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**Bist du bereit, einem Very Bad Boy dein Herz zu schenken?** Nach den dramatischen Ereignissen im Chicagoer Untergrund ist Devon am Boden zerstört. Der Mann, der ihr inzwischen alles bedeutet, befindet sich nun wieder dort, wo sie sich kennengelernt haben: im Gefängnis. Doch die Mauern, die sie nun trennen, scheinen viel höher zu reichen als noch Monate zuvor. Denn Tyler ist wegen Mordes am Bürgermeister von Chicago angeklagt worden – dabei ist er unschuldig! Zutiefst entsetzt über die Geschehnisse weiß Devon nur eins: Sie wird alles daransetzen, den Sohn des berüchtigtsten Gangbosses zu befreien. Selbst wenn das bedeutet, sich über jegliche Regeln und Gesetze hinwegzusetzen … Romantic Suspense mit einer Protagonistin, die selbst zum Bad Girl wird – elektrisierend und atemberaubend vor der Kulisse Chicagos! //Dies ist der dritte Band der knisternden New Adult Romance »Chicago Love«. Alle Bände der Reihe bei Impress: -- How to Love a Villain (Chicago Love 1) -- How to Keep a Villain (Chicago Love 2) -- How to Save a Villain (Chicago Love 3) Die Reihe ist abgeschlossen.//
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Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
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Leandra Seyfried
How to Save a Villain (Chicago Love 3)
**Bist du bereit, einem Very Bad Boy dein Herz zu schenken?**
Nach den dramatischen Ereignissen im Chicagoer Untergrund ist Devon am Boden zerstört. Der Mann, der ihr inzwischen alles bedeutet, befindet sich nun wieder dort, wo sie sich kennengelernt haben: im Gefängnis. Doch die Mauern, die sie nun trennen, scheinen viel höher zu reichen als noch Monate zuvor. Denn Tyler ist wegen Mordes am Bürgermeister von Chicago angeklagt worden – dabei ist er unschuldig! Zutiefst entsetzt über die Geschehnisse weiß Devon nur eins: Sie wird alles daransetzen, den Sohn des berüchtigtsten Gangbosses zu befreien. Selbst wenn das bedeutet, sich über jegliche Regeln und Gesetze hinwegzusetzen …
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Vita
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© Christian Franke
Leandra Seyfried wurde 1999 in Süddeutschland geboren und lebt heute in München, wo sie Medien- und Kommunikationsmanagement studierte. Zeitgleich zum Studium begann sie mit dem Schreiben ihres ersten Buches. Sie ist eine Optimistin, liebt das Lesen, Serien und Filme und lässt sich gern bei Städtereisen zu neuen Geschichten inspirieren.
Für Papi.Weil du mir beigebracht hast, dass Aufgeben niemals eine Option ist.
Liebe*r Leser*in,
dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.
Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.
Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.
Leandra Seyfried und das Impress-Team
Is It Alright for You – Isak Danielson
Dopamine – Barns Courtney
Let It Go – The Neighbourhood
Out Of The Darkness – Matthew And The Atlas
Lonesome Town – Ricky Nelson
Horizons Into Battlegrounds – Woodkid
Storm – Mighty Oaks
Line of Fire – Junip
The Anchor – Bastille
Bridges Burn – NEEDTOBREATHE
That Home – The Cinematic Orchestra
Butterflies (feat. AURORA) – Tom Odell
Fin – The Dawn of MAY
Out of the night that covers me,Black as the pit from pole to pole,I thank whatever gods may beFor my unconquerable soul.– William Ernest Henley
Ich kniete auf dem nassen Asphalt vor demCapital und beobachtete, wie sich der Polizeiwagen von mir entfernte. Wie sich Tyler von mir entfernte. Ein letztes Mal zuckte das Blaulicht über die Hotelfassade, ehe der Wagen aus meinem Blickfeld verschwand.
Nein …
Meine letzten Kräfte verließen mich augenblicklich. Ich sackte in mich zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen, während Schluchzer meinen Körper beben ließen. Regen prasselte unaufhörlich auf mich herab – eiskalte Tropfen sickerten durch meine bereits durchnässte Kleidung.
Tyler hatte den Mord an Elliott gestanden. Den Mord, den ich begangen hatte. Und nun? Nun hatte Ian ihn in seiner Gewalt und brachte ihn geradewegs zum Metropolitan Correctional Center.
Es war vorbei.
Wochenlang hatten wir dafür gekämpft, zusammen sein zu können. Wochenlang hatten wir alles gegeben, um frei zu sein. Letztendlich hatte es einen schicksalhaften Abend benötigt, um die Chancen auf ein Happy End für immer zunichtezumachen.
Tyler war bereits mehrmals verhaftet worden und nie war es zu einer Verurteilung gekommen. Doch dieses Mal war alles anders. Er hatte den Mord am Bürgermeister gestanden und damit sein Schicksal besiegelt. Tyler hatte gewusst, dass es dieses Mal keine Möglichkeit gab, dass ihn seine Familie wieder herausholte.
Mein Magen zog sich zusammen, als sich der Schmerz in meinem Körper ausbreitete.
Nein. Nein, nein, nein …
Das Leben hatte mich oftmals zu Boden gerungen. Der Autounfall, bei dem Mom gestorben war. Jahre später die Erkenntnis, dass sie die ganze Zeit am Leben gewesen war und sich gegen mich entschieden hatte. Der Abend, an dem Ian mich gewürgt hatte, bis ich beinahe gestorben wäre. Nun gab es zwei weitere Punkte, die ich der Liste hinzufügen konnte: den Abend, an dem ich meinen Vater erschossen hatte. Und den Moment, in dem Ian Tyler festgenommen hatte.
Tyler … Mein Herz verkrampfte sich angesichts der Aussichtslosigkeit. Ich konnte mich nicht bewegen, meine Atmung ging flach. Die Zukunft war derart schwarz und chancenlos, dass ich nicht aufstehen konnte. Nicht wollte.
»Devon.« Alectos Stimme drang zu mir durch. Ihre Hände schlossen sich um meine Oberarme. »Du musst aufstehen. Aus dem Regen raus.«
Ich kann nicht. Ich schüttelte den Kopf, presste die Lider fester zusammen und spürte, wie weitere Tränen meine Wangen hinabflossen. Auf meinen eiskalten Wangen waren sie regelrecht heiß.
Aussichtslos, aussichtslos, aussichtslos.
»Geht rein«, sagte Alecto neben mir. »Wir kommen nach.«
Ich hörte Stimmengemurmel, verzweifelte Worte, unverständliches Flüstern. Das Starten von Motoren und das Zuschlagen von Autotüren – die letzten Einsatzwagen verließen die Unterwelt.
Alecto setzte sich neben mich, legte stumm den Arm um mich und lehnte den Kopf an meine Schulter. Ich wollte sagen, dass sie nicht bei mir im Regen bleiben musste, doch die Schockstarre hatte mich in ihrem eisigen Griff und ich hatte verlernt, wie man seine Lippen bewegte.
Vielleicht war es mein Schicksal, für immer allein zu bleiben. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe mich alle zurückließen und ich wieder auf mich gestellt war. Meine Mom. Mein Dad. Ian. Tyler … O Tyler.
Ich stellte mir vor, wie er auf der Rückbank von Ians Wagen saß, aus dem Fenster blickte und sich die Straßen und Gebäude einprägte, weil er nicht wusste, wann er die echte Welt das nächste Mal zu Gesicht bekommen würde. Ich dachte an meinen Vater, der vermutlich noch immer auf dem kalten Kirchenboden in der South Side lag. Die von mir abgefeuerte Kugel in seinem Herzen, das nur für den Erfolg und nie für seine Familie geschlagen hatte.
Ich konnte unmöglich sagen, wie viel Zeit vergangen war, doch schließlich hob ich meinen Kopf und öffnete die Augen. Meine Sicht war verschwommen und ich musste mehrmals blinzeln, ehe sie sich klärte. Die Straße vor mir war verlassen und stand im Kontrast zu dem Chaos, das sich zuvor hier abgespielt hatte.
Ich drehte meinen Kopf und sah zu Alecto, die ihren Arm nach wie vor um mich geschlungen hatte. Ihre Wimperntusche war über ihre Wangen verteilt und eine leuchtend rote Strähne klebte an ihrer Stirn. Sie hob fragend eine Augenbraue und ich nickte einmal, ehe sie sich aufrichtete und mir ihre tropfende Hand anbot.
