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Ihr rätselhaftes Verschwinden lässt auch Jahre später niemanden los – ein verstörendes Spiel aus Anziehung, Obsession und Lügen Brütende Hitze liegt über den mittelalterlichen Gassen von Louisson, als der junge Kommissar Christian Mirambeau aus seinem eintönigen, aber glücklichen Familienleben gerissen wird: Leon Bernberg, ein deutscher Tourist, ist in der Stadt aufgetaucht und stellt seltsame Fragen – zehn Jahre ist es her, seitdem seine Zwillingschwester Lune hier von einem Tag auf den anderen verschwand, zehn Jahre, in denen – da ist sich Leon sicher – ein Verbrechen nicht aufklärt wurde. Je mehr Mirambeau über Lune erfährt und in die Spuren ihres Lebens eintaucht, desto mehr fühlt er sich selbst gefangen in dem dunklen Netz dieser Frau, die viele Geheimnisse hütete. Aber war sie Opfer oder Täterin? Und warum will Leon seine Schwester wirklich finden? Dieser Psychothriller voller Twists ist bereits unter dem Titel »Janusmond« und dem Pseudonym Mia Winter erschienen und wird Fans von Megan Miranda und des Serien-Hits »You« fesseln.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Brütende Hitze liegt über den mittelalterlichen Gassen von Louisson, als der junge Kommissar Christian Mirambeau aus seinem eintönigen, aber glücklichen Familienleben gerissen wird: Leon Bernberg, ein deutscher Tourist, ist in der Stadt aufgetaucht und stellt seltsame Fragen – zehn Jahre ist es her, seitdem seine Zwillingschwester Lune hier von einem Tag auf den anderen verschwand, zehn Jahre, in denen – da ist sich Leon sicher – ein Verbrechen nicht aufklärt wurde. Je mehr Mirambeau über Lune erfährt und in die Spuren ihres Lebens eintaucht, desto mehr fühlt er sich selbst gefangen in dem dunklen Netz dieser Frau, die viele Geheimnisse hütete. Aber war sie Opfer oder Täterin? Und warum will Leon seine Schwester wirklich finden?
Bitte beachten Sie, dass dieser Roman bereits unter dem Titel JANUSMOND und dem Pseudonym MIA WINTER erschienen ist.
Über die Autorin:
Stefanie Koch, geboren 1966 in Wuppertal, studierte in Frankreich, arbeitete in Italien, Thailand und Bangkok und lebt heute in Düsseldorf, wo sie unter anderem als Datenschutzbeauftragte in einem Stromkonzern tätig ist. Seit 2003 veröffentlicht sie erfolgreich Thriller und Kriminalromane, sowohl unter ihrem echten Namen als auch unter dem Pseudonym Mia Winter.
Die Autorin im Internet: www.stefanie-koch.com
Bei dotbooks erschienen bereits Stefanie Kochs Thriller »CROSSMATCH – Das Todesmerkmal«, der Kriminalroman »Hurenpoker«, der rabenschwarze Kurzroman »TRULLA – Mord ist immer eine Lösung« sowie die erfolgreiche Krimiserie rund um den Düsseldorfer Kommissar Lavalle:
»KOMMISSAR LAVALLE – Der erste Fall: Im Haus des Hutmachers«
»KOMMISSAR LAVALLE – Der zweite Fall: Die Karte des Todes«
»KOMMISSAR LAVALLE – Der dritte Fall: Die Stunde der Artisten«
»KOMMISSAR LAVALLE – Der vierte Fall: Der Kopf der Schlange«
Die ersten drei Fälle von Kommissar Lavalle sind auch als Sammelband erhältlich.
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eBook-Neuausgabe Januar 2025
Dieses Buch erschien bereits 2015 unter dem Pseudonym »Mia Winter« und dem Titel »Janusmond« bei LYX.
Copyright © der Originalausgabe 2015 bei EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Pachacutec und AdobeStock/chaud
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98952-587-0
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Stefanie Koch
Darling Girl – Ich finde dich überall
Thriller
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Für meine große Liebe, denn seit es dich gibt,
haben meine Briefe einen Adressaten.
Leon schwitzte. Immer wieder benutzte er das bereits durchtränkte Taschentuch in seiner Hand, um sich über die Stirn zu wischen. Die Schweißflecken auf seinem grauen Hemd glänzten dunkel, das Jackett auf seinen Knien war zerknittert.
Es gab nur ein vergittertes Fenster in diesem schmalen Wartezimmer. Die ehemals weißen Plastikstühle hatten vergilbte Sitzflächen und ausgeleierte Lehnen. Ihm gegenüber saß eine fette Frau, die gleichgültig strickte und ihn ignorierte. Zwei junge Frauen waren vor zwanzig Minuten hinzugekommen und flüsterten miteinander. Ihr französischer Singsang mischte sich mit dem trägen Surren des Ventilators, der lahm über ihren Köpfen rotierte.
Leon spürte, dass sie sich über ihn unterhielten. Er lächelte die Frauen an. Das mochte er, diesen Moment. Die Zeit, da sie noch nicht ahnten, wie er in Wirklichkeit war. Seine feinen Gesichtszüge, die hellbraunen Augen, der androgyne Körper und das immer etwas zu lange dunkelblonde Haar verliehen ihm eine Ausstrahlung, die Menschen gern adelig nannten und die ihn für Frauen attraktiv machte. Immer wieder erfasste er damit einen Zipfel dessen, was die Gesellschaft normal nannte. Ein paar Atemzüge lang war er ein normaler Mann unter normalen Frauen, die mit ihm flirteten und die er hätte begehren sollen.
Leon Bernberg seufzte. Schon seit Stunden wartete er im Kommissariat von Louisson auf jemanden, der ihm würde helfen können. Ein wenig ungelenk hatte er sein Anliegen vorgetragen, denn seit dem Tod seiner französischen Mutter hatte er diese Sprache nicht mehr gesprochen. Er suchte Lune Bernberg, seine Schwester. Oder wollte vielmehr einen Beleg für den Tod seiner Zwillingsschwester.
Vor elf Jahren war Lune im September nach Louisson gefahren. Sie hatte sich immatrikuliert an der Universität La Valuse, aber niemals exmatrikuliert. Er brauchte etwas Offizielles, um Lune für tot erklären zu lassen.
»Ein Schreiben der Polizei wäre super«, hatte sein Freund und Anwalt Mark gesagt. »Viele bunte Stempel. Das hilft.«
Die Schwüle der Stadt setzte Leon mehr als erwartet zu. Es war, als schwebten in der feuchten Hitze die Blaupausen seiner Erinnerungen. Er stand auf, ging ein paarmal auf und ab und setzte sich auf einen anderen Stuhl. Einen kurzen Moment fühlte die Sitzfläche sich kühl an. Das dämmerige Licht des Raumes, das gleichmäßige Surren des Ventilators und die französischen Gesprächsfetzen, die gelegentlich vom Flur hereindrangen, mal ein Fluch, mal ein Zuruf, mal ein Lachen, erinnerten ihn an den Film »Casablanca«.
»Monsieur Bernberg?«
Leon drehte den Kopf. »Ja, das bin ich.«
»Guten Tag. Ich bin Inspektor Mirambeau. Bitte folgen Sie mir.«
Der große und kräftige Polizeibeamte ging durch den Flur voran, ehe er sich zu Leon umwandte und mit der Hand eine Treppe hinunterwies. »Kommen Sie bitte mit in mein Büro.«
Ein Stockwerk tiefer war die Luft des Polizeigebäudes merklich kühler, aber nicht weniger staubig und verbraucht. Die dicken Mauern speicherten nicht nur die Hitze des Tages, sondern auch den Schweiß der Menschen, die darin arbeiteten. Das Büro des Inspektors maß vielleicht vier Quadratmeter. Eine Tür zu einem schmalen Innenhof stand offen. Feuchte Kellerluft drang in den Raum. Papiere lagen kreuz und quer auf dem Schreibtisch verteilt. Eine Tasse, in der ein Rest Kaffee eingetrocknet war, lag auf der Seite, als ob sie schliefe. In der Ecke, wo der Papierkorb stand, raschelte es.
Inspektor Mirambeau stampfte mit dem Fuß auf. Etwas Beiges, Felliges huschte auf den Hinterhof hinaus. »Ratten«, sagte er teilnahmslos.
Leon schauderte. Ratten!
