Darling Venom – Ihre Liebe ist sein Lieblingsgift - Parker S. Huntington - E-Book

Darling Venom – Ihre Liebe ist sein Lieblingsgift E-Book

Parker S. Huntington

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Beschreibung

Dieses Buch wird Herzen brechen und wieder zusammensetzen Vier Jahre sind vergangen, seit Charlotte ihre erste große Liebe Kellan tragisch verloren hat. Als sie eines Tages auf Kellans älteren Bruder Tate trifft, kann sie nichts gegen seine Anziehungskraft tun. Tate ist ganz anders als sein Bruder, kämpft jedoch noch immer mit dem täglich schmerzenden Verlust. Charlotte bringt Licht in sein Leben, durch sie fühlt er sich seinem verstorbenen Bruder wieder näher. Doch um keinen Preis darf er sich in die attraktive und intelligente Charlotte, die sein Herz berührt, verlieben. Niemals. Aber Liebe findet immer einen Weg … Eine emotionale Achterbahnfahrt für LeserInnen von Colleen Hoover!

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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Link

© Parker S. Huntington 2021

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Darling Venom« PSH Publishing 2021

© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Svenja Kopfmann

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Parker S. Huntington

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Triggerwarnung

Widmung

Zitate

Prolog

Charlotte, 13

TEIL 1

DER STURZ

Kapitel 1

Charlotte, 14

Kapitel 2

Kellan

Kapitel 3

Charlotte

Kapitel 4

Charlotte, 15

Kapitel 5

Kellan

Kapitel 6

Charlotte, 16

Kapitel 7

Kellan

Kapitel 8

Charlotte

Kapitel 9

Charlotte, 17

Kapitel 10

Kellan

Kapitel 11

Charlotte

Kapitel 12

Charlotte

Kapitel 13

Charlotte

Kapitel 14

Charlotte, 18

TEIL 2

DIE UNVOLLKOMMENHEITEN

Kapitel 15

Charlotte, 22

Kapitel 16

Tate

Kapitel 17

Tate

Kapitel 18

Tate

Kapitel 19

Charlotte

Kapitel 20

Charlotte

Kapitel 21

Charlotte

Kapitel 22

Charlotte

Kapitel 23

Tate

Kapitel 24

Tate

Kapitel 25

Charlotte

Kapitel 26

Tate

Kapitel 27

Charlotte

Kapitel 28

Tate

Kapitel 29

Charlotte

Kapitel 30

Tate

Kapitel 31

Charlotte

Kapitel 32

Charlotte

Kapitel 33

Charlotte

Kapitel 34

Charlotte

Kapitel 35

Tate

Kapitel 36

Charlotte

Kapitel 37

Tate

Kapitel 38

Charlotte

Kapitel 39

Tate

Kapitel 40

Charlotte

Kapitel 41

Charlotte

Kapitel 42

Charlotte

Kapitel 43

Charlotte

Kapitel 44

Charlotte

Kapitel 45

Kapitel 46

Charlotte

Kapitel 47

Tate

Kapitel 48

Tate

Kapitel 49

Charlotte

Kapitel 50

Tate

Kapitel 51

Charlotte

Kapitel 52

Tate

Kapitel 53

Tate

Kapitel 54

Tate

Kapitel 55

Tate

Kapitel 56

Tate

Kapitel 57

Charlotte

Kapitel 58

Charlotte

Kapitel 59

Charlotte

Kapitel 60

Tate

Kapitel 61

Tate

Kapitel 62

Charlotte

Kapitel 63

Tate

Kapitel 64

Charlotte

Kapitel 65

Charlotte

Kapitel 66

Charlotte

Kapitel 67

Charlotte

Kapitel 68

Charlotte

Kapitel 69

Charlotte

Kapitel 70

Tate

Kapitel 71

Charlotte

Kapitel 72

Charlotte

Kapitel 73

Charlotte

Kapitel 74

Charlotte

Kapitel 75

Tate

Kapitel 76

Tate

Kapitel 77

Tate

Kapitel 78

Tate

Kapitel 79

Charlotte

Kapitel 80

Charlotte

Kapitel 81

Tate

Kapitel 82

Tate

Kapitel 83

Tate

Kapitel 84

Kapitel 85

Tate

Kapitel 86

Tate

TEIL 3

DAS GEGENGIFT

Kapitel 87

Tate

Kapitel 88

Kapitel 89

Tate

Kapitel 90

Charlotte, 23

14. Februar

Epilog

Charlie

Tate

Ein Jahr später

Danksagung

Triggerwarnung

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Liebe Leser*innen,

 

»Darling Venom – Ihre Liebe ist sein Lieblingsgift« enthält Elemente, die triggern können. Deshalb findet ihr am Buchende eine Triggerwarnung[1].

 

Achtung:

Diese beinhaltet Spoiler für die gesamte Geschichte.

Wir wünschen euch allen das bestmögliche Leseerlebnis.

In Erinnerung an Khanh Võ.

Für Chlo, Bau, Rose und L.

Es ist egoistisch zu erwarten, dass jemand eine unerträgliche Existenz aushält, nur um seinen Angehörigen, Freunden und Feinden ein wenig Seelenerkundung zu ersparen.

– David Mitchell: Cloud Atlas

Sollten Narben tatsächlich Geschichten erzählen, dann habe ich keine. Keine Beulen, Schrammen oder Furchen. Keine Makel, um mich an die Schäden zu erinnern, die ich verursacht habe. Meine Haut lügt. Sie ist glatt. Makellos. Ein unbeschriebenes Blatt. Eines Tages werden meine Sünden mich einholen, und wenn ich sterbe, dann vernarbt.

Prolog

Charlotte, 13

»Bitte, geh heute Abend nicht aus. Bitteeeee.« Ich presste die Handflächen zusammen und schenkte Leah meinen schönsten Hundeblick. »Bitte, bitte, bitteeeeee.« Ich kroch über ihr Bett, über die bunte Patchworkdecke. Mein breites, leicht übertriebenes Lächeln verbarg den Kloß, der mir vor Panik die Kehle zuschnürte. Ich hatte das Gefühl, als würde die Welt untergehen, falls meine Schwester jetzt gehen würde.

Leah hatte gerade vor dem Spiegel eine Strähne ihres ebenholzschwarzen Haars mit einem Lockenstab eingedreht. Jetzt federte die Locke ihr über der Schulter wie eine Papierschlange. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, wischte einen einsamen Lippenstiftfleck weg und klebte förmlich an ihrem makellosen Spiegelbild. »Sorry, Süße, ich kann nicht. Es ist meine erste Collegeparty, und Phil ist superaufgeregt. Können wir das aufs nächste Wochenende schieben?«

Phil war Leahs Freund, und es gab drei Dinge, die Phil mochte: Erstens, Leah völlig in Beschlag zu nehmen. Zweitens, mich völlig ernst Plan B zu nennen. Und drittens, mich anzufunkeln, wann immer Leah nicht hinsah, bis ich das Gefühl hatte, dass er in mein Innerstes spähte.

Leah schnappte sich ihre Clutch und ging mit wiegenden Hüften zur Tür. Sie trug einen Minirock, der unserem Dad einen Herzinfarkt beschert und ihr von Mom Geschirrspüldienst bis in alle Ewigkeit eingehandelt hätte. Zu Leahs Glück schliefen beide bereits.

»Penny!«, platzte ich heraus, sprang auf die Füße und klang genauso verzweifelt, wie ich mich fühlte. Wieso hatte ich nicht eher daran gedacht? »Penny, Penny, Penny. Geh nicht.«

Penny war unser Codewort, eine todernste Sache. Penny übertrumpfte Jungs. Und Partys. Und den Verlust von Leahs Jungfräulichkeit an einen miesen Soziopathen. Ich wollte unbedingt verhindern, dass Leah heute Nacht ihre Jungfräulichkeit an Phil verlor. Ich hatte die beiden neulich am Telefon darüber reden hören und seither nicht mehr geschlafen.

Leah hielt nicht mal kurz inne. Mein Herz zerbrach in tausend Scherben. Welchen Sinn hatte ein Codewort, wenn es überhaupt nichts wert war?

»Tut mir leid, Lottie, nächstes Mal, Süße.«

Mir fiel auf, dass sie ihr Päckchen Mentholzigaretten auf ihrer Ankleidekommode vergessen hatte – unübersehbar für jeden, der ihr Zimmer betreten würde. Wut kochte in mir hoch. Scheiß drauf! Ich hoffe, Mom wird wach und sieht dich.

Leah blieb auf der Türschwelle stehen und sah sich noch mal nach mir um. »Ach, verdammt, okay.« Sie schob eine Hand in ihre Clutch, stöberte darin herum und drückte mir dann, um mich zu besänftigen, einen Penny in die Hand. »Hey, Lottie, einen Penny für deine Gedanken.«

Seufzend akzeptierte ich, dass sie gewonnen hatte, und drehte die Münze zwischen den Fingern. Hoffentlich wurde sie nicht schwanger. Ich hätte ihr am liebsten gesagt, dass sie aufpassen müsse, aber als ich das letzte Mal das Thema Phil angeschnitten hatte, hätte sie mich fast enthauptet. Sie wusste, dass ich ihn verabscheute. Es hieß ja immer, dass Liebe blind macht. Was viele aber vergaßen, war, dass Liebe zudem auch blöd machte.