Wie soll ich bloß weitermachen?
Wenn jemand ins Gefängnis gehörte, dann war ich es. Elliott hatte Josie erschießen wollen. Ich hatte abgedrückt, ehe ich richtig darüber nachgedacht hatte. Es war Nothilfe gewesen, dennoch war er durch meine Hand gestorben, und nun war Tyler …
Stopp, Devon. Atme.
Hoffnungslosigkeit steckte in jedem meiner Knochen und mein Herz fühlte sich an, als wäre es herausgerissen, auseinandergebrochen, zerquetscht worden.
Von Alectos silbernem Drachenring, der sich um ihren Zeigefinger wand, fiel ein Wassertropfen zu Boden.
Ja, das Leben hatte mich oftmals zu Boden gerungen.
Und dennoch war ich jedes Mal wieder aufgestanden.
Jedes. Einzelne. Mal.
Weshalb ich nach Alectos kalter Hand griff …
… und mich auf die Füße ziehen ließ.
»Ich muss zu ihm«, krächzte ich, als wir durch die Drehtür die Lobby betraten. Ich fühlte mich, als wäre ich geradewegs in eine Sauna hineinspaziert, so heiß war es hier im Gegensatz zu draußen. Wie lange hatten wir in der Kälte gesessen? Mein Körper schmerzte bei jedem Schritt und meine Lippen waren taub, sodass mir das Reden schwerfiel. Ich räusperte mich – meine Stimmbänder fühlten sich an, als hätte ich Glassplitter geschluckt.
Als Sebastian uns entdeckte, sprang er von dem Sofa auf, auf dem er und Gia gesessen hatten. Von Vee, Noah, Mai-Lin und Wes war weit und breit nichts zu sehen.
»Devon«, flüsterte Sebastian und kam mit ernster Miene auf mich zu. Gia folgte ihm und sah so blass aus, wie ich mich fühlte. Unter ihrem Arm klemmten zwei weiße Handtücher. Sie reichte sowohl Alecto als auch mir eines. Es war weich unter meinen Fingerspitzen, doch anstatt mich damit abzutrocknen, baumelte es nutzlos in meiner Hand.
»Wir müssen hinterher«, sagte ich mit zitternder Unterlippe. »Müssen ihnen ins MCC folgen. Vielleicht kann ich –«
»Tyler hat den Mord gestanden«, unterbrach mich Sebastian mit todernster Stimme.
»Und trotzdem muss ich zu ihm. Vielleicht kann ich Ian überreden. Womöglich kann ich mit Alessandra sprechen und ihr erzählen, wie es wirklich passiert ist.«
Sebastians Miene war hart. »Und was soll das bringen? Es macht es nicht besser, wenn du anstelle von Tyler im Gefängnis bist.«
Tränen traten in meine Augen. »Ich kann das nicht hinnehmen.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch ich wusste, dass sie mich verstanden hatten. »Ich muss ins MCC.«
»Du wirst nichts dergleichen tun, Dev«, sagte Alecto und klang weitaus weniger streng, als sie vermutlich wollte.
»Ich muss sichergehen, dass ihm nichts geschieht«, hielt ich dagegen. Wenn ich daran dachte, dass der unberechenbare und rachsüchtige Ian nun über Tyler verfügen konnte, wie er wollte, würde mir übel.
»Sie lassen dich nicht einmal in seine Nähe. Es ist zu früh«, erwiderte Sebastian und taxierte mich aus seinen dunkelblauen Augen. »Außerdem ist keine Besuchszeit.«
Ich presste die Zähne aufeinander, um sie davon abzuhalten zu klappern.
»Gia bringt dich nach oben, wo du eine heiße Dusche nehmen wirst. In einer Stunde treffen wir uns im Büro und überlegen uns …« Er fuhr sich mit der tätowierten Hand durch die Haare.
Tja, was überlegen wir uns? Es gab nichts, was wir tun konnten, und Sebastian wusste das. Wir alle wussten das.
»Wir überlegen uns etwas, okay?«, beendete er seinen Satz, ging einen Schritt auf mich zu und schloss mich in eine Umarmung. Er klopfte mir fest auf den Rücken, als wollte er mir dadurch neue Lebensgeister einhauchen. »Wir bekommen ihn da raus«, meinte er.
Über seine Schulter hinweg sah ich zu Alecto, die das Handtuch um sich gewickelt hatte wie ein Cape. In ihren Augen sah ich denselben Schmerz, den ich empfand, doch da war noch etwas anderes. Etwas Gefährliches, Dunkles – Kampfgeist. Sie war bereit, für Tyler in den Krieg zu ziehen.
Als sich Sebastian von mir löste, trat Alecto zu mir und umarmte mich, wie ich es von ihr gewohnt war – so fest, dass sie alle Luft aus meinen Lungen presste. Ich legte meine kalte Wange an ihre und schloss für einen Moment die Augen. »Es tut mir leid«, flüsterte ich.
Sie ließ mich los und hielt mich eine Armlänge von sich entfernt. »Es ist nicht deine Schuld. Wenn überhaupt, ist es meine. Wenn ihr mich nicht aus der South Side hättet retten müssen, wäre das nie passiert.«
Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, als Alecto sagte: »Geh jetzt.«
»Komm«, hauchte Gia, umfasste sanft meinen Oberarm und steuerte mich in Richtung Aufzug. Ihre Berührung stand in Kontrast zu Alectos: Sie war der Platzregen, Gia die Stille danach.
Ich rieb mir über den Schmerz in meinem Brustkorb. Wenn ich mit Tyler die Plätze tauschen könnte, würde ich es tun, dachte ich, als sich der Aufzug in Bewegung setzte. Sofort. Ohne zu zögern.
Gia sagte kein Wort, lediglich das Surren des Aufzugs und die auf den Fliesen aufkommenden Wassertropfen waren zu hören. Vielleicht würde ich eine Chance bekommen, alles richtigzustellen und die Polizei davon zu überzeugen, dass ich diejenige gewesen war, die den Schuss abgefeuert hatte. Doch auch wenn mir das gelang … es würde so oder so ein Leben ohne Tyler bedeuten. Und ein Leben ohne ihn war schlichtweg nicht lebenswert.
Als ich die Wohnungstür aufschloss, blieb ich reglos im Rahmen stehen. Tylers Abwesenheit schwebte wie Nebel an der Zimmerdecke entlang, zog sich durch jeden Raum und hinterließ nichts als Kälte und Leere.
»Nicht nachdenken«, forderte Gia, als hätte sie meine Gedanken gehört, und gab mir einen sanften Stoß.
Im Badezimmer angekommen zog ich mich bis auf die Unterwäsche aus und warf die nassen Kleidungsstücke in die Badewanne mit den Löwenfüßen. Als ich den Kopf hob, stand Gia mit der Klinke in der Hand im Türrahmen.
Ich holte Luft. »Du musst nicht –«
»Ich gehe nirgendwohin. Ich warte auf dich.« Mit diesen Worten schloss sie die Tür.
Als ich mich zur Dusche umdrehte, fiel mein Blick auf den Spiegel vor der Wand aus schwarzem Stein. Ich zog scharf die Luft ein, als ich mich darin sah. Meine blasse Haut ließ die dunklen Ringe unter meinen geröteten Augen und die Narbe auf meiner Wange stärker hervortreten. Ich strich mit den Fingerspitzen über meine blau-violett verfärbten Lippen.
Ich sollte im Gefängnis sein. Ich sollte mit den Konsequenzen meiner Tat leben müssen, nicht Tyler.
Unwillkürlich dachte ich an den Moment vor einigen Stunden, in dem Tyler und ich uns voneinander verabschiedet hatten. Kurz bevor wir zur South Side gefahren waren, um Alecto zu befreien. Seine Worte waren so klar und deutlich in meinem Kopf, als stünde er neben mir: Ich werde alles dafür tun, damit du ein Leben in Sicherheit und Freiheit führen kannst, Devon. Er hatte sein Versprechen gehalten. Mein Vater war nicht länger hinter uns her und damit war auch Zane aus dem Spiel. Die vermeintlich größten Gefahren waren aus dem Weg geräumt, doch was brachte mir die Freiheit, wenn ich sie nicht mit Tyler verbringen konnte?
Ich war nicht frei. Nicht, solange er im Gefängnis war.