Die dunkle Uniform des Inspektors glänzte speckig und verdreckt, Mirambeaus Gesicht überzog ein Gemisch aus Schweiß und Staub. Schweigend räumte er einen Stuhl frei und wies Leon an, sich zu setzen. Mit einem Arm schob er das Durcheinander auf dem Schreibtisch zusammen und nahm Leon gegenüber Platz.
»Entschuldigen Sie die lange Wartezeit. Wir hatten einen Großeinsatz. Was kann ich für Sie tun? Man sagte mir, Sie vermissen jemanden?«
Leon zwang sich zu einer entspannten Körperhaltung. Der große, kräftige Mann mit den prankenartigen Händen schüchterte ihn ein. An der linken Hand des Inspektors zog sich eine knotige Narbe vom Daumen bis zum Handgelenk. Wie immer, wenn Leon so etwas sah, dachte und fühlte er als Erstes, dass die Verletzung, die das hinterlassen hatte, bestimmt schmerzhaft gewesen war.
Leon wurde nervös. Er konzentrierte sich auf die dunklen Augen und das wache, von schwarzen Haaren umrahmte Gesicht seines Gegenübers.
»Monsieur?«
»Ja, ich meine ... nein, ich ...« Leon setzte sich gerade hin, schlug die Beine übereinander und sagte seinen auswendig gelernten Text auf: »Meine Zwillingsschwester, Lune Bernberg, kam im September vor elf Jahren nach Louisson, um eine Weile an der Universität La Valuse zu studieren. Sie war dort immatrikuliert, hier in der Stadt angemeldet und hatte eine carte de séjour. Seit Juni des darauffolgenden Jahres ist sie spurlos verschwunden.« Leon bemerkte ein irritiertes Aufflackern in den Augen des Inspektors und senkte den Blick, bevor er fortfuhr: »Nach zehn Jahren Wartezeit hat unsere Familie sich entschieden, die Hoffnung aufzugeben und Lune für tot erklären zu lassen. Die Universität hat uns bestätigt, dass Lune sich nie exmatrikuliert hat. Wir nehmen an, dass sie sich bei den Behörden ebenfalls nicht abgemeldet hat.«
Inspektor Mirambeau stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch, verschränkte die Finger und ließ sie geräuschvoll knacken. Er schüttelte die Hände aus, senkte sie auf die unter seinen Fingern winzig wirkende Tastatur des Computers, gab etwas ein, wartete und schüttelte den Kopf.
Leon bemerkte, dass der Inspektor an der linken Hand einen großen Siegelring trug, von dem eine eigentümliche Dominanz ausging. Links neben dem Telefon stand ein Foto, augenscheinlich von der Familie des Polizisten. Eine schlanke Frau mit langem Haar legte darauf schützend ihre gebräunten Arme um drei Kinder. Gemeinsam lachten sie in die Kamera. Es war eine heile Welt, die Leon unwiderstehlich anzog.
Er reichte Mirambeau einen Zettel mit Lunes Daten, beobachtete, wie sich die kräftigen Finger des Inspektors über die Computertastatur bewegten, und wartete geduldig.
»Ich habe hier nichts über Ihre Schwester. Sie wurde nicht als vermisst gemeldet. Warum nicht?«
Auch die Antwort auf diese Frage hatte Leon einstudiert. »Lune verschwand öfter. Mal nur für ein paar Tage, mal auch für ein paar Wochen. Irgendwann hatten wir es aufgegeben, es den Behörden zu melden. Denn sie tauchte ja immer wieder auf. In diesem Fall allerdings nicht, und so haben wir sie nach ein paar Monaten in Deutschland als vermisst gemeldet. Man sagte uns damals, die Polizei hier würde automatisch informiert.«
Mirambeau trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. »Und warum kommen Sie jetzt nach zehn Jahren hierher?«
»Zehn Jahre Wartezeit sind in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben.«
»Die werden das kennen«, hatte Mark beteuert und es abgelehnt, Leons Wunsch nachzukommen und mitzufahren. »Das wirkt dann direkt so, als wären wir unsicher. Du schaffst das schon.«
»Was benötigen Sie jetzt von uns?« Mirambeau blickte auf seine Uhr.
Ein Kollege von ihm erschien in der Tür. »Christian, das Rugbyspiel Louisson gegen Montpellier beginnt in einer Stunde, oder willst du deine Tribünenkarte günstig verkaufen?« Der Beamte grinste.
»Keine Sorge, Uldis, zieh ab, und lass schon mal das Auto warmlaufen.«
Leon Bernberg räusperte sich. »Ich brauche eine Bestätigung, dass Lunes letzte Lebenszeichen von hier stammen. Und dass sie seit zehn Jahren vermisst wird.«
Leon spürte den argwöhnischen Blick des Inspektors und zwang sich, ruhig sitzen zu bleiben. Er hatte selbst bemerkt, wie irritierend kalt seine Worte klangen. Eher wie eine Drohung als eine Bitte. Er versuchte sich an einem Lächeln.
»Wie soll ich das bestätigen? Vielleicht ist Ihre Schwester einfach abgereist?«, antwortete Mirambeau.
»Nein, sie ist nie wieder irgendwo aufgetaucht. Sie hat das letzte Mal Geld an einem Geldautomaten hier an der Place de la Concorde abgehoben. Hier, sehen Sie?« Leon zog einen Kontoauszug aus seinem durchweichten Jackett und reichte ihn über den Tisch.
»Wo hat Ihre Schwester gewohnt, also hier in Louisson?«
»Erst in einem Wohnheim, Victor Hugo. Danach in einem kleinen Haus am Stadtrand.« Leon reichte die Adressen, als Absender sichtbar auf zwei Briefumschlägen, über den Schreibtisch und wischte sich mit dem nassen Taschentuch über die Stirn. Sein Hemd klebte an seinem Rücken. Er fragte sich, wie der Inspektor es in seiner dicken Uniform aushielt.
»Das genügt nicht. Ich muss mich bei den zuständigen Stellen erkundigen, ob Ihre Schwester wirklich dort gemeldet war. Ob sie überhaupt je dort gelebt hat. Vielleicht wohnt sie ja auch noch da oder anderswo in Louisson. Das könnte doch sein?«
»Sie denken, Lune könnte noch hier sein?« Leon hörte den schrillen Ton in seiner Stimme.
»Menschen verschwinden und tauchen wieder auf. So ist das eben!« Mirambeau legte die Umschläge vor sich auf den Schreibtisch, betrachtete sie einen Moment, dann drehte er sie um. »Ist das Ihre Adresse in Deutschland?«, fragte er.
»Ja.« Leon zögerte. »Nein, also nicht genau. Sie schrieb mir an ein Postfach, weil mein Wohnort häufiger wechselte.«
Der Polizist blickte hoch. »Warum wollen Sie Ihre Schwester für tot erklären lassen?«
»Es gibt ein Haus in Berlin, das ihr gehört und für dessen Unterhalt ich aufkomme. Ich möchte es gern verkaufen.« Leon lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schob als Begründung nach: »Es frisst mir die Haare vom Kopf.«
Mirambeau legte den Kopf schräg. »Nach zehn Jahren? Sie haben zehn Jahre für ein Haus bezahlt, das Ihnen nicht gehört, und wollen es jetzt plötzlich verkaufen?«
»Ich brauche Geld!« Leon atmete flach.
»Wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, erwähne den Tod deiner Mutter nicht«, hatte Mark ihm als Freund und Anwalt dringend geraten.
»Aha«, antwortete Mirambeau.
»Also, helfen Sie mir oder nicht?« Leon knetete sein Taschentuch in der linken Hand. »Es ist doch nur ein Stück Papier, das für Sie nichts bedeutet.«
»Woher wollen Sie wissen, was mir etwas bedeutet?«, fragte der Inspektor mit einem lauernden Unterton.
»Entschuldigung, ich wollte Ihnen nichts unterstellen. Ich dachte nur, naja, Sie kannten Lune ja schließlich nicht.«
»Das stimmt. Trotzdem muss ich mich ein wenig schlau machen und mit den Behörden Kontakt aufnehmen.«
»Und was werden die wissen wollen? Und geht das heute noch? Ich wollte heute Abend zurückfliegen nach Berlin.«
Mirambeaus Kollege namens Uldis klopfte wieder an den Türrahmen und dann auf seine Armbanduhr.
