markanten Kiefer, der ihn ein wenig aussehen ließ wie einen Hollywoodschauspieler der fünfziger Jahre. Er verengte seine grauen Augen. »Wart ihr dieses Mal erfolgreich?«

Ich schüttelte den Kopf und zog meinen rechten Fuß unter den Oberschenkel. »Nein, aber ich bitte euch aufrichtig, die Finger davon zu lassen. Wir wissen alle, was das letzte Mal passiert ist, als ihr versucht habt, etwas zu reparieren.« Ich sah mit gehobener Augenbraue zuerst zu Lennart und danach zu Ben.

»Die Mikrowelle war davor schon kaputt«, verteidigte er sich.

»Äh, ja, geraucht hatte sie bis dato allerdings nicht.«

»Bevor ich es vergesse«, lenkte Lennart geschickt ab. »Alles Gute zum Pi-Tag.« Er deutete eine Verbeugung an.

Ich grinste. »Ich wünsche dir ebenfalls den wunderschönsten Pi-Tag, Len. Ich hätte dir ja einen Kuchen gebacken, aber das wäre in einer Katastrophe geendet.«

»Du meinst wohl, du hättest mir eine Pie gebacken«, entgegnete er ausdruckslos, ehe wir zur selben Zeit in Gelächter ausbrachen.

Ben runzelte die Stirn. »Wie immer verstehe ich kein Wort von dem, was ihr von euch gebt.«

»Heute ist der vierzehnte März«, sagte ich. »Die ersten drei Ziffern der Zahl Pi sind 3,14. Und nach der amerikanischen Datumsschreibweise –«

»Stopp, stopp, stopp.« Ben hob lachend eine Hand. »Ich habe gesagt, dass ich es nicht verstehe, und nicht, dass ich es wissen will. Ich komme damit klar, dass ihr schlauer seid als ich.« Er rollte mit den Augen. »Das werde ich oft genug zu hören bekommen, sobald wir in Salem sind.«

Er spielte auf die elitäre Hohenfels-Universität an, die sich in Salem, Baden-Württemberg befand. Bereits vor fünf Jahren hatten wir festgelegt, dort gemeinsam hinzugehen: Lennart, um zu promovieren, Ben und ich, um mit dem Studium zu beginnen. Das weitläufige Anwesen mit den Bibliotheken, Türmchen und Springbrunnen war ein wahrgewordener Traum – wenn man es sich denn leisten konnte. Bens und Lennarts Eltern konnten das – Valentina und Aarón nicht, weshalb ich seit Jahren auf ein Stipendium hinarbeitete. In wenigen Wochen würde es so weit sein und ich konnte meine Bewerbung abschicken. Allein bei dem Gedanken daran zitterten meine Hände. »Bleibt nur zu hoffen, dass ich das Stipendium erhalte«, murmelte ich halblaut.

»Natürlich bekommst du es«, sagte Lennart sofort.

»Ich muss«, gab ich zurück. »Ohne mich seid ihr beide vollkommen aufgeschmissen.« In Wahrheit war der Gedanke, dass sie ohne mich gingen, derart erschreckend, dass ich mir selten erlaubte, ihn zu Ende zu denken.

Ich konnte kaum erwarten, dass die Schulzeit endlich vorbei war und damit auch all der Rest aufhörte: Die Kommentare über meine Oberschenkel und Hüften, die nicht so zierlich waren wie die der anderen Mädchen. Die Blicke, wenn ich die Mittagspause mal wieder ausschließlich mit Ben verbrachte, seit Lennart einige Jahre vor uns sein Abitur gemacht hatte. Die genervten Seufzer, wenn ich wieder von den Lehrern gelobt wurde, weil ich die beste Arbeit geschrieben hatte. Dabei taten sie, als kämen mir die guten Noten zugeflogen, was nicht der Fall war. Ich war schließlich nicht Lennart. Leider. Die Resultate waren mit vielen Stunden harter Arbeit verbunden – unter anderem mit Lennart, der sich immer die Zeit nahm, mit mir zu lernen. Anders als ich, der nur Mathematik, Physik, Biologie und Chemie lagen, war er in jedem Fach gut.