Ich zog meinen tropfnassen BH aus und warf ihn gemeinsam mit meinem Slip in die Badewanne, ehe ich unter die Dusche stieg und das Wasser auf die heißeste Stufe stellte. Als Wasserdampf aufstieg und die gläsernen Wände der Dusche beschlugen, trat ich unter den Strahl und zuckte angesichts der Temperatur kurz zurück, stellte mich dann aber ganz darunter. Ich schloss die Augen und die Bilder kamen wie von allein.
Elliotts bestimmte Miene, ehe er nach Josies Arm gegriffen hatte. Er hatte sie erschießen wollen – für ihn wäre es nur eine weitere Leiche auf dem Weg zum Erfolg gewesen. Ein weiterer Kollateralschaden, um seinen unantastbaren Ruf zu wahren. Die Bilder in meinem Kopf nahmen Fahrt auf, blitzten nacheinander ohne logische Reihenfolge auf: Elliott, der mit weit aufgerissenen Augen die blutende Hand von seiner Brust nahm. Tylers schmerzverzogenes Gesicht hinter der Scheibe des Polizeiwagens. Elliotts leblose Augen. Ians hämisches Grinsen, nachdem er Tyler die Handschellen angelegt hatte.
Die Bilder drehten und drehten und drehten sich …
Bitte, mach, dass es aufhört, bat ich niemand Bestimmten und setzte mich auf den Boden der Dusche. Ich raufte mir die Haare, ließ das heiße Wasser über mich laufen und betete, dass es all den Schmerz und die Bilder von mir abwusch. Doch das Einzige, was es in den Abfluss spülte, waren meine Tränen.
Mein Vater ist tot. Vor langer Zeit hatte ich mir geschworen, mich von ihm nicht brechen zu lassen. Nun fragte ich mich, ob es dafür nicht längst zu spät war.
Als ich in ein Handtuch gewickelt aus dem Badezimmer kam, saß Gia im Schneidersitz auf dem Bett und nickte zufrieden. »Jetzt hast du wenigstens wieder etwas Farbe im Gesicht.«
Das lag weniger daran, dass es mir besser ging, und mehr an dem zweihundert Grad heißen Wasser, doch das sagte ich nicht. Stattdessen schlüpfte ich in eine schwarze Hose und ein weißes Top. Es war ungerecht, dass ich eine warme Dusche nehmen und mich umziehen konnte. Ich durfte nicht daran denken, was Tyler gerade tat, denn dann …
Ich hielt inne, starrte apathisch auf den grauen Pullover in meiner Hand.
»Alles okay?«, fragte Gia zögerlich. Die Sorge in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Ich wusste, dass sie den Schock und die Angst versteckte, um es mir nicht schwerer zu machen. Ich hatte nicht den Mut, ihr zu sagen, dass ich es nicht verdient hatte, dass jemand Rücksicht auf mich nahm.
»Ja«, antwortete ich, riss mich aus meiner Trance und zog den Pullover über. Meine Hände zitterten noch immer. Ich band meine feuchten Haare zu einem Knoten und schnappte mir die Wohnungsschlüssel.
Als mein Blick auf Tylers schwarzen Mantel an der Garderobe fiel, musste ich schlucken. Er fror bestimmt. Natürlich musste er seine Kleidungsstücke im Gefängnis ohnehin abgeben, aber auf dem Weg dorthin …
Gia berührte meinen Arm und sah mit zusammengezogenen Brauen zu mir auf. »Devon …«
»Sag mir, dass er nicht wirklich festgenommen wurde«, presste ich hervor und versuchte angestrengt meine Tränen zurückzuhalten. Ich war eine Realistin und wusste auf eine Weise, dass es passiert war, doch angekommen war es noch nicht.
Ehe Gia mir eine Antwort geben musste, atmete ich einmal tief durch und schüttelte den Kopf. »Los, lass uns gehen.«
***
Ich hörte Alectos Stimme, bevor wir die Türen des Oval Office am Ende des Büros erreicht hatten. »… und ich mache mir Sorgen um sie. Kein Zweifel, dass sie sich wieder an allem die Schuld gibt.«
Gia und ich tauschten einen Blick. Wir wussten beide, von wem die Rede war. Wir traten auf die angelehnte Tür zu, durch die ein schmaler Lichtstreifen in das sonst dunkle Büro fiel.
»Ich bin der Meinung, dass von nun an immer jemand ein Auge auf sie haben sollte. Ich erinnere euch an das letzte Mal, als sie dachte, sie sei für alles verantwortlich: Sie ist in Elliotts Apartmenthaus eingedrungen, hat den Stick gestohlen und sich mit dem Sportwagen überschlagen. Das vorhin im Regen? Das war nichts anderes als Selbstgeißelung. Wenn wir nicht wollen, dass Devon erneut die Heldin spielt und sich für Tyler opfert, müssen wir sie –«
Als ich die Tür sanft aufstieß und in das warme Licht des Raumes getaucht wurde, verstummte sie. Aber sie wäre nicht Alecto, wenn sie nicht die Hände in die Hüften gestemmt und hinzugefügt hätte: »Ich hoffe, du hast gehört, was ich gesagt habe. Ich sage es dir von vornherein: Du bist nicht schuld. Du hast Josie das Leben gerettet. Also schlag es dir sofort aus dem Kopf und erspar uns allen – und besonders dir selbst – deine Schuldgefühle.«
Ich stieß die Luft aus und sah mich im Raum um. Alle waren hier. Mai-Lin und Wes saßen auf dem Sofa in der Mitte des Raumes und hielten sich an den Händen. Sebastian und Noah standen hinter dem Schreibtisch und musterten mich. Sie hatten denselben sorgenvollen Ausdruck auf dem Gesicht. Es wunderte mich, dass Noah mich nicht hasserfüllt ansah, schließlich hatte er mir nach Alectos Verschwinden ebenfalls die Schuld gegeben.
Alecto stand in der Mitte des Raumes und auch sie hatte sich umgezogen, ihre Haare waren beinahe trocken. Zuletzt zuckte mein Blick zu Vee, die neben dem gigantischen Vorhang stand und nervös die Hände rang. Für einen Moment dachte ich, sie würde auf mich zugehen, mich umarmen und mich einfach … festhalten. Aber sie schien sich offenbar nicht sicher zu sein, ob ich das wollte, und blieb deshalb unschlüssig in der Ecke stehen. Es war mir seit dem Wiedersehen schwergefallen, ihre Annäherungsversuche zu akzeptieren, doch gerade hätte ich eine Umarmung wirklich gebrauchen können.
Ich umrundete die Couch gegenüber von Wes und ließ mich erschöpft darauf fallen. »Scheiße«, flüsterte ich, presste meine Handflächen aneinander und legte sie an meine Lippen.
Eine Weile blieb es still, da niemand so richtig zu wissen schien, was er sagen sollte. Schließlich war es Noah, der das Wort ergriff.
»Wir haben einen Kontakt im MCC.« Er umrundete den massiven Holzschreibtisch. »Nachdem Wes damals aufgeflogen ist, habe ich jemand Neues eingestellt. Ihr Name ist Amisha und sie arbeitet dort als Wärterin. Tyler kennt sie von früher.« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er sah abgeschlagen aus, wie wir alle. Es war bereits nach Mitternacht und keiner von uns hatte nach dem Auftrag in der South Side auch nur ein Auge zugetan. »Ich habe bereits mit ihr gesprochen und sie hat uns versichert, dass sie versucht etwas herauszufinden.«
»Sobald Tyler in seiner Zelle ist, wird sie ihn aufsuchen und ihm ein Einweghandy geben«, fügte Sebastian hinzu.
Unwillkürlich musste ich an meinen grauenvollen Geburtstag und die Nachricht denken, die mich während des Abendessens mit Ian erreicht hatte. Tyler hatte mir einen schönen Mittwochabend gewünscht, da er wusste, dass ich meinen Geburtstag hasste. Es war ein Lichtblick gewesen, ein Hoffnungsschimmer. Der grüne Schein des Notausgangsschildes.
Nur dank ihm saß ich nun hier. Dank ihm hatte ich eine Familie. Dank ihm war ich meiner toxischen Beziehung mit Ian entkommen. Es war, als hätte er mich aus meinem eigenen Gefängnis geholt, weshalb ich garantiert nicht dabei zusehen würde, wie er wegen Mordes verurteilt wurde.