»Ich komme gleich!«, sagte Mirambeau zu ihm, ehe er sich erneut Leon zuwandte. »Monsieur Bernberg, ich muss mir wenigstens ein paar Unterlagen besorgen über Ihre Schwester. Könnten Sie Montag noch einmal wiederkommen?«
»Heute ist Freitag, arbeiten Sie samstags nicht?«
»Doch.« Mirambeau nickte. »Wir arbeiten auch am Samstag. Verbrecher halten sich selten an Wochenenden. Aber die Ämter haben geschlossen. Sagen wir ... Montagnachmittag, so gegen sechzehn Uhr. Passt Ihnen das?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf, schob die Briefumschläge und den Kontoauszug in das oberste Fach seines Schreibtischs und reichte Leon seine kräftige Hand.
»Sicher.« Leon stand ebenfalls auf. »Vielen Dank, dass Sie mir helfen. Bis Montag.«
Mirambeau geleitete ihn zum Eingang des Kommissariats. »Wünschen Sie ein Taxi? Brauchen Sie ein Hotel?«
»Ja, bitte, ein Taxi. Ich fahre zum Crowne Plaza, ich werde dort wohnen, wenn es noch ein Zimmer gibt.«
Leon ging schon mal die Treppe zur Straße hinunter. Der Canal du Midi roch so moderig wie das Rattenloch, in dem er gerade gesessen hatte.
Der von der heißen Sonne hervorgelockte Geruch der Fäulnis, hatte Lune geschrieben.
Christian Mirambeau gab dem Pförtner ein Zeichen, ein Taxi zu bestellen, und sah Leon Bernberg nach. Die Uhr über dem Haupteingang zeigte halb sieben.
»Wer ist das?« Inspektor Uldis Melville aus der Abteilung für Tötungsdelikte, den sie alle nur bei seinem unverwechselbaren Vornamen nannten, trat neben Christian und zeigte auf Bernberg, der jetzt unten auf dem Bürgersteig hin und her ging-
Christian sah zu Bernberg hinunter und antwortete: »Er behauptet, dass seine Schwester hier vor zehn Jahren verschwunden sei, und will genau das von uns bestätigt haben. Lune Bernberg heißt sie und soll in Louisson gelebt haben. Wir haben nichts im Computer.«
»Wir suchen doch schon genug französische Frauen!«
Christian schüttelte den Kopf. »Jeder Mensch verdient, dass man sich wenigstens ein bisschen kümmert. Und irgendwie berührt mich dieser Mann. Er hat so etwas Trauriges in den Augen. Also, was ist, fährst du oder ich?«
Uldis warf seinen Autoschlüssel in die Luft und fing ihn wieder auf. Die beiden Männer gingen zum Parkplatz des Kommissariats und fuhren los.
Als das Taxi kam, stieg Leon ein. Er hatte geglaubt, Lune für tot erklären zu lassen, sei alles. Aber jetzt benahm dieser Polizeibeamte sich so, als wäre seine Zwillingsschwester noch irgendwo. Es war wie ein Schlag vor den Kopf.
Leon verlor sich augenblicklich in Erinnerungen; sie überrannten ihn. Die Sätze aus ihren Briefen wirbelten in seinem Hirn, gehorchten keiner Ordnung, entzogen sich seinem Willen.
Lune hatte seitenlang geschwärmt von dem seltsamen Abendlicht dieser Stadt. Wenn die flimmernde Hitze sich langsam auf den Asphalt senkte und die alten Häuser die Strahlen der untergehenden Sonne reflektierten. Lunes Worten nach hielt das sanfte Leuchten der Fassaden im Zusammenspiel mit dem gelben Licht der Gaslaternen die ganze Nacht an. Das Zwielicht des Südens hatte sie es genannt. Eine Stadt mit einer Zweitausend Jahre alten Geschichte, die ihren kulturellen Reichtum kokett zur Schau stellte.
Sie passierten mit dem Taxi die Garonne, die Louisson mit dem Atlantik verband wie der Canal du Midi die Stadt mit dem Mittelmeer. Das Taxi hielt im Kreisverkehr der Place de la Concorde, denn die Zufahrt zur Place du Capitol, wo sich das Hotel befand, war versperrt. Leon zahlte und stieg aus. Der Kreisverkehr hier führte zu einigen Seitenstraßen. Zwei davon verbanden diesen Platz mit der Place du Capitol. Lune, erinnerte er sich, hätte diese Straßen längst gezählt. Es war ihre Art gewesen, sich zu beruhigen oder vielmehr ... sich in der Realität zu halten: irgendetwas zu zählen. Türschlösser, Autos, die Stühle eines Restaurants, Treppenstufen. Das hatte sie bereits als Kind getan, wenn ihre Mutter Monique ihr einreden wollte, irgendein Ereignis habe sich ganz anders zugetragen. Unsere Mutter ist eine Diebin, hatte sie Leon oft zugeflüstert, sie klaut Wirklichkeiten wie andere das Silberbesteck oder ein Portemonnaie. Wenn Monique loslegte, hielt Lune sich mit Zählen an ihrer Wirklichkeit fest. Sie zählte einfach alles, was zählbar war. Die Bücher im Regal gegenüber vom Esstisch, die Perlen, die ihre Großmutter um den Hals trug, manchmal die Regentropfen auf den Fensterscheiben.
Alle Cafés rund um den Platz schienen besetzt mit Menschen, die Aperitifs tranken. Leon verstand, warum seine Zwillingsschwester diese Stadt geliebt hatte. Louisson war bunt, lebendig, und man spürte eine latente Anspannung, so als ob jeden Augenblick etwas passieren könnte. Eine Stadt mit einem eigenen Herzschlag, hatte Lune geschrieben, den du auch dann noch hörst, wenn sich der Strom der Menschen in den Morgenstunden ein wenig beruhigt. Mein Herz schlägt mit und folgt einem neuen Rhythmus.
Leon wusste bis heute nicht, ob sie ihn mit diesen Zeilen wirklich hatte beruhigen wollen. Früher, wenn sie nachts wach lag und nicht schlafen konnte, weil sie fürchtete, ihr Herz könnte stehen bleiben, ohne dass sie es bewusst spürte, hatte sie ihm oft ins Ohr geflüstert: Wenn ich sterbe, stirbst du mit mir.
Das Bild des erstickenden Kaninchens, dessen Herzschlag sich verlangsamte, kam aus den dunkelsten Winkeln seiner Erinnerungen hervor.
Leon betrat eine Bar, ging an die Theke und bestellte sich einen Whiskey.
Was, wenn sie wirklich noch hier lebt, in dieser Stadt, und ich gar nicht groß suchen muss, fragte er sich. Er spürte keine Verbindung zur ihr. Das machte ihn unsicher. Ist es möglich, fragte er sich weiter, dass ich in den sedierten Jahren in der Klinik die Verbindung zu meiner Zwillingsschwester verloren habe? Er wischte sich Stirn und Nacken trocken, kippte den Whiskey, legte das Geld neben das Glas und ging in Richtung Hotel. Eine Juniorsuite war noch frei und die Formalitäten schnell erledigt.
Als er das klimatisierte Restaurant im Wintergarten des Hotels betrat, atmete Leon ein paarmal tief ein und aus. Die künstliche Atmosphäre entsprach seinem abgezirkelten Leben der letzten zehn Jahre und gab ihm für den Moment Sicherheit.
Als Lune damals verschwunden war, war sein Leben völlig aus dem Tritt geraten, und seine Mutter hatte ihn, wie Jahre vor ihm seine Schwester, einweisen lassen. Gegen Gespräche mit den Psychologen hatte Leon sich gewehrt und sich in der Welt des Schweigens eingerichtet. Lune hatte ihn mit dieser Kraft vertraut gemacht. Es war absurd, was Menschen sagten oder auch taten, wenn sie keine Antworten mehr bekamen. Es ist die einfachste Form der Machtübernahme in der Kommunikation zwischen zwei Menschen, hatte Lune ihn belehrt. Schweigen.
Bilder der Vergangenheit tanzten durch seinen Kopf, und als der Kellner nach der Bestellung fragte, sagte Leon nichts, sondern zeigte auf das Menü des Tages. Während er auf sein Essen wartete, schickte er seiner Frau Martha eine SMS, dass er länger bleiben müsse, wenigstens noch bis Dienstag, ein Zimmer im Crowne Plaza genommen habe, und schaltete das Handy aus.
Damals, als Lune nach Frankreich gegangen war, hatten alle gehofft, dass er jetzt endlich aus ihrem Schatten heraustreten, sich, nicht mehr von ihr bevormundet, auf sich selbst besinnen würde. Er lächelte und schüttelte den Kopf. Niemand hatte je ihre Symbiose verstanden.