Bei der Einschulung ins Gymnasium war ich in Bens Parallelklasse eingeteilt worden, ehe ich Valentina gebeten hatte, mit der Klassenleitung zu sprechen, damit ich wechseln konnte. Von dem Tag an hatte ich einen meiner zwei besten Freunde stets bei mir gehabt. Während ich im schulischen Geschehen nur eine Randfigur war, war Ben der Hauptcharakter. Er war beliebt – besonders bei den Mädchen – und wurde zu jeder Party als erstes eingeladen.

Ich hielt mich lieber zurück, zumal ich nie jemand gewesen war, der das gesagt hatte, was andere hören wollten. Warum sollte ich tun, als wäre ich jemand, der ich nicht war, nur um dazuzugehören? Nein danke.

Lennart war in der Hinsicht ein bisschen mehr wie ich. Da er zwei Klassen übersprungen hatte, war er stets der Jüngste gewesen. In der Schule hatte er kaum Freundschaften geschlossen und war bis zum Abitur gemobbt und ausgeschlossen worden. Erst im Laufe des Studiums wurde es besser. Lennart war introvertiert, was lediglich bedeutete, dass sein Innenleben lauter war als das, was er nach außen trug. Ich wünschte, mehr Menschen würden erkennen, wie humorvoll und liebenswert er war.

Oft wirkte es, als wäre der extrovertierte Ben der ältere Bruder, dabei war er so alt wie ich.

In diesem Augenblick betrat Bens Mutter die Küche. Sie hatte ihre hüftlangen schwarzen Haare zu einem tiefen Pferdeschwanz zusammengebunden, das Rot ihres Pullovers passte zu ihrer olivfarbenen Haut. »Mona, wie schön, dass du hier bist«, sagte sie und legte einen Stapel Post auf der Kücheninsel ab.

»Wann ist sie das nicht?«, warf Ben ein.

Ich streckte ihm die Zunge raus.

»Mama, hast du meine Laufschuhe gesehen?«, fragte Lennart und kratzte sich am Hinterkopf. Es war nichts Neues, dass er etwas suchte – chaotisch, wie er war, gab es keinen Gegenstand, den er noch nicht verlegt hatte. Und wo wir schon dabei waren – wenn ich mich nicht täuschte, hatte er sein weißes Shirt falsch herum an.

»Ich habe sie in den Schuhschrank geräumt, nachdem du sie gestern im Eingang liegen gelassen hast«, entgegnete sie, sah auf und seufzte dann. »Und, Schatz, du hast dein Shirt falsch herum an.«

Ben lachte auf. »Ich kann nicht fassen, dass dieser Typ gerade seine Masterarbeit schreibt.«

»Was soll das denn heißen?«, fragte Lennart und blickte auf den Saum seines Shirts hinunter.

»Ich kenne niemanden, der so chaotisch ist wie du. Man sollte meinen, dass man für Mathematik … ordentlich und sortiert sein muss.« Er zeigte auf mich. »So wie Mona halt.«

»Tja, ich bin eben ein chaotisches Genie«, gab Lennart zurück.

»Eher ein Fachidiot«, brummte Ben.

»Wie bitte?«, rief Lennart mit gespielter Empörung, da wir alle wussten, dass er die schlauste Person im Raum war. »Würde ein Fachidiot wissen, dass der Grand Canyon an manchen Stellen mehr als 1800 Meter tief ist? Und dass die Erde etwa 1,3 Millionen Mal in die Sonne passen würde?«

Ben zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Nein, aber ein Streber würde das.«

Ich grinste und fing Lennarts Blick auf, dessen Augen amüsiert funkelten. »Muna, sag auch mal was.«

Mir wurde warm. Ich liebte es, wenn er mich so nannte. Es klang ein wenig wie Moon. Lennart hatte ihn sich für mich ausgedacht und war der Einzige, der mich so nannte.

Ich hob die Hände. »Ich bin die Schweiz und lasse euch das lieber untereinander ausfechten.«

»Verräterin«, murmelte er und ehe er sich wieder Ben zuwandte, verweilte sein Blick eine Sekunde länger bei mir. Seine Augen leuchteten verschwörerisch und seine Mundwinkel zuckten.