»Wann kann ich ihn besuchen?«, fragte ich und sah auf. Ich hatte ein Déjà-vu, wenn ich daran dachte, dass nun alles wieder sein würde wie zu Beginn. Die Bahnfahrten ins MCC, die nervöse Anspannung, bevor man den Raum betrat, der Körperscanner und das Versteckspiel mit Ian … Es war gleich, und dennoch anders. Damals war Ian eine leise Gefahr gewesen – heute war er eine akute Bedrohung. Dieses Mal würde ich statt meinem Aufnahmegerät nur mein bleischweres Herz bei mir haben, das zerbrochen in meiner Brust schlug wie die gefiederten Schwingen eines verletzten Vogels.
»Normalerweise müsstest du ihn ab morgen zu den normalen Besuchszeiten sehen können«, meinte Sebastian.
»Vorausgesetzt, Ian lässt dich rein«, murmelte Alecto.
»Er muss«, fügte Wes hinzu. »Er hat keinen Grund, ihr den Besuch zu verwehren.« Er zögerte. »Aber willst du das wirklich machen? Vielleicht solltest du erst einmal abwarten, bis wir uns einen Plan überlegt haben. Ich verstehe, dass du ihn sehen willst, aber … Ian wird es dir nicht leicht machen.«
Er hatte recht. Doch das würde mich nicht abhalten. »Ian kann froh sein, wenn ich ihn nicht umbringe, sobald ich auf ihn treffe«, gab ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, was nicht die ganze Wahrheit war. Denn der Gedanke daran, Ian zu begegnen, ließ meine Handflächen feucht werden. Ich schob die Angst so gut es ging beiseite. »Was ist der Plan? Wie befreien wir ihn?«, fragte ich und berührte abwesend meine Handschellenkette. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren und die Situation als neutralen Fall betrachten – nur dann hatte ich eine Chance, eine Lösung zu finden.
»Es war Nothilfe, vielleicht können wir darauf plädieren. Ich könnte zur South Side gehen und Zane bitten auszusagen. Klar, er ist nicht die verlässlichste Quelle, aber es ist einen Versuch wert.« Ich musste meine Emotionen außen vor lassen und die Situation wie einen Fall in meinem Kriminologiestudium behandeln. »Wenn er für second-degree murder verurteilt wird – und das ist meiner Meinung nach realistisch –, wird sich das Urteil auf …« Ich schluckte, als ich mich erinnerte. »Fünfzehn Jahre bis lebenslänglich berufen.« Dazu kam, dass Tyler Vorstrafen hatte und bereits mehrmals im Gefängnis gewesen war. Das würde vor Gericht nicht gut aussehen. »Und wenn ich mich doch noch stelle?«, warf ich in den Raum. »Ich habe keine Vorstrafen.«
»Devon«, sagte Noah streng. »Tyler ist ein Mann aus der Unterwelt – du bist die Tochter des Bürgermeisters.« Er legte den Kopf schief. »Nun ja, des ehemaligen Bürgermeisters. Jedenfalls würden sie dir nicht glauben, dass du diejenige warst, die den Schuss abgefeuert hat. Außerdem haben sie ihren Schuldigen längst.«
Ich werde das nicht hinnehmen. »Die Waffe«, warf ich ein. »Da sind meine Fingerabdrücke drauf.«
»Und Tylers und meine und Alectos«, sagte Sebastian. »Es steht außer Frage, dass wir dich an die Polizei ausliefern, Devon. Das sage ich dir jetzt ein letztes Mal.«
Ich presste die Handflächen auf meine Beine, die immer heftiger zitterten.
»Ich werde mich morgen mit einem Freund von mir in Verbindung setzen«, sagte Noah nun. »Er ist Richter.«
»Und ich trete mit dem Senator in Kontakt«, murmelte Sebastian, der auf seinem Handy herumtippte und weniger mit uns als mit sich selbst sprach.
»Wir geben nicht auf.« Alecto klang beinahe optimistisch. »Wir finden eine Lösung, Tyler zu befreien, noch bevor er verurteilt wird.«
Ich wollte ihr glauben. Wollte es so sehr, dass es wehtat. Doch optimistisch zu sein, war schwerer, als den Schreckensszenarien zu glauben, die in meinem Kopf umherspukten. Ich sprach es nicht aus, aber ich wusste, was alle im Raum dachten: dass es nahezu unmöglich war, ihn zu befreien. Dass es einem Wunder gleichen würde. Und dass er für eine lange Zeit weggesperrt werden würde.
Panik breitete sich in meinem Brustkorb aus und ich warf einen Hilfe suchenden Blick zu Vee, doch sie sah nicht in meine Richtung.
Wann hatte ich mich das letzte Mal derart einsam gefühlt?
Seit ich denken konnte, war meine größte Angst, jemanden zu verlieren. Es gab Wochen, in denen sich die Verlustängste bis ins Unermessliche gesteigert und den Großteil meiner Gedanken eingenommen hatten. Und nun war mein Vater tot, Tyler war weg und ich fühlte mich, als wäre die Welt zu groß für mich.
Eine Weile saß ich reglos auf der Couch und hörte mit halbem Ohr zu, welche Ideen die anderen vorbrachten, wobei ich den Blick auf den Boden gerichtet hielt und still blieb.
In diesem Augenblick war ich mir sicher, das Schlimmste bereits überstanden zu haben. Ich hatte genug gekämpft, gegeben und verloren. Von nun an konnte es ja nur bergauf gehen, oder?
Wie sehr man sich doch täuschen konnte.
Es war, als durchzuckte mich ein Blitz. Ich schreckte aus dem Schlaf, presste eine Hand auf mein rasendes Herz und strich mir mit der anderen die verschwitzten Strähnen aus dem Gesicht. Ich konnte mich an keinen Albtraum erinnern, und dennoch fühlte ich mich, als wäre in meinem Körper eine Tonne Adrenalin ausgeschüttet worden. Ich brauchte keine Zeit, um mich zu orientieren oder daran zu erinnern, was geschehen war – die erschreckende Realität war sofort zum Greifen nah. Ich streckte die Hand zur kalten Seite des Bettes aus – zu der, auf der für gewöhnlich ich lag. Ich hatte auf Tylers Seite geschlafen, da sein Kopfkissen nach ihm roch.
Als Alecto mich vor einer Woche in die Wohnung gebracht hatte, hatte sie mehrmals angeboten, bei mir zu übernachten, damit ich nicht allein war. Ich hatte abgelehnt, da sie die Zeit nach der Entführung durch Zane mit Gia verbringen sollte. Außerdem würde nicht einmal die Gesellschaft von hundert Leuten dazu führen, dass ich mich weniger einsam fühlte. Seit Tylers Verhaftung hatte ich die Wohnung nicht verlassen, doch heute war es so weit.
Ich drehte mich träge auf die Seite und betrachtete die voluminösen Wolken, welche die Spitzen der Hochhäuser streiften und den Himmel verdunkelten. Der trostlose Januartag stand bildlich für die Leere in mir: Obwohl man wusste, dass sich über den Wolken nichts als blauer Himmel und Sonnenschein befanden, war es an einem grauen Tag schwer vorstellbar, dass hinter der Wolkendecke wärmende Sonnenstrahlen auf einen warteten.
Mein ganzer Körper schmerzte, als ich mich aus dem Bett hievte. Ich duschte, föhnte meine Haare und putzte meine Zähne. Nachdem ich in eine Jeans und einen dunkelblauen Pullover geschlüpft war, blieb ich im Wohnzimmer stehen. Ich drehte mich einmal im Kreis, betrachtete den Kamin, der das Wohnzimmer vom Rest der Wohnung abtrennte. Das Bücherregal mit dem organisierten Chaos, wie Tyler es nannte. Die nebeneinander aufgereihten Cornflakesschachteln in der Küche, die Tyler mir von jedem Einkauf mitbrachte.
Mein Puls rauschte in meinen Ohren. Ich hatte meinen Vater erschossen, hatte ihm eine Kugel ins Herz getrieben. Er war tot und schaffte es dennoch nach wie vor, mein Leben zu kontrollieren.
Die Stille dröhnte in meinen Ohren und ich kniff die Augen zusammen. Nicht stehen bleiben, Devon. Nicht nachdenken, nicht zur Ruhe kommen. Ich konnte mir nicht erlauben, die Angst überhandnehmen zu lassen. Nicht jetzt, da Tyler mich brauchte. Weshalb ich mich aus meiner Starre befreite, mein Handy vom Ladekabel trennte und es gemeinsam mit meinem Geldbeutel in die Tasche meines Regenmantels steckte.