Als er sich, noch aus der Klinik heraus, mit Martha anfreundete, dachten die Psychologen und seine Mutter, dass er auf einem guten Weg sei. Dabei hatte er mit Martha lediglich Lune dazu provozieren wollen, dass sie zurückkam. Martha liebte ihn zwar, wie es auch seine Zwillingsschwester Lune getan hatte, nur wusste Martha nicht, was in ihm vorging. Das machte es weniger grausam für Martha, als es für Lune gewesen war.
Martha, so glaubte Leon, blieb bei ihm, weil sie das Maximum für sich herausholen wollte, und das hieß Geld, Besitz, noch mehr Geld und noch mehr Besitz. Lune aber hatte es aus anderen Gründen getan. Sie war auf der Suche nach einem Menschen, der so war wie sie, und weil sie ihn nicht fand, versuchte sie, Leon zu diesem Menschen zu machen und zugleich die Welt vor ihm zu schützen.
Es war ihm genauso unmöglich gewesen, ihren Verführungskünsten zu widerstehen, wie es ihm unmöglich war, zu dem Menschen zu werden, den sie suchte und brauchte. Sein Leben war seit Lunes Verschwinden auf eine schnöde Art leichter geworden und auf eine schlimme, schmerzhafte Art leer.
Lune erlaubte es nicht, dass Tage einfach vorbeigingen. Das war wunderbar und schrecklich, weil kaum einer diese Intensität aushalten konnte. Mark war daran zugrunde gegangen. Und Martha hasste Lune, ohne ihr je begegnet zu sein. Dieser Hass, wie nur Lune ihn erzeugen konnte, einte seinen besten Freund und seine Ehefrau, und das umso mehr, als sich nach dem Tod seiner Mutter im letzten Jahr herausstellte, dass Lune den größten Teil erbte.
Ironie des Schicksals, dachte Leon, dass ausgerechnet Martha und Mark mir geholfen haben, dass ich jetzt in Louisson bin und Lune näher als seit Jahren.
Als er sich später auf der Dachterrasse seiner Suite mit dem Blick auf die belebte Place du Capitol betrank, bemerkte er den Mond. Es war der erste Vollmond in diesem Monat; ein zweiter würde am 30. Juni folgen. In manchen Jahren gab es dreizehn Monde. Seines und Lunes Geburtsjahr war so eines gewesen; ihr Geburtsmonat hatte zwei Monde gehabt. Seine Großmutter schwor, dass in Monaten mit zwei Monden die grausamsten Dinge geschahen. Unheilvoll hatte sie die Kinder auch die Januszwillinge genannt. Dabei hatte sie all die Jahre an das Gute in ihm und das Böse in Lune geglaubt und nie geahnt, dass – genau wie der Janusmond seine Umlaufbahn um den Saturn alle vier Jahre mit Epimetheus tauscht – die Zwillinge die gute und die böse Rolle wechselten. Ihre Mutter hatte an die Kraft des Mondes geglaubt, und diesem Umstand verdankte seine Schwester den Namen Lune.
»Im Französischen ist der Mond nun einmal weiblich«, hatte seine Mutter ihm als Kind immer wieder erklärt, wenn die Eifersucht ihn quälte, weil seine Schwester solch einen besonderen Namen trug. Dafür erhielt er den stattlichen Namen Leon, als noch niemand geahnt hatte, wie zynisch das bei einem Charakter wie seinem klang, jedes Mal, wenn jemand den Namen aussprach.
Er sehnte sich nach Lune, selbst nach all den vielen, endlosen Jahren, gestand Leon sich, vom Alkohol benebelt, ein. Er dachte an ihre Neugier auf skurrile Menschen. Ihren Mut, den Dingen auf den Grund zu gehen. Sich dem Extremen, ja ... dem Leben hinzugeben. Nicht zuletzt, weil sie keine Angst vor dem Tod, keine Angst vor Schmerzen hatte.
Sie hätte, ohne zu zögern, diesen großen Polizeibeamten gefragt, woher die Narbe an seiner Hand stammte. Wie es dazu gekommen war. Was er dabei empfunden hatte.
Als sie damals ging, ihn gleichsam verließ, hatte es Leon zerrissen und zugleich erleichtert. Endlich bin ich frei, hatte er damals gedacht und es doch besser gewusst. Ein Lachen stieg in seiner Kehle auf, das den Geschmack von Galle mit sich brachte. »Frei«, schrie er in den Nachthimmel, »frei, frei, frei!« Das Whiskeyglas fiel auf die Fliesen der Terrasse und zersprang. Leon fixierte einen Moment die im Mondlicht glitzernden Scherben. »Wie trügerisch das Leben ist«, murmelte er und lehnte sich über das Geländer. »Frei«, sagte er leise, »frei bin ich erst, wenn ich tot bin!«
Er verlagerte sein Gewicht nach vorn und spürte, wie sich das Geländer in seinen Magen drückte. Einen kurzen Moment sah er seinen eigenen Körper hinunterstürzen, spürte das Flattern seines Hemdes im freien Fall, fühlte den Aufprall zwischen den Tischen zu seinen Füßen, hörte den Aufschrei der Menschen, sah sie wegspringen und dann mit entsetzten Gesichtern erstarren.
Leon zog sich erschrocken vom Geländer zurück. Sein Herz schlug wild. »Ich habe zu viel getrunken«, sagte er zu sich selbst, »das verträgt sich nicht mit den Medikamenten.« Er ging hinein, schloss sorgfältig die Terrassentür, zog die Vorhänge vor, stellte die Klimaanlage auf dreiundzwanzig Grad und streckte sich nackt auf dem Bett aus.
Erinnerungsfragmente glitten viel zu schnell durch seine Gedanken. Er konnte sie nicht unterdrücken. Wann habe ich Lune zuletzt gesprochen, wann zuletzt gesehen, wann hat sie zuletzt geschrieben? Seine Hände zitterten. Er drehte sich dem Nachttisch zu und nahm den Tablettendispenser. Es reichte gerade für heute Abend und morgen früh. Morgen Abend musste er in die Klinik, um sein Blut testen zu lassen und die Medikamente für zwei weitere Tage zu bekommen.
Leon seufzte. Hier war niemand, der ihn kontrollierte. Keine Martha neben ihm, die zusah, wie er die Pillen schluckte. Hier war er frei, wie Lune es gewesen war. Er warf die Tabletten für den Abend in den Papierkorb neben dem Schreibtisch, löschte das Licht und schlief bald darauf ein.
Das Klingeln des Zimmertelefons klang wie ein Gurren, sodass Leon es zunächst in seinen Traum einbauen konnte. Erst als es zu lange anhielt, tastete er im Dunkeln nach dem Apparat und nahm den Hörer ab, das Freizeichen ertönte. Der Anrufer hatte aufgegeben.
Leon öffnete die Augen und schielte zum Wecker auf seinem Nachttisch. 11:30 Uhr. Er schloss die Augen wieder. Die Klimaanlage summte, auf dem Flur hörte er die Reinigungsfrauen schimpfen. Wie immer hatte er das Schild »Nicht stören« an seine Tür gehängt.
Leon überlegte und hoffte, dass der Polizeibeamte fand, was er brauchte, um ihm das offizielle Papier auszustellen. Ein paar Millionen Euro reicher würde er damit sein, das hofften zumindest Mark und Martha. Ein kurzes Frösteln überlief Leon.
Er streckte behutsam seine Glieder, stellte die Füße vor das Bett, betätigte einen Schalter an der Nachttischkonsole, und mit einem Surren öffneten sich die lichtundurchlässigen Vorhänge und gaben den Panoramablick auf die Dächer rund um den Platz frei. Leon fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, strich sich die dunkelblonden Haare hinter die Ohren, stand auf und wickelte sich eines der Bettlaken um den Leib. Sein Blick fiel auf den Tablettendispenser. Leon stand auf, nahm ihn, warf ihn in den Mülleimer und trat auf die Terrasse hinaus. Die Sonne brannte, die Terrakottafliesen unter seinen Füßen waren heiß.
»Lebst du noch, Lune?«, fragte er in den blauen Himmel hinein und wunderte sich, dass er so viele Jahre einfach angenommen hatte, Lune sei irgendwo allein verstorben. Zumindest in meinen Gedanken, dachte er, ist sie dabei wiederaufzuerstehen.