»Hoffentlich verliebe ich mich nie. Wenn man verliebt ist, ist man einfach richtig dumm.«

Leah verdrehte die Augen, kam zurück ins Zimmer geschlendert und drückte mir einen Kuss auf den Kopf. »Ich hoffe, es passiert dir trotzdem. Wenn man sich verliebt, fühlt man sich unsterblich. Willst du das nicht auch?« Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern stürmte auf den Flur. Ihre Schritte wurden zu einem dumpfen Dröhnen, als sie die Treppe hinunterschoss, bevor Mom sie noch erwischte. Sie preschte durch die Haustür und Phil direkt in die Arme.

Ich streckte den Kopf aus dem Fenster ihres Zimmers, obwohl ich wusste, dass es wehtun würde, die beiden zu sehen, aber ich schaute trotzdem hin. Er lehnte an dem vor sich hinschnurrenden Hummer, als er sie umfing, grapschte dann nach ihrem Hintern, drängte ihr seine Zunge in den Hals, hob den Blick und starrte direkt zu mir herauf. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sie vor meinen Augen vernaschte. Ich schnappte nach Luft, schaltete die Lampe aus und schlüpfte unter Leahs bunte Patchworkdecke. Das Grauen, das ich den ganzen Abend schon verspürt hatte, schoss nun in mir hoch und aus jeder einzelnen Pore meiner Haut hinaus.

Wenn man sich verliebt, fühlt man sich unsterblich. Willst du das nicht auch?

Nein, dachte ich verbittert. Der Tod macht mir keine Angst.

TEIL 1

DER STURZ

Kapitel 1

Charlotte, 14

Ich werde ohne jegliche Narben sterben. Ohne Erfahrungen, ohne Kriegswunden, ohne irgendwelche Spuren, dass ich je gelebt hab. Ohne jemals Bungee-Jumping versucht oder eine Fremdsprache gelernt zu haben. Und ohne jemals geküsst worden zu sein.

Diese Vorstellung setzte sich in meinen Gedanken fest, während ich in der U-Bahn superschlecht gelaunt das Paar mir gegenüber beobachtete. Sie machten schon rum, seit ich in der Bronx in den Waggon gesprungen war, und sicherlich würden sie so weitermachen, bis ich in Manhattan ausstieg. Er griff ihr unter das Minikleid, packte ihren Oberschenkel und hinterließ scharlachrote Male auf ihrer Haut. Ich tat so, als würde ich lesen, und beobachtete die beiden über den Rand des Taschenbuchs, das ich in der Hand hielt. Unterwegs von Jack Kerouac. Ihre Küsse waren einfach nur eklig. Ein gieriges Schlabbern, durchmischt mit dem unerträglichen Quietschen des pinkfarbenen, herzförmigen Luftballons, den er über ihr Bein rieb.

Mein Blick wanderte zu den anderen Fahrgästen. Berufstätige, junge Leute. Ein paar Angestellte, die Blumen und Wein dabeihatten, Frauen, die ihr Make-up auffrischten. Ein Pärchen, das in der Ecke saß und aufeinander abgestimmte kirschrote I’m with Stupid-T-Shirts trug.

Einige waren klein, einige groß. Manche dick, manche dünn. Die einen alt, die anderen jung. Doch sie alle hatten eins gemeinsam – es war ihnen scheißegal, ob ich heute Nacht starb. Zwar hatte ich mir nicht »Ich bin suizidgefährdet« auf die Stirn tätowiert. Trotzdem … ich war ein Teenie, allein unterwegs, und ich sah echt scheiße aus mit meinem zerzausten Haar, das ich seit Wochen nicht mehr gekämmt hatte, dem gehetzten Ausdruck in den Augen und der Zahnlücke, von der Mom steif und fest behauptet hatte, dass sie absolut liebenswert wäre – einfach nur, weil sie keinen Bock gehabt hatte, viel Geld für eine Spange auszugeben.

Die Mascaraspuren unter meinen Augen verdankte ich meinem fünfstündigen Nervenzusammenbruch, bevor ich in diese Bahn gehetzt war. Ich trug geringelte Kniestrümpfe, einen kurzen, schwarzen Rock, Secondhand-Doc-Martens und eine Jeansjacke, auf die ich mit einem Edding Zitate aus meinen Lieblingsbüchern gekritzelt hatte.

»Her future needed her, so she turned her back on her past.«

»Perfection is profanity. Icy, hostile, and unattainable.«

»She believed she could, so she did.«

Absoluter Schwachsinn.

Ich stieg mehrmals um. Andere Bahnsteige. Andere Bahnhöfe. Der U-Bahn-Geruch haftete meinen Kleidern an – ein erdiger Hauch, die Aromen von billigem Fast Food und Schweiß. Heißer Wind schoss mir von dem Zug entgegen, als er näher kam, und wehte mir das Haar ins Gesicht.

Kurz kam mir der Gedanke, mich auf die Gleise zu werfen und das Ganze einfach hinter mich zu bringen. Nein, definitiv nicht, Charlotte. Das wäre höllisch banal. Erstens war das der schmerzhafteste Tod aller Zeiten. Zweitens verabscheute ich Menschen, die das taten. Vor allem während der Rushhour. Was war nur mit diesen Arschlöchern los, die darauf bestanden, sich auf die Gleise zu werfen, wenn alle anderen entweder auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule waren oder gerade von dort zurückkamen? Wann immer ich in einer vollen U-Bahn war, eingeklemmt zwischen menschlichen Sardinen, ihr Schweiß so greifbar, dass ich ihn auf der Zunge schmecken konnte, und durchgesagt wurde, wir würden feststecken wegen eines »Personenschadens«, hätte ich am liebsten die Stirn gegen die Scheibe geschlagen.

Und drittens hatte ich die Idee, mich von einem Dach in mein Verhängnis zu stürzen, aus einem Buch von Nick Hornby, und der literarische Touch gefiel mir.

Ja, zurück zum ursprünglichen Plan.

Ich stieg in die Bahn, steckte mir meine billigen AirPods in die Ohren und wischte mich durch mein Smartphone. Watermelon Sugar übertönte den Lärm von draußen. Ob Harry Styles je daran gedacht hatte, Selbstmord zu begehen? Bestimmt nicht. Ich rollte Unterwegs zusammen und stopfte es in die Gesäßtasche meines Rocks.

Ich hatte Leah erzählt, ich würde zu einer Party gehen, aber sie war von ihrer Doppelschicht in dem Weinlokal bei uns in der Nachbarschaft zu erledigt gewesen, um zu registrieren, dass vierzehnjährige Mädchen am Valentinstag um zehn Uhr abends nicht auf irgendwelche Partys gehen sollten. Außerdem hatte sie meinen Geburtstag heute vergessen. Oder vielleicht hatte sie so getan, als wäre er ihr entfallen, weil sie sauer war. Nicht, dass ich ihr einen Vorwurf gemacht hätte. Keine Ahnung, wie sie mir überhaupt in die Augen schauen konnte.

Keine Sorge, das würde sie gar nicht.

Das war nicht der einzige Grund, warum ich mich heute Nacht umbringen würde. Aber einer davon. So war es mit der Verzweiflung. Sie baute sich ganz langsam auf wie der Jenga-Turm. Immer höher und höher, immer wackliger. Ein einziger nicht genau gesetzter Stein, und man hatte verloren.

Meine Schwester hasste mich. Sie hasste mich jedes Mal, wenn sie in den Spiegel sah. Jedes Mal, wenn sie zu einem Job ging, den sie verabscheute. Sie hasste jeden meiner Atemzüge. Zufällig war sie aber auch die einzige Person auf dieser Welt, die mir noch geblieben war. Mein Tod würde eine Erleichterung sein. Sicher, zu Anfang würde sie schockiert sein. Verstört. Sogar traurig. Aber sobald diese Gefühle vergingen …

Mein Selbstmord entsprang einer engmaschigen Konstellation aus Tragödien, zusammengenäht von Pech, Umständen und Verzweiflung. Aber dass sie meinen Geburtstag in diesem Jahr einfach vergessen hatte? Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Was tatsächlich irgendwie witzig war, wenn man darüber nachdachte.

Ich ging die Treppe hinauf zum Cathedral Parkway. Eiskalter Wind schlug mir ins Gesicht und kühlte meine heißen Wangen. Der Soundtrack des Verkehrs in Manhattan, Autohupen und das Geschrei betrunkener rücksichtsloser Typen, drang an meine Ohren. Ich schritt vorbei an Firmengebäuden, schicken Apartmentblocks und historischen Denkmälern. Dad hatte immer gesagt, dass ich in der besten Stadt der Welt geboren worden bin. Irgendwie erschien es mir nur fair, dass ich auch hier starb.

Ich bog in eine Nebenstraße ein und erreichte meine Schule. Es war mein erstes Jahr an der St. Paul, einer Schule im besseren Teil der Stadt, in die man vom Kindergarten bis zum Highschool-Abschluss gehen konnte. Ich hatte ein volles Stipendium, etwas, das Rektorin Brooks mir mit Genuss unter die Nase gerieben hatte, bis es zu der einen Nacht gekommen war. Danach hatte sie wohl das Gefühl gehabt, dass es unmoralisch wäre, sich gegenüber einem Kind, das gerade seine Eltern verloren hatte, wie eine Bitch aufzuführen.