Es war kurz vor acht Uhr früh, was bedeutete, dass ich über eine Stunde Zeit hatte, ehe die Besuchszeiten im MCC begannen. Dass ich ihn nun endlich besuchen konnte, war ein Segen. Die letzten Tage waren mein persönlicher Albtraum gewesen. Wes und Sebastian hatten angeboten mich hinzufahren, doch ich hatte abgelehnt. Sie hatten nur widerwillig akzeptiert, dass ich mit der Bahn zum MCC fahren wollte.
Im Türrahmen blieb ich stehen und sah mich ein letztes Mal um. Die Wohnung war mein Zufluchtsort geworden. Mein erstes Zuhause. Nun fühlte sie sich an wie ein verlassenes Filmset, kurz nachdem eine fröhliche Szene gespielt worden war. Alle Schauspieler waren fort und ohne die helle Beleuchtung und Stimmen wirkte es lediglich wie eine trostlose Ansammlung von Möbelstücken.
Es war kaum zu ertragen.
Ich schloss die Tür mit Nachdruck, verließ das Hotel und versuchte nicht an der Stelle zu verharren, an der Tyler gestern festgenommen worden war. Danach machte ich mich auf den Weg zu dem Ort, an dem alles begonnen hatte.
***
Die Türen der Bahn öffneten sich zischend und ich trat auf den überfüllten Gehweg. Augenblicklich zog ich den Mantel enger um meinen Körper. Der eiskalte Wind, der zwischen den Hochhäusern hindurchpeitschte, ließ es einige Grad kälter wirken, als es tatsächlich war. Autos rauschten über die vierspurige Straße, Menschen mit Aktentaschen und Einkaufstüten edler Kaufhäuser drängten sich an mir vorbei. Es dauerte nicht lange, da setzte ein pochender Schmerz hinter meiner Stirn ein. Zu allem Überfluss hatte ich das Gefühl, von allen Seiten beobachtet zu werden. Ob die Frau mit dem weißen Hund wusste, dass sie einer Mörderin in die Augen sah? Ob das Mädchen mit der Schultasche Angst vor mir hätte, wenn sie wüsste, was ich getan hatte?
Ich ging unter der Eisenvorrichtung der Hochbahn hindurch, überquerte zwei Zebrastreifen und fand mich vor meinem ehemaligen Lieblingscafé wieder. Unwillkürlich blieb ich stehen und warf einen Blick ins Innere. Durch das Fenster ließen sich die runden Holztische und die dunkelblau gestrichene Theke erkennen. Als ein Mann das Café betrat, wehte mir der herbe Duft von frisch gebrühtem Kaffee entgegen und erinnerte mich daran, dass ich seit Stunden nichts mehr zu mir genommen hatte. Mir war übel, doch es war vermutlich keine schlechte Idee, etwas im Magen zu haben.
Ich betrat das Café, bestellte einen großen schwarzen Kaffee und einen Cream Cheese Bagel für unterwegs, ehe ich neben der Theke auf meine Bestellung wartete. Als der Kaffee durch die Maschine gelaufen war, hörte ich, was der Barista zu seiner Kollegin sagte, und horchte auf. »Tragödie ist das richtige Wort. Genau das kann die Stadt aktuell gebrauchen: einen toten Bürgermeister.«
Das Blut wich mir aus dem Gesicht.
»Wissen sie denn schon, wer es war?«, fragte die Kollegin mit den blau gefärbten Haarspitzen und sah von dem hellgrünen Lappen auf, mit dem sie über die Theke wischte.
»Anscheinend haben sie jemanden verhaftet, noch ist nichts Genaueres bekannt. Aber fragst du dich nicht auch, was der Bürgermeister überhaupt in diesem Teil der Stadt zu suchen hatte?«
Ach, nichts Besonderes, schoss es mir durch den Kopf. Er wollte seine Tochter bedrohen und dann ein kleines Mädchen erschießen, um seinen Ruf zu retten und wiedergewählt zu werden. Das mit der Wiederwahl hatte sich jetzt wohl erledigt …
Der Barista reichte mir den Becher mit einem breiten Lächeln und riss mich somit aus meinen Gedanken. »Bitte sehr. Genieß deinen Tag, Liebes.«
Ich erwiderte sein Lächeln matt und nahm den warmen Becher und den in braunes Papier eingeschlagenen Bagel entgegen. Während ich die letzten Straßen überquerte, wärmte ich meine Hände am heißen Kaffeebecher und schaffte immerhin die Hälfte des Bagels. Meine Wangen waren eiskalt, als ich den leeren Kaffeebecher eine Straße weiter im Müll entsorgte. Als das beige, dreieckige Hochhaus mit den schmalen Fenstern wie ein Mahnmal vor mir aufragte, blieb ich wie angewurzelt stehen. Das MCC. Der Ort, von dem ich gehofft hatte, ihn niemals wieder betreten zu müssen.
Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich nur wenige Meter von Ian entfernt war. Meine Übelkeit verstärkte sich und ich presste eine bebende Hand auf meinen Magen. Ich hätte den Bagel nicht essen sollen. Vielleicht musste ich es anders sehen. Ja, ich war nur wenige Meter von Ian entfernt – allerdings bedeutete das auch, dass ich nur wenige Meter von Tyler entfernt war. Er ist dort drin, schoss es mir durch den Kopf. Nicht mehr lange, dann kannst du ihn sehen. Das war es schließlich, was mich weitergehen ließ. Denn Liebe war immer stärker als Angst.
Je näher ich kam, desto höher wirkte das Gebäude. Ich hatte beinahe vergessen, wie bedrohlich es anmuten konnte – besonders mit den dramatischen Wolken, die es nun umgaben. Ian regierte sein Reich wie ein bösartiger König … mit eiserner Hand und ohne Rücksicht auf Menschlichkeit.
Ich musste an die Scherze denken, die Tyler und ich vor wenigen Tagen gemacht hatten, als wir auf dem Weg zum Helikopterflug in der Nähe des MCC gewesen waren. Wir hatten darüber gelacht, dass wir wie andere Paare unseren Jahrestag auch an dem Ort verbringen sollten, an dem wir uns kennengelernt hatten. Es war eindeutig zu früh für solche Witze gewesen – wenn es schlecht lief, konnten wir unseren Jahrestag nun tatsächlich im Besucherraum feiern.
Ich ging die letzten Meter auf den beleuchteten Eingang zu und nahm all meine verbliebenen Kräfte zusammen, ehe ich das Gefängnis betrat. Das Erste, was mir auffiel, war der stechende und gleichzeitig vertraute Geruch nach Filterkaffee, Bleich- und Desinfektionsmittel. Es erinnerte mich an die Erleichterung, die ich damals verspürt hatte, wann immer ich hergekommen war. Hier hatte ich meiner Realität als Tochter des Bürgermeisters entkommen können, hatte niemand sein müssen, der ich nicht war. Nun fühlte es sich an, als würde ich eine Parallelwelt betreten.
In Windeseile scannte ich den Raum. Keiner der Polizisten, die in ihren schweren Uniformen umherliefen, war Ian. Das war ein Anfang. Türsummer ertönten und bereits jetzt bildete sich eine Schlange am rechten Schalter. Als mein Blick zum linken wanderte, entdeckte ich Alessandra. Nach allem, was bisher geschehen war, war es etwas weit hergeholt, zu behaupten, dass das Glück auf meiner Seite war. Aber immerhin musste ich sie nicht länger suchen.
Ich schluckte schwer, räusperte mich und steuerte den Schalter an. Alessandra saß hinter der Glasscheibe, ihre Augen auf den PC vor sich gerichtet und einen Kaffeebecher in der Hand. Da wir uns kannten, hatte sie auf mich trotz ihrer markanten Gesichtszüge niemals einschüchternd gewirkt. Doch nun war ich unsicher, wie sie zu mir stand. War sie sauer auf mich? Dachte sie, ich hatte mich mit einem böswilligen Verbrecher eingelassen und Ian hintergangen? Sie war stets mehr Ians als meine Freundin gewesen, schließlich hatten sich die beiden auf der Polizeiakademie kennengelernt. Es war also klar, wem ihre Loyalität galt. Im Endeffekt würde ich erst wissen, was sie dachte, wenn ich sie konfrontierte.
Als ich vor ihr stand, sah sie noch immer nicht von dem Bildschirm auf. Das bläuliche Licht warf Schatten auf ihre schwarze Haut und die vollen Lippen waren zu einer geraden Linie verzogen. »Wiederkehrender Besucher?«, fragte sie, ohne aufzusehen.
»Kann man so sagen«, antwortete ich.
Ihr Blick schnellte hoch und ihre braunen Augen weiteten sich. »Ach du Scheiße«, flüsterte sie, ihre Stimme durch das ins Glas eingelassene Mikrofon verzerrt. »Devon?«, rief sie etwas lauter.
Ich hob die Hand auf halbe Höhe. »Hi.« Meine Unsicherheit sagte all das, was ich nicht über die Lippen brachte: Ich weiß, dass du dachtest, mich nie wiederzusehen. Ich weiß, dass ich dir eine Erklärung schuldig bin. Oder zehn. Ich weiß, dass ich nicht hier sein sollte.
Sie blinzelte. Zweimal. Dann stellte sie ihren Kaffeebecher neben der Tastatur ab, ohne den Blick von mir zu lösen.
Wie war das noch gleich? Sie hatte nie einschüchternd auf mich gewirkt? Diese Aussage würde ich gern zurücknehmen. Es gab so viel Unausgesprochenes zwischen uns, dass ich mit einem Mal nicht wusste, wo ich beginnen sollte. Geistesabwesend rang ich die Hände. Mit einem Mal fragte ich mich, ob sie mich überhaupt reinlassen würde. Sie vertraute mir nicht mehr. Ich hatte mich auf Tyler Fox eingelassen, der ihrer Meinung nach einer von Chicagos Vorzeige-Bösewichten war.
Sie rührte sich nicht. Sie musterte mich eingehend und ich konnte förmlich sehen, wie sie abwägte, was sie tun sollte.
Gerade als ich dachte, sie würde mich abweisen, drückte sie den roten Knopf neben der Tastatur, woraufhin das Summen des Türöffners ertönte. »Komm rein. Ich denke, wir sollten uns unterhalten.«
Ich schluckte, trat durch die Tür, legte meinen Mantel in die Plastikschale auf dem Band und ging einen Schritt auf Alessandra zu. Sie hatte die Arme vor dem Körper verschränkt und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. Man brauchte keinen Kurs über Körpersprache belegt zu haben, um zu verstehen, dass sie mir gegenüber skeptisch war.
Der Polizist zu meiner Rechten reichte mir meinen Mantel zurück und ich wollte gerade auf Alessandra zugehen, als sie ihre Hand ausstreckte und mir bedeutete stehen zu bleiben.
Ich runzelte die Stirn und beobachtete, wie sie den Körperscanner vom Tisch nahm und einschaltete. Herrje. Im Gegensatz zu Ian hatte sie mich früher nie gescannt. Es war Vorschrift, klar, doch sie hatte mir vertraut und darauf verzichtet. Dieses Privileg hatte ich inzwischen wohl verwirkt.
Ich versuchte, mir die Zurückweisung nicht anmerken zu lassen, als ich meine Arme hob und mich von ihr scannen ließ. Schließlich ließ sie das Gerät sinken, legte es wortlos auf dem Tisch ab und lockerte ihre Haltung.
»Herrgott, Devon.« Sie schüttelte den Kopf, kam einen Schritt auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ihr türkisfarbener Ring leuchtete matt im grellen Licht der Deckenlampen. »Als Erstes möchte ich dir mein herzliches Beileid aussprechen.«
Im ersten Moment nahm ich fälschlicherweise an, sie meinte, dass Tyler im Gefängnis war. Doch als sie hinzufügte: »Das mit deinem Vater tut mir aufrichtig leid«, wurde mir bewusst, dass sie von Elliott sprach.
Wenn das nicht alles über die Situation aussagt, weiß ich auch nicht, dachte ich, als sie mir ein Zeichen gab und ich ihr folgte. In dem überschaubaren Raum befanden sich zwei Schreibtische – einer vor der Glasscheibe und ein anderer direkt gegenüber. Sie schloss die Tür hinter uns und sperrte somit die allzu vertrauten Geräusche des Gefängnisses aus.
Dies war der Raum, in dem ich das allererste Mal den Namen Tyler Fox gehört hatte. Hier hatte sie mir erzählt, dass Patricia in Isolationshaft saß. Wenn man es so sah, hatte alles genau hier seinen Anfang genommen.
Alessandra bot mir einen mit Stoff bezogenen Drehstuhl an, auf den ich mich behutsam setzte, als könnte jede ruckartige Bewegung einen Alarm auslösen. Sie ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder, wobei sie mich keine Sekunde lang aus den Augen ließ.
Ich räusperte mich. Vielleicht sollte ich mit etwas Kleinem anfangen. Langsam in das Thema einsteigen, bevor ich mit den großen Geschützen auffuhr. »Wie geht’s d–«
»Was zum Teufel, Devon?«, rief sie mit schriller Stimme.
Okay, so viel dazu.
»Tyler Fox ist hier«, stellte sie nüchtern fest. »Mal wieder. Was du natürlich weißt, da du sonst nicht hier wärst, richtig? Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich kommen würdest, um ihn nach alldem auch noch zu besuchen.«
Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, ehe sie den Finger hob, mahnend damit wackelte und sagte: »Mh-mh. Ich bin noch nicht fertig.«
Ich presste meine Lippen aufeinander und atmete tief ein. Die Luft im Raum war warm und roch nach ihrem schweren Parfum.
»Du hast mir einiges zu erklären. Ich habe Fragen. Und ob ich dich wieder aus diesem Raum lasse, hängt von den Antworten ab, die du mir darauf gibst, klar?«
Früher hätte ich einen Witz darüber gemacht, dass es sich dabei um Freiheitsberaubung handelte, doch nun nickte ich lediglich stumm.
»Ich habe dich das letzte Mal gesehen, als du gemeinsam mit Tyler und Wes durch die Gänge im Gefängnis gestreift bist. Was ist da passiert? Wolltest du Fox dabei helfen auszubrechen? Und hat Wes wirklich für ihn gearbeitet? Ian hat uns nichts darüber gesagt. Es gibt Gerüchte – einige sogar –, doch ich will von dir die Wahrheit hören. Hast du mit Tyler zusammengelebt? Und wenn ja, was stimmt mit dir nicht? Wenn ich gewusst hätte, dass dein Leben derart aus den Fugen gerät, wenn ich dir einen einzigen attraktiven Insassen vorstelle, hätte ich es nicht getan.« Sie machte eine Pause, um Luft zu holen. »Ich weiß, dass man so nicht mit jemandem spricht, dessen Vater kürzlich gestorben ist – abgesehen davon, dass ich bis vor wenigen Tagen noch nicht einmal wusste, dass Elliott Turner dein Vater ist –, aber du bist hier, also liegt das in deiner eigenen Verantwortung. Scheiße, für kurze Zeit warst du die Hauptverdächtige im Mordfall Louise Ryan! Ich meine, das habe ich natürlich keine Sekunde lang geglaubt. Ich wusste, dass du niemals fähig wärst, einen Mord zu begehen.«
Ich biss mir fest auf die Zunge. Mord an der unschuldigen Louise Ryan? Nie im Leben. Mord an meinem eigenen Vater? Offenbar schon. Auch wenn ich das nie gewollt hatte.
»Also. Du hast fünf Minuten Zeit, mir alles zu erklären.«
Ich schnaubte. »Alessandra, ich brauche mehr als fünf Minuten.«
Sie verengte die Augen. »Ist mir egal, fang einfach an.«
Herrje, sie konnte wirklich einschüchternd sein. »Willst du mich vielleicht in ein Verhörzimmer bringen?«, fragte ich und hob neckend eine Augenbraue.
Sie legte den Kopf schief. »Ich überlege es mir noch.«
»Tyler ist nicht die Person, für die du ihn hältst«, begann ich. »Ja, ich habe bei ihm gewohnt und tue es noch immer. Ja, ich habe Ian verlassen. Dass ich nun mit Tyler zusammen bin, habe ich keine Sekunde lang bereut.«
Ihre Augen weiteten sich. Eilig redete ich weiter, ehe sie mir erneut ins Wort fallen konnte. »Nichts von dem, was mein Vater und Ian erzählt haben, ist wahr. Du willst wissen, wer den Mord an Louise Ryan verübt hat?«
»Nigel Simmons«, erwiderte sie. »Der Auftragsmörder, der aus eigenem Interesse gehandelt hat.«
Ich schüttelte den Kopf. »Er hat sie ermordet, das stimmt, aber mein Vater hat den Mord in Auftrag gegeben und Ian hat sich mit ihm in Verbindung gesetzt. Ich wollte Tyler nicht helfen auszubrechen. Ich habe ihn … besucht. Ich hatte Ian angelogen und gesagt, dass ich mich weiterhin mit Patricia treffe. Als er herausgefunden hat, dass ich stattdessen Tyler sehe, ist er … sauer geworden.« Die Untertreibung des Jahrhunderts. Aber die Stelle, an der er mich gewürgt und blutend auf dem Boden unseres Apartments hatte liegen lassen, ließ ich aus. »Also habe ich es im Geheimen getan. Ein paar Tage nachdem er entlassen wurde, bin ich mit Tyler in die Unterwelt gezogen. Bis dahin hatte ich in einem Hotel gewohnt. Weit, weit weg von Ian und meinem Vater.«
»Du willst mir sagen, dass Ian und dein Vater die Bösen der Geschichte sind und Tyler der Engel?«
»Ich will, dass niemand in Kategorien eingeteilt wird, sondern die Fakten betrachtet werden«, gab ich zurück und spürte, wie mein Herz immer schneller schlug. »Tyler hat mir das Leben gerettet, mehr als einmal. Und ich erwarte nicht, dass du es verstehst, aber –«
»Du willst die Fakten anschauen?«, fragte sie, ein bitterer Zug umspielte ihren Mund. »Tyler ist festgenommen worden, weil er deinen Vater ermordet hat. Und du bist trotzdem hier, um ihn zu besuchen?«
Ich sah zu Boden, biss mir fester auf die Zunge, um mich davon abzuhalten, ihn zu verteidigen und den Mord zu gestehen. Sebastian hatte mich davor gewarnt. Außerdem würde sie mir ohnehin nicht glauben, sondern mich als liebeskranke Verrückte darstellen, die ihren Freund entlasten wollte.
Ich sah auf. »Ist Ian heute hier?«
»Ja.«
Mein Herz verkrampfte sich und Bitterkeit breitete sich in meinen Adern aus. »Kann ich Tyler sehen?«
»Fuck, Devon … Ich kann dich schlecht davon abhalten, aber ich rate dir davon ab.«
»Wann wird das Gerichtsurteil verlesen? Welche Beweise gibt es?«
»Ich darf dir keine Informationen über den Fall geben«, sagte sie und kickte mit dem Schuh gegen die Rollen des Stuhls. »Außerdem müssen wir die Anhörung abwarten. Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Der Mord am verdammten Bürgermeister ist keine kleine Sache. Fox wird für eine lange Zeit weggesperrt werden.«
Meine Atmung stockte und ich musste mich zwingen, weiter Luft zu holen. Sebastian hatte versprochen, dass wir eine Lösung finden würden – daran musste ich glauben. »Lässt du mich zu ihm? Ich verstehe, dass du mir nicht mehr vertraust. Die ganze Situation ist surreal und von außen betrachtet schwer zu verstehen. Aber du kennst nur Ians Seite der Geschichte.«
Ich konnte ihr die Zerrissenheit ansehen. Beinahe, als wollte sie mir glauben. Doch ich sah in ihrem Blick, dass sie es nicht tat. Sie war nach wie vor der festen Überzeugung, dass Ian ein guter Mensch war. Ihr Chef, ein Freund. Nichts, was ich sagen könnte, würde ihre Meinung über ihn ändern.
Sie seufzte tief und rieb sich die Schläfen. »Ich trage dich als regelmäßige Besucherin ein.«
»Danke. Kannst du … kannst du Ian vielleicht nicht erzählen, dass ich hier bin?«
Ihr Blick wurde weicher, für einen Moment nahezu verständnisvoll. Vermutlich dachte sie, dass es schwer für mich war, meinem Ex zu begegnen. Wenn sie wüsste, wie viel mehr dahintersteckte. »Das werde ich nicht, aber er wird es früher oder später von selbst herausfinden.«
Ich nickte. Das befürchtete ich ebenfalls.
Sie seufzte tief und musterte mich einen Moment mit Bedauern im Blick. Dann erhob sie sich. »Komm, ich bringe dich nach oben.«
Ich erhob mich eilig und strich meinen Pullover glatt. Mein Puls raste, was nicht an dem großen Becher Kaffee lag. Es war eine Mischung aus Angst vor der Zukunft, dem Wissen, Ian über den Weg laufen zu können, und der Tatsache, dass ich Tyler gleich sehen würde.
Verzeih mir. Jetzt bist du in der sicheren Zone. Ich hatte seine letzten Worte Hunderte Male in meinem Kopf gedreht und gewendet. Er war entschlossen gewesen. In seiner Miene hatten Verzweiflung und Trauer gestanden, doch nicht das geringste Zögern. Er hatte sich für mich gestellt, damit ich frei sein konnte. Hatte bereitwillig sein Leben in Freiheit aufgegeben, um mich zu schützen. Doch eines hatte er dabei nicht bedacht: Sichere Zone hin oder her, ich würde nicht frei leben können, wenn mich die Schuldgefühle unter sich begruben und mir die Luft zum Atmen nahmen.
Wortlos öffnete Alessandra die Tür, ging zum Aufzug voraus und drückte die Taste, die daraufhin weiß aufleuchtete. Als wir nebeneinanderstanden, bemerkte ich, dass wir exakt gleich groß waren. Sie war nur drei Jahre älter als ich und wenn wir uns nicht ausgerechnet über Ian kennengelernt hätten, wären wir bestimmt Freundinnen geworden. Unsere Schultern streiften sich beinahe, und dennoch war die Kluft, die die Missverständnisse zwischen uns geschaffen hatten, riesengroß.
Wir sprachen kein Wort, während wir in den Aufzug traten. Als er im achten Stock zum Stehen kam und die Türen beiseite glitten, ließ mir Alessandra den Vortritt. Wir gingen den Korridor entlang und bei jedem Schritt klimperten die Handschellen an ihrem Gürtel. An der Tür angekommen, die zum Besucherraum führte, blieben wir stehen.
»Ich habe ein Déjà-vu«, sagte Alessandra und lachte trocken.
Ich schmunzelte – die Bewegung meiner Mundwinkel fühlte sich falsch an. »Beim ersten Mal hast du mich auch hochgebracht«, stellte ich fest.
Sie sah nachdenklich zum Ende des Flurs. Eine Lampe über unseren Köpfen flackerte. Dann sah sie zurück zu mir. »Ich hoffe, du bist in Ordnung«, entgegnete sie und für einen Moment hatte sie die undurchdringbare Maske der Polizistin abgenommen. »Wenn du Hilfe oder einen Rat brauchst, kannst du dich jederzeit bei mir melden.«
»Danke, Alessandra. Das weiß ich zu schätzen.«
»Also dann«, sagte sie, machte aber keine Anstalten zu gehen. Es war, als wollte sie mich nicht in den Besucherraum gehen lassen. Schließlich presste sie die Lippen aufeinander und nickte knapp. Ich legte meine Hand auf die Klinke der Tür, die in den Vorraum führte, als Alessandra sagte: »Aber Devon?«
Ich drehte mich zu ihr um. Das Licht der Deckenlampen spiegelte sich in ihren dunklen Augen.
»Versprich mir, nicht auf Tyler zu warten, wenn er sein Urteil erhält. Bekomm dein Leben wieder in den Griff, such dir neue Freunde. Ich bitte dich darum. Du bedeutest mir viel und ich will nicht dabei zusehen, wie du vom richtigen Weg abkommst und deine Entscheidungen in ein paar Jahren bereust, wenn es schon zu spät ist.«
Oh Alessandra. Wenn du wüsstest, wie das Leben in der Unterwelt ist. Wenn du wüsstest, wie liebenswert und gerecht die Menschen dort sind. Wie Tyler ist. Wenn du gesehen hättest, wie Ian mich bedroht, mich gedemütigt und geschlagen hat …
Doch ich schluckte all die Rechtfertigungen hinunter. Wenn ich in den letzten Monaten eines gelernt hatte, dann dass Menschen immer nur das glaubten, was sie wollten. Weshalb ich lediglich Alessandras Oberarm sanft berührte und sagte: »Egal, was du tust: Vertrau Ian nicht, hörst du? Halt dich am besten von ihm fern und glaub ihm kein Wort.«
Ich sah in ihren Augen, dass die Worte nicht angekommen waren. Sie war nach wie vor auf Ians Seite.
Das hast du großartig hinbekommen, Ian. Danke schön.
Sie wandte sich ab, ich atmete tief durch und lauschte Alessandras leiser werdenden Schritten. Dann hob ich das Kinn und betrat den Raum.
Wie erwartet hatte sich im Vorzimmer rein gar nichts verändert. Eine Polizistin mit kurz geschorenen Haaren begleitete mich zu einem der Spinde, die die Wände säumten. Die rostige Tür quietschte, als ich sie öffnete, dann legte ich unter Beobachtung der Wärterin meinen Mantel hinein. Ich schielte zur Tür mit dem kleinen quadratischen Fenster darin, vor der ein Wärter stand und einen Besucher abtastete.
Gleich werde ich Tyler sehen. Er war hinter dieser Tür. Warum fühlte es sich dann an, als wäre er meilenweit von mir entfernt? Ich fühlte mich nicht ansatzweise stark genug, ihm gegenüberzutreten. Ihn in dem orangefarbenen Overall zu sehen, Handschellen um die Handgelenke. Es brach mir das Herz, wenn ich nur daran dachte.
Als ich die Spindtür schloss, sah ich mich verstohlen im Raum um. Auf der anderen Seite stand ein Mann mit zwei kleinen Kindern, die mit großen Augen durch die Gegend blickten. Eine weiße Frau zog gerade ihren Mantel aus und hängte ihn in den Spind. Von Ian war nach wie vor keine Spur. Ich wusste, dass Alessandra ihr Versprechen halten und ihm nicht sagen würde, dass ich hier war. Dass sie mir nicht glaubte, versetzte mir einen Stich. Es war mir nie besonders wichtig gewesen, was andere Menschen von mir dachten, doch auf Alessandras Meinung legte ich Wert. Und von seinen Freunden als liebeskranke Verrückte angesehen zu werden, die ihren charmanten Verlobten für einen böswilligen Verbrecher verlassen hatte, war dann doch nicht schön. Was mich allerdings mehr störte, war die Tatsache, dass Ian als guter Mann dargestellt wurde, während Tyler – wieder einmal – der Böse war. Wenn ich daran dachte, mit wie vielen Verbrechen Ian über die Jahre davongekommen war, wurde mir vor Wut schwindelig.
Eins nach dem anderen, sagte ich mir, als ich die Arme hob, um mich abtasten zu lassen. Ian wird das bekommen, was er verdient hat.
»Alles klar, Sie können zur Tür gehen«, sagte die Wärterin mit starkem Südstaatenakzent.
Vor der Tür angekommen bedeutete mir der Polizist, der danebenstand, zu warten. Zittrig holte ich Luft, schloss für eine Sekunde die Augen und versuchte mich darauf vorzubereiten, was gleich geschehen würde.
Der Polizist brummte etwas in sein Funkgerät und sagte dann etwas lauter: »Miss, Sie dürfen.«
Ich öffnete die Augen, der Türsummer dröhnte laut in meinen Ohren.
Dann betrat ich das erste Mal seit einer sehr langen Zeit den Besucherraum.
Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, suchte ich den Raum sofort nach Tyler ab. Bisher waren nur drei Tische besetzt, doch er saß an keinem davon.
»Folgen Sie mir«, bat mich eine große Polizistin mit dickem schwarzem Zopf. Wir kamen an einem Tisch mit zwei Frauen vorbei, die dieselben hellblonden Haare und weichen Gesichtszüge hatten. Es war nicht zu übersehen, dass es sich um Zwillinge handelte, die kaum älter sein konnten als ich. Der einzige Unterschied war, dass die eine einen schwarzen Blazer und Jeans trug – die andere einen orangefarbenen Overall.
Ich wandte den Blick zurück nach vorn und musste unwillkürlich an Patricia denken. War sie noch immer im MCC? Sobald all das vorbei war, würde ich mich nach ihr erkundigen und einen Weg finden, sie zu besuchen.
Die Polizistin führte mich immer tiefer in den Raum, ihr bis zur Taille reichender Zopf wippte von links nach rechts. Schließlich kam sie neben einem Tisch an einem der schmalen Fenster zum Stehen. »Bitte warten Sie einen Moment, bis Mr Fox zu Ihnen gebracht wird«, meinte sie und sah mich aus ihren mandelförmigen Augen an.
»Danke.«
Sie nickte knapp, entfernte sich vom Tisch und stellte sich neben einen anderen Polizisten in der Nähe der Eingangstür an die Wand. Ich rutschte bis an den Rand des Stuhls und spürte, wie die Kälte des Metalls durch den Stoff meiner Hose drang. Nervös rang ich die Hände und sah aus dem schmalen Fenster in das graue Chicago. Nur anhand einzeln beleuchteter Vierecke, die sich durch die Wolken kämpften, waren die Hochhäuser auszumachen. Die Sekunden zogen sich ins Endlose – jedes Mal, wenn der Zeiger der Uhr hinter dem Gitter an der Wand weiterwanderte, schien er langsamer zu werden. Ich straffte meine Schultern und nahm drei tiefe Atemzüge. Egal, wie schlecht es mir ging – ich würde mich in der nächsten Stunde zusammenreißen und einen kühlen Kopf bewahren … schließlich wollte ich Tyler eine Stütze sein.
In diesem Augenblick ertönte das Summen des Türöffners auf der anderen Seite. Ich hob eilig den Blick und hielt angespannt die Luft an, als die Tür aufschwang …
… und Tyler begleitet von nicht nur einem, sondern gleich drei Wärtern den Raum betrat. Als ich genauer hinsah, hörte mein Herz auf zu schlagen.
O mein Gott.
Sein Gesicht. Die Haut um sein rechtes Auge herum war grün, blau, violett und geschwollen, seine Wange gerötet. Sein Blick war grimmig, seine Aura gefährlich und abweisend. Er wirkte beinahe wie ein verletztes Tier, das niemandem Vertrauen schenkte.
Ich schlug mir eine Hand vor den Mund und meine Augen füllten sich unweigerlich mit Tränen. Als sein Blick auf mich fiel, wurde er weicher und ich erhob mich wie von selbst von meinem Stuhl, unsicher, ob meine Beine mich tragen würden. Die Wärter führten ihn an den Tisch heran und je näher er kam, desto mehr Details nahm ich wahr: seine aufgesprungene Lippe, den glasigen Blick … doch da waren auch seine bernsteinfarbenen Augen und die vertraute Narbe, die durch seine Augenbraue führte. Die Lachfältchen, die auch dann sichtbar waren, wenn sein Blick wie jetzt ernst war. Zwei Meter vor mir blieb er stehen. Ein Wärter mit Glatze zog einen Schlüsselbund hervor und schloss die Handschellen auf, mit denen Tylers Hände hinter seinem Rücken befestigt worden waren.
Und dann gab es nichts mehr, was mich hätte halten können.
»Tyler«, hauchte ich, überwand die letzten Meter und schloss meine Arme um ihn. Er erwiderte meine Umarmung augenblicklich, drückte mich fest an sich, als hätten wir uns Jahrzehnte nicht mehr gesehen. In gewisser Weise fühlte es sich genauso an.
Es war, als wäre zwischen Tyler und mir ein Faden gespannt worden. Wenn ich bei ihm war, war keine Spannung darauf und das Atmen fiel mir leicht. Doch wann immer er weit von mir entfernt war, wurde der Druck beinahe unerträglich.
Ich vergrub mein Gesicht an seinem Hals, der kratzige Stoff des Overalls rieb an meiner Wange. Mit einem Mal war alles andere egal. Es war egal, was die Besucher und Polizisten dachten. Egal, was Alessandra und Ian von mir hielten – nichts davon spielte eine Rolle, wenn ich bei Tyler war und seine Liebe all das Unverständnis und den Hass in dieser Welt verblassen ließ.
»Devon«, flüsterte er und seine Stimme war so vertraut, dass es wehtat. »Es tut mir leid.« Er strich über meinen unteren Rücken und ich umarmte ihn so fest, als könnte der Körperkontakt mein zerrissenes Herz flicken. Für eine Sekunde, vielleicht auch nur eine halbe, war alles gut. Ich schloss die Augen, erlaubte mir, mich fallen zu lassen …
»Es reicht«, blaffte der Wärter, doch ich war noch nicht bereit loszulassen. Tylers vertrauter Geruch stieg mir in die Nase und mein Herz stolperte. Es war nicht der verblasste Geruch seines Kissens, sondern er.