Bildfragmente aus dem Urlaub in Spanien erwachten in seinem Kopf und fügten sich nach und nach zu einer klaren Erinnerung. Damals hatte alles angefangen. Er und Lune waren zehn Jahre alt gewesen. An einem Nachmittag hatten sie draußen auf der Straße gespielt, und der alte Mann aus dem Haus gegenüber hatte Lune zu sich gelockt und in sein Haus. Leon hatte ihre Schreie gehört, hatte gesehen, wie sie mit Blut zwischen den Beinen wieder herausstürzte, Schutz und Hilfe im Haus ihrer Eltern suchte. Er hatte die Schreie ihrer Mutter Monique vernommen, die Lune beschimpfte und wegsperrte in den dunklen Abstellraum, bis das Kind sich beruhigt hatte. Beim gemeinsamen Abendessen an diesem Tag hatte ihre Mutter gesagt, der arme Mann habe Lune nur lieb in den Arm genommen und Lune habe wie immer eine Lügengeschichte daraus gemacht.
Von da an hatte Lune begonnen, sich an ihrer Mutter zu rächen, an jedem einzelnen Tag und mit der ihr eigenen Ausdauer. Ihr Gespür für Menschen – Lune sah, begriff, verstand mehr und schneller als andere – setzte sie fortan gezielt gegen ihre Mutter ein.
Leon schlief auch mit zehn Jahren noch im elterlichen Bett. Nach Spanien drohte Lune, es in der Schule zu erzählen. Der Kampf der zwei Frauen nahm seinen Anfang, und Leon war ihr Spielball. Er hatte geglaubt, es sei normal, im elterlichen Bett zu schlafen. Dort war sein Schlafplatz.
»Was ist daran normal?«, hatte Lune gefragt.
Sie war in der Lage, ein Wort aus einem Satz herauszulösen und es dann so zu behandeln, als läge es unter einem Mikroskop. Lune begann immer damit, das jeweilige Wort auf verschiedene Weise auszusprechen, und wenn sie dann den passenden Klang gefunden hatte, baute sie es in verschiedene Sätze ein. Sie formulierte genau, differenziert. Sie fragte nicht »Findest du das oder das normal?«, um sich dann mit einem knappen »Ja« oder »Nein« abspeisen zu lassen.
Und so hatte sie kurz nach Spanien beim gemeinsamen Mittagessen an einem Sonntag in die Runde gefragt: »Was, bitte, ist daran normal, dass ein zehnjähriger Junge im Bett zwischen Mama und Papa schläft?«
Ein kurzes, eisiges Schweigen hatte sich ausgebreitet. Dem folgte ein verstohlener Blick zwischen seiner Großmutter und seiner Mutter, und sein Vater lachte dröhnend, als Lune ruhig nachsetzte: »Ich will das morgen in der Schule fragen.«
Von diesem Tag an hatte Leon in seinem eigenen Zimmer geschlafen. Es war seine persönliche Vertreibung aus dem Paradies gewesen. Lange fror er nachts, weil die Wärme spendenden Körper seiner Eltern ihn nicht mehr wie einen Kokon schützten.
Mit diesem Tag begannen auch die Streitereien, die sie Nacht für Nacht aus dem Elternschlafzimmer hörten. Ein halbes Jahr später war ihr Vater ausgezogen und nach ein paar halbherzigen Versuchen, zu den Zwillingen Kontakt zu halten, mit einer neuen Frau unbekannt verzogen.
Leon hatte viel länger als Lune gebraucht, um zu begreifen, dass seine Mutter ihn gebraucht hatte, um die körperlichen Annäherungen des Vaters abzuwehren. Das triumphale Grinsen im Gesicht seiner Zwillingsschwester, als sie den ersten Morgen nur noch zu viert am Frühstückstisch saßen, hatte ihre Mutter dazu gebracht, Lune den kochend heißen Tee über die Beine zu schütten. Wann immer sich Leon an diese Szene erinnerte, hatte er das sichere Gefühl, Lune hätte es verhindern können. Er ahnte, nein, er wusste, dass Lune es hatte geschehen lassen, um ihre Mutter weiter zu quälen. Alle Versuche, es als unglücklichen Unfall darzustellen, waren im Schweigen seiner Schwester verhallt. Das Schlimmste war, so fand Leon bis heute, dass Lune ihrer Mutter nie einen Vorwurf gemacht hatte. Sie schwieg einfach, und zwar fast ein ganzes Jahr.
»Das Kind bildet sich alles nur ein! Ich habe ihr nie etwas getan. Sie nicht angefasst. Das mit dem Tee war ein Unfall. Dieses Kind gehört in eine Anstalt!«
Lune hatte in dieser Zeit das Machtvolle am Schweigen entdeckt. Sie schwieg tagein, tagaus, beim Frühstück, beim Mittagessen, am Abend, egal, wie oft sie von ihrer Mutter angesprochen wurde.
Leon hatte zunächst versucht zu vermitteln, aber schnell begriffen, dass es für ihn besser war, nicht zwischen Mutter und Schwester zu geraten. Lunes Schweigen brachte die Brutalität in seiner Mutter zum Vorschein.
Noch bevor das Jahr zu Ende ging, hatte ihre Mutter es nicht mehr ertragen können, wie Lune bei jeder Mahlzeit aufrecht auf ihrem Stuhl saß, kaute, schluckte, stur geradeaus blickte und schwieg. Bei einem Mittagessen im Winter passierte es dann. Ihre Mutter sprang plötzlich auf, langte über den Tisch und nahm den Suppentopf, den die Großmutter ihr geistesgegenwärtig aus der Hand schlug. Aber Moniques aufgestaute Wut war so groß und explosiv, dass sie die schwere silberne Kelle ergriff und damit auf Lunes linke Hand schlug, die neben dem Teller ruhte. Das durchdringende Knacken der brechenden Mittelhandknochen ließ jeden am Tisch erstarren. In Lunes Gesicht zuckten nur ein paar Muskeln. Der gequälte Laut eines sterbenden Tieres kam aus der Kehle ihrer Großmutter. Die verschüttete dampfende Suppe lief durch die Ritzen des alten Holztisches und tropfte auf den Steinfußboden.
Lune rührte sich zuerst nicht, doch schließlich tauchte sie ihren Suppenlöffel wieder in den vor ihr stehenden Teller, füllte ihn, und als sie ihn zum Mund führte, begann seine Mutter laut und hysterisch zu lachen. Leon und die Großmutter blickten so entsetzt auf Monique, die sich mit den Händen den Bauch hielt, während Lachtränen über ihre Wangen rannten, dass sie zunächst nicht wahrnahmen, dass Lune in dieses Lachen eingestimmt hatte. Die Großmutter bekreuzigte sich, zog Leon vom Stuhl und mit sich fort.
Er erinnerte sich, dass er seine Mutter und seine Schwester noch lange von seinem Zimmer aus hatte lachen hören. Sie hatten ihn damit ausgeschlossen. Später an diesem Tag fuhr die Großmutter mit Lune in ein Krankenhaus, um die Hand schienen zu lassen. Lune kam von dort nicht zurück. Als Leon fragte, wo Lune sei, sagte seine Großmutter bedeutungsschwer: »Dieses Mädchen bringt das Schlechteste in den Menschen zum Vorschein, das wird ihr jetzt ausgetrieben«, und legte dabei schützend ihre Hand auf seinen Kopf.
Lune blieb ein paar Wochen weg und kam, aus seiner Sicht unverändert, wieder. Mit einer winzigen Ausnahme: Lune nannte ihre Mutter fortan nur noch bei ihrem Vornamen: Monique.
Das Erbe musste eine Wiedergutmachung sein, dachte Leon zum hundertsten Mal seit dem Tod ihrer Mutter vor einem Jahr, denn er hatte den zwar üppigen Pflichtteil bekommen, aber Lune, obwohl spurlos verschwunden, den Löwenanteil.
Leon hatte das verwirrt. Er war froh, endlich frei zu sein von seiner Mutter, der viel zu großen Nähe zwischen ihnen unter dem Deckmantel der heilen Familie. Sie nie wieder um Geld bitten zu müssen. Nie wieder in ihren Augen zu sehen, dass sie genau wusste, dass er sie schon allein des Geldes wegen nie verlassen würde.
