Im Haus des Hutmachers, Die Karte des Todes & Die Stunde der Artisten - Stefanie Koch - E-Book
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Im Haus des Hutmachers, Die Karte des Todes & Die Stunde der Artisten E-Book

Stefanie Koch

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Beschreibung

Psychologisch fesselnd und abgründig: Der Krimi-Sammelband aus den ersten drei Kommissar-Lavalle-Fällen von Stefanie Koch jetzt als eBook bei dotbooks. Französische Lebensart, rheinische Gelassenheit … und ein Spürsinn der besonderen Art: Kommissar Henri Lavalle von der Kripo Düsseldorf ermittelt in Fällen, die ihn immer wieder hinter die hochglanzpolierten Fassaden der Rhein-Metropole führen. Ist eine ältere Dame wirklich das Opfer ihrer ebenso schönen wie eiskalten Tochter geworden, oder verbirgt sich dahinter ein ganz anderer familiärer Abgrund? Welche Verbindung gibt es zwischen einem verschwundenen Mädchen und den Machenschaften eines Industriellen – und warum musste der Chef eines berühmten Varieté-Theaters sterben? Aber Lavalle will bei den Ermittlungen immer seine eigenen Wege gehen und schert sich nicht um Regeln – was ihn immer wieder in brenzlige Situationen bringt, die ihm alles abverlangen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Krimi-Sammelband »Im Haus des Hutmachers, Die Karte des Todes & Die Stunde des Artisten« vereint die ersten drei Fälle der Kommissar-Lavalle-Reihe von Stefanie Koch und wird Fans von Arno Strobel und Andreas Franz begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1224

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Über dieses Buch:

Französische Lebensart, rheinische Gelassenheit … und ein Spürsinn der besonderen Art: Kommissar Henri Lavalle von der Kripo Düsseldorf ermittelt in Fällen, die ihn immer wieder hinter die hochglanzpolierten Fassaden der Rhein-Metropole führen. Ist eine ältere Dame wirklich das Opfer ihrer ebenso schönen wie eiskalten Tochter geworden, oder verbirgt sich dahinter ein ganz anderer familiärer Abgrund? Welche Verbindung gibt es zwischen einem verschwundenen Mädchen und den Machenschaften eines Industriellen – und warum musste der Chef eines berühmten Varieté-Theaters sterben? Aber Lavalle will bei den Ermittlungen immer seine eigenen Wege gehen und schert sich nicht um Regeln – was ihn immer wieder in brenzlige Situationen bringt, die ihm alles abverlangen …

Über die Autorin:

Stefanie Koch, geboren 1966 in Wuppertal, studierte in Frankreich, arbeitete in Italien, Thailand und Bangkok und lebt heute in Düsseldorf, wo sie unter anderem als Datenschutzbeauftragte in einem Stromkonzern tätig ist. Seit 2003 veröffentlicht sie erfolgreich Thriller und Kriminalromane, sowohl unter ihrem echten Namen als auch unter dem Pseudonym Mia Winter.

Die Autorin im Internet: www.stefanie-koch.com

Bei dotbooks erschienen bereits Stefanie Kochs Thriller »Crossmatch – Das Todesmerkmal«, der Kriminalroman »Hurenpoker«, der rabenschwarze Kurzroman »Trulla – Mord ist immer eine Lösung« sowie – neben den in diesem Sammelband enthaltenen Kriminalromanen – auch der vierte Fall der Serie: »KOMMISSAR LAVALLE – Der Kopf der Schlange«

***

Sammelband-Originalausgabe Juni 2022, August 2023

Dieser Sammelband erschien erstmals 2022 unter dem Titel »Die Toten von Düsseldorf«.

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe »Kommissar Lavalle – Im Haus des Hutmachers« unter dem Titel »Im Haus des Hutmachers« 2005 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf; Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2013, 2019 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe »Kommissar Lavalle – Die Karte des Todes« unter dem Titel »Die Karte des Todes« 2006 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf; Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2013, 2019 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe »Kommissar Lavalle – Die Stunde der Artisten« unter dem Titel »Die Stunde der Artisten« 2009 by ars vivendi GmbH & Co KG, Cadolzburg; Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2013, 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion der überarbeiteten Neuausgaben: Annika Krummacher

Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-98690-977-2

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Stefanie Koch

Im Haus des Hutmachers, Die Karte des Todes & Die Stunde des Artisten

Die ersten drei Fälle für Kommissar Lavalle

dotbooks.

Der erste Fall:KOMMISSAR LAVALLE – IM HAUS DES HUTMACHERS

Sie wirkt wie eine eiskalte Frau – aber ist sie auch eine gewissenlose Killerin?

Als eine ältere Dame ermordet wird, scheint es nur eine Verdächtige zu geben: ihre Tochter, die Karrierefrau Ann Stahl. Während seine Kollegen ihr Urteil bereits gefällt haben, beginnt Kommissar Henri Lavalle, einer anderen Spur zu folgen. Er entdeckt, dass es in der Familiengeschichte der Stahls mehrere Selbstmorde und merkwürdige Unfälle gab. Nur ein Zufall? Während Lavalle sich immer mehr in dem düsteren Fall verstrickt, kann er sich der Faszination nicht entziehen, die von Ann Stahl ausgeht. Doch dann geschieht ein weiterer Mord …

»Stefanie Koch verknüpft mit dramatischer Raffinesse das Psychogramm einer zerstörten Familie mit einer mysteriösen Kriminalhandlung. Ein gelungener literarischer Schachzug. Das Buch ist spannend bis zur letzten Seite.« Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Für meinen ganz persönlichen Mr. Perfekt.

Sonntag, 25. Juli

»Du hast mir alles genommen, was ich geliebt habe, was mich ausmachte, was ich wichtig fand. Du hast mir meine große Liebe, mein Geld, meinen Vater, meine Herkunft genommen. Deshalb, Louise, ist es Zeit, dass du endlich gehst.«

Louise Stahl fragte sich, wem diese Stimme gehören mochte, doch es wollte ihr nicht einfallen. Herzschlag und Atmung verlangsamten sich merklich, was sie zunächst mit Neugier und Interesse, schließlich mit Angst erfüllte. Sie nahm noch wahr, wie etwas Kaltes ihre Arme streifte, dann verließ das Leben sie so leicht, als wäre es nur zu Gast gewesen. Das warme Blut, das über ihre Hände lief, spürte sie schon nicht mehr.

»Das ist eine gute Show, Walter. Aber das nächste Mal möchte ich, dass du mich nicht vorher auf die kleinen Schwächen aufmerksam machst, das nimmt mir das kindliche Vergnügen«, sagte Henri gutgelaunt und lächelte. Der schummrige Zuschauerraum des Düsseldorfer Apollo-Varietés war Henri Lavalles liebster Platz, wenn er nachdenken wollte. Und der hagere Walter mit seinem Dalíbart und der unvermeidlichen Lederweste war in seiner Schweigsamkeit ein ausgezeichneter Zuhörer. Gerade als auf der Bühne die Abschlussnummer angekündigt wurde, vibrierte Henris Smartphone in der Tasche. Er blickte rasch auf das Display, sah, dass es die Polizeihauptstelle war, und nahm den Anruf an.

»Ja«, flüsterte er.

»Herr Lavalle, guten Abend, Polizeiobermeister Engelbrecht hier. Sie haben heute Bereitschaft, und es gibt eine Tote in Kaiserswerth, Am Mühlenturm.«

Henri stand auf, drückte kurz Walters Schulter, verließ das Theater und eilte unter der Rheinkniebrücke zu seinem Auto, während der Anrufer ihn mit weiteren Informationen versorgte: »Die Frau wurde von ihrem Lebensgefährten gefunden. Die Spurensicherung ist bereits da. Die Straße Am Mühlenturm geht rechts vom Kaiserswerther Markt ab. Noch Fragen?«

»Nein, aber rufen Sie bitte in Kaiserswerth an, ich werde in etwa 15 Minuten dort sein.«

Montag, 26. Juli

Henri Lavalle war, wie so oft in einer Mordnacht, der Letzte. Sein kleines Büro roch nach Staub, Rauch und feuchten Akten.

»Guten Morgen, Signor Lavalle.« Auf seinem morgendlichen Rundgang schloss der italienische Hausmeister die einzelnen Büros auf und legte Henri die aktuellen Zeitungen auf den Tisch. Der Blick des Kommissars fiel auf einen Artikel über sein Spezialgebiet.

Was unterscheidet weibliche und männliche Serienmörder?

Professor Müller, Leiter der kriminologischen Abteilung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, hat in detaillierten Studien herausgearbeitet, dass männlichen wie weiblichen Serienmördern wesentliche Merkmale wie eine ausgeprägte Kränkbarkeit, emotionale Armut, schwaches Selbstwertgefühl und eine starke Labilität zu eigen sind. Typischerweise stammen sie aus schwierigen Familienverhältnissen. Der erste gravierende Unterschied zeigt sich laut Professor Müller im Erwachsenenalter. Die Serienmörderinnen seien im Gegensatz zu ihrem männlichen Pendant oft sehr gut in die Gesellschaft integriert, hätten einen ausgesprochen großen Freundeskreis, zeigten sich stets hilfsbereit und engagiert und würden ausnahmslos als verantwortungsbewusst gelten.

Besonders bemerkenswert sei, so Professor Müller, der Unterschied ihrer Mordmotive. Demnach mordeten Männer, um zu beherrschen, während Frauen mordeten, um sich nicht beherrschen zu lassen. Die Serienmörderin töte mit dem Ziel der Selbsterhaltung, wobei ihr der Mord im Moment der Tat als das einzige und geeignete Mittel scheine, sich und ihr Leben zu schützen und zu erhalten.