Das Stipendium hatte ich eigentlich nur bekommen, weil ich in der mittelmäßigen Grund- und Mittelschule eines anderen Stadtteils die beste Schülerin gewesen war. Irgendeine kulturliebende Dame aus der Upper East Side hatte beschlossen, meine Gebühren für die Privatschule zu zahlen, bis ich meinen Abschluss machte, im Rahmen irgendeiner Wohltätigkeitssache. Letztes Jahr hatte Mom mich gezwungen, ihr einen Dankesbrief zu schreiben. Sie hatte nie geantwortet.

Ich war noch gar nicht so lange auf der St. Paul, um die Schule wirklich so richtig zu hassen. Das war also nicht der Grund, warum ich beschlossen hatte, mich vom Schuldach zu stürzen. Aber es war praktisch unmöglich, die vergitterte Treppe an der Seite des sechsstöckigen, edwardischen Monstrums nicht zu bemerken, die zum Dach hinaufführte. Eine so bequeme Location für einen Selbstmord, dass es geradezu kriminell gewesen wäre, einen anderen Ort vorzuziehen.

Anscheinend wusste das Kollegium von St. Paul, dass es keine gute Idee war, übermäßig gestressten Schülern Zugang zum Dach zu gewähren, aber die Treppe hatte bleiben müssen. Irgendein Bullshit von wegen Gesundheit und Sicherheit. Das Gitter war mit einer Kette gesichert, aber man konnte leicht hinüberklettern. Was ich tat, bevor ich ohne Hast die Treppe hinaufstieg. Der Tod konnte schließlich ruhig noch ein paar Minuten warten. Ich hatte mir das Ganze schon so oft in Gedanken ausgemalt, und zwar so intensiv, dass ich es schon fast fühlen konnte: statische Stille, ausgehende Lichter, allgemeine Taubheit, totale Glückseligkeit.

Als ich oben ankam, die letzte Stufe erreichte, entschied ich mich spontan, die Innenseite meines Handgelenks über das rostige Geländer streichen zu lassen. Wie aufs Stichwort erschien Blut. Jetzt würde ich mit einer Narbe sterben.

Meine Hände waren klebrig, und ich war außer Atem, als ich das dunkle Scharlachrot auf meinem Rock verteilte. Ich blieb wie angewurzelt stehen, als meine Füße auf den tintenfarbenen Dachziegeln landeten. Das Dach war geneigt. Drei Schornsteine ragten in den Himmel, ihre Mündungen waren rußgeschwärzt. Vor mir erstreckte sich New York in seiner ganzen morbiden Pracht. Der Hudson. Die Parks. Kirchtürme und Hochhäuser steckten teilweise in den Wolken. Die Lichter der Stadt tanzten über den dunklen Horizont. Diese Stadt hatte Kriege und Seuchen erlebt, Brände und Schlachten. Mein Tod würde es wahrscheinlich nicht mal in die Nachrichten schaffen.

Dann bemerkte ich etwas. Etwas, das ich nicht erwartet hatte. Genau genommen nicht etwas, sondern jemanden. Und dieser Jemand saß eingemummt in einen schwarzen Hoodie und Jogginghosen mit dem Rücken zu mir am Rand des Daches und ließ die Füße hinunterbaumeln. Die Schultern hatte er mutlos nach vorn gezogen und spähte nach unten, bereit zu springen. Er beugte sich vor, Zentimeter für Zentimeter. Langsam. Entschlossen. Gelassen.

Die Entscheidung, ihn aufzuhalten, war wie ein Urinstinkt. So wie man zusammenzuckte, wenn jemand einem etwas ins Gesicht warf.

»Tu es nicht!«, brüllte ich.

Er erstarrte. Ich wagte es nicht, zu blinzeln, aus Angst, dass er fort sein könnte, wenn ich die Augen wieder öffnete.

Und zum ersten Mal seit der einen Nacht fühlte ich mich nicht wie ein totales Stück Scheiße.

Kapitel 2

Kellan

Ich wette, alle werden fragen: Warum? Warum hat er das getan? Warum hat er sich wie ein Spinner angezogen? Warum sollte er seinem Bruder so übel mitspielen?

Na ja, ich werde jetzt mal Licht in die verfickte Angelegenheit bringen. Ich hab es getan, weil Tate Marchetti ein Hurensohn war. Glaub mir, ich hab mit dem Kerl gelebt. Er hat mich von meinem Vater weggerissen und es dabei nicht mal für nötig gehalten, mich zu fragen, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Wenn ich zweimal sterben könnte, nur um es meinem großen Bruder unter seine selbstgefällige Nase zu reiben, würde ich das mit Freuden tun.

Egal, jetzt zu meinem Selbstmord: Es war keine überstürzte Entscheidung. Das Urteil darüber hat sich im Lauf der Jahre von selbst gebildet. Dann, letzte Woche, hab ich eine Pro-und-Contra-Liste gemacht (ein Klischee, ich weiß). Und mir ist nicht verborgen geblieben, dass ein Teil der Liste ziemlich kurz ausfiel.

Pro:

Tate wird einen Herzinfarkt bekommen.

Keine Schule mehr.

Keine Hausaufgaben mehr.

Keine irren Muskelprotze mehr, die mich vermöbeln, weil sie zu viel

Euphoria

gucken.

Keine Harvard-oder-Yale-Diskussionen mehr beim Abendessen (werde mit meinen Zensuren von keiner der beiden Unis angenommen werden, selbst wenn Dad ihnen drei Gebäudeflügel, ein medizinisches Forschungszentrum und eine Niere spendet).

Contra:

Werde Dad vermissen.

Werde meine Bücher vermissen.

Werde Charlotte Richards vermissen – Anmerkung: Ich kenne sie nicht mal. Was macht es also, dass sie hübsch ist?

WTF

?

Ich zog eine Dose Bud Light aus meinem Rucksack und trank sie in einem Zug leer. Das Bier war schaumig vom Weg hierher, und meine Fingerspitzen waren halb erfroren. Ich sollte es einfach hinter mich bringen. Doch bevor ich genau das tun konnte, erregte etwas meine Aufmerksamkeit: Das Tapp-Tapp-Tapp von Schritten, die die Treppe hinaufkamen.

Was zum …?

Tate wusste nicht, dass ich hier war, und selbst wenn er es durch irgendeine wundersame Fügung erfahren haben sollte … er steckte gerade mitten in seiner Nachtschicht im Morgan-Dunn-Hospital. Es konnte also nur jemand anders aus St. Kotz sein, der dieselbe versteckte Stahltreppe entdeckt hatte. Wahrscheinlich ein betrunkenes Pärchen, das sich für eine schnelle Nummer hier heraufschlich.

Ich beugte mich vor, um zu springen, bevor sie mich entdeckten, als ich es hörte: »Tu es nicht!«

Ich erstarrte und drehte mich nicht um. Die Stimme klang vertraut, aber ich gestattete mir nicht, zu hoffen, denn wenn sie es war, hatte ich definitiv Halluzinationen.

Dann folgte Stille.

Ich wollte springen. Ich war nicht so weit gekommen, um … nun ja, nur so weit zu kommen, sozusagen. Ich machte keinen Rückzieher, aber ich war neugierig, was sie als Nächstes tun würde, denn … tja, denn sie war gerade mitten in eine Shitshow hereinspaziert.

Die Person hinter mir ergriff erneut das Wort. »Von Crass gibt es keine Hoodies. Das ist eine alte Anarcho-Band. Da hattest du wohl einen Fadenriss, Alter.«

Was soll’en der Scheiß?

Ich riss den Kopf herum. Sie war es. Holy shit, Charlotte Richards, echt und unverkennbar. Mit ihrem dichten kastanienbraunen Pony, den großen grünen Augen und ihren Emo-Anime-Klamotten. Die im Grunde American-Porn-Standard waren, Rock, AC/DC-Shirt und Kniestrümpfe in Doc Martens. Sie gehörte weder zu den angesagten Kids, noch war sie eine Eigenbrötlerin. Aber sie hatte so was an sich. Ich kann es nicht beschreiben – aber ich hätte sie gern besser kennengelernt.

Während sie über die holprigen Dachpfannen auf mich zukam, schob sie sich die Fäuste in die Jacke. »Hast du den Hoodie selbst gemacht? Das ist echt peinlich.«

Ich tat so, als würde ich sie ignorieren, warf die leere Bierdose in das dunkle Maul des Schulhofs, grapschte mir eine frische aus meinem Rucksack und riss sie sofort auf. Dass sie meinen Schwachsinn durchschaute, ärgerte mich, obwohl ich auf sie stand. Wer in unserem Alter wusste schon, dass britische Anarcho-Punkbands aus den Siebzigern kein Merch verkauften? Aber für mich musste es natürlich genau das Mädchen sein, das tatsächlich Ahnung hatte.

»Kann ich auch eine haben?« Sie ließ sich neben mir auf dem Dach nieder, wobei sie sich mit einem Arm am Schornstein festhielt.