So hatte ihr Tod ihn still erleichtert. Eigentlich reichte ihm das ererbte Geld, es garantierte ihm ein gutes Auskommen. Aber Martha und Mark hatten ihn gedrängt, die 8,2 Millionen seiner Zwillingsschwester nicht einfach, wie sie es nannten, vergammeln zu lassen.
Unten auf dem Platz fiel ein Tablett mit Geschirr zu Boden, der spitze Schrei der Kellnerin schallte zu ihm hinauf. Leon stützte seine Hände auf das Geländer und beugte sich vorsichtig vor, um die Szene genau zu betrachten.
Eine Detektei hatte letztes Jahr noch einmal nach Lune gesucht, weil sie nach Meinung seiner Großmutter die Hauptverdächtige war, obwohl seit zehn Jahren verschwunden. Seine Großmutter, verbittert über den verfrühten Tod ihres einzigen Kindes, hatte bei der Polizei genauso geschworen, dass ihre Tochter keinen Selbstmord begangen hatte wie auf Lune als Mörderin.
Als Leons Alibi diente die Klinik. Dort hatten sie ihn verhört, in den weißen, lärmgedämpften Räumen der Privatklinik am Scharmützelsee, unter Aufsicht des Chefarztes.
Von dem erstickten Kaninchen hatte Leon den Polizisten berichtet, und sie hatten fassungslose Gesichter gezeigt, spürbar ungern nachgefragt, wie es dazu gekommen war.
»Meine Schwester hatte wissen wollen, wie es aussieht, wie es sich anfühlt, wenn ein Herz langsamer schlägt, ein Lebewesen erstickt, die Seele entweicht. Sie wollte auf ihren eigenen Tod vorbereitet sein. Es heißt, Ersticken sei die qualvollste Art zu sterben. Wussten Sie das?«
In seiner Erinnerung hatte Lune ihn gezwungen, das Kaninchen festzuhalten und dem Tier die Luft abzudrücken, während ihre Hand auf dem Herzen des Tieres lag. Diese Erinnerung war falsch, das wusste er und verschwieg sie deshalb.
»Wie hat Ihre Schwester das Tier getötet?«
Leon hatte lange zu Boden geschaut – er wusste noch heute, dass am linken Schuh des einen Polizisten Lehm geklebt hatte – und geantwortet: »Erwürgt. Sie hat es erwürgt.«
Niemand hatte ihn wirklich verdächtigt.
Die Detektei indes hatte Lune auch im vergangenen Jahr nicht finden können.
Leon streckte die Arme in den Himmel, und das Laken glitt zu Boden und legte seine weiße Haut frei.
Ob Lune einem Menschen begegnet war, der sie verstehen konnte? Der war wie sie selbst? Die Frage quälte Leon.
Er ließ das Bettlaken auf der Terrasse liegen, ging nach drinnen, wickelte sich in seinen seidenen Morgenmantel und bestellte beim Zimmerservice schwarzen Kaffee, um den Whiskeygeschmack aus seinem Mund zu spülen. Schon jetzt spürte er, dass er gestern Abend nichts eingenommen hatte und wie sich der Nebel in seinem Kopf lichtete, und das fühlte sich richtig an. Er trat, den Scherben der letzten Nacht ausweichend, erneut auf die Dachterrasse. Ein bleierner Himmel lag über Louisson, und die hohe Luftfeuchtigkeit machte das Atmen schwer. Augenblicklich klebte die Seide an seiner Haut.
Louisson liegt in einem Kessel, hatte Lune geschrieben, deshalb staut sich hier die Hitze. Sie drückt auf die Menschen, die sich immer irgendwann unvermittelt mit einer wilden Geste, einem Schrei von der bleiernen Schwere zu befreien suchen.
Ihre Briefe, dachte Leon, unzählige Seiten detaillierter Beschreibungen der Stadt, der Menschen, ihrer Erlebnisse, hatten ihn in der Realität gehalten. Manchmal kamen ein oder zwei Monate gar keine Briefe, dann wieder einer, der umso länger war, aber eines Tages blieben sie ganz aus.
Ein paarmal hatte Leon damals Mark gegenüber den Gedanken ausgesprochen, vielleicht gehe es ihr nicht gut. »Unsinn«, hatte Mark geantwortet, »wenn ein Mensch gut auf sich aufpassen kann, dann deine verdammte Schwester!« Mark hatte auch behauptet, erleichtert zu sein, als von Lune nichts mehr kam.
Das Klopfen des Zimmerservices holte Leon aus seinen Gedanken zurück. Er fror, als er in das klimatisierte Hotelzimmer trat. Den schwarzen, süßen Kaffee in der Hand ging er zurück auf die Terrasse und observierte das Stück Louisson zu seinen Füßen. Das Café unter den Arkaden war gefüllt, über den weitläufigen Platz eilten Menschen, alle mit irgendwelchen Zielen. Darum beneidete Leon sie. Er hatte keine Ziele, nie welche gehabt. Diese Menschen da unten ahnten einer wie der andere nicht, wie leidenschaftslos ein Leben ohne Ziele war. Dabei hatte er die Leidenschaft seiner Schwester auch stets gefürchtet, wie sie alle in der Familie Lune fürchteten.
»Das Mädchen ist ein Monster«, hatte die Mutter wieder und wieder zur Großmutter gesagt und sich die immer gleiche Antwort anhören müssen: »Was musst du auch Zwillinge gebären in einem Monat mit zwei Monden? Jeder Bauer weiß, dass Jahre mit dreizehn Monden keine gute Ernte verheißen. Ich habe dich gewarnt, und jetzt sieh zu, wie du damit klarkommst. Lune ist das Januskind, die Doppelgesichtige. Sie sät den Zwiespalt, aber nicht in sich, sondern in anderen. Solange sie bei dir ist, wirst du kein Glück mehr finden.« So hatte das Unglück seiner Mutter einen Namen bekommen: Lune.
Bei Lune ließen im Alter von 12 Jahren die schulischen Leistungen nach. Die Welt der Lehrer hatte den Begriff »hochbegabt« entdeckt und mit großer Gewissheit Lune damit belegt. Doch dem folgte keine Schule für Kinder mit außerordentlichen Begabungen, sondern eine weitere Trennung von seiner Schwester und eine weitere Rache der Mutter, die Leon als solche erkannte. Als Erziehungsberechtigte brachte sie Lune in einem Internat für Minderbegabte auf einer kleinen Insel in der Nordsee unter. Flucht unmöglich. Instinktiv hatte ihre Mutter genau das gefunden, womit sie Lune am meisten verletzen konnte: ihren Geist zu unterfordern.
Zwei Monate später rief die Schule an und informierte seine Mutter, dass Lune in ärztlicher Begleitung auf dem Heimweg sei. Seine Mutter bot der Schule sehr viel Geld, damit sie Lune trotz der Herzschwäche behielten. Sie schlugen ihr den Wunsch ab. Seine Mutter legte auf, lehnte ihre Stirn an die Wand hinter dem Telefon, und zunächst hatte Leon angenommen, sie lachte, aber dann schüttelte sich ihr ganzer Körper. Ihre Augen quollen hervor, sie biss sich die Lippe blutig und bekam keine Luft mehr. Daraufhin war seine Großmutter herbeigeeilt und hatte ihre Tochter mit der flachen Hand ein paarmal ins Gesicht geschlagen.
Leons Zimmertelefon läutete erneut und holte ihn in die Gegenwart zurück. Er starrte auf den kleinen weißen Apparat und fürchtete, es könnte Martha sein, die nicht willens war zu akzeptieren, dass sein Handy ausgeschaltet blieb.
»Guten Morgen, alter Kumpel, wie läuft es denn so? Du musst länger bleiben, sagt Martha. Schaffst du das denn?« Marks Stimme klang ausgeruht und äußerst gut gelaunt.
Wie auch nicht, dachte Leon, er würde ja einen Teil der Beute abbekommen. Beute? Ja, Martha hatte es so genannt.
Leon gab Mark bereitwillig Auskunft über das, was bisher geschehen war.
»Hm, das gefällt mir, ehrlich gesagt, nicht. Es bekommt einen sehr offiziellen Charakter«, murrte Mark.