Wenig später verließ Henri Lavalle das Polizeipräsidium und machte sich auf den Weg zum Rheinhafen. Es war einer dieser seltenen Tagesanbrüche, wenn ein großer Temperaturunterschied zwischen Luft und Rheinwasser den gewaltigen Strom in dicken, weißen Nebel hüllte. Der Klang der Nebelhörner von den Containerschiffen und das gedämpfte Plätschern des nicht sichtbaren Wassers erzeugten eine ganz besondere Stimmung, die ihn stets schaudern ließ. Er schlenderte vom Landtag zum Rheinturm, dessen Kuppel im Nebel verschwand, und weiter in Richtung Medienhafen, wo die Tochter der Ermordeten lebte, der er gleich die Todesnachricht würde überbringen müssen.

Henri kannte den Hafen noch, als die Schönen und Reichen dieses Viertel mit den Eckkneipen tunlichst mieden und die Kriminalitätsrate dort weit über dem Düsseldorfer Durchschnitt lag. Sein Lieblingsrestaurant, Roberts Bistro, hatte schon früh die Zeichen erkannt und sich auf der Hafenmeile eingemietet, obwohl die Gäste noch durch Baustellen und Schlamm fahren mussten, um in den Genuss seiner Küche zu kommen. Danach waren Schritt für Schritt neue Restaurants und Szenekneipen hinzugekommen, während die ersten zwischen die alten Hafengebäude gezwängten Bürohäuser entstanden. Der WDR mit seinem blauen Aquarium, wie Henri es nannte, hatte als Erstes gezeigt, dass Neues auch schön sein kann.

Er hatte schon zum zweiten Mal auf den roten Klingelknopf neben der Sprechanlage gedrückt, als sich endlich jemand meldete.

»Ja, bitte?«

»Ist dort Stahl?«

»Was wollen Sie denn um diese Uhrzeit? Es ist morgens um halb sieben!«

»Henri Lavalle von der Kriminalpolizei. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.«

»Fahren Sie mit dem Aufzug in den sechsten Stock, dort ist eine Tür, an der Sie nochmals klingeln müssen. Ich drücke dann auf.«

Als er Ann Stahl einige Minuten später gegenüberstand, war er erstaunt, wusste aber nicht, was er erwartet hatte. Vielleicht eine verschlafene, zierliche, blonde Person im Morgenmantel oder eine stämmige Frau mit Küchenschürze, die gerade ihren Kindern den Orangensaft presste. Es überraschte Henri, dass er Ann Stahl in die Augen sehen konnte. Und dass sie keinerlei Unsicherheit über seinen Besuch erkennen ließ, machte ihn für einen Augenblick sprachlos.

»Sie wünschen?«, fragte Ann Stahl ungeduldig.

»Darf ich hereinkommen? Ich muss Ihnen etwas mitteilen, was ich ungern zwischen Tür und Angel sagen möchte.« Henri Lavalle machte einen Schritt auf die Frau zu, die mit den Schultern zuckte und ihn dann in die untere Etage der großzügigen Maisonettewohnung führte, wo vor dem großen Wohnraum eine Dachterrasse lag, die übersät war mit Blumen und Kräutern. Der satte Duft des großen Lavendelstrauchs ließ ihn einen Moment an die Provence denken.

»Wollen Sie einen Kaffee? Ich glaube, er ist noch warm.«

»Ja, gerne, wenn es keine Umstände macht«, antwortete Henri.

»Milch oder Zucker?«, fragte sie aus dem Halbdunkel der Küche.

»Schwarz, bitte.«

Sie reichte ihm den Kaffee, setzte sich auf einen der drei exklusiven Gartenstühle und klopfte auf ihre Armbanduhr.

»Ich habe kaum Zeit. Worum geht es?«

Henri räusperte sich, trank einen Schluck lauwarmen Kaffee und folgte ihrem Blick zu den drei riesigen Eichen, die den großen Hinterhof in eine grüne Oase verwandelten.

»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber …«

»Was denn, bitte?«, fragte Ann Stahl.

»Ihre Mutter ist vergangene Nacht gestorben.«

Einen Moment meinte er, Verwirrung in ihrem Gesicht zu sehen. Aber sie sammelte sich so schnell wieder, dass er glaubte, es wäre Einbildung gewesen.

»Wenn Sie jetzt Tränen oder Schluchzen erwarten, muss ich Sie enttäuschen. Ich habe meine Mutter seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Sonst noch was? Ich muss jetzt los. Um acht Uhr geht mein Flugzeug nach Berlin.«

»Sie wurde ermordet.«

»Das ändert gar nichts. Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so abwimmele, aber Flieger warten nicht. Sehen Sie sich hier um, wenn Sie wollen. Mich erreichen Sie ab Freitag wieder hier.«

Ann Stahl stand auf, sah ihm ohne jede Verlegenheit in die Augen, gab ihm ihre Visitenkarte und griff nach ihren gepackten Taschen.

»Noch was: Bitte erschrecken Sie nicht, wenn Sie sich umsehen. Oben schläft noch ein Mann, den Sie gerne wecken können.«

Henri hörte das Klappern ihrer Absätze und dann das Zuschlagen der Wohnungstür.

Auf dem Weg zum Flughafen machte Ann sich zu ihrem Vortrag noch schnell ein paar Notizen und prüfte eine Kalkulation. Erst als sie sich zum Start anschnallte, fiel ihr der morgendliche Besucher ein, und sie dachte an ihre Mutter.

Sie wurde ermordet. Ann ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen und lächelte.

Kaum hatte das Flugzeug die Reiseflughöhe erreicht, kreisten ihre Gedanken um andere Themen: die anstehenden Termine, das Essen mit dem Vorstand des Reuss-Konzerns heute Abend, die anschließende Party.

Henri Lavalle setzte sich und musterte skeptisch die Visitenkarte: Ann Stahl, Financial & Marketing Consultant.

Dass Menschen bei einer Todesnachricht nicht erschraken, hatte er durchaus schon erlebt. Dass sie aber nicht einmal beim Wort »ermordet« reagierten, und sei es nur aus Neugier – das war ihm in seinen 20 Berufsjahren noch nicht untergekommen. Er wendete die Visitenkarte in seinen Händen. Ob die dringenden beruflichen Termine für Ann Stahl eine willkommene Ausflucht gewesen waren, um in der Gegenwart eines Fremden keine Gefühle zeigen zu müssen? Henri schüttelte den Kopf.

Er stand auf, trat an den Rand der Dachterrasse, zog seine Hand durch den Rosmarin, atmete den herben Geruch ein und schmeckte gebratenes Hühnchen mit Rosmarin und Zitrone auf der Zunge. Die Dämmerung brach durch die dunklen Wolken, und ein fernes Donnergrollen war zu hören. Der Sommer war so plötzlich über Düsseldorf hereingebrochen, dass viele Menschen mit der unvermittelten Hitze zu kämpfen hatten. Seufzend drehte Henri sich um und überlegte, ob es sich lohnte, die Wohnung anzusehen. Ann Stahl schien ihm nicht verdächtig.

Er beschloss, sich auf den Heimweg zu machen, um noch mit seinen vier Töchtern zu frühstücken, bevor sie in die Schule gingen. Plötzlich hörte er ein Knarren. Ein nur mit einer Jeans bekleideter Mann kam die Treppe herunter, die in den Wohnraum führte.

»Habe ich hier irgendwas verpasst?«

Henri lächelte. »Nein, nicht wirklich. Mein Name ist Henri Lavalle, ich bin von der Kriminalpolizei. Es geht nur um die Mutter Ihrer Freundin. Frau Stahl sagte mir, ich solle mich nicht vor Ihnen erschrecken, und ich könne Sie gerne wecken. Wie heißen Sie?«

Der Mann warf dem Kommissar einen argwöhnischen Blick zu, ging an ihm vorbei zur Spüle, füllte den Wasserkocher und schaltete ihn an. Langsam drehte er sich zu Henri um.

»Chris Willner.«

Er wirkt etwas konturlos, dachte Henri. Der Mann passt gar nicht zu dieser Ann Stahl.

»Sie sind 30«, konstatierte er.

»Stimmt genau, ist das wichtig?«

»Nein. Wie alt ist Ihre Freundin?«

»24.«

Chris Willner füllte gemahlenen Kaffee in eine Glaskanne und ließ das kochende Wasser gemächlich hineinlaufen.

»Dann ist Ann Stahl nicht Ihre Freundin.«

»Schlau kombiniert, Herr Kommissar.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Chris Willner drückte mit dem Siebeinsatz das Kaffeemehl auf den Boden der Kanne, nahm eine benutzte Tasse aus der Spüle und goss sich ein. Auch Henri ließ sich nachschenken.

»In welcher Beziehung stehen Sie zu Frau Stahl?«

»Geht Sie das etwas an?«

Henri lächelte. Zu oft hatte er ähnliche Reaktionen erlebt.

»Vielleicht schon sehr bald. Frau Stahls Mutter wurde gestern zwischen 22 und 24 Uhr ermordet.«

Willner pfiff durch die Zähne, stellte seine Kaffeetasse ab und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Und das haben Sie ihr vorhin zwischen Tür und Angel gesagt, und sie ist dann wie immer pünktlich zum Flughafen?«

»In etwa, ja. Ich hatte fünf Minuten Zeit.«

»Das ist typisch Ann.«

»Sagen Sie mir jetzt, in welcher Beziehung Sie zu Frau Stahl stehen?«

Willner nahm sein Hemd vom Sofa, zog es über, ging mit seiner Tasse zum Esstisch und setzte sich.