Blinzelnd sah ich sie an. Nichts an dieser Situation kam mir real vor. Dass sie hier war. Mit mir redete. Bei mir saß. Sie musste wissen, dass ich ein totaler Außenseiter war. In der Schule sprach niemand mit mir – außerhalb der Schule, nebenbei bemerkt, auch nicht. Und zwar buchstäblich – nicht nur im übertragenen Sinn.

Ich überlegte, wie viel sie wohl über meine Lebensumstände wusste. Aber eigentlich spielte das keine Rolle. Ich hatte ja weder ein Date mit ihr, noch würde ich morgen früh mit ihr zu tun haben. Das war das Schöne, wenn man sein Leben beendete – keine förmliche Kündigung nötig.

Zögerlich hielt ich ihr das Bud Light hin. Charlotte löste ihren Todesgriff um den Schornstein und nahm einen kleinen Schluck.

»Gott!« Sie streckte die Zunge heraus und gab mir naserümpfend die Dose zurück. »Schmeckt wie eingeschlafene Füße.«

Ich kippte den Rest runter und kam mir absurd überlegen vor. »Du solltest das Füßelecken lassen.«

»Und das Biertrinken, wie es aussieht.«

»Man gewöhnt sich dran. Niemand mag den Geschmack von Alkohol. Nur wie man sich dadurch fühlt.«

Sie zog eine Braue hoch. »Betrinkst du dich oft?«

Das einzige Licht hier oben stammte von einigen Nachbargebäuden. Und es hüllte sie ein – Charlotte Richards, meine Damen und Herren, in Nahaufnahme und lebensgroß. So schön, dass ich sie anlächeln würde, wenn ich noch zu irgendeiner Empfindung jenseits von Taubheit fähig wäre.

»Oft genug.«

Im Klartext: Viel häufiger, als ich es in meinem Alter verdammt noch mal sollte.

»Wissen deine Eltern davon?«

Ich bedachte sie mit einem Scheiß-drauf-Blick. Normalerweise war ich im Umgang mit anderen nicht so unbefangen – erst recht nicht, wenn diese anderen Brüste hatten. Aber das Bier lockerte mich auf. Und in Gedanken hatte ich schon viele Gespräche mit Charlotte geführt.

Ich zog eine Braue hoch. »Wissen deine Eltern, dass du dir heute Nacht die Kante gibst?«

»Meine Eltern sind tot.«

Es kam tonlos heraus. Ohne jeden Ausdruck. Als habe sie es so viele Male gesagt, dass es keine Bedeutung mehr hatte. Aber mich machte sie damit für einen Moment sprachlos. Ein einfaches Sorry kam mir irgendwie unpassend vor. Ich kannte niemanden in unserem Alter, dessen Eltern beide tot waren. Ein Elternteil tot – klar. Kommt vor. Meine Mom lag auch zwei Meter unter der Erde. Beide Elternteile – das war echte Oliver-Twist-Scheiße. Charlotte Richards stellte die Tragödie meines Lebens locker in den Schatten.

»Oh.« Echt jetzt, Kellan? Mehr gibt dein Wortschatz nicht her? Oh? »Wie?«, fügte ich hinzu. Nicht, dass das tatsächlich wortgewandter gewesen wäre.

Sie wippte mit einem Bein, und ihr Blick wurde unstet. »Feuer. Unser ganzes Haus ist abgebrannt.«

»Wann?«

Wann? Warum hab ich das gefragt? Ich klinge wie ein Versicherungsinspektor.

»Kurz vor Weihnachten.«

Stimmt, mir war aufgefallen, dass sie vor und nach Weihnachten nicht in der Schule war. Bestimmt hatten die anderen darüber geredet, aber da ich kaum beliebter war als ein benutzter Tampon auf der Mädchentoilette, lief ich nicht Gefahr, dass andere mich in ihren Klatsch einweihten. Tatsächlich war ich so unsichtbar, dass ich sogar versehentlich angerempelt wurde.

»Tut mir leid«, murmelte ich und kam mir dabei ziemlich armselig vor. Dieses Gefühl weckte Groll in mir, der sich gegen Charlotte richtete. Ich wollte mich heute Abend nicht armselig fühlen. »Ich weiß echt nicht, was ich sonst sagen soll.«

»›Tut mir leid‹ ist in Ordnung. Was mich sauer macht, ist, wenn Leute davon hören und sagen, ich hätte Glück gehabt, dass ich überlebt hab. Yay, ich Glückspilz, verwaist mit dreizehn. Lasst den Champagnerkorken knallen.«

Ich machte einen Laut, der wie ein Ploppen klang, trank danach aus einer imaginären Flasche, hielt mir dann den Hals und tat so, als würde ich an dem Champagner ersticken.

Sie schenkte mir ein müdes Lächeln. »Ich hätte zu meinem Onkel in den Norden ziehen können, aber St. Paul ist eine zu gute Chance, um sie sich entgehen zu lassen.« Sie nahm mir die Bierdose aus der Hand, und unsere Finger berührten sich. Sie trank noch einen Schluck und gab mir die Dose zurück. »Und du? Warum bist du hier?«

»Warum bist du hier?«

Sie zwinkerte mir zu. »Ladys first.«

Charlotte Richards machte Witze. Verdammt, sie war auch bei genauerem Hinsehen cool.

»Ich musste nachdenken.«

»Hashtag Lüge.« Sie stieß ein freudloses Schnauben aus. »Ich hab gesehen, wie du dich über den Rand gebeugt hast. Du bist aus dem gleichen Grund hier wie ich.«

»Und der wäre?«

»Dem allen ein Ende zu machen«, erklärte sie dramatisch und schlug sich mit der Hand auf die Stirn.

Dabei verlor sie das Gleichgewicht und taumelte nach vorn. Ich ließ einen Arm vorschnellen, um zu verhindern, dass sie fiel. Mit einem spitzen Schrei klammerte sie sich an ihn, ganz anders als jemand, der die Absicht hatte, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Und jetzt hielt ich irgendwie, aus Versehen eine ihrer Brüste umfasst.

ICHWIEDERHOLE: ICHHIELTJETZTIRGENDWIE, AUSVERSEHENEINEVONCHARLOTTERICHARDS’ BRÜSTENUMFASST.

Ich wollte den Arm hektisch zurückziehen, aber sie schnappte sich meine Hand, und ihre Finger krallten sich in meine Haut. Das Ganze war total seltsam, und es bestand eine neunundneunzigprozentige Chance, dass ich gerade einen leichten Ständer kriegte. Scheiße, warum war ich nicht schon vor einigen Minuten gesprungen, als mein Stolz noch ungebrochen war?

Ich spürte ihren Herzschlag unter meiner Hand. Sie ließ mich los, und ich zog meinen Arm zurück, wandte mich von ihr ab und schaute wieder zum Hudson. Mein Kiefer war so starr, dass es wehtat.

»Du willst sterben, klar«, murmelte ich. Sie hatte sich eben fast in die Hose gemacht. »Schon cool. Nichts für ungut. Statistisch gesehen ist es jetzt weniger wahrscheinlich, dass du dich jemals umbringen wirst.«

Das war mein Fachgebiet. Zum Thema Selbstmord hatte ich mir ein geradezu lachhaft fundiertes Wissen angeeignet. Meine Hausaufgaben gemacht, sozusagen. Witzig, wenn man bedachte, dass ich meine echten Hausaufgaben nie machte. So wusste ich zum Beispiel, dass Menschen sich vorzugsweise im Alter zwischen fünfundvierzig und vierundfünfzig das Leben nahmen. Ich wusste, dass die gewöhnlichste Methode der Gebrauch einer Schusswaffe war (fünfzig Prozent) und Männer damit mehr Erfolg hatten als Frauen.

Aber das Wichtigste war, dass ich jetzt wusste, dass die schöne, kluge Charlotte sich nicht wirklich umbringen wollte. Sie hatte es nicht lange geplant, es war eine Entscheidung aus dem Moment heraus.

Ich dachte über mein Dahinscheiden nach und schaute dann wieder auf. Ich war zum Sterben hierhergekommen, weil ich wollte, dass alle aus der Schule es sahen. Damit sie Narben davontrugen, so wie sie mir Narben zugefügt hatten, damit eine hässliche Kerbe in ihnen zurückblieb, die nicht mit Make-up verdeckt werden konnte.

Verrückt, aber das galt ausgerechnet nicht für Charlotte. Sie war jetzt nicht unbedingt nett zu mir gewesen, aber sie hatte gelächelt, wenn wir aneinander vorbeigegangen waren, und einmal hatte sie mir einen fallen gelassenen Stift aufgehoben. Ihre Freundlichkeit war grausam. Sie schenkte mir falsche Hoffnung, und das war gefährlich.

Sie starrte über den Rand des Daches und schob sich die Hände unter die Schenkel. »Es ist mir ernst damit. Ich weiß bloß … ich weiß nicht … ich will, glaube ich, zu meinen eigenen Bedingungen sterben. Ich kann das Leben ohne meine Eltern nicht ertragen. Dann ist da noch meine Schwester. Leah. Sie arbeitet Vollzeit in einem Weinlokal, damit wir ein Dach überm Kopf haben, und sie ist vom College abgegangen, um mich großzuziehen. Sie hat nicht mal daran gedacht, dass heute mein Geburtstag ist.«

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, murmelte ich.