»Das sollte es doch!«
»Ja, offizielle Stempel, aber bitte keinen Weg durch diverse Instanzen der Polizei. Das hatte ich nicht gemeint.«
Leon schob sich mit einer ärgerlichen Geste die Haare aus dem Gesicht. »Ich glaube trotzdem, dieser Mirambeau will mir helfen. Er wirkte ein bisschen schroff, aber dennoch umgänglich. Rufst du Martha an und sagst ihr, dass alles in Ordnung ist?«
»Sicher, mach ich.« Mark schluckte. »Und lass dir nichts aus der Nase ziehen. Schon gar nicht, dass es um ein Erbe von ein paar Millionen Euro geht, hörst du?«
»Nein, keine Sorge. Sonst noch etwas?«
»Warum bist du so kurz angebunden?«
»Ich bin nur müde«, log Leon. Er wollte nicht unhöflich sein, doch störte Mark seine Erinnerungen.
Der aber kannte ihn gut. »Du denkst über Lune nach, nicht wahr?«
»Ein bisschen. Sie ist mir hier so nah wie schon lange nicht mehr.«
»Lass es nicht zu dicht an dich heran!«, warnte Mark. »Sie ist tot, sonst hätte sie sich gemeldet.«
»Und falls doch nicht?«, fragte Leon trotzig zurück und hörte, wie Mark tief ein- und ausatmete, weil er jetzt wiederholen würde, was er Leon schon so oft gesagt hatte: »Wenn sie nicht tot wäre, würden wir es wissen. Es war nicht ihr Naturell, einfach zu verschwinden. Sie hätte es nie lassen können, dich weiter mit ihren Geschichten zu quälen. Sie hätte dich immer wieder an das Desaster von damals erinnert. Sie hätte dich nicht kampflos eurer Mutter überlassen. Sie hätte Martha nie erlaubt, dich zu heiraten.«
»Schon gut«, maulte Leon, und etwas in ihm wollte wie immer glauben, dass Mark recht hatte.
»Du nimmst deine Tabletten?«
»Ja!«
»Hast du überhaupt genug mit?«
»Verdammt, ja!«
»Leon, ich will dich nicht kontrollieren, aber vergiss nicht, dass es nur deshalb gelungen ist, dich wieder für mündig erklären zu lassen.«
»Ich weiß, Mark, ich werde Dienstag zurück sein, dann kann der Professor mir Blut abnehmen, und alles ist gut.«
Mark wechselte das Thema: »Was ist der Inspektor für ein Typ?«
»Ein großer, schwerer Mann, Mitte vierzig, trägt einen Ehe- und einen Siegelring. Ein Familienvater mit glücklichen Kindern und einer entzückenden Frau.«
»Das klingt nicht so vielversprechend. Wenn’s hilft, bezahl ihm einen guten Puff. Sex ist für dieses Alter eine gute Währung und nicht so problematisch wie Schwarzgeld. Also, mach’s gut! Und kein Wort über die Summe oder den Tod deiner Mutter! Und schluck die Tabletten!«
Leon legte den Hörer in die Station und blieb auf dem Bett sitzen. Und wenn Mark nicht recht hat, fragte er sich.
Mark hasste Lune seit damals. Sie hatte den eitlen und in der Damenwelt überaus beliebten Mark, der Frauen nur als Zeitvertreib und weitere Striche auf seiner Liste betrachtete, verführt. Ihn in sich verliebt gemacht, betört, ihm anzügliche Verlockungen ins Ohr geflüstert und sich nicht von ihm anfassen lassen. Lune ließ sich nie von irgendetwas oder irgendwem wirklich berühren. Das war ihr Dilemma und zugleich so, als wäre das Wort »unnahbar« eigens für sie erfunden worden. Mark zerbrach daran. Es gab viele Jungen und später Männer wie Mark, die sich von Lune angezogen fühlten, sich in sie verliebten und scheiterten. Jeder, der es überlebte, das hatte Leon immer wieder beobachtet, fand den Weg nicht zurück zu »normalen Frauen«, wie er sie nannte. Mit Lune war kein Tag wie der andere, auch nach Jahren nicht. Ihre Intensität machte die Menschen erst süchtig und zerstörte sie dann. Das wusste keiner besser als ihr Zwillingsbruder.
Leon stand auf, duschte, zog sich an, zögerte einen Moment, als er an dem Mülleimer vorbeiging, in den er den Tablettendispenser geworfen hatte, zuckte mit den Schultern und bestellte sich einen Fahrer für den Tag. Wenn ich schon bis nächste Woche bleiben muss, dachte er, kann ich mir auch die Orte noch einmal ansehen, die ich aus Lunes Briefen kenne.
Im Geiste hörte er Mark sagen: Lass das! Das bringt doch nichts!, und Martha: Warum machst du so einen Unsinn? Weißt du, was so ein Fahrer kostet?
»Ja«, antwortete Leon leise, »er kostet mein Geld!«, und schob in Gedanken hinterher: Das Geld meiner Mutter!
Einmal hatte Martha gekeift: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass deine Zwillingsschwester tot ist! Wenn sie schon als Tote einen so großen Einfluss auf dich hat, möchte ich nicht wissen, wie es war, als sie noch lebte!«
»Anders war es«, hatte er lakonisch geantwortet, »ganz anders. Und du, liebe Martha, wärst nie eine Bernberg geworden. Dafür hätte Lune schon gesorgt!«
»Du Waschlappen!«
Leon hatte aus vollem Herzen gelacht.
Wie lange war das her, fragte sich Leon, und warum fiel ihm das jetzt alles wieder ein?
Martha hatte damals daraufhin Mark angerufen, der ihr bestätigte, dass Lune die Hochzeit nie zugelassen hätte. Martha hatte mit naiver Ratlosigkeit vor dem Phänomen gestanden, dass ein Mensch so viel Macht über einen anderen haben konnte, und gedroht, Leon zu verlassen.
An diesem Tag hatte Martha entdeckt, dass auch in ihm Lunes Grausamkeit lebte. Gab es in der Liebe eine schlimmere Demütigung, als zu drohen, man werde gehen, und dann auch noch die Tür geöffnet zu bekommen?
Leon würde das Flehen in Marthas Augen nie vergessen, diese drängende Bitte, sie zurückzuhalten. Er hatte damals an das sterbende Kaninchen gedacht. Hilflos, ergeben und ohne Hoffnung. Wer in einem solchen Moment blieb, hatte nichts mehr zu erwarten. Und seine Hartherzigkeit hatte ihn nicht einmal beschämt. »Jeder von uns trägt alle Eigenschaften in sich«, hatte Lune stets behauptet und ihn damit beruhigt.
Leon prüfte im Spiegel des Flurs, ob der reichlich genossene Alkohol die ersten Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hatte. Bei der ersten Schwellung der Tränensäcke oder einer leichten Aufgedunsenheit des Gesichts würde er dem Alkohol abschwören.
Heute war es noch nicht so weit. Er strich sein feuchtes Haar zurück und lächelte bei dem Gedanken, dass er schon am Dienstag mit dem begehrten Dokument in der Tasche nach Berlin zurückfliegen würde. Dabei verdrängte er, wie oft und zu wie vielen Anlässen er schon gedacht hatte, mit Lune endlich abschließen zu können.
Christian Mirambeau wollte gerade sein Auto an der Place de la Concorde parken, um in der Boulangerie de la Concorde Brot zu kaufen, als Leon Bernberg in einer schwarzen Limousine an ihm vorbeifuhr. Mirambeau startete sein Auto und folgte Bernberg in angemessenem Abstand.
Leon kannte Lunes Briefe auswendig und wollte ihren Worten folgen. Er nannte dem Fahrer das erste Ziel: das Studentenwohnheim Victor Hugo auf der Ile de cœur. Zwei Seitenarme der Garonne trennten diese und andere Inseln von Louisson. Durch die Flüsse getrennt, durch die Brücken verbunden mit der Stadt, ein Platz, der unserem Zwiespalt entspricht, werter Bruder, hatte Lune vor elf Jahren geschrieben.
Als er dort ankam, bat Leon den Fahrer, auf das Gelände zu fahren und zu parken. Er verließ das schützende Auto und ging auf eines der Gebäude zu, die wie Wespennester in der trägen Mittagshitze lagen. Studenten saßen und standen hier und da allein oder in kleinen Gruppen im Schatten. Zu seiner Linken gab es einen Waschsalon, aus dem seifige Luft kam. Zwei junge Frauen stritten um einen Trockner. Ein trostloses Braun, hatte Lune geschrieben, aber wenigstens schaue ich von meinem Zweiquadratmeter-Balkon auf einen lächerlichen Bach.
Leon ging die Stufen zur ersten Etage hoch. Aus manchen Zimmern drangen Stimmen, ein Telefon schellte, im Radio kommentierte ein engagierter Reporter das Rugbyspiel vom vergangenen Abend – Louisson hatte verloren.