In diesem Moment wusste ich deutlicher als je zuvor, dass ich dieses Stipendium bekommen musste. Dort wo Lennart hinging, wollte auch ich sein. So einfach war das.

Und wenn ich das Stipendium bekam, würden die Studienjahre dank Lennart und Ben die besten meines Lebens werden.

3. Kapitel

Mona

Gegenwart

»Das werden die besten Jahre deines Lebens«, sagte Aarón und drehte sich vom Beifahrersitz zu mir um. »Das war zumindest bei mir so. Gut, wenn ich gezwungen gewesen wäre, Mathematik zu studieren, hätte ich mich vermutlich im Brunnen vor der LMU ertränkt –«

»Aarón!« Valentina boxte ihm gegen den Arm, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.

»… aber du hast es dir ja selbst ausgesucht«, fuhr er fort. »Du wirst wissen, was du tust.«

Wusste ich das wirklich? Da war ich mir gar nicht so sicher. Ich wollte nach wie vor Mathematik studieren, um irgendwann in die Forschung zu gehen, der Traum jedoch, an die Hohenfels-Universität zu kommen, hatte nach Bens Tod an Glanz verloren. Ich wusste nicht einmal, wie ich den ersten Tag, geschweige denn ganze drei Jahre überstehen sollte.

Seit meiner Ankunft in München war eine Woche vergangen und ich fühlte mich nach wie vor wie eine Fremde. Es war beängstigend, dass ich mich an keinem Ort mehr zugehörig fühlte – weder in Hamburg noch in München.

Letzte Woche waren Valentina und ich in die Innenstadt gefahren, um Blöcke, Stifte und Bücher für das erste Semester zu besorgen. Sie hatte mich sogar überredet, neue Kleidungsstücke zu kaufen – alles, damit sich heute nach einem Neuanfang anfühlte.

Nun trug ich einen beigekarierten Rock, den ich mit einem schwarzen Rollkragenpullover, einer Strumpfhose und braunen Boots kombiniert hatte – und fühlte mich rein gar nicht danach, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Lediglich das Anstecken der goldenen Brosche an meinen honigfarbenen Blazer hatte mich für einen Moment mit dem Gefühl erfüllt, Teil von etwas Größerem zu sein.

Ich lehnte den Kopf an die Scheibe und beobachtete, wie die malerische Landschaft an mir vorbeizog. Nebelschwaden glitten zwischen Apfelbäumen hindurch, die sich auf den hügeligen Plantagen aneinanderreihten. Nadelwälder grenzten an Schafweiden, Felder und Weinberge. Nach einer Weile blitzte das erste Mal die blaugraue Oberfläche des Bodensees zwischen den Bäumen hindurch und ließ mein zersplittertes Herz höherschlagen. Wir durchquerten eine Lindenallee und der Wagen rauschte über die farbigen Blätter auf dem nassen Asphalt hinweg. Als ich das nächste Mal aus der Frontscheibe sah, hielt ich die Luft an.

Inmitten des Hügels vor uns und kurz vor Beginn eines Waldstückes ragten die spitzen Türme der Hohenfels-Universität in den Himmel. Ich lehnte mich nach vorn und hielt mich an den beiden Sitzen fest, um einen besseren Blick auf mein neues Zuhause zu erhaschen. Wir fuhren durch ein gusseisernes Tor auf einen von Eichen gesäumten Schotterweg, der nach oben führte. Auf der rechten Seite befanden sich drei Gebäude im viktorianischen Stil, die mir das Gefühl verliehen, geradewegs in Oxford gelandet zu sein.

Endlich war ich an dem Ort, den ich in meinem Kopf hunderte Male zuvor abgegangen war. In Gedanken war ich durch die Gassen gelaufen, hatte in der Bibliothek gelernt und mein Zimmer eingerichtet. In jedem dieser Szenarien waren stets Lennart und Ben an meiner Seite gewesen. Nun war dort, wo sie sein sollten, ein klaffendes Loch. Es ist falsch, dachte ich. Ich sollte nicht ohne Lennart und Ben hier sein.