»Danke.« Sie beugte sich auf den schrägen Dachziegeln vor, als wolle sie die Lage peilen. Dann lehnte sie sich wieder zurück. »Ich wünschte, ich hätte Krebs. Oder müsste mit etwas anderem Großen kämpfen. Demenz, Schlaganfall, Organversagen. Wer einen solchen Kampf verliert, gilt als mutig. Aber die Sache, mit der ich kämpfe, ist mein Geist. Und wenn ich verliere, wird es mir als Schwäche angerechnet.«

»Bloß gut, dass es keine Rolle spielt, was alle anderen denken, wenn wir erst mal tot sind.«

»Wann hast du herausgefunden, dass du …« Sie deutete ruckartig mit dem Daumen auf ihren Hals, dann ließ sie den Kopf zur Seite fallen, als wäre sie tot.

»Nachdem mir klar geworden ist, dass ich die Augen lieber geschlossen als geöffnet hab.«

»Was meinst du damit?«

»Wenn ich schlafe, träume ich. Wenn ich aufwache, beginnt der Albtraum.«

»Was für ein Albtraum?«

Als ich nicht sofort antwortete, verdrehte sie die Augen und holte etwas aus ihrer Tasche. Sie schnippte es in meine Richtung. Ich fing es auf. Es war ein Penny.

»Ein Penny für deine Gedanken.«

»Fünfzig Mäuse wären lukrativer.«

»Im Leben geht es nicht um Geld.«

»Das sieht das Finanzamt nicht so. Willkommen in Amerika, Baby.«

Sie lachte. »Ich bin pleite.«

»Hab ich auch schon gehört«, bestätigte ich. Ich wollte einfach, dass sie mich genauso hasste wie den Rest der Schule, damit sie aufhörte, mich so anzusehen, als könnte man mir helfen.

»Ist doch egal. Wechsle nicht das Thema. Warum willst du springen?«

Ich beschloss, auf den gesellschaftlichen Aspekt meiner Motivation und meiner Ortswahl nicht einzugehen – die Beschimpfungen, die Einsamkeit, die Schlägereien – und mich auf das zu konzentrieren, was mich an diesem Abend bewogen hatte, Schluss zu machen. »Du wirfst deinen Status als Vollwaise in die Waagschale. Ich gehe mit und erhöhe um ein zerstörerisches Familienleben mit dem Bruch eines Vermächtnisses als Zugabe. Mein Dad ist der Schriftsteller Terrence Marchetti. Du weißt schon, Die Unvollkommenheiten.«

Davon musste sie doch gehört haben. Das Buch war letzten Monat erschienen und wurde inzwischen schon in dritter Auflage vertrieben. Stell dir vor, Angst und Schrecken in Las Vegas und Trainspotting träfen sich in einer sehr dunklen Gasse. Die New York Times hatte Die Unvollkommenheiten schon das größte Buch des Jahrzehnts genannt, bevor es überhaupt erschienen war. Drei verschiedene Adaptationen davon waren in Vorbereitung – ein Kinofilm, eine TV-Fassung und ein Bühnenstück. Es war oder wurde in zweiundfünfzig Sprachen übersetzt. Es hielt den Rekord für das am schnellsten verkaufte Taschenbuch in den USA. Und überall hieß es, es würde dieses Jahr den National Book Award gewinnen.

Ich sprach weiter und versuchte, meine Stimme monoton zu halten: »Meine Mom war das Model Christie Bowman. Du erinnerst dich vielleicht daran, dass sie an einer Überdosis gestorben ist, mit dem Gesicht in dem zerbrochenen Spiegel, von dem sie zu Hause Kokain geschnupft hat.« Ich erwähnte nicht, dass ich sie so tot aufgefunden hatte. Ich sagte auch nichts von all dem Blut. Ich erwähnte es einfach nicht. Jetzt war es an Charlotte, mich anzusehen, als wäre ich vom Himmel gefallen. Ich kämpfte mich weiter. »Ich hab einen älteren Halbbruder. Tate. Aus einer Affäre von Dad in den Achtzigern. Er hat mich unter irgendeinem beschissenen Vorwand von meinem Vater weggerissen, und Dad ist zu schwach, um sich das Sorgerecht zu erkämpfen.«

»Echt?« Ihre Augen waren sehr groß und sehr grün, und ich wollte in sie hineinspringen und rennen, als wären sie ein Feld mitten auf dem Land.

Ich schaute hinab, nickte, stützte mich ab und zog mich ein Stück das Dach hinauf. »Bei dir hat deine Schwester wenigstens die Verantwortung für dich übernommen, weil du keine Eltern mehr hast.« Wir waren hier nicht zu einer Opferolympiade angetreten, aber in gewissem Sinn doch, denn wenn einer von uns das Recht hatte, heute Nacht zu sterben, musste ich es sein. »Ich hab noch einen Vater, aber mein Bruder hält mich von ihm fern. Vermutlich, weil Dad nicht für Tate da war, als er aufgewachsen ist. Er hat es in sich reingefressen, und jetzt bestraft er ihn über mich.«

»Klingt nach einer fiesen Ratte.«

Ich setzte mich wieder hin, wischte mir den Schmutz des Daches vom Hoodie und nickte, denn mir war klar, dass ich wahrscheinlich zu überempfindlich wirkte, aber niemand, außer meinem Dad, hatte jemals etwas Negatives über ihn gesagt, und hier saß Charlotte Richards, und sie hatte meinen Bruder gerade als eine fiese Ratte bezeichnet.

»Tate ist ein Dämon. Ich hätte bei Dad leben können, ich hätte einen Privatlehrer haben und an Lesereisen rund um die Welt teilnehmen können. Ich will Schriftsteller werden wie er. Aber nein, ich muss diesen Albtraum von einer Schule besuchen und danach in ein leeres, ödes Haus zurückkehren, weil Tate achtzig Stunden die Woche arbeitet.«

»Du hast gesagt, du willst Schriftsteller werden.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Nicht wollte. Präsens.«

»Na und?«

»Ich wette, dein Dad wird total am Boden zerstört sein, wenn er mitbekommt, dass du dir das Leben genommen hast.«

»Versuch nicht, es mir auszureden«, warnte ich sie.

»Warum nicht?«

»Weil ich es tun werde.«

Eine Pause trat ein, dann sagte sie: »Ich wette, wenn du mitten in der Luft bist, wirst du es bereuen.«

Ich ruckte mit dem Kopf in ihre Richtung. »Was?«

Charlotte Richards, mein Schwarm aus der achten Klasse, sagte mir, ich solle mich nicht umbringen. Darüber wollte ich gar nicht so genau nachdenken.

»Wenn du nicht mehr auf diesem Dach bist, wirst du schnallen, was für einen saublöden Fehler du gemacht hast. Abgesehen davon glaube ich nicht, dass wir die Sache ganz durchdacht haben. So hoch ist das Dach gar nicht. Du brichst dir vielleicht nur die Wirbelsäule und sitzt den Rest deines Lebens im Rollstuhl und sabberst dir auf die Brust. Du hast zu viel zu verlieren.«

»Bist du high?«

Aber auf eine erschreckende und überraschende Weise reizte mich die Versuchung, es zu lassen. Mehr als irgendwas sonst wollte ich nicht, dass sie mir dabei zusah. Keine Ahnung. Was, wenn ich mir in die Hose machte? Was, wenn mein Kopf zerbarst? Ich wollte ihr nicht so im Gedächtnis bleiben.

Total. Es wird deine Chancen, mit ihr auszugehen, todsicher ruinieren.

»Du hast eine Familie, die dich liebt. Einen reichen, berühmten Vater und ein Ziel, das du verfolgen kannst. Unsere Umstände sind unterschiedlich. Du hast so viel, wofür es sich zu leben lohnt.«

»Aber Tate …«

»Er kann dich nicht ewig von deinem Dad fernhalten.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin übrigens Charlotte.« Sie hielt mir die Hand hin. Doch ich schüttelte sie nicht. Ihre Anwesenheit war einfach zu besonders, und sie verwirrte mich. Dann sagte sie etwas, das mich noch mehr überrumpelte. »Ich glaube, wir sind im gleichen Jahrgang.«

»Ich bin dir aufgefallen?«

Und der Preis für den jämmerlichsten Mistkerl geht an … mich.

»Ja, ich hab dich beim Mittagessen mit deinem Kindle gesehen, du hast gelesen, als gäbe es kein Morgen.« Sie nahm ein Taschenbuch aus der Gesäßtasche ihres Rocks. Ich konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, was es war, aber sie schlug mir damit auf den Oberschenkel. »Ich glaube, dieses Buch wird dir gefallen. Es geht um Traurigkeit, Wahnsinn und Unzufriedenheit. Es geht um uns.«

Kapitel 3

Charlotte

Ich kannte seinen Namen. Kellan Marchetti. Er war der Sohn von Amerikas frischgebackenem Literaturstar. Ich hatte Kellan gleich nach meiner Ankunft in St. Paul gegoogelt. Es hieß, dass Kellan unbeliebt war. Durch und durch, und das absichtlich. Es war merkwürdig, denn aufgrund seines Aussehens – groß, schlaksig, süß, athletisch – und seines Nachnamens hätte er ein gutes soziales Standing haben sollen. Aber er entschied sich dafür, ein Einzelgänger zu sein. In der Schule kleidete er sich wie ein Gothic. Schwarz mit ein bisschen Leopardenmuster, Sicherheitsnadeln überall, Eyeliner und lackierte Nägel. Einmal war er mit Netzhandschuhen in St. Paul aufgetaucht, ging mit gebeugtem Rücken wie Atlas, der die Last der Welt auf den Schultern trug. Beim Mittagessen sammelte er Zigarettenstummel ein und tat so, als rauchte er sie, und Sandy Hornbill hatte ihn mal dabei erwischt, wie er in Biologie einen Frosch abgeleckt hatte. Okay, das Letzte war ein Gerücht.