Wie konnte sie hier leben, dachte Leon. Der Gang war dunkel, alles wirkte lieblos und signalisierte, dass Menschen sich hier nur vorläufig einrichteten, einrichten sollten. Aber genau aus diesem Grund hatte es Lune wohl gefallen. Sie brauchte das Gefühl, auf der Durchreise zu sein, mit leichtem Gepäck. Leon spähte in eines der Zimmer. Neun Quadratmeter. Der Schrank war gleichzeitig die Wand zum Nachbarzimmer, gegenüber das Bett, an dessen Kopfende das Waschbecken, am Fußende der Schreibtisch. Toilette und Dusche auf dem Flur.
Deprimiert verließ Leon das dunkle Gebäude und versuchte, sich damit zu trösten, dass Lune ja nur knapp vier Monate hier gelebt hatte. Trotzdem tat ihm die Enge der Räume für Lunes freiheitsliebenden Geist auch im Nachhinein noch geradezu körperlich weh. Zum Glück, dachte er, war sie ja dann in das Haus am Stadtrand gezogen. Er stieg wieder ein und nannte dem Fahrer die neue Adresse.
Als sie sich dem Stadtrand näherten, fragte sein Fahrer: »Monsieur, kann es sein, dass Ihnen jemand folgt?«
Leon blickte sich um, einen viel zu kurzen Moment von der Hoffnung erfüllt, Lunes Gesicht zu entdecken. »Nein«, sagte er, »hier gibt es niemanden, der mir folgen könnte. Aber danke, dass Sie so aufmerksam sind.«
»Darauf sind wir trainiert. Wir sind da, möchten Sie aussteigen?«
Leon blickte auf das kleine Haus. Ein Stück von der Straße zurückgesetzt, weiße Kiesel in der kleinen Einfahrt, alle Fensterläden geschlossen, lag es in der Mittagshitze wie eine geschlossene Auster. Tief in seinen Erinnerungen vergraben, regten sich die Blaupausen dieses Hauses.
»Nein, fahren Sie mich bitte zum Hotel zurück. Ich habe genug gesehen.«
Christian Mirambeau wartete, bis die Limousine mit Leon Bernberg hinter der nächsten Straßenbiegung verschwunden war, dann stieg er aus, ging an die Tür des kleinen Hauses und klopfte. Ein Poltern aus dem Flur des Nachbarhauses ließ ihn aufhorchen. Die Tür desselben öffnete sich einen Spaltbreit, und eine alte Frau beäugte ihn misstrauisch. »Die Leute nebenan sind verreist. Ist etwas passiert?«
Christian lächelte sie an. »Nein, keine Sorge.« Er stellte sich vor und zeigte ihr seinen Ausweis. »Wohnen Sie schon lange hier?«
»Seit sechsundsiebzig Jahren. Ist das lange?«
»Ich denke schon.« Christian trat näher an den grünen Drahtzaun, der die beiden Häuser und deren Grundstücke trennte. »Ich brauche Informationen über eine Frau, die vor zehn Jahren hier gelebt hat. Lune Bernberg, kannten Sie die?«
Die alte Frau spuckte auf den Boden. »Ich kannte sie nicht. Leider hatten wir ihr das Haus vermietet. Es gehört meinem verstorbenen Mann und mir.«
»Wieso leider?«
»Mit der stimmte etwas nicht. Sie war eine Hexe.« Wieder spuckte sie aus. Die zwei Schleimbrocken trockneten augenblicklich auf den dunklen, von der Sonne aufgeheizten Steinen.
»Könnten Sie mir das ein bisschen ausführlicher erklären?«, fragte Christian.
Nachdenklich schürzte die Alte die Lippen. »Na schön. Kommen Sie doch einfach rüber. Ich habe noch Kaffee und erzähle Ihnen, woran ich mich noch erinnere.«
Eine Mischung aus schlecht belüftet, Staub und Putzmitteln schlug Christian Mirambeau in dem vollgestellten Flur entgegen, und er war redlich überrascht, als er an dessen Ende auf eine schattige Terrasse trat, wo es nach frischem Erdbeerkuchen roch.
»Ich habe den Garten nie aufgegeben, obwohl es ohne meinen Mann viel zu viel Arbeit ist. Setzen Sie sich«, sagte die alte Frau, die sich Christian inzwischen als Madame Colombas vorgestellt hatte, und verschwand noch einmal im Haus.
Sie kam mit Tassen und Kaffee wieder, schenkte ihnen beiden ein und setzte sich umständlich. Sie zeigte mit ihrer gichtigen Hand auf die kleine Wiese, die sich an das Nachbarhaus anschloss. »Dort hat sie manchmal in der Sonne gelegen und gelesen. Dann war es ruhig. Aber an anderen Tagen hatte sie das Haus voller Menschen. Algerier und so ein Abschaum, hauptsächlich Männer. Mit Musikinstrumenten. Die ganze Nacht Lärm. Danach war es wieder so still, dass wir glaubten, sie sei heimlich weg oder tot.« Madame Colombas bekreuzigte sich.
Christian nippte an dem bitteren Kaffee, dessen Geruch schon verriet, dass er Stunden auf der Wärmeplatte zugebracht hatte. »Können Sie sich noch genau erinnern, seit wann Lune Bernberg weg ist?«
Madame Colombas gab drei Stücke Zucker in ihren Kaffee, rührte um, leerte die Tasse in einem Zug und antwortete: »Ja, es war Juli oder August desselben Jahres. Ich wollte, dass wir direkt im September wieder vermieten. Aber mein Mann nicht. Er hatte einen Narren an der deutschen Hexe gefressen. Dabei hasste er die Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg. Er hoffte, dass sie vielleicht zurückkommen würde. Denn im Frühling war sie auch einmal für ein paar Wochen mit ihrem kleinen blauen Wagen verschwunden. Als sie bis Ende September nicht zurückkam, sind wir in das Haus und haben aufgeräumt. Obwohl es nicht viel aufzuräumen gab, nur ein paar Sachen hatte sie dortgelassen.« Unvermittelt stand die alte Frau auf und schlurfte davon.
Christian nutzte die Gelegenheit und schüttete seinen Kaffee neben sich in den Blumenkübel mit Hortensien. »Hoffentlich seid ihr robust genug«, murmelte er.
Die Alte kam zurück mit einem Schuhkarton, den ein paar Fettflecken und dichte Spinnweben zierten. Sie wischte ihn mit einer energischen Geste ab und reichte ihn Christian. »Das ist alles, was wir noch im Haus gefunden haben. Nehmen Sie es mit, dann bin ich es endlich los.«
»Es war nie jemand hier, der es abgeholt hat?«
»Nein, nie! Meinen Mann hat es gewundert, mich nicht. Die Familie war sicher froh, sie los zu sein.«
Staub rieselte von dem Karton auf Christians Hose, als er den Deckel abnahm. Drei ungeöffnete Briefe, eine Postkarte, zwei Bücher, eine Zigarettenspitze, ein paar Fotos, ein kupferfarbenes Haarband und eine getrocknete Orchidee waren der ganze Inhalt.
»In den ersten Jahren kam immer mal jemand und fragte nach Lune. Zuletzt war die deutsche Polizei da und hat Lune Bernberg gesucht, so vor gut einem Jahr.«
Christian blickte überrascht auf. »Wissen Sie, warum man sie suchte?«
»Ihre Mutter, irgendwas mit ihrer Mutter. Sie haben es mir nicht genau gesagt.«
Christian runzelte die Stirn. »Darüber hat der Polizeicomputer nichts gesagt. Dabei hätten die deutschen Kollegen doch Amtshilfe beantragen müssen. Waren die deutschen Polizisten allein oder in Begleitung von unseren Leuten?«
Madame Colombas zuckte mit den Schultern und wies wieder auf den geöffneten Karton. »Die Briefe kamen erst, als sie schon weg war.«
»Und die Polizisten wollten die nicht?«
Frau Colombas schüttelte den Kopf: »Die hatten es eilig. Haben einen Blick in den Karton geworfen und sind wieder weg.«
»Warum haben Sie ihn nicht weggetan? Das Zeug ist doch nichts wert, und wenn die Familie es eh nicht haben wollte?«
»Für irgendwen ist es immer was wert. Ich schmeiße nichts weg. Andere Generation!« Sie blickte Christian mit zusammengekniffenen Augen an.