Zuletzt kam das Hauptgebäude in Sicht. Zahlreiche Türmchen, Sprossenfenster und in Stein gehauene Skulpturen wechselten sich mit verzierten Dachrinnen ab. Versteckte Holztüren mit eisernen Beschlägen wirkten wie Portale in andere Welten, obwohl sich hinter ihnen vermutlich nur Gänge und Innenhöfe versteckten. Links davon ging ein von Fenstern durchsetzter Gang ab, der das Hauptgebäude mit einem etwas kleineren verband, bei dem es sich um das Studentenwohnheim handeln musste. Efeu rankte die honigfarbenen Steine entlang und ich erkannte die Anfänge eines wilden Gartens, der daran grenzte.

»Jetzt verstehe ich, warum du kaum etwas anderes gemacht hast, außer Lernen«, meinte Aarón und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Nobel geht die Welt zugrunde.«

Valentina parkte den Wagen hinter einem grauen Porsche mit Schweizer Kennzeichen und stellte den Motor ab. »Bist du bereit?«

Ich rang mir ein Lächeln ab. »Ja«, log ich, stieg aus und streckte meine Arme über den Kopf. Als ich die Tür des Wagens schloss, hallte das Geräusch über den Campus. Das Erste, was mir auffiel, war die Luft – sie war kühl, roch nach Nadelwald und drang bis in die letzte Faser meiner Lunge.

Der Platz vor der Universität war belebt: Studierende trugen Umzugskisten umher, zogen Koffer über den Kies, verabschiedeten sich von ihren Familien oder begrüßten ihre Freunde. Neben dem Eingang versammelte sich eine Gruppe, die sich für eine Tour über das Gelände bereit machte. Schon morgen würden die Vorlesungen beginnen – viel Zeit zum Einleben blieb also nicht.

Der Kies knirschte unter meinen Sohlen, als ich den Wagen umrundete. Ein Blick in Valentinas glasige Augen reichte aus, um zu sehen, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen. »Es ist egoistisch, aber ich will mich nicht schon wieder von dir verabschieden«, flüsterte sie. »Du bist doch gerade erst wieder zurückgekommen.«

Mein linker Mundwinkel hob sich. »Wenn etwas im Haus kaputt geht oder ich einen Arzttermin für dich ausmachen soll, kannst du mich jederzeit anrufen«, scherzte ich, um meine aufsteigenden Emotionen zu überspielen.

Valentina lachte durch ihre Tränen hindurch. »Du musstest einmal für mich beim Arzt anrufen. Okay, zweimal.«

Ich schloss sie in die Arme und legte all meine Dankbarkeit in die Berührung, anstatt sie mit Worten auszudrücken. Valentina wusste, dass dies meine Art war, Liebe zu zeigen.

»Kommst du klar?«, flüsterte sie und Sorge sprach aus ihrer Stimme.

Über ihre Schulter hinweg richtete ich den Blick auf eine orangefarbene Dahlie im Beet hinter ihr und nickte. »Im Ernst – egal was ist, du kannst mich jederzeit anrufen. Ich mache auch gern Termine für dich aus.« Ich wusste, wie ungern sie das machte.

Sie wischte sich lachend die Tränen von den Wangen. »Deal.«

»Mona«, meinte Aarón und drückte mir einen Kuss auf die Wange, ehe auch er mich umarmte. »Ich weiß, du willst es nicht hören, aber versprich mir, dass du dir erlaubst, nach vorn zu sehen, vale?«

»Okay«, gab ich mit erstickter Stimme zurück. »Und jetzt genug mit der Melodramatik. Ich studiere am Bodensee und fliege nicht in einer Rakete zum Mars.«

Aarón lächelte und ließ mich los.

»Überfüttere Shakespeare nicht«, mahnte ich und zeigte mit dem Finger auf ihn.