»Wir sind Nachbarn. Ich wohne unten links im Erdgeschoss. Als damals die Wohnung hier frei wurde, wollte ich sie gerne. Es sind genau genommen drei Etagen, die oberste liegt im Turm, und außerdem die tolle Dachterrasse, einfach super. Aber Ann hatte den Vermieter überzeugt, dass es ihre Wohnung ist. Vielleicht war sie mit ihm im Bett, sie scheint einen recht lockeren Umgang damit zu haben. Jedenfalls ist sie im Februar hier eingezogen. Einen Tag vor ihrem Einzug wurde hier eine Leiche entdeckt. Der Hausverwalter, Herzstillstand, er hatte wohl einen zu viel getrunken. Es gab ein ziemliches Theater, und Ann tat mir wirklich leid. Ich habe ihr am nächsten Tag beim Einzug geholfen. An dem Abend, sie war ziemlich von der Rolle, habe ich ihr angeboten, dass sie bei mir übernachten kann. Stattdessen bin ich hiergeblieben. Seitdem schlafen wir gelegentlich miteinander. Manchmal trinken wir nur einen Kaffee oder einen Wein zusammen. Eine bequeme Nachbarschaft eben.« Willner grinste.

Henri schwieg. Der Mann schien sich gern selbst in Szene zu setzen.

»Sie weiß, dass ich eine Freundin habe. Wir heiraten in vier Monaten. Ich habe es ihr am ersten Abend ungefragt gesagt. Offenbar bin ich gut genug, dass sie darüber hinwegsieht.«

»Was können Sie mir über Frau Stahl sagen?«

Willner zögerte und starrte in seine Kaffeetasse.

»Warum fragen Sie sie nicht selbst?«

»Erstens ist Frau Stahl erst Freitag wieder da, zweitens wüsste ich gerne Ihre Meinung, Ihren Eindruck. Was tut sie, was beschäftigt sie, ist sie viel unterwegs? Also?«

»Lesen Sie doch in ihren Tagebüchern.«

Mit einer ausladenden Geste deutete Willner auf die Bücher, die sich im Regal über dem Schreibtisch befanden. In zwei Reihen standen verschiedenfarbige, unterschiedlich große Bücher, jedes mit einer Jahreszahl versehen.

»Sie hat mir gesagt, wenn ich der Versuchung nicht widerstehen könne, darin zu lesen, solle ich bedenken, dass ich mit dem Gelesenen selbst fertig zu werden hätte. Und deshalb habe ich bisher die Finger davon gelassen.«

Henri griff nach dem Buch mit der aktuellen Jahreszahl und wandte sich wieder seinem Gegenüber zu, das sich nervös mit der Hand durch die blonden Haare fuhr.

»Das heißt, dass ich in diesem Band hier nachlesen kann, wo Sie gestern Abend waren?«

»Wahrscheinlich. Sie schreibt, soweit ich es mitbekommen habe, jeden Abend etwas hinein und morgens nach dem Aufwachen ihre Träume, wenn sie sich daran erinnert.«

Willner trank einen Schluck Kaffee und beobachtete Henri dabei, wie er das Buch aufschlug.

»Ich habe gestern Abend kurz nach neun bei Ann geklingelt. Da kam sie gerade aus der Badewanne. Wir sind dann noch einmal ins Bad, und den Rest dürfen Sie sich denken.«

Schade eigentlich, dachte Henri und fragte sich, ob Chris wusste, dass Anns Mutter in Kaiserswerth wohnte, oder ob er einfach die Wahrheit sagte. Gerne hätte er sich einen weiteren Kaffee genommen, den blonden jungen Mann aus der Wohnung geschickt und in dem Tagebuch gelesen, doch er ermahnte sich: Du hast keinen Durchsuchungsbefehl, und legte das Buch zurück.

Chris Willner war merklich aufgetaut und erzählte noch ein bisschen von Ann Stahl. Sie spreche selten über sich, sondern mehr über Filme, die sie gesehen habe, über Bücher, die sie gerade lese und die er meistens nicht kenne, gelegentlich spreche sie über ihre Arbeit. Sie sei sehr sexy, aber ziemlich kalt, erfolgreich und diszipliniert. Es gebe mehrere Liebhaber in ihrem Leben, wahrscheinlich brauche sie den Sex als Ausgleich, vermutete Willner. Männer seien nur Statisten in ihrem Leben. Jetzt sei sie zwei Tage in Berlin, dann drei Tage in München.

»Gut, das wäre es fürs Erste«, sagte Henri, legte seine Visitenkarte vor den verunsicherten und schwitzenden Liebhaber und verließ die Wohnung.

Henri hatte es sich anders überlegt und fuhr doch zurück in sein Büro, wo er seine Notizen in den Computer tippte. Louise Stahl war kurz nach 23 Uhr von ihrem Lebensgefährten gefunden worden, der gerade vom Kegeln heimgekehrt war: im Bett, frisch gebadet und mit sauber aufgeschnittenen Pulsadern. Der Täter hatte sich den makabren Spaß erlaubt, ihr das Tatwerkzeug, ein Fleischermesser aus Solinger Stahl, in die linke Hand zu legen, damit es so aussah, als hätte sie sich selbst die Pulsadern aufgeschnitten.

Die Experten vor Ort hatten ihm die Schnittrichtung erklärt, die darauf hinwies, dass der Schnitt sehr wahrscheinlich von einer rechts neben Louise stehenden Person ausgeführt worden war. Vermutlich war der Mörder Linkshänder. Noch war unklar, was wirklich zum Tode geführt hatte, denn die aufgeschnittenen Pulsadern waren Louise Stahl eindeutig postmortal zugefügt worden.

Henri schob rauchend ein paar Aktenberge hin und her und stapelte resigniert den einen auf den anderen, als sein Kollege Alex mit zwei Tassen Kaffee hereinkam.

»Moin, wie geht’s?«

Alex stellte die Tassen ab, nahm den überquellenden Aschenbecher, leerte ihn, öffnete das Fenster und ließ die schwülwarme Luft herein. Das war ihr morgendliches Ritual. Sie kannten sich seit Jahren, waren ein eingespieltes Team und Henri der Boss. Er weigerte sich, den Kaffee in Alex’ Büro zu trinken, denn im Laufe der Jahre war er zum Kettenraucher geworden und Alex zum militanten Nichtraucher.

»Wir haben einen Mord mit einem ungewöhnlichen Bild, hast du schon gehört?«

»Ja, die postmortal aufgeschnittenen Pulsadern.«

Henri nickte, schlürfte geräuschvoll seinen Kaffee und sammelte sich, um Alex zu berichten, was er wusste.

»Ich habe selten einen ästhetischeren Mord gesehen. In diesem Schlafzimmer gab es außer dem Blut der Ermordeten keine Farbe. Alles war weiß – die Wände, der Boden, die Gardinen, die Bettwäsche, das Nachthemd. Die tote Louise Stahl lag im Bett, frisch gebadet, der Raum duftete nach Rosen und Blut. Kompetent aufgeschnittene Pulsadern, keine Kampfspuren, kein Durcheinander. Sie war ordentlich zugedeckt. Die linke Hand mit dem Messer, dabei ist sie Rechtshänderin, lag über der Decke. Was mag uns der Mörder mit diesem Bild sagen wollen? Denn er hat sie quasi zweimal ermordet. Sie war schon tot, als ihr die Pulsadern durchtrennt wurden. Ihr Lebensgefährte, zehn Jahre jünger als sie, hat ein Alibi – er kann also bestenfalls Anstifter zum Mord gewesen sein. Die Leiche roch nach Alkohol. Aber es gibt am Fundort keine leeren Flaschen, die auf übermäßigen Genuss hingewiesen hätten. Hier müssen wir die Obduktion abwarten.

Es gibt drei Söhne in Amerika. Seit 14 Jahren leben Klaus und Peter und seit sechs Jahren auch Sven, der Älteste, dort. Der Kontakt in den letzten Jahren war spärlich, beschränkte sich auf eine Karte zu Weihnachten. Johannes von Rath, der Lebensgefährte, nimmt nicht an, dass die Söhne der Ermordeten zur Beerdigung kommen werden. Es gibt noch eine Tochter in Düsseldorf. Zwischen ihr und der Mutter gab es seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr. Nach der Visitenkarte ist Ann Stahl Financial- und Marketing-Beraterin und in der Lage, morgens um sechs Uhr so perfekt auszusehen wie eine Schaufensterpuppe. Sie ist bestimmt 1,80 m und schlank. Auch sie hat ein Alibi, sie hat die Nacht mit ihrem hübschen Nachbarn verbracht, der noch im Bett lag, als ich kam. Als ich ihr vom Mord an ihrer Mutter erzählte, hat sie kaum reagiert. In ihrer Wohnung befindet sich ein Regal mit Tagebüchern, die in dem Jahr einsetzen, in dem sie fünf war. Anscheinend hochbegabt, denn welches Kind kann schon mit fünf Jahren schreiben? 28 Jahre schriftliches Zeugnis eines Lebens. Das hat mich beeindruckt.«

Henri lehnte sich zurück, legte seine Beine auf die freie Ecke seines Schreibtisches und blickte Alex an.

»Wie hat die Mutter gewohnt?«

»Sehr stilvoll. Ein altes Haus in Kaiserswerth, teilweise Fachwerk, drei Etagen, hübscher kleiner Garten und Rheinblick. Der Lebensgefährte sagt, dass es seit 200 Jahren in Familienbesitz ist.«

»Gibt es ein Testament?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Der Lebensgefährte?«

»Gibt nicht viel her. Johannes von Rath, eigentlich Freiherr von Rath, 44 Jahre, ruhig, sympathisch, leidenschaftslos. Besitzt eine Textil- und Modefirma, drei exquisite Damen- und Herrengeschäfte und ist finanziell nicht mit Louise Stahl verbunden. Nein, ich bin mir fast sicher, er war es nicht.«

»Gut, dann zur Tagesordnung.« Alex nahm den Aktenordner von seinem Schoß, um mit der Besprechung zu beginnen. Der Rest des Teams würde jeden Augenblick dazustoßen.