Die Sache war die – Kellan war kein Freak. Er wollte einer sein.

Keine Ahnung, was mich so mitnahm an der Tatsache, dass er springen wollte. Ich wollte es doch ebenfalls tun, oder? Aber irgendwie schien es mir in Kellans Fall eine Verschwendung zu sein. Er hatte zotteliges, zu lange nicht geschnittenes, kastanienbraunes Haar und Augen von der Farbe eines Gewitters. Je länger ich ihn ansah, umso klarer wurde mir, dass er süß genug war, um in einer Boyband mitzumachen.

»Spring nicht«, wiederholte ich und schloss seine Finger um mein Buch. Sie waren eiskalt, und ich überlegte, wie lange er schon hier oben saß und sich dem Tod näherte.

»Irgendwie scheinheilig von dir, das zu sagen, wenn man es recht bedenkt.«

»Meine Situation ist eine andere.«

»Ja, stimmt. Du hast Hoffnung.«

»Ich hab keine Eltern, kein Geld, keine Zukunftsaussichten. Hoffnung taucht in meinem Wortschatz nicht wirklich auf.«

»Aber du hast eine Schwester, die ihr Leben für dich opfert«, konterte er. Ich prallte zurück, denn seine Bemerkung traf klarer ins Schwarze, als er wissen konnte. »Und jetzt willst du sie allein lassen. Wirklich nett, Lottie.«

Bei dem Spitznamen zuckte ich zusammen und warf ihm einen entnervten Blick zu. Obwohl er wirklich schroffe Dinge von sich gab, sagte er sie auf eine nette Weise. Als wäre ich ihm wirklich wichtig.

»Wir sind in derselben Situation«, bemerkte ich. »Mit unseren Geschwistern. Wenn ich nicht springe, solltest du es auch nicht tun. Unsere Geschwister lieben uns.« Als ich das sagte, wurde mir klar, dass es die Wahrheit war. Leah liebte mich. Auch wenn sie mich jetzt hasste, sorgte sie immer noch für mich. Weil sie mich liebte, hatte sie dieses Opfer gebracht. Deshalb war sie vom College abgegangen. Diese Erkenntnis legte sich warm um mein Herz.

Kellan schüttelte den Kopf. »Mein Bruder nicht.«

»Tu’s mir zuliebe. Ich sag nicht, dass du dich nicht umbringen sollst. Ich sag nur, schlaf heute Nacht drüber. Du hast noch nicht mal Unterwegs gelesen. Tolle Art zu sterben.«

Er trank noch einen Schluck Bier. »Nein.«

»Rollstuhl«, rief ich ihm ins Gedächtnis.

»Dieser scheiß Bau ist sechs Stockwerke hoch.«

»Leute springen aus dieser Höhe von Jachten und gleiten wie ein Messer durchs Wasser. Du könntest dir einfach nur alle Knochen brechen. Wenn das passiert, wirst du den Rest deines Lebens darunter leiden.«

Er starrte mich an. »Du bist gnadenlos.«

»Ich weiß«, antwortete ich wohlgelaunt.

Er lächelte. Lächelte tatsächlich. Es war kein breites Lächeln oder auch nur ein glückliches, aber es war ein Anfang. »Na schön, lass uns sehen, was es mit dem ganzen Theater auf sich hat.« Er griff nach dem Buch und betrachtete blinzelnd den Einband.

Am liebsten hätte ich gelacht, tat es aber nicht. Es kam mir zu einfach vor, doch vielleicht hatte das, was wir hier taten, einen tieferen Sinn. Es war tröstlich, zu hören, dass noch jemand irgendwelche Scheiße durchmachte. Selbst der Teufel brauchte einen Freund.

»Woher weiß ich, dass du deine Seite des Abkommens einhalten wirst? Du könntest springen, sobald ich von hier verschwinde.«

»Könnte ich«, pflichtete Kellan mir bei. »Werde ich aber nicht. Ich hab dir mein Wort gegeben. Ich bin depressiv, kein verlogener Mistkerl.«

»Wie geht’s jetzt weiter?«

Er zuckte die Achseln. »Es war deine Idee, zu kneifen.« Seine Augen glitzerten, und einen flüchtigen Moment lang dachte ich, dass er vielleicht glücklich war.

Ich schnippte mit den Fingern. »Lass uns einen Pakt schließen. So was hab ich mal in einem Buch gelesen.«

»A Long Way Down.« Kellan nickte und verdrehte mit einem Lächeln die Augen.

Nick Hornby war der Typ, der zeitgenössische Literatur in Großbritannien wieder wichtig gemacht und dafür gesorgt hatte, dass Fußball in der Mittelschicht wieder als cool galt. Es hätte mich nicht überraschen sollen, dass Kellan meine Anspielung verstand. Er kam aus einem Haus, in dem Menschen tatsächlich lasen. Bücher. Punkrock. Es war, als teilten Kellan und ich eine Geheimsprache. Als kreisten wir im selben Orbit, vollkommen synchron miteinander, während alle anderen nicht die Bahn halten konnten.

Kellans Brauen zuckten vor Überraschung nach oben, vielleicht, weil er begriff, was ein Pakt bedeutete. »Du willst in Kontakt bleiben?«

Meine Wangen brannten. »Ja.« Ich dachte an all den Mist, den ich mir dafür würde anhören müssen, dass ich mich mit Kellan Marchetti angefreundet hatte, aber irgendwie war es mir egal.

Kellan war es anscheinend nicht egal, denn der hoffnungsvolle Ausdruck auf seinem Gesicht wich einem Ausdruck der Qual. »Tut mir leid, ich schließe keine Freundschaften.« Er stupste mit seiner Schulter gegen meine, und sein Tonfall war beinahe freundlich. »Besser für uns beide. Nimm es nicht persönlich.«

»Es kümmert mich nicht, was die Leute reden.«

»Das liegt daran, dass du sie noch nicht irgendwelchen gehässigen Scheiß hast reden hören. Wir sollten lieber dafür sorgen, dass es auch so bleibt. An sich hab ich nichts gegen Freundschaft.« Er schüttelte den Kopf. »Ich sage nur … na ja, unsere wäre ein Arrangement. Eine Freu-End-schaft.«

»An jedem Valentinstag.« Ich grinste. »Immer an meinem Geburtstag treffen wir uns.«

»Auf diesem Dach.« Er schaute in den Himmel hinauf, in die Unendlichkeit des Universums.

Schulter an Schulter hielten wir Ausschau nach einer Supernova, die am Himmel aufscheinen und verglühen würde. Ich hatte mich seit Moms und Dads Tod noch nicht so lebendig gefühlt wie jetzt gerade, jetzt, nachdem ich mich dafür entschieden hatte, mich ihnen nicht anzuschließen.

»Selber Tag, selbes Dach, selbe Zeit.« Ich sah auf die Uhr auf meinem Handy. Es war kurz vor Mitternacht. Ich war um elf hier eingetroffen.

Wir sitzen schon eine ganze Stunde hier?

»Und wenn einer von uns beschließt, es zu tun …« Seine Stimme verlor sich.

»Dann geben wir dem anderen eine Vorwarnung«, beendete ich seinen Satz.

Kellan nickte zustimmend. »Ich weiß, wie das läuft.«

»Oh, und vergiss nicht, mir mein Buch zurückzugeben. Es ist aus der Bibliothek. Ich will keine Mahngebühr zahlen.«

»Aye, Sir, Charlotte Richard, Sir.« Er salutierte. »Bevor wir gehen, will ich, dass du mir etwas versprichst. Ich meine, es wirklich versprichst.«

Ich starrte ihn an und wartete darauf, dass er weitersprach. Ich war schlau genug, nicht zuzustimmen, bevor ich das Kleingedruckte gelesen hatte.

»Erstens, sprich nicht vor anderen mit mir. Ich meine, nie. Vertrau mir, es ist das Beste für dich. Zweitens, dieser Pakt gilt vom ersten Jahr bis zum Abschlussjahr. Sobald wir achtzehn sind, brauchen wir für den anderen nicht mehr den Babysitter zu spielen.« Er ließ ein unsichtbares Mikrofon fallen zum Zeichen, dass er fertig war.

Ich wusste, dass er das für mich tat, um meines Rufes willen, um meiner Chancen willen, diese Schule zu überleben. Es weckte in mir den Wunsch, zu weinen. Ich wollte darum kämpfen, seine Freundin zu sein – seine richtige Freundin –, aber ich wollte ihn auch nicht allzu sehr bedrängen.

»Einverstanden.«

Kellan erhob sich. Er hielt mir die Hand hin, und ich ergriff sie, ließ mich von ihm hochziehen. Mir war schwindelig, und ich fühlte mich desorientiert. Er zog mich höher hinauf, weg von der Dachkante, dann stopfte er Unterwegs in seinen Rucksack und warf ihn sich über die Schulter.

»Du blutest.« Er deutete mit dem Kinn auf mein Handgelenk. Ich schaute hinab und war nicht überrascht. »Dafür solltest du dir wahrscheinlich eine Tetanusimpfung geben lassen.«

»Ich hab Angst vor Spritzen.« Mir war klar, wie blödsinnig das klang.

Ihm war es ebenfalls klar, denn er füllte die kühle Nacht mit heiserem Gelächter. »Du wirst daran sterben.«

»Wirklich witzig.«

»Bis zum nächsten Mal, Charlotte Richards.« Er machte eine kurze Verbeugung, als wäre ich eine Königin, und schlenderte dann davon, sodass ich allein zurückblieb und mein Blut auf meinen Oberschenkel tropfte.

Hatte ich ihm gerade das Leben gerettet?

Oder hatte er meins gerettet?

Kapitel 4

Charlotte, 15

Ich kam vollkommen ausgehungert auf dem Dach an. Leah war mir tagelang ausgewichen. Sie ging direkt von der Arbeit zu ihren Abendkursen, um Kosmetikerin zu werden, und schlief zwischendurch in der U-Bahn. Ich hatte auf dem Weg hierher ein paar Snacks besorgen wollen, aber mein ganzes Taschengeld diese Woche für Bücher ausgegeben. Besser Futter für die Seele als für den Leib.

Fünf Minuten nach elf, und ich fragte mich, was mich auf die Idee brachte, dass er auftauchen würde. Unserem Pakt gemäß hatten wir das ganze Jahr über nicht miteinander gesprochen. Ich hatte ihn außer in den Sommerferien jeden Tag in St. Paul gesehen. Er hatte sich ein Lippenpiercing machen lassen. Hatte sein Haar platinblond gefärbt. Und er war in so ziemlich jede Flurrauferei verwickelt gewesen. Kellan trug jetzt Kilts und zerrissene Feinstrumpfhosen für Damen in der Schule. Ich hatte von Cressida und Kylie gehört, dass er kurze Thriller für Online-Fanzines schrieb und E und Oxy einwarf. Ich tat so, als kümmere mich das nicht.

Aber es kümmerte mich sehr wohl.

Blöderweise hatte ich meine eigenen Probleme an der Schule, um die ich mir Sorgen machen musste. Namentlich, dass ich von Charlotte Richards zu Lots of Dicks (Lottie Dicks) geworden war, und das über Nacht, nachdem ich in Sexualkunde angemerkt hatte, wie unfair es war, von Frauen zu erwarten, weniger Sexualpartner zu haben als Männer. Alle hatten gelacht. Alle außer Kellan. Er hatte in der letzten Reihe gesessen und so getan, als wäre er nicht da. Hatte mit blutunterlaufenen Augen konzentriert auf sein Handy gesehen. Er wurde erschreckend gut darin, nicht dort zu sein, wo er physisch anwesend war.

Meine Selbstmordgedanken waren seltener geworden. Oder vielleicht waren sie einfach beherrschbarer geworden. Es gab Momente, in denen das Leben mich überwältigte und es mir schwerfiel, zu atmen. Wenn die Schuld zu groß wurde. Wenn meine Mitschüler, meine Schwester, das Leben zu viel wurden. Manchmal lag ich im Bett, lauschte auf mein Herz, das gegen meinen Brustkorb schlug, und sandte ihm den stummen Befehl, stehen zu bleiben. Es kam mir so einfach vor. Ich konnte meinen Gliedmaßen befehlen, sich zu bewegen, meinen Lidern zu blinzeln. Ich konnte sogar den Atem anhalten. Trotzdem war mein Herz standhaft. Dieses trotzige kleine Biest. Es war eine Lektion, an die ich mich langsam gewöhnte: Ich hatte keine Kontrolle über mein Herz. Es tat, was es tat, ohne dem Rest meines Körpers Beachtung zu schenken. Das war vermutlich der Grund für die ganze Faszination, die von diesem Organ ausging. Es war unser Verderben, unsere Erlösung, ein Freund und ein Feind.

Bei Nacht starrte ich an die Wand und dachte an Mom und Dad und daran, was sie tun oder sagen würden, um es besser zu machen. Ich dachte an Leah. An schwüle Sommertage und daran, einander in Springbrunnen mit Wasser zu bespritzen. Rad schlagen im Garten und zusammen Eis essen. Irgendwie war ich froh, dass ich geblieben war, um mich jeden Tag für das zu hassen, was meinen Eltern zugestoßen war. Was Leah zugestoßen war.

Es war jetzt zehn nach. Kellan war noch nicht hier. Ich setzte mich an die Dachkante und ließ die Beine runterbaumeln. Ich hatte einen solchen Hunger, dass ich mich ganz benommen fühlte.

Die einzigen Zeichen, die ich während des Jahres bekommen hatte und die darauf hinwiesen, dass unser gemeinsamer Abend auf dem Dach keine Halluzination gewesen war, waren unsere geheimen Methoden des Austauschs. Drei Wochen nach dem Valentinstag hatte ich Unterwegs auf meinem Pult gefunden. Ich hatte es aufgeschlagen und einen Zettel darin bemerkt, außerdem ein paar Dollarscheine, um die Mahngebühr der Bibliothek zu bezahlen, und einen USB-Stick.

Ich hab das Gefühl, dass deine Seele und meine aus dem gleichen Zeug gemacht sind. Schwarzem Matsch. Du gibst mir Hoffnung, aber das ist das Letzte, was ich haben sollte. Sag mir, was du denkst.

Als ich nach Hause kam, steckte ich den USB-Stick in meinen altersschwachen Laptop. Kellan hatte ein Word-Dokument darauf gespeichert. Zehn Seiten lang. Eine Kurzgeschichte über einen Jungen, der sich in seine zahme Spinne verliebte. Ich weinte, als seine Mutter die Spinne tötete, und überlegte, was die Geschichte bedeutete. Einige Tage später hinterließ ich ein anderes Buch auf Kellans Pult. Don Quijote. Vorn drin steckten sein USB-Stick und eine Notiz.

Je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, dass ich nicht sterben will, bevor ich mich verliebt habe. Bevor ich meine Jungfräulichkeit verloren habe. Bevor ich mich mit Leah versöhnt hab. Übrigens, ich hab geweint, als die Spinne getötet wurde. Mehr, bitte. – C.

Wir spielten Pingpong mithilfe kleiner Notizen und Bücher und Kurzgeschichten. Kellan sagte, er habe bereits Sex gehabt und sich verliebt, habe bereits Frieden geschlossen mit der Tatsache, dass er sich mit seinem Bruder nicht würde versöhnen können. Also gab es nichts mehr auf seiner To-do-Liste.

Kellan war ein Freund, ohne einer zu sein. Eine dunkle, heimliche Höhle, in die ich mich hineinschlich, wenn ich mir die Mühe machte, meine Nase aus meinen Schulbüchern zu nehmen. Vermutlich wusste niemand in meiner Klasse, was meine Zensuren für mich bedeuteten. Warum ich weinend zusammenbrach, wenn ich eine Eins minus bekam. Warum ich Lehrern in Fluren auflauerte und überall fünfzehn Minuten zu früh auftauchte. Ich war als Intelligenzbestie verschrien, aber nur weil ich es mir nicht leisten konnte, irgendwas anderes zu sein.

Ich stand auf und wollte gerade nach unten gehen, als ich es hörte. Tapp, tapp, tapp.

Ich werde dich dafür umbringen, dass du zu spät kommst. Der Gedanke entlockte mir ein Kichern.

Er tauchte am Dachrand auf, trug einen Kilt über schwarzen Skinny-Jeans, einen ausgebeulten Hoodie und eine Jeansjacke mit Aufnähern von Punkbands darüber. Wortlos stellte Kellan seinen Rucksack beiseite, zog den Reißverschluss auf und warf mir etwas zu. »Happy Birthday, Dicks.«

Ich packte das runde Ding aus. Ein Blaubeer-Muffin, eingepackt in einer Papiertüte einer Kaffeekette. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, mein Magen knurrte, und ich widerstand dem sehr ernsthaften Drang, ihn zu umarmen. Vielleicht, weil ich mich im Hungerdelirium befand. Vielleicht, weil Leah meinen Geburtstag »vergessen« hatte. Mal wieder.

»Danke.« Ich spielte die Sache herunter, ließ mich aufs Dach plumpsen und machte mich über den Muffin her.

Kellan setzte sich mir gegenüber. Ihn hier zu sehen, so ohne Kontext, rief mir ins Gedächtnis, dass er ein Typ war. Und zwar ein süßer. Trotzdem waren wir irgendwie jämmerlich. Als wir diesen Pakt geschlossen hatten, waren wir beide davon ausgegangen, dass wir in den uns noch bevorstehenden Highschool-Jahren am Valentinstag nichts zu tun haben würden. Keine Dates. Keine Partys. Niemanden in unserem Leben. Und wir hatten recht gehabt.

Jämmerlich.

Er sah mir beim Essen zu, riss eine Dose Bud Light auf und gluckerte das Bier runter. »Was macht der schwarze Matsch?«

Subtext: Willst du immer noch springen?

Ich schüttelte mit vollem Mund den Kopf. Kellan beobachtete mich erheitert und förderte einen weiteren Muffin aus seinem Rucksack zutage. Er warf ihn mir zu, als wäre ich ein wildes Tier, das er durch Gitterstäbe hindurch füttern musste. Ich hatte zu großen Hunger, um mich darüber aufzuregen. Tatsächlich kam ich mir selbst kaum menschlich vor, als ich mich auf den zweiten Muffin stürzte.

»Denkst du gar nicht darüber nach? Nicht mal ein ganz klein wenig?« Er wollte es wohl nicht so ernsthaft klingen lassen, aber ich hörte seine Enttäuschung heraus.

»Ich bin weit davon entfernt, glücklich zu sein, und es gibt immer noch Augenblicke, in denen ich mich umbringen will. Aber ich denke, es ist so weit okay.«

»Und deine Schwester?«

»Hasst mich immer noch. Mom hat früher immer zu uns gesagt: ›Ihr dürft nicht selber schrumpfen, um anderen wachsen zu helfen.‹ Wenn ich mit Leah zusammen bin, hab ich das Gefühl, als ob ich nur halb so groß bin wie sonst, aber sie sieht auch nicht größer aus. Ich hasse es, zu Hause zu sein, daher bin ich oft in der Bibliothek.«

»Was liest du denn gerade?«

Was über ein Mädchen, deren Mutter sich umgebracht hat. Und Die Glasglocke.

»Selbstmordbücher.«

»Ja. Diese Plastikfolien, mit denen CDs eingeschweißt sind, du weißt schon … Es ist, als hätte Selbstmord den gleichen schimmernden Glanz. Sobald ich die Folie heruntergerissen und mir die Musik angehört hab, wird sie dem Hype nicht gerecht.«

»Das Problem bei Büchern über Selbstmord ist, dass sie von Leuten geschrieben wurden, die leben.«

Ich hob kurz das Kinn und warf ihm einen Penny zu, den ich mir herausgesucht hatte, bevor er hier heraufgekommen war. »Ein Penny für deine Gedanken?«

»Ich denke immer noch darüber nach, Selbstmord zu begehen.«

»Und dein Bruder?«

»Ich glaube nicht, dass er sich umbringen will, obwohl ich stark hoffe, dass er seine Meinung ändert.«

Ich verdrehte die Augen. »Kellan.«

»Das letzte Jahr war voll Scheiße. Dad hat eine Weile in der Reha verbracht. Ich glaube, er vermisst mich höllisch. Er ist so einsam, Dicks. Wir haben ihn in dem Monat, den er dort verbracht hat, nur zweimal besucht. Dann hat Tate sich eine Freundin zugelegt. Sie wohnt jetzt praktisch bei uns. Kocht jeden Tag rein pflanzliches Kaninchenfutter, kauft mir im Biomarkt gehäkelte Pyjamas und hat mir für meine edle Lederjacke eine aus veganem Leder untergeschoben. Sie hat sogar versucht, meine Zeit mit meinem Dad zu begrenzen, nachdem er entlassen worden ist.«

»Voll übergriffig.« Ich ziehe die Nase kraus. »Hast du sie auf ihren Platz verwiesen?«

Er strich mit den Fingern durch sein seit Kurzem platinblondes Haar. »Ich lasse die beiden durch die Hölle gehen. Ich rede kaum noch mit Tate. Er streitet sich ständig mit Dad. Ich hab gehört, wie er Hannah, seiner Freundin, erzählt hat, dass er daran denkt, wegzuziehen. Er hat ein Jobangebot in Seattle. Sosehr ich diese Schule auch hasse, hätte ich keinen Grund zum Leben, wenn ich aus New York wegziehen würde. Außer Dad hab ich nichts.«

»Er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um dich von deinem Vater fernzuhalten«, flüsterte ich. Ich hasste seinen Bruder, ohne ihm je begegnet zu sein. »Was für ein Arsch!«

Wir blieben noch eine Stunde auf dem Dach und erzählten einander von unserem Leben. Ich berichtete ihm von meinem Physikprojekt, von den Büchern, die ich ausgeliehen hatte, und ausgewählten Tratsch über meine Freunde. Er erzählte mir, dass er begonnen hatte, für einige Fanzines zu schreiben, und ich tat so, als wäre das etwas Neues für mich. Außerdem hatte er angefangen, an einem richtigen Roman zu arbeiten, wollte aber nicht mit der Sprache rausrücken, als ich ihn nach Einzelheiten ausfragte.

Diesmal gingen wir die Treppe zusammen runter.

Unten angekommen, stöhnte er auf. »Ja, ja, ich weiß, wie es läuft. Derselbe Tag, dieselbe Uhrzeit, dasselbe Dach.«

»Versuch, in diesem Jahr nicht zu sterben.« Ich schlug ihm auf den Arm. Nerd mit einem großen N.

»Ich verspreche nichts.« Ich schnitt ein trauriges Gesicht, und er verdrehte die Augen. »Ich warne dich vor, falls ich mich dafür entscheide.«

Ich reckte den Daumen hoch, während ich weiter rückwärts in Richtung U-Bahn-Station ging. Ich geriet zwischen zwei Wolken aus mit Helium gefüllten, roten, herzförmigen Valentinstagluftballons, die an Wagen von Straßenverkäufern gebunden waren. Es fühlte sich an, als wäre ich aus einem Traum heraus zurück in eine Realität getreten, mit der ich nichts zu tun haben wollte und sie nichts mit mir.

Das Einzige, was mich daran hinderte, abzustürzen, war Kellans schwaches Lächeln. Widerstrebend, aber vorhanden.

»Dann haben wir ein Date.«

Kapitel 5

Kellan

Charlotte Richards ging mir nicht aus dem Sinn. Daran bestand kein Zweifel. Vielleicht, weil sie hübsch war. Vielleicht, weil sie Anteil nahm. Vielleicht, weil sie nicht einfach irgendein schönes Mädchen war, das man betrachten konnte. Sie las großartige Bücher und schrieb witzige Briefchen und fand ermutigende Worte, und sie lobte die Kurzgeschichten, von denen sonst niemand wusste, dass ich sie schrieb. Ich wusste nur, dass ich angefangen hatte, dieses kleine Arrangement als das Schlimmste zu betrachten, das ich mir hätte antun können. Das Einzige, das mich in diesem Jahr aufrecht hielt, war das Wissen, dass ich die Gelegenheit bekommen würde, Zeit mit Charlotte zu verbringen.

Und als es so weit war, erzählte ich ihr nicht mal all die wichtigen Dinge, die passiert waren. Wie zum Beispiel, dass Marc MacGowan mich mit dem Kopf in die Toilette gesteckt hatte, nachdem ich ihm in einer Schlägerei fast die Nase gebrochen hätte, und dass all die anderen verschwitzten Mistkerle im Umkleideraum zugesehen und ihn angefeuert hatten. Oder wie die Tatsache, dass ich angefangen hatte, feuchte Träume zu haben, in denen sie die Hauptrolle spielte. Und dass ich nichts anderes mehr fühlte als Verwirrung.

Nein, ich schwelgte in Charlotte-Träumen, weil sie etwas Seltenes und Süßes war, weil sie Sonnenschein war. Dann kehrte ich zurück in meine Existenz.

Zu zornig, um zuzuhören. Zu abgestumpft, um mich um irgendwas zu scheren.

Kapitel 6

Charlotte, 16

Ich kam zehn Minuten zu früh.

Kellan und ich hatten unsere Tradition, was die Bücher und Kurzgeschichten betraf, das Jahr über aufrechterhalten, aber in letzter Zeit hatte er desinteressiert gewirkt. Noch desinteressierter als sonst. Die Ringe unter seinen Augen waren unübersehbar, und eine dunkle Spannung knisterte um ihn herum, sodass man einen tödlichen Stromschlag riskierte, wenn man ihm zu nah kam.

Trotzdem versuchte ich immer wieder, ihn zu erreichen, unterbewusst oder nicht. Hätte beinahe mit ihm geredet. Ihn fast berührt. Ihn um ein Haar umarmt. Aber am Ende trat ich immer einen Schritt zurück, ich war so ein Feigling. Kellan hatte klargemacht, dass ich nicht in seine Nähe kommen sollte – durfte. Ich wollte diese Regel nicht brechen. Ich hatte Angst davor, ihn zu verlieren. Nicht nur als Freund, sondern ganz und gar.

Bei zahlreichen Anlässen kam mir der Gedanke, dass ich wahrscheinlich jemandem, der besser qualifiziert war als ich, etwas von der Situation erzählen sollte. Einmal hatte ich sogar vor dem Büro des Schulpsychologen gewartet. Aber dann war mir jedes Mal wieder eingefallen, wie ich dazu gezwungen worden war, über die eine Nacht mit Erwachsenen zu reden, und dass jedes Gespräch alles nur noch schlimmer gemacht hatte.

In diesem Jahr kam hinzu, dass ich angefangen hatte, mit ein paar Jungs aus der Schule rumzuhängen. Wir hatten zusammen Pizza gegessen oder waren die High Line hinaufgegangen oder hatten Pröbchen bei Sabon in SoHo geschnorrt. Ich hatte sogar einem von ihnen erlaubt, mich zu küssen.

Marc MacGowan.