Er streckte die Handflächen zum Himmel. »Das kann ich nun wirklich nicht versprechen. Er hat diesen Blick drauf, weißt du? Wenn er mich so anschaut, kann ich ihm keinen Wunsch ausschlagen.«

»Ich weiß. Denselben Blick setzt Valentina auf, wenn sie dich überreden will, einen Horrorfilm anzusehen.«

Er grinste. »Ich tue mein Bestes, stark zu bleiben.«

Ich warf Valentina einen Handkuss zu, ehe sie auf der Beifahrerseite einstieg. Bevor Aarón ebenfalls in den Wagen stieg, zwinkerte er mir zu. »Du kannst das«, formte er lautlos mit den Lippen.

Mit einem aufgesetzten Lächeln winkte ich dem Auto nach und sah ihnen nach, ehe sie aus meinem Sichtfeld verschwanden. In einer idealen Welt würde Ben mich jetzt auslachen, dass ich emotional geworden war und Lennart mir Fakten über die Geschichte der Universität erzählen. Aber sie waren nicht hier. Es war unser gemeinsamer Traum gewesen und nun war ich die Einzige, die es geschafft hatte. Ich fühlte mich, als hätte mich jemand in ein Becken voll eiskaltem Wasser gestoßen. Es gab kein Zurück und dementsprechend keine Möglichkeit hinauszuklettern. Nun lag es an mir zu entscheiden, ob ich nach vorn sah und schwamm … oder aufgab und ertrank.

4. Kapitel

Mona

Ich verzichtete auf die geführte Tour und machte mich stattdessen geradewegs zum Hauptgebäude auf. Mit dem Koffer und dem sperrigen Umzugskarton gestaltete sich das jedoch schwieriger als gedacht. Mehr als einmal musste ich stehenbleiben und den Karton anders greifen, um die frisch gewaschenen Laken und Handtücher nicht in einer dunkelgrauen Pfütze zu verteilen.

Die doppelflügelige Eingangstür war aus massivem Holz und die meterhohen Säulen daneben standen Wache, als wären sie die Hüterinnen der Geheimnisse, die dahinter verborgen lagen. Über der Tür prangte das Motto der Universität im Stein: Scientia lux est – Wissen ist Licht.

Als ich die Eingangshalle betrat, lief ich geradewegs in einen Tagtraum hinein. Weitere Säulen stützten die stuckverzierte Decke, deren Details so filigran waren, dass sie mit bloßem Auge nicht erkennbar waren. Nebliges Tageslicht fiel durch die Bogenfenster auf den Boden, der Marmor und poliertes Holz in einem komplexen Muster vereinte und Spuren der vergangenen dreihundert Jahre trug. Antike Wandgemälde säumten die Wände und erzählten die Geschichten der Gelehrten und Denker, die einst durch die Flure gewandelt waren.

Ich bahnte mir einen Weg zwischen den anderen Studierenden hindurch und trat an die Rezeption, die sich rechts neben einer Treppe befand, welche mindestens zwanzig Stufen nach oben führte. Sie war von Torbögen und Statuen gesäumt, die den Eindruck verliehen, dass sie den direkten Weg zu den Himmelspforten wiesen.

Ich fühlte mich wie in einem Museum. Nicht nur wegen des Bauwerkes, sondern auch, weil ich mir vorkam wie eine Besucherin. Ein Gast, der keinen bleibenden Eindruck in dem jahrhundertealten Gemäuer machen würde, da ich im Vergleich unbedeutend war. Ich seufzte und schob meine Gedanken beiseite. Existenzkrisen hatten sich gefälligst hinten anzustellen – jetzt musste ich mich erst einmal anmelden.

Der Karton bohrte sich schmerzhaft in meine Rippen, weshalb ich ihn neben mir abstellte und mit meinem Fuß nach vorn schob, wenn es voranging. Nachdem das Mädchen vor mir ihre Unterlagen überreicht bekommen hatte, presste sie sich diese an die Brust, atmete lächelnd ein und ging davon.

»Guten Morgen«, begrüßte mich der Mann am Empfang und sah aus blauen Augen zu mir hoch. »Erstes Semester?«

»Ja. Mona König«, entgegnete ich und beobachtete, wie er meinen Namen in den PC eintippte.

»König, König … ah, hier haben wir dich«, meinte er. »Oh, ein Stipendium.« Er sah auf. »Glückwunsch!«

»Danke.«

»Bachelorstudiengang Mathematik, stimmt das?«

»Genau.«

»Na dann, herzlich willkommen an der Hohenfels-Universität!«, verkündete er und breitete die Arme aus. Die goldene Brosche an seiner Anzugjacke blitzte im Deckenlicht auf. Vermutlich war er ein Student eines höheren Semesters oder ein wissenschaftlicher Mitarbeiter. Jedenfalls wirkte er, als hätte ihm jemand aufgetragen, euphorisch zu sein, obwohl er sich nicht danach fühlte. Er öffnete eine Schublade, fuhr mit dem Finger über die Unterlagen und zog dann eine Mappe daraus hervor, die er auf die verglaste Holzplatte legte. »Hier ist dein Stundenplan, eine Übersicht des Geländes und des Hauptgebäudes. Dein Zimmer befindet sich … hier«, meinte er und malte mit einem schwarzen Kugelschreiber ein Kreuz auf die Karte. »Vierter Stock, Wohngemeinschaft 4B, Zimmer 13. Wenn du die große Treppe hinaufgehst, links abbiegst und dich dann immer geradeaus hältst, kommst du zu dem Durchgang, der zu den Schlafsälen führt.« Er lächelte plötzlich, als hätte er sich daran erinnert, einen fröhlichen Ton aufzusetzen. »Dann wirst du deine Mitbewohnerinnen kennenlernen – wie spannend!«

Die Freude sah bei ihm so angestrengt aus, dass ich ihm am liebsten gesagt hätte, dass er sich die Mühe bei mir sparen konnte.

»Hier ist dein Studierendenausweis«, meinte er und legte eine weiße Karte vor mir ab. »Und die magnetische Schlüsselkarte, mit der du sowohl in deine Wohngemeinschaft als auch in die Bibliothek kommst.« Er legte eine dunkelblaue Karte direkt daneben. »Abendessen findet von achtzehn bis zwanzig Uhr im großen Saal statt, Frühstück von sechs bis acht. Wenn du Fragen hast, kannst du jederzeit zurückkommen. Die Rezeption ist rund um die Uhr besetzt.«

»Alles klar«, entgegnete ich und salutierte scherzhaft, was er mit einem Stirnrunzeln quittierte.

»Hab einen wundervollen Eingewöhnungstag, Nora«, meinte er dann mit einem strahlenden Grinsen, doch da die Ader auf seiner Stirn ohnehin schon besorgniserregend pochte, verzichtete ich darauf, meinen Namen zu verbessern.

Unter Ächzen hievte ich den Koffer die Stufen neben der Rezeption nach oben und hatte zwischen dem Brennen in meinen Muskeln und dem Karton vor meiner Nase kaum einen Nerv, die majestätischen Torbögen zu bewundern, die über mir aufragten.

Hatte er vierter Stock gesagt? Fuck. Das hörte sich stark nach Schweißflecken und Atemnot an. Doch die Gedanken daran waren vergessen, als ich die oberste Stufe erreichte und sich einer der schönsten Räume vor mir auftat, den ich je zuvor gesehen hatte. Ich legte den Kopf in den Nacken und zählte die Balustraden von insgesamt sieben Stockwerken. Von der Glaskuppel hing ein Messingkronleuchter und der Boden bestand aus verschiedenfarbigem Mosaik. Die Fenster am Ende des Raumes zeigten auf den Innenhof, in dessen Mitte ein gewaltiger Kastanienbaum wuchs. Nun prasselte Regen gegen die Scheiben – das Geräusch ging nahezu vollständig in dem Stimmengewirr der Neuankömmlinge unter. Links und rechts von mir befanden sich zwei Steintreppen, die so breit waren, dass zwanzig Personen nebeneinander emporsteigen konnten.

Ich schlug den Weg links der Treppe ein. Die Rollen des Koffers klapperten über den Steinboden, sobald ich den Gang erreichte, der das Hauptgebäude mit den Schlafsälen verband. Hier war die Temperatur deutlich kühler, hinter den nassen Scheiben konnte ich schemenhaft den Mischwald erkennen – verschwommene Tupfer aus Rostbraun und Dunkelgrün ließen ihn wie ein abstraktes Gemälde wirken.