Bevor sie zwei Stunden später das Büro verließen, plazierte Henri mitten auf seinem Schreibtisch eine Mappe, die er mit »Mord an Louise Stahl« beschriftet hatte. Im Laufe des Tages sammelten sich darin die ersten Ergebnisse: Berichte und Befunde, Obduktion, überprüfte Alibis, Familiengeschichte, Finanzen, Testament. Er selbst war den ganzen Tag in der Frauenabteilung der JVA, um Verhöre durchzuführen. Die meisten Frauen, die dort in Abschiebehaft saßen, kamen aus Osteuropa oder Afrika und wurden bei Razzien in den Bordellen Düsseldorfs und des Umlandes aufgegriffen. Ihm waren, seit die zuständige Kollegin die Abteilung verlassen hatte, diese Fälle übertragen worden. Sein Chef Dr. Pahl war der Überzeugung gewesen, dass Henri sich am besten in die Frauen einfühlen könne. Vermutlich dachte er, dass Henri aufgrund seiner Familie mit Frau und vier Töchtern für diese Aufgabe besonders geeignet sei.

Henri Lavalle verließ die Justizvollzugsanstalt am frühen Abend. Er lehnte sich an sein Auto, zündete sich eine Zigarette an und überlegte, ob er noch ins Büro fahren sollte. Der Gedanke an seine Frau riet ihm dringend, jetzt heimzufahren.

Er gönnte sich mit dem Polizeiwagen einen Umweg über den Hammer Deich. Der Rhein sah jeden Tag anders aus, mal schimmerte er grün, mal strahlte er blau. Jetzt aber, durch die wiederholten Hitzegewitter, führte er sehr viel Schlamm mit sich, was die gefährlichen Strudel sichtbar machte. Als er nach seinem Studium in Paris hierhergekommen war, hatte er sich zuerst in Düsseldorf, dann in Lisa verliebt und war geblieben. Nach der Geburt der ersten Tochter hatten sie das lärmige Bilk verlassen und wohnten seitdem in Hamm. Lisa fühlte sich hier, in unmittelbarer Stadtnähe und doch von Feldern umgeben, sehr wohl. Ihm hingegen fehlten in dem Stadtteil die Bars und Kneipen, die sich in der Altstadt so zahlreich aneinanderschmiegten, dass es unmöglich war, alle in einer Nacht zu besuchen, und die Düsseldorf den Namen Petite Paris eingebracht hatten. Kappes-Hamm bot gerade drei oder vier Gaststätten.

Die siebenjährige Alberta, sein heimlicher Liebling, stürmte aus der Haustür auf ihn zu.

»Blaulichttour?«, fragte sie begeistert.

»Henri, Essen ist fertig, bitte kommt rauf«, erklang von drinnen Lisas Stimme.

Henri strich Alberta durch die dunklen Haare. »Morgen.«

»Das sagst du immer.«

»Stimmt.«

Ann Stahl stritt den ganzen Montag. Der Berliner Reuss-Konzern hatte sie vor einem halben Jahr beauftragt, in Zusammenarbeit mit Peter von Allbacher die einzelnen Abteilungen zu sanieren. Allbacher kam aus einer soliden, bodenständigen Beraterfirma, während Ann freiberuflich arbeitete.

»Behinderte, Mitarbeiter, die länger als zehn Jahre im Unternehmen sind, und Abteilungsleiter müssen gehen. Die Sekretärinnen bleiben.«

»Da hat der Betriebsrat aber noch ein Wort mitzureden.«

»Wenn der Betriebsrat nicht in einem Jahr die Abwicklung der Insolvenz übernehmen möchte, wird es höchste Zeit, dass er umschaltet. Wenn wir nach Firmenzugehörigkeit und sozialem Status kündigen, bleiben die Falschen an Bord. Also kündigen, sonst mache ich den Job nicht.«

Das war Anns Einstieg in den Job beim Reuss-Konzern gewesen, und die ersten Erfolge ihres harten Konzepts zeigten sich bereits. Sie hatte viele Stellen, mitunter ganze Abteilungen eliminiert und während dieser Zeit jeden Kontakt mit Mitarbeitern abgelehnt. Das war Teil ihres Plans: keine Gefühle entwickeln und für die Mitarbeiter das unsichtbare Monster bleiben, auf das alle schimpfen konnten.

Nachdem die Kündigungen ausgesprochen waren, erklärte sie den verbliebenen Mitarbeitern geduldig, weshalb ihre Maßnahmen richtig waren, um ihren Arbeitsplatz zu erhalten, und man glaubte ihr. Zusammen mit Peter von Allbacher stellte Ann neue Abteilungsleiter ein, denn ihre gemeinsame Strategie war es, dass diese in der momentanen Situation voller Hoffnung aufgenommen würden und dass keiner der Mitarbeiter den Verdacht hätte, der Neuling könne zu jung sein und wolle nur ihre liebgewonnenen Gewohnheiten zerstören. Ann Stahl verstand es zu manipulieren.

Die Besprechungen mit dem Konzernvorstand über ihre Maßnahmen folgten stets demselben Muster. Während der Vorbereitung stritten Ann und Peter. Er als Familienvater konnte bei den drastischen Maßnahmen die Ängste der Angestellten verstehen und versuchte meist vergebens, Ann für eine humanere Vorgehensweise zu gewinnen. Anschließend stritten sie gemeinsam mit den Mitgliedern des Vorstands, dessen persönliche Verhältnisse zu einzelnen Mitarbeitern die Entscheidungen oft unterliefen.

Jeweils am letzten Montag eines Monats gab der Vorstand ein Essen, bei dem Anwesenheitspflicht herrschte. Ann, angeödet von dieser Gesellschaft, trank mehr Wein als üblich und blickte regelmäßig auf die Uhr. Die gediegene Atmosphäre des Raumes machte sie matt, und die brüchige Exklusivität des Konzernclubs mit den vielen Bediensteten, die viel zu emsig und unterwürfig den Befehlen folgten, verursachte ihr Kopfschmerzen. Peter, der Einzige in ihrem Alter, bemühte sich, durch anzügliche Gesten oder ein vielversprechendes Lächeln die Langeweile aus ihrem Gesicht zu vertreiben.

Seit Beginn dieses Projektes schliefen sie miteinander. Beide waren der Überzeugung, dass nach Klärung dieser Fronten das Arbeiten miteinander viel leichter wäre. Nach zwei Gläsern Wein und den Berührungen im Bett ließ sich wesentlich leichter ein Konsens finden als bei Tageslicht am Konferenztisch.

Als sie an diesem Abend sein Hotelzimmer betraten, sagte Peter: »Du wirst nachlässig. Sonst beherrschst du es besser, Aufmerksamkeit zu heucheln und charmant zu lächeln. Ist was Besonderes?«

»Nein.«

Ann ging ins Bad, zog sich langsam aus, blickte in den Spiegel und sagte leise: »Oder doch?«

Sie forschte im Spiegelbild, ob sie Züge ihrer Mutter in ihrem Gesicht erkennen konnte. Mit zehn Jahren hatte Ann ein Kinderfoto ihrer Mutter gefunden und mit Entsetzen festgestellt, dass die Ähnlichkeit frappierend war. Noch heute schüttelte es sie bei der Vorstellung, dieser Frau ähnlich zu sehen. Ann hatte ihre Mutter nie bewundert. Im Gegenteil, seit sie sich erinnern konnte, fand sie die kleine mollige Gestalt ihrer Mutter hässlich.

Das Telefon klingelte. Ann und Peter wussten, dass es nur Sara, seine Frau, sein konnte. Wegen dieser Kontrollanrufe hielten sie sich ausschließlich in Peters Hotelzimmer auf. Ann schmunzelte, als sie seine Beteuerungen hörte: »Ja, meine Sara. Liebes, schön, dass du anrufst. Aber ja, ich liebe dich wie am ersten Tag …«

Ann empfand es immer als peinlich, wenn der charismatische Manager mit den stechenden blauen Augen und den fleischigen Lippen derart ins Telefon säuselte. Sie schloss die Badezimmertür, legte sich in die große Badewanne, ließ heißes Wasser über ihren Körper laufen und fühlte wohlig die Wärme im Rücken und an den Beinen. »Meine Mutter wurde ermordet«, murmelte sie vor sich hin. Sie korrigierte sich, denn es müsste heißen: Eine Frau, die ich kannte, wurde ermordet.

Kennen? Stimmt auch nicht, überlegte Ann, bitte ein bisschen präziser, Fräulein.

Sie tauchte ihren Kopf unter Wasser, tauchte wieder auf. Meine Erzeugerin wurde ermordet – diese Formulierung taugte ihr weitaus besser.

»Worüber lächelst du?«, fragte Peter, der ins Bad kam und zu ihr in die Wanne stieg. Die abendlichen Bäder gehörten nicht zu seinen Gewohnheiten, aber Ann verlangte sie, sonst schlief sie nicht mit ihm.

»Über den alten Vogel, Oberstaatsanwalt Vogel. Er hat mir heute wieder gesagt, wie gerne er eine Tochter wie mich hätte.«

Ann tauchte unter und stand anschließend mit Schwung auf.

»Du hast wirklich einen vollkommenen Körper. Dass der kleine Zeh am rechten Fuß fehlt, ist wie ein i-Tüpfelchen, das sich die Natur geleistet hat«, sagte Peter und küsste ihren Fuß, bevor er aus der Wanne verschwand. »Sara ist im Moment wieder so anhänglich, wie damals bei der Geburt von Johann. Ich weiß gar nicht, was los ist. Sie hat doch wohl nichts gemerkt von uns? Was meinst du?«

Ann zuckte mit den Schultern: »Es ist deine Frau und nicht meine. Und es interessiert mich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht.«

Peter wusch sich schnell. Dann folgte er Ann ins Bett, die sich auf dem Bauch liegend eine Zigarette angezündet hatte.

»Aber ich wette, dieser Vogel würde mit dieser Tochter auch furchtbar gerne schlafen«, sagte er.

»Das schafft er nicht mehr.«

Ann hob die auf dem Boden liegenden Bewerbungsmappen auf das Bett.

»Peter Unruh, Stefan Schaffner, Hermann Seil, Patricia Weber«, las sie, während sie die Mappen nebeneinander ausbreitete.

Peter durchblätterte die Mappe von Hermann Seil. »Der gefällt mir am besten von allen. Alter, Lebenslauf, Familienstand, Gehalt, er passt genau.«

»Zu genau, findest du nicht? Wir waren uns doch einig, in das Uniforme ein wenig Unruhe zu bringen, und dafür ist er der Falsche.«

Peter strich zärtlich mit dem Zeigefinger über ihre Wirbelsäule und glitt zwischen ihre Pobacken.

»Ich bin für diese Patricia«, fuhr Ann fort. »Es ist eine reine Männerabteilung, also sind von dort nur wenige Probleme zu erwarten. Sie hat eine sehr gute technische Ausbildung und kennt sich mit Personalverantwortung aus. Ihr Alter ist mit 58 auch in Ordnung. Das Durchschnittsalter in der Fertigung liegt bei 38.«

Peter hörte ihr konzentriert zu und beobachtete zugleich, wie sich ihre feinen Haare am Rücken aufstellten.

»Das Faszinierendste an dir ist, dass du trotz Erregung ohne Mühe weiter sachlich diskutieren kannst«, sagte er. »Wie machst du das?«

»Meinen Kopf auszuschalten ist eine Entscheidung, die ich treffe.«

Ann spürte sehr wohl, wie ihr Bauch kribbelte, wie es zwischen ihren Beinen warm wurde. Aber das hielt sie nicht davon ab, die Diskussion erst zu Ende zu bringen.

Peter richtete sich seufzend auf, nahm die Bewerbungsmappe von Patricia und begann, sie zu lesen, während Ann sein markantes Profil betrachtete und dachte: Ja, er ist wirklich ein sehr attraktiver Mann.

»Sie stammt aus der ehemaligen DDR und wird kaum wissen, wie eine Abteilung als Profitcenter funktioniert, wenn sie unter strengen Anweisungen eine Metallfabrik mit 10-Jahres-Plan geführt hat.«

»Sie hat dein Argument gekannt und die Bilanzen der letzten Jahre als Anlage beigefügt.«

Peter blätterte nach hinten, studierte die Tabellen und musste Ann recht geben.

»Also gut, eins zu eins. Hermann oder Patricia. Was machen wir mit Unruh und Schaffner?«

Ann drehte sich auf den Rücken, zog einen Zipfel der Decke über ihren Bauch: »Warten wir bis morgen, vielleicht inspirieren sie uns?«

Peter legte die Mappe neben das Bett und hob Ann schwungvoll zu sich.

Bei der gemeinsamen Zigarette danach versuchte Peter, sich stets einzureden, dass er schließlich seine Frau und seine zwei Kinder liebe und dass das eine nichts mit dem anderen zu tun habe.

Dienstag, 27. Juli

Nachdem Henri Lavalle am Morgen seine vier Töchter an ihren Schulen abgesetzt hatte, war er um halb neun im Büro, wo er Alex über die Unterlagen gebeugt vorfand.

»Ich hab schon angefangen. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, dass du dienstags erst so spät kommst.«

»Und ich würde mir am liebsten meine Ehe abgewöhnen.«

Lisa hatte diese Regelung eingeführt, da sie der Meinung war, dass ein Vater wissen sollte, wo seine Kinder die Tage verbrachten. Er goss sich Kaffee ein, setzte sich an den Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an.

»Zum Thema Familiengeschichte.« Alex räusperte sich kurz und fuhr fort: »Der Vater von Ann Stahl, der Erbe des Hauses, ist am Tag ihrer Geburt spurlos verschwunden. Das wissen wir von seiner noch lebenden älteren Schwester. Angeblich hat Ann erst mit 18 Jahren vom Verschwinden ihres Vaters erfahren.«

Henri unterbrach ihn: »Moment, wer sagt das?«

»Die Schwester, Ilana Stahl. Bestätigt von der seit über 60 Jahren in der Familie arbeitenden Haushälterin Elisabeth Kohlhage, 73. Weiter?«

Henri nickte.

»Ilana Stahl war am Tatabend bei einer Freundin im St.-Antonius-Altenheim in Düsseldorf-Hassels. Dort wurde sie um 23 Uhr mit dem Taxi abgeholt, 20 Minuten später wurde sie von ihrer eigenen Haushälterin eingelassen, wie jeden Sonntag. Sie wohnt an der Rheinallee, feinste Adresse mit Blick auf Vater Rhein.«

Alex trank einen Schluck Kaffee und fuhr dann fort: »Bei der ersten Durchsicht der Finanzen von Louise Stahl ist alles in Ordnung. Es gibt ein Testament, das Barvermögen von 200.000 Euro geht an Ann Stahl, ebenso das Haus. Der Notar sagte, ihre Brüder seien alle vorher ausgezahlt worden, was bei Ann aufgrund der Familiensituation nicht möglich war. Die Haushälterin bekommt eine Art Rente. Der Lebensgefährte geht leer aus, braucht das Geld aber offenbar auch nicht. Die Obduktion hat einen Promillegehalt von 0,8 ergeben sowie einen beginnenden Gebärmutterkrebs, der nach Auskunft ihres Arztes noch gar nicht entdeckt war. Außerdem gab es im Blut eine sehr hohe Konzentration von Diazepam. Dieser Wirkstoff ist zum Beispiel im Beruhigungsmittel Valium zu finden. Bei einer Überdosierung von Diazepam erschlaffen die Muskeln, und die Atmung setzt einfach aus. Das Diazepam ist in diesem Fall die Todesursache. Kurz nach dem Eintreten des Todes wurden Louise Stahl die Pulsadern mit zwei kompetent geführten Schnitten durchtrennt.«

Henri drückte seine Zigarette aus und sah Louise Stahl wieder vor sich. Die blonden kurzen Haare und ihr Gesicht hatten eigentümlich geglänzt, ebenso die seidene Bettwäsche, was den Eindruck einer Aufbahrung verstärkt hatte. Ihr Gesicht wirkte jung, aber die Hand, die das Messer hielt, hatte ihr Alter sofort verraten.

»Weiß man schon, wie Louise Stahl ihre Tage verbrachte?«

Alex nickte und zog ein neues Papier aus der Mappe.

»Voller Terminkalender. Montag: Gymnastik am Vormittag, italienischer Sprachkurs am Abend. Dienstag: nachmittags Malkurs. Mittwoch: abends Tanzen mit ihrem Gefährten. Donnerstag: frei, Freitag: Theaterabo, samstags gab sie regelmäßig Essen. Sonntag: frei.«

Henri schüttelte den Kopf. »Ich sehe da keinen Ansatz.«

Alex strich durch seinen vollen Bart und schob die Unterlagen wieder zusammen. »Ich werde mich mal mit ihren Verabredungen beschäftigen. Vielleicht finden wir dort ein Motiv für den Mord. Außerdem schlage ich vor, dass Bernd im Archiv die Unterlagen aus dem Geburtsjahr von Ann Stahl durchwühlt. Wir brauchen die Kinder, besonders die Söhne, die möglicherweise noch Erinnerungen an ihren Vater und an die Beziehung zu ihrer Mutter haben. Vielleicht ist der alte Stahl wieder aufgetaucht? Und du sprichst noch einmal mit der Tochter?«

»Ja, allerdings werde ich erst mal Bernd im Archiv helfen. Ann Stahl ist erst Freitagabend wieder in Düsseldorf. Und ich werde versuchen, die Söhne ausfindig zu machen.«

Alex stand auf. »Heute Abend bin ich bei den Düsseldorfer Jonges, Empfang des Schützenkönigs. Ich werde mich mal umhören, ob einer Louise Stahl und ihren verschwundenen Mann kannte.«

Henri lächelte. In all den Jahren war ihm jede Art von Vereinswesen fremd geblieben. Er nahm Anns Visitenkarte aus der Jacketttasche und wählte ihre Mobilnummer.

»Ann Stahl, ja, bitte?«

»Hallo, Frau Stahl, Kommissar Henri Lavalle hier. Wir haben noch einige Fragen zu Ihrer Mutter. Wäre es Ihnen recht, wenn ich Freitagabend bei Ihnen vorbeikäme?«

»Hm. Moment, bitte …«

Henri hörte, dass sie Papier zur Seite schob, hörte auch eine verschlafene Männerstimme, die etwas fragte; was, verstand er nicht genau. Sie scheint einen ziemlich lockeren Lebenswandel zu haben, dachte Henri.

»Herr Lavalle? Ich lande am Freitag um 17.30 Uhr, wäre also gegen 19 Uhr sicher zu Hause. Ginge das?«

»Ja, danke. Ich werde da sein. Schönen Tag noch und bis Freitag.«

Henri beschloss, noch einmal nach Kaiserswerth zu fahren. Vor dem Haus der Familie Stahl traf er Johannes von Rath, der gerade in seinen Jaguar steigen wollte.

»Sie wollen verreisen?«

»Nein, ich habe schon bei Ihrer Dienststelle Bescheid gesagt, ich möchte nicht in diesem Haus bleiben. Sie finden mich in meinem Appartement auf der Königsallee.«

»Dürfte ich Sie dennoch bitten, einen Moment mit mir hineinzugehen?« Henris Blick glitt über den Rhein. »Sie haben hier wahrscheinlich den gleichen Überblick, wie ihn die Kaiserpfalz einst bot, nicht wahr?«

Johannes von Rath lächelte schwach. »Nur, dass die Feinde nicht mehr über den Rhein kommen, sondern durch die Haustür hereinspazieren.«

»Wie haben Sie Louise Stahl kennengelernt?«

Johannes von Rath hüstelte, und Henri bekam den Eindruck, er tue das nur, um Zeit zu gewinnen.

»So genau kann ich das gar nicht mehr sagen. In unseren Kreisen und Gehaltsklassen begegnet man sich einfach. Louise war aber auch Kundin in meiner Boutique in der Kö-Galerie.«

»So, wie ich Ann Stahls Garderobe und Gehaltsklasse einschätze, müssten Sie ihr auch ›einfach mal begegnet‘ sein.«

»Nicht, dass ich wüsste. Ich kenne schließlich Fotos von ihr.«

»Von vor zehn Jahren?«

»Nein, Louise hatte auch Bilder jüngeren Datums. Wenn Sie möchten, suche ich sie heraus.«

»Woher?«

»Das weiß ich nicht, Herr Lavalle. Über Ann wollte Louise nur sehr selten reden. Ihre Tochter hatte sie zu oft gekränkt und zurückgewiesen.«

»Gibt es einen Grund, warum Sie Frau Stahl nicht geheiratet haben?«

»Sie war noch verheiratet.«

Henri wartete, blickte einem Containerschiff nach, das sich träge gegen die starke Strömung schob, und fragte sich, was ihn an diesem Mann störte. Die hohe Stimme?

»Louise hätte ihren Mann Alexander entweder finden oder für tot erklären lassen müssen. Das Erste misslang, das Zweite wollte sie nicht.«

Freitag, 30. Juli

So wenig wie Alex war es Henri Lavalle bis zum Ende der Woche gelungen, im Mordfall Stahl wesentlich weiterzukommen. Im Geburtsjahr von Ann Stahl gab es keine nicht identifizierten Leichen, die in Frage gekommen wären. Sie alle waren, dem Gebiss nach zu urteilen, erheblich älter oder jünger als Ann Stahls damals 31-jähriger verschwundener Vater. Henri hatte die Söhne alle erreicht: den Architekten Peter, den Zahnarzt Klaus und den Gynäkologen Sven. Peter und Klaus konnten sich an ihren Vater nicht erinnern, Sven nur sehr vage. Allen gemeinsam war die Distanz zu ihrer Mutter. Nur Sven hatte sich bereit erklärt, nach Deutschland zu kommen. Er war auch der Einzige der Brüder, der spärlichen Kontakt zu seiner Schwester hielt.

Keinen der drei hatte es überrascht, dass das Vermögen und das Haus an Ann gehen würden. Von Sven erfuhr Henri, dass der Urgroßvater Hutmacher gewesen war und dort seine Werkstatt gehabt hatte, weshalb man das Anwesen auch das »Haus des Hutmachers« nannte.

Beim Notar von Louise Stahl fand Kommissar Lavalle heraus, dass es eine Verfügung von Ann gab, dass alles, was ihr von ihrer Mutter vererbt würde, einer gemeinnützigen Stiftung für elternlose Kinder vermacht werden solle, das Haus eingeschlossen.

Fünf Tage nach dem Mordfall fehlte noch immer ein Motiv.

In diesen fünf Tagen hatte Ann ihre Schlacht für Patricia Weber in Berlin gewonnen und die anschließenden Tage in München überstanden, wo die zahllosen Konferenzen nur ihre Anwesenheit forderten. Sie war als Kontrolleurin der Effektivität nicht willkommen, das wusste sie. Doch dieses Gefühl war ihr seit langem vertraut.

Ann erreichte an diesem Freitag ein Flugzeug früher als geplant. Da es noch hell war und sie am Fenster saß, konnte sie den Anflug auf Düsseldorf genießen. Sie sah den »langen Finger« und lächelte. Es war einer ihrer kindischen Momente, denn konnte sie beim Anflug den Rheinturm sehen, versprach das ein gutes Wochenende. Für Ann war es undenkbar, jemals in einer anderen Stadt als dieser zu wohnen. Sie wusste, dass Düsseldorf vielerorts als versnobt galt. Aber das stimmte nicht, die Düsseldorfer waren einfach ein fröhliches Volk, das sich gerne draußen aufhielt und nicht minder gerne Geld ausgab. Wann immer sie Freunde oder Kollegen aus anderen Städten zu Besuch hatte, hörte sie bald, dass man in Düsseldorf in einer Nacht mehr nette Leute kennenlernen konnte als in München in zwei Jahren. Zu Hause, im Durchgang zum Aufzug, traf sie Chris.

»Hallo, Ann, ich habe Montag noch den Kommissar getroffen. Harte Sache, oder?«

»Hattest du eine gute Woche, Chris?«

»Ja, war normal. Was machst du heute Abend?«

»Bei mir selbst zu Besuch sein«, lächelte sie freundlich und verschwand im Aufzug. Als Ann die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss, atmete sie tief ein und stellte fest, dass ihr guter Geist noch da war. Es roch nach Schmierseife, und die Terrassentür stand offen. Aldina hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, freitags für Ann einzukaufen.

»Schätzchen, im Kühlschrank sind Lammkoteletts und junge Kartoffeln. Der Salat ist schon gewaschen auf der Spüle, und die marokkanische Minze kannst du ernten. Sie ist gut.« Aldina packte ihre Tasche. »Ist was Besonderes, oder warum bist du heute so früh dran?«

Ann schüttelte den Kopf. Sie sahen sich vielleicht zwei oder drei Mal im Jahr, die Kommunikation vollzog sich sonst über Notizzettel. Ann hatte die aus Bosnien stammende Aldina, die sich völlig unbeeindruckt von Anns Titel, Lebensstil und der Entlohnung gezeigt hatte, vor acht Jahren eingestellt.

»Schönes Wochenende.«

Ann nickte und ließ ihre Taschen fallen. Sie streifte die Schuhe von den Füßen, stieg, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, in die zweite Etage, tauschte ihr maßgeschneidertes Kostüm gegen einen seidenen Wickelrock und eine leichte Bluse. Sie genoss die Luft an ihrer Haut und die Bewegungsfreiheit für ihre langen Beine. In der Küche nahm sie eine Flasche Bier und die Lammkoteletts aus dem Kühlschrank. Mit einem Blick sah sie, dass Aldina ihre Hoffnung auf Männerbesuch immer noch nicht aufgegeben hatte: acht Koteletts. Ann stellte den Backofen an, ging auf die Terrasse und schnitt die Minze aus dem Kübel neben der Tür. Die Stille des Hinterhofes tat ihr gut. Mit dem Bier in der einen, der Minze in der anderen Hand ließ sie sich auf einen der Stühle fallen und schloss müde die Augen.

Während sie den warmen Abend genoss, grübelte sie über ihre Mutter nach und stellte fest, dass sie trotz der zehn Jahre Abstand jetzt so etwas wie Erleichterung empfand. So, als sei die Luft leichter zu atmen, ein Schatten von ihr gewichen. Der Hunger trieb sie in die Küche, und vor sich hin summend goss sie Olivenöl in die Pfanne, streute ein wenig Rosmarin hinein, schichtete Kartoffelscheiben und gehackte Minze darüber und am Ende die Koteletts, die sie leicht mit Senf bestrichen hatte. Dann schob sie die Pfanne in den Ofen. Als sie die Salatsauce anrührte, klingelte es, doch sie ignorierte das und rührte konzentriert weiter. Als die Klingel ein zweites Mal ertönte, fluchte Ann auf Chris, den sie an der Tür vermutete, und war mit wenigen Schritten an der Gegensprechanlage.

»Bitte?«, zischte sie in den Hörer.

»Guten Abend, Frau Stahl, Henri Lavalle von der Kriminalpolizei. Ich weiß, ich bin etwas zu früh, aber …«

Unschlüssig stand sie einen Moment im Flur, schaute an sich herunter und entschied, sich nicht wieder ordentlich anzuziehen. Es war schließlich nicht wichtig, welchen Eindruck sie auf ihn machen würde. Sie betätigte den Türsummer und lehnte die Wohnungstür an.

Als Henri wenig später anklopfte, hörte er Ann Stahl von drinnen sagen: »Ich habe unsere Verabredung völlig vergessen. Entweder essen Sie mit, oder Sie müssen zuschauen, während Sie mich verhören.«

Henri Lavalle hatte den köstlichen Geruch von Lamm, Minze und Rosmarin in der Nase, sein Magen knurrte. Er ermahnte sich, die Einladung abzulehnen, denn zu Hause wartete seine Frau mit dem freitäglichen Fisch. Ann sah ihn mit einem Lächeln an, das unmissverständlich zum Ausdruck brachte: Du bist mir nicht willkommen, aber ich versuche, dich auf die angenehmste Weise zu nehmen.

In der Küche war der Geruch noch einnehmender, und obwohl er nein sagen wollte, nickte Henri. Ann stellte zwei Teller auf den Tisch, holte Besteck und gab ihm eine Flasche Wein zum Öffnen. In dem Moment klingelte im Flur Anns Smartphone.

»Mist, ich habe vergessen, es auszuschalten. Einen Moment, bitte.«

Lavalle öffnete die Weinflasche und ließ die Atmosphäre des Raumes auf sich wirken. Die Böden waren aus Stirnholz und hatten einen rötlichen Schimmer, verursacht durch die roten Vorhänge und die indirekte Beleuchtung. Er hörte, wie Ann Stahl ihren Gesprächspartner runterputzte.

»Wann kapierst du endlich, dass du in meinem Leben von Freitagabend um sechs bis Montagmorgen um sieben weder was verloren hast noch Ansprüche anmelden kannst? Und zum wiederholten Mal: Mach deinen Kram selbst. Es interessiert mich nicht, dass deine Frau ein Segelwochenende mit dir und den Kindern geplant hat. Und es geht dich nichts an, wie ich mein Wochenende verbringe. Pack deinen Laptop ein, nimm etwas gegen Seekrankheit und beklage dich bei deiner Sara. Bis Montag.«

Das Gespräch endete für Henris Geschmack sehr rüde. Aber Ann kam freundlich und gutgelaunt zurück. »Sorry«, murmelte sie, stellte den Salat auf den Tisch und schnitt ein paar Scheiben Brot. Mit einem Blick wies sie Henri seinen Platz zu und holte die Pfanne aus dem Ofen.

»Also, wie kann ich Ihnen weiterhelfen? Welche Informationen hätten Sie gerne von mir?«

Henri war so auf das Lamm konzentriert, das er auf seinen Teller häufte, dass er die Frage überhörte. Er schob Ann die Pfanne zu, nahm sich Salat und schenkte beiden Wein ein. Den ersten Bissen im Mund, sah er in Anns lächelndes Gesicht und errötete.

»Das ist bestimmt das beste Essen in den letzten zwei Jahren. Ich danke Ihnen. Für die Einladung, meine ich.«

»Sagen Sie es ruhig.« Ann grinste ihn an.

»Was?«

»Das sinnlichste Essen. Oder etwa nicht?«

Sie nahm mit den Fingern ein Lammkotelett von ihrem Teller und biss genüsslich hinein.

Ann Stahl verwirrte Henri, und er spürte ein Kribbeln. Die Frau, die ihm jetzt gegenübersaß, war eine ganz andere als die, die er vom Montag in Erinnerung hatte. Er spürte, dass er gerne mit ihr schlafen würde, egal wie viele Männer dieses Vergnügen mit ihm teilten. Im Geiste schlug er sich auf die Finger.

»Essen ist der Sex des Alters, wussten Sie das?«, meinte Ann Stahl.

»Nein, aber wenn es so ist, soll es mir recht sein.«

»Sie sehen aus wie der klassische Franzose in der verfrühten Midlifecrisis. Ihr Haar sollte eigentlich kürzer sein, aber Sie wollen sich von der Jugend nicht ganz lossagen. Ihre Figur haben Sie immer noch streng im Auge, und zu Ihren Falten stehen Sie selbstverständlich.«

»Gewonnen. 41 ist allerdings ein wenig zu früh für eine verfrühte Midlifecrisis, oder? Ja, ich bin Franzose, aber durch und durch deutsch. Nicht einmal mit meinen Kindern spreche ich Französisch.«

Henri trank einen Schluck Wein, er fühlte sich wohl hier, zu wohl. Ann Stahl berührte etwas in ihm. Die kurzen schwarzen Haare sahen nicht mehr perfekt aus, sondern strähnig, die langen schlanken Glieder ihres Körpers wirkten schlaksig.

»Sie sollten sich dafür schämen.«

»Wofür?«, fragte Henri unsicher zurück.

»Dass Sie Ihren Kindern die Chance genommen haben, zweisprachig aufzuwachsen. Wie viele Kinder haben Sie?«

»Vier.«

Ann gab einen anerkennenden Laut von sich.

»Sie haben doch auch drei Geschwister.«

»Ah, der Herr hat seine Hausaufgaben gemacht.«

»Es ist mein Job. Ihre drei Brüder leben alle in Amerika. Nur zu Sven haben Sie noch hin und wieder Kontakt.«

»Er hat Kontakt zu mir und nicht ich zu ihm«, unterbrach Ann.

Henri redete unbeirrt weiter, er war jetzt in seinem Element.

»Sie sind 33 Jahre alt. In den letzten zehn Jahren haben Sie keinen Kontakt mehr zu Ihrer Mutter gehabt. Sie verdienen pro Jahr 180.000 bis 250.000 Euro. Sie haben Ihr Erbe ungesehen an eine Stiftung vermacht. Ihr Guthaben auf der Bank beträgt derzeit 30.000 Euro. Ihre Mutter wurde vor einer knappen Woche ermordet, und keiner weiß, warum. Und Sie haben ein Verhältnis mit Ihrem Nachbarn Chris Willner und mit Ihrem derzeitigen Arbeitskollegen Peter von Sonstwas.«

»Allbacher.«

»Wie bitte?«

»Peter von Allbacher. Mein adeliges Verhältnis.«

»Habe ich sonst noch etwas vergessen?«

»Sie sollten mich heiraten, so gut, wie Sie über mich Bescheid wissen. Das ist mehr, als Peter oder Chris wissen. Es gibt allerdings noch einen Stefan in München.«

Sie sagte das so leicht und unverbindlich, als spräche sie von alten Schulfreunden, mit denen sie gelegentlich essen ging.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen zu meiner Mutter mehr sagen, aber ich kann es nicht. Wie Sie richtig bemerkt haben, besteht – Entschuldigung, bestand – seit zehn Jahren kein Kontakt mehr.«

»Sicher, aber davor hatten Sie über 20 Jahre Kontakt. Was war Ihre Mutter für ein Typ, was für ein Charakter? Ich muss das wissen, um mich in sie hineinzudenken und um zu spüren, warum jemand sie umbringen musste.«

»Wieso sagen Sie, ›musste‹?«

»Es gibt immer eine Zwangsläufigkeit, die zum Mord führt. Niemand mordet aus freien Stücken. Ein Sexualdelikt scheidet aus, dennoch war irgendjemand der Meinung, das tun zu müssen. Sei es aus Wut, aus Rache, aus Angst oder um sich selbst zu schützen. Und ich muss herausfinden, warum. Meine Erfahrung hat mich gelehrt: Freunde und Bekannte vermitteln die Außensicht einer Person. Nur Familienangehörige haben in der Regel die Innensicht.«

»In unserem Fall ist das falsch. Wir haben uns nicht gemocht. Ich habe nur eine schwache Erinnerung an diese Frau. Von meinem sechsten Lebensjahr an war ich zunächst auf einer Ganztagsschule und ab dem fünften Schuljahr im Internat. Wenn es möglich war, habe ich auch die Ferien bei Schulfreundinnen verbracht. Ich habe mir immer gewünscht, meine Mutter sei tot, so dass ich nie zurückmüsse. An den Tagen, die ich zu Hause war, zu Weihnachten oder zu Ostern, war das Haus stets voll, und sie war eine großartige Schauspielerin. Immer gut gekleidet, immer die perfekte Unterhalterin. Wenn es sich vermeiden ließ, redeten wir nicht miteinander. Hier und da hat sie mir mal Hässlichkeiten unterstellt: Ich hätte gelogen, geklaut, ihre Kleider zerschnitten, Salz in den Pudding geschüttet und so weiter. Das klingt jetzt dramatischer, als es war. Wir konnten uns einfach nicht leiden. Ich halte es für ein Märchen, dass Mütter stets ihre Kinder lieben und umgekehrt. Ich fand sie klein, fett, hässlich und verlogen. Sven dagegen war sie, soweit ich weiß, eine hervorragende Mutter. Peter und Klaus, na ja, die beiden waren sehr rebellisch, und deshalb gab es mit ihnen auch schon mal Stress. Sven war der Mustersohn.«

»Wieso war sie für Ihre Brüder eine andere Mutter?«

»Ich weiß es nicht, und es interessiert mich schon lange nicht mehr.«

»Aber was hat zu dem endgültigen Bruch geführt?«

Ann zuckte mit den Schultern. »Es gab kein spezielles Ereignis. Es hörte einfach auf. Ich kann Ihnen nicht einmal das Jahr sagen, geschweige denn einen besonderen Tag. Tut mir leid. Woran ich mich erinnere, ist, dass sie eine schlaue Frau ist – Entschuldigung, war – und sehr viel Charme und wenig Bildung hatte. Sie war sehr beliebt.«

Henri stand auf, stellte das Geschirr in die Spüle und ließ heißes Wasser darüber laufen, während Ann die Espressokanne füllte und spöttelte: »Ihre Frau hat Sie aber gut erzogen, alle Achtung. Mit Anfang 20 ging ich an die Uni in Frankfurt. Sven war damals auch dort, schon fast fertig. Na ja, und seit ich in Frankfurt lebte, hatte ich keinen Kontakt mehr. Sven hat das all die Jahre kommentarlos hingenommen. Er kam nie auf die Idee, mich zu überzeugen, zum Beispiel zu Weihnachten mit nach Hause zu fahren. So hat diese Frau für mich einfach aufgehört zu existieren. Auf Svens Hochzeit vor einigen Jahren hat sie einen peinlichen Auftritt inszeniert, denn sie erklärte vor allen Leuten, dass ich das Haus erben werde. Gleich in der Woche darauf habe ich beim Notar das veranlasst, was Sie offenbar schon gelesen haben. Ich mochte sie einfach nicht. Jede Berührung, ob körperlich, sprachlich oder testamentarisch, war mir zuwider.«

Ann erzählte das alles mit einem ungerührten Lächeln. Henri Lavalle konnte sich ihre Gelassenheit nicht erklären. Hier war kein echter Anhaltspunkt für ihn, nur ein dumpfes Gefühl, dass das Wesentliche verborgen blieb und sich möglicherweise hinter Anns Worten versteckte. Aber das konnte auch einfach seine Ratlosigkeit sein, das wusste er genau. Ann schüttete sich Wein nach, stellte Lavalle den Kaffee auf den Tisch und wartete auf weitere Fragen.

»Hätten Sie Zucker für mich?«

»Tut mir leid. Nie. Alle meine Freunde ärgert das. Aber ich bekomme so wahnsinnige Kopfschmerzen von raffiniertem Zucker, dass ich jedes Mal sterben möchte. Eines der wenigen Dinge, die ich von meiner Mutter habe.« Sie lachte kurz auf.

»Hatte Ihre Mutter noch andere Lebensgefährten, außer dem jetzigen?«

»Das fragen Sie besser meine Brüder. Wenn sie zu meiner Zeit welche hatte, dann hat sie sie gut verborgen.«

»Können Sie sich vorstellen, dass jemand sie gehasst hat?«

»Was soll diese Frage? Es ist doch klar, dass ich darauf nur mit Ja antworten kann.«

»Sorry. So war das nicht gemeint. Mein Kollege hat die meisten Vernehmungen in diesem Fall geführt, und es scheint, als wäre Ihre Mutter allseits beliebt gewesen.«

Sie lachte trocken. »Allseits bewiesenermaßen nicht. Sie sollten stattdessen ›überwiegend‹ sagen und davon ausgehen, dass Ihnen noch eine Person in der Sammlung fehlt. Nämlich der Mörder.«

Henri rauchte eine Zigarette zum Espresso und musste sich dann zwingen aufzustehen.

»Leider Zeit zu gehen. Ich danke Ihnen nochmals für dieses köstliche Essen. Kann sein, dass ich Sie nächsten Freitag wieder behelligen muss, wäre das in Ordnung?«

»Eigentlich nicht. Die Stille eines Freitagabends ist das, wovon ich Anfang der Woche zehre und an den restlichen Tagen denke. Aber ich kann Sie wohl kaum samstags zum Frühstück einladen.« Sie lachte rauh.

Dann begleitete sie Henri zur Tür.

»Woher aus Frankreich stammen Sie?«

»Aus Paris. Und bevor Sie mich jetzt fragen, wie man von Paris aus in Düsseldorf landen kann: Es war die Liebe. Erst zu Heinrich Heine, dann zur Stadt, schließlich zu meiner Frau und meinen Kindern.«

»Denk ich an Deutschland in der Nacht …«, sagte Ann, und Henri Lavalle fiel ihr ins Wort: »… dann bin ich um den Schlaf gebracht, ich kann nicht mehr die Augen schließen, und meine heißen Tränen fließen.«

»Aha, ein gebildeter Kommissar.«

»Nur Heine. Was war das eigentlich mit der Leiche in Ihrer Wohnung?«

»Der Hausverwalter, angeblich an einem Herzanfall gestorben. Die Wohnung stand einen Monat leer, Handwerker gingen ein und aus, und es sah aus, als hätte er sich hier betrunken. Aber da sitzen Sie sicher an der besseren Quelle.«

»Noch etwas. Es ist möglich, dass wir mit einem Durchsuchungsbeschluss wiederkommen, das lässt sich wahrscheinlich nicht vermeiden.«

»Warten Sie«, Ann verschwand kurz hinter der Tür, »hier ist der Wohnungsschlüssel. Vielleicht muss das nicht unbedingt am Freitagabend sein. Während der Woche bin ich ja nicht hier.« Sie lächelte Henri an, der sich über so viel Vertrauen wunderte. Oder war es ein kluger Schachzug?

»Ich werde dabei sein. Aber nehmen Sie Ihre Tagebücher mit.«

»Das fotografische Auge?«

»Nein, Ihr Nachbar hat mich am Montag darauf aufmerksam gemacht.«

»Chris ist so leicht einzuschüchtern. Ich werde Ihnen vertrauen. Schließlich will ich kein Beweismaterial verschwinden lassen.«

Ann reichte ihm die Hand und hielt seine eine Sekunde zu lange fest.

»Auf Wiedersehen, Herr Kommissar. Einen schönen Abend noch, und wenn es sich nicht vermeiden lässt, bis nächsten Freitag also.«

Henri warf den Schlüssel in sein Handschuhfach. Er war spät dran, das würde ihm wieder einen dieser vorwurfsvollen Blicke von Lisa einbringen. Sonst nichts, nur dieser anklagende Blick. Er bekam schlechte Laune, stieg wieder aus, ging über die Straße, an den modernen Bürohäusern vorbei und weiter über die Fußgängerbrücke. Rechts lag der Landtag, dahinter folgte die Rheinuferpromenade, auf der bei dem schönen Wetter heute viele Spaziergänger und Inlineskater unterwegs waren.

Er dachte an zu Hause. Seine Kinder würden vor dem Fernseher sitzen, Lisa mit einem Berg Bügelwäsche kämpfen und die Luft nach gekochtem Fisch riechen. Er würde sich ein Bier aus dem Kühlschrank nehmen, einen ermahnenden Blick auffangen und lustlos in dem warm gehaltenen Essen herumstochern. Lisa würde müde aussehen, sie sah müde aus, auch wenn sie ausgeschlafen war, was in den letzten Jahren selten vorkam. Henri schämte sich. Er hatte Lisa einmal sehr geliebt. Sie war eine anziehende, geistreiche Frau gewesen, bis der Wunsch nach vielen Kindern von ihr Besitz ergriffen hatte. Nach dem vierten Kind hatte Henri sich ohne ihr Wissen sterilisieren lassen. Aus dieser Krise waren sie nicht gestärkt, sondern mit neuen Regeln hervorgegangen. Sein Gefühl für Lisa war zu einer Mischung aus Mitleid, schlechtem Gewissen und der Hoffnung geworden, dass irgendwann die Liebe zurückkehren würde. An einem Abend wie heute begriff er die Lächerlichkeit dieser Hoffnung.

Henri ging zum Auto und beschloss, im Apollo-Varieté, falls sein Freund Walter im Haus wäre, noch ein Bier zu trinken und sich vielleicht die Schlussnummer der Vorstellung anzusehen, die er vergangenen Sonntag verpasst hatte: die Peres Brothers.

Walter kannte er schon, seit der Zirkus Roncalli vor vielen Jahren mit seinem Programm Commedia dell’Arte in Düsseldorf gastiert hatte. Aufgrund des Andrangs an der Kasse hatte sich Henri damals mit seiner Polizeimarke in der Schlange nach vorne gedrängelt, bis Walter, der große Mann mit dem Dalíbart und rechte Hand des Zirkusdirektors, ihn unsanft ausgebremst hatte.

»Wohin denn so eilig?«

Bevor es allerdings zu einem handfesten Streit kommen konnte, hatte seine damals dreijährige Tochter Laura ihre kleine Hand in die von Walter geschoben und so sein Herz gewonnen. Das hatte ihnen einen ausgiebigen Besuch bei den Tieren und Artisten beschert, einen Logenplatz, weil ein paar VIPs an diesem Abend nicht kommen konnten, und eine besondere Freundschaft. Seit das Apollo unter der Rheinkniebrücke eröffnet hatte, wusste Henri, der die Stimmung im Varieté sehr liebte, stets, wo Walter zu finden war, und ihre Freundschaft hatte sich im Laufe der Zeit vertieft.

Ein Türsteher führte ihn durch das dunkle Theater zu Walters Tisch. Sie nickten sich kurz zu, und die Bedienung stellte Henri ein kaltes Bier hin. Während er die akrobatischen Höchstleistungen der gerade auftretenden Peres Brothers genoss, spielte er mit den Informationen, die es bisher gab. Alex hatte unter Louise Stahls Bekannten nicht einen annähernd Verdächtigen ausgemacht. Als Mitglied des traditionellen Heimatvereins Düsseldorfer Jonges hatte sich Alex bei der wöchentlichen Zusammenkunft im Kolpinghaus umgehört, ob jemand Louise Stahl oder ihren Lebensgefährten kannte. Dabei hatte er herausgefunden, dass Johannes Freiherr von Rath zur Tischgemeinschaft der Jönkes gehörte. Da der Heimatverein über 40 Tischgemeinschaften verfügte, war es nicht ungewöhnlich, dass Alex, der selbst zur Tischgemeinschaft der Radschläger gehörte, nichts von der Mitgliedschaft von Raths wusste, der einen untadeligen Ruf genoss.

Und wenn es doch ein gut getarnter Selbstmord war? Mit so viel Valium und Alkohol im Blut war es überflüssig, sich noch die Pulsadern aufzuschneiden. Alex hatte auch erfahren, dass man munkelte, Louise Stahl habe ihren ersten Ehemann zwar gefunden, ließe sich aber wegen des für sie recht lukrativen Ehevertrages nicht scheiden. War das der dunkle Punkt in Louises Leben? Und warum fühlte er, dass von alldem eine Bedrohung für Ann Stahl ausging?

»Tauschen Sie die Schlösser aus«, hatte er ihr geraten.

»Das ist lächerlich, meine Adresse ist geheim, und ich habe keine Feinde.«

»Wir haben bis heute auch keine Feinde Ihrer Mutter gefunden.«