Das Abenteuer meiner Jugend - Gerhart Hauptmann - E-Book

Das Abenteuer meiner Jugend E-Book

Gerhart Hauptmann

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Beschreibung

Gerhart Johann Robert Hauptmann war ein deutscher Dramatiker und Schriftsteller. Er gilt als der bedeutendste deutsche Vertreter des Naturalismus, hat aber auch andere Stilrichtungen in sein Schaffen integriert. 1912 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Hauptmanns Frühwerk erhielt unterschiedliche Kritiken. Konservative Kreise und auch die Regierung waren von seinen gesellschaftskritischen Dramen nicht begeistert, was sich durch Zensur bemerkbar machte. Weil er ein glühender Sozialist war, wurden seine Stücke zu Zeiten Kaiser Wilhelms II. aus den kaiserlichen Theatern verbannt. Hauptmann galt zu Lebzeiten im Ausland als der repräsentative Dichter Deutschlands. Der ungarische Philosoph und Literaturkritiker Georg Lukacs nannte Hauptmann später den "Repräsentationsdichter des bürgerlichen Deutschlands". In "Das Abenteuer meiner Jugend" schildert Hauptmann die erste Hälfte seines Lebens. Null Papier Verlag

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Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend

Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: Propyläen Verlag, 1965 2. Auflage, ISBN 978-3-962818-74-6

null-papier.de/angebote

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vierund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Fün­fund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Achtund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Vierund­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­fund­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Achtund­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Fünf­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­fünf­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­fünf­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­fünf­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

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Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

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Neun­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vierund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Fün­fund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Achtund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

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Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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»Wen du nicht ver­läs­sest, Ge­ni­us!«

Erstes Buch

Erstes Kapitel

An­fang und Ende des Le­bens, heißt es, sind dem Le­ben­den selbst in Dun­kel gehüllt. Nie­mand kann sein geis­ti­ges Da­sein vom Tage sei­ner Ge­burt da­tie­ren. So bin ich erst am Be­ginn mei­nes zwei­ten Le­bens­jah­res zum Be­wusst­sein er­weckt wor­den und be­wah­re da­von bis heu­te die Erin­ne­rung.

Ich konn­te we­der sit­zen noch lie­gen, weil mein Rücken und mein Ge­säß, wie man mir spä­ter er­klärt hat, zer­prü­gelt und zer­schun­den war. Mein ei­ge­ner Ge­dan­ke und deut­li­cher Licht­blitz aber war: Was soll aus mir wer­den, wenn ich beim Sit­zen und Lie­gen maß­lo­se Schmer­zen habe?

Es ist mei­ne Amme ge­we­sen, die mich so miss­han­delt hat. An die Prü­gel­pro­ze­dur selbst habe ich je­doch kei­ne Erin­ne­rung.

Schmerz also hat mei­nen Geist er­weckt, Lei­den mich zum Be­wusst­sein ge­bracht.

*

Ich saß auf dem Arm der Kin­der­frau und schrie, durch ir­gen­det­was aufs schwers­te be­lei­digt. Die Bra­ve trug mich durch einen dunklen Kor­ri­dor, der auf den Hof uns­res An­we­sens führ­te. Dort brüll­te mich eine Stim­me an, die mich stumm mach­te. Das war mei­ne ers­te Be­geg­nung mit dem preu­ßi­schen Un­ter­of­fi­zier und die zwei­te Pha­se mei­nes Be­wusst­wer­dens.

Der gan­ze Hof lag voll Mi­li­tär.

Ei­nes Ta­ges saß ich, von mei­nem Kin­der­mäd­chen ge­hal­ten, auf dem Fens­ter­brett ei­nes of­fe­nen Fens­ters und guck­te auf den Vor­platz hin­ab. Dort wur­den beim To­ben der Re­gi­ments­mu­sik Re­mon­te­pfer­de zu­ge­rit­ten. Sie stie­gen ker­zen­gra­de in die Luft, sie bock­ten und keil­ten hin­ten aus, be­son­ders die wü­tend ge­führ­ten Schlä­ge der Pau­ker mach­ten sie un­sin­nig.

Es war, wie ich spä­ter er­fah­ren habe, kurz vor der Schlacht bei Kö­nig­grätz.

*

Berüh­run­gen zwi­schen den Sin­nen und Ob­jek­ten, heißt es, ver­an­las­sen die Be­we­gung im Geis­te des Neu­ge­bo­re­nen, die ihn nach al­len Din­gen grei­fen lässt. Dies ge­schieht etwa bis zum drit­ten Le­bens­jahr.

Mit dem vier­ten Jahr ist es in mir be­reits über­ra­schend hell ge­wor­den.

Ei­nes Ta­ges er­schie­nen frem­de Sol­da­ten, Ös­ter­rei­cher, auf der Dorf­stra­ße. Es wa­ren Ge­fan­ge­ne und Ver­wun­de­te, hat­te ich auf­ge­fasst. Der eine trug ein wei­ßes, blu­ti­ges Tuch um den Hals. Ich nahm an, ihm sei der Kopf vom Rump­fe ge­schnit­ten und wer­de dar­an durch das Tuch fest­ge­hal­ten. Ein Ge­fan­ge­ner hieß Boa­ba. Er war Tsche­che und sprach nicht Deutsch.

Um jene Zeit hat­ten sich be­reits die Ge­stal­ten zwei­er Kna­ben, mei­ner Brü­der, in mei­ne See­le ein­ge­prägt. Die ver­wun­de­ten Fein­de in den La­za­ret­ten emp­fin­gen von ih­nen alle mög­li­chen Wohl­ta­ten. Ge­org, der äl­te­re, schrieb von früh bis abends Brie­fe für sie. Von ihm und dem jün­ge­ren Bru­der Carl wur­de täg­lich die Spei­se­kam­mer der Mut­ter aus­ge­plün­dert und der Raub den kran­ken Sol­da­ten zu­ge­steckt.

Ich teil­te mit Bru­der Carl ein Schlaf­zim­mer. Er war, was in die­sem Al­ter viel be­deu­tet, vier und ein hal­b­es Jahr äl­ter als ich. Er hat­te da­mals schon, ohne es zu ah­nen, in mir sei­nen stil­len Beo­b­ach­ter. Ich wun­der­te mich, ich freu­te mich, ich mach­te mich lus­tig über ihn. Heu­te ein selt­sa­mer Um­stand für mich, ein sol­ches Ver­hal­ten in frü­he­s­ter Ju­gend.

Carl war ein großer En­thu­si­ast. Ich war ge­neigt, das für Schwä­che zu hal­ten. Von Zeit zu Zeit wur­de, eben­falls im Jah­re 66, der Durch­marsch der Trup­pen für eine ge­wis­se Nacht­stun­de an­ge­sagt. In sol­chen Fäl­len stell­te sich Carl einen großen Korb, ge­füllt mit Blu­men, un­ter das Bett, um sie aus dem Fens­ter über die Marsch­ko­lon­ne aus­zu­schüt­ten. Ich er­in­ne­re mich, wie er ein­mal völ­lig traum­be­fan­gen nach dem Kor­be griff, als von der Stra­ße der dump­fe Marsch­tritt zu uns her­auf­schall­te, wie er schla­fend, ge­schlos­se­nen Au­ges, da­mit zum Fens­ter lief, den Korb ent­leer­te und, ohne ganz er­wacht zu sein, ins Bett zu­rück tau­mel­te. Ich nahm dies nicht er­schreckt, son­dern ki­chernd als et­was über­aus Ko­mi­sches auf.

*

Na­tür­li­cher­wei­se wa­ren mir um die­se Zeit be­reits Va­ter und Mut­ter und mein Ver­hält­nis zu ih­nen be­wusst ge­wor­den, eben­so mein El­tern­haus, des­sen Na­men ich kann­te wie den des Or­tes, in dem es stand. Wie war die Kennt­nis un­zäh­li­ger klei­ner Be­zie­hun­gen, in de­nen ich zu al­le­dem stand, in mich ge­kom­men? Ich hät­te es da­mals nicht sa­gen kön­nen und kann es auch heu­te nicht. Die­se Mut­ter, die­ser Va­ter, die­ses Haus, sei­ne Räu­me und sei­ne Um­ge­bung, die­ser gan­ze klei­ne Ort, Ober-Salz­brunn ge­nannt, wa­ren da wie von Ewig­keit. Und eben der Va­ter, die Mut­ter, das Haus, der Ort wa­ren al­les in al­lem für mich: es gab nur das, es gab nichts an­de­res.

Wai­sen­kin­der le­ben ohne Müt­ter, sie le­ben und ent­wi­ckeln sich. Die See­len­ein­heit, die mich mit mei­ner Mut­ter ver­band, mach­te mir das un­be­greif­lich. Durch das Herz mei­ner Mut­ter, durch ihre Lie­be bin ich im Ver­lau­fe des ers­ten De­zen­ni­ums erst so­zu­sa­gen aus­ge­tra­gen wor­den. Mein Va­ter war der mäch­ti­ge Gott, in des­sen Schutz wir bei­de stan­den. Nichts in der Welt konn­te wi­der ihn et­was aus­rich­ten. Wie stolz, wie dank­bar mach­te mich das, wie ge­noss ich das Glück ei­nes sol­chen Schut­zes im Ge­fühl glück­se­li­ger Si­cher­heit. Aber eine in­ni­ge, eine tren­nungs­lo­se Be­zie­hung und Ver­bin­dung be­stand zu mei­nem Va­ter nicht.

Wie kann man in die so über­aus kom­pli­zier­ten Ver­hält­nis­se ei­ner Fa­mi­lie, ei­nes weit­läu­fi­gen An­we­sens, ei­ner Ort­schaft mit drei­ein­halb Jah­ren, kom­mend aus dem Nichts, wis­send hin­ein­ge­wach­sen sein? Ent­we­der auf Grund ei­ner geis­ti­gen Leis­tung oh­ne­glei­chen oder ei­ner Erb­schafts­s­um­me, die mit­ge­bo­ren ist.

*

Salz­brunn, wuss­te ich, ist ein Ba­de­ort. Hier quillt ein Brun­nen, der Kran­ke ge­sund ma­chen kann. Des­halb kom­men im Som­mer so vie­le hier­her. Sie wer­den in den Häu­sern der Orts­an­ge­ses­se­nen un­ter­ge­bracht. Auch in un­serm Haus, das der Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne ist.

Aber was ist ein Ge­sun­der, was ist ein Kran­ker? Wie­so und wo­her wuss­te ich das? Wie­so wuss­te ich tau­sen­de, aber­tau­sen­de Din­ge, nach de­nen ich kaum ir­gend­je­man­den ge­fragt hat­te? Die un­end­li­che Viel­falt der Er­schei­nun­gen schenk­te sich mir mit Leich­tig­keit, es war al­lent­hal­ben ein hei­te­res Auf­neh­men.

Ich hat­te am Da­sein un­un­ter­bro­chen lei­den­schaft­li­che Freu­de wie an ei­ner über alle Be­grif­fe herr­li­chen Fest­lich­keit. Ich sträub­te mich, wenn ich sie abends durch den Schlaf un­ter­bre­chen soll­te. Im Ein­schla­fen pack­te mich Freu­de und Un­ge­duld in Ge­dan­ken an den kom­men­den Mor­gen.

Frei­lich, das Haus war trau­lich und ne­st­ar­tig wohl­tu­end. Aber das Schöns­te dar­an wa­ren die Fluglö­cher. Ich ge­noss sie vollauf, als ich ei­ner schnel­len und selbst­stän­dig frei­en Be­we­gung fä­hig ge­wor­den war. Ich stürz­te des Mor­gens mit ei­nem Sprung und Freu­den­schrei ins Freie; manch­mal wur­de der Schrei nicht laut, son­dern lag nur im über­schäu­men­den Ge­fühl mei­nes gan­zen We­sens. Al­les in der Na­tur schenk­te sich mir: der Gras­halm, die Blu­me, der Baum, der Strauch, die Ber­be­rit­ze, die rote Mehl­bee­re, der Holz­ap­fel, al­les und al­les wur­de mir da­mals zur Kost­bar­keit. Da­bei hat­ten sich be­reits Hö­he­punk­te des Er­le­bens mei­nem Geis­te un­ver­lier­bar ein­ge­prägt. Das He­rum­krab­beln auf ei­nem son­nen­be­schie­ne­nen Ab­hang mit gel­bem Laub und Le­ber­blüm­chen un­ter kah­len Bäu­men war ein sol­cher Hö­he­punkt. Ich hät­te ihn gern zur Ewig­keit aus­ge­dehnt, so wunsch­los, so pa­ra­die­sisch fühl­te ich mich. Aber er blieb eine Ein­ma­lig­keit, ich such­te ver­ge­bens, ihn zu er­neu­ern.

Ein­mal, ich kann nicht über zwei Jah­re alt ge­we­sen sein, über­kam mich eine an Verzweif­lung gren­zen­de Trau­rig­keit, die sich in un­auf­halt­sa­mem Wei­nen äu­ßer­te und die mei­ne Um­ge­bung sich nicht zu er­klä­ren ver­moch­te. Die Erin­ne­rung auch dar­an be­fes­tig­te sich in mir. Durch eine mit mil­chi­gem Wie­sen­schaum­kraut durch­setz­te Wie­se an­ge­lockt, be­gab ich mich an das Blu­men­pflücken. Im­mer tiefer und tiefer, mich ganz ver­ges­send, ge­riet ich in die Wie­se hin­ein. Ich weiß nicht, wie­so man mich ohne Auf­sicht ge­las­sen hat­te, so­dass ich wohl eine Stun­de und län­ger mei­ner ver­träum­ten Be­schäf­ti­gung nach­ge­hen konn­te. Ein Berg von Car­da­mi­ne pra­ten­sis1 häuf­te sich. Ich hat­te ihn un­er­müd­lich flei­ßig am Ran­de der Wie­se zu­sam­men­ge­tra­gen.

Und nun auf ein­mal über­kam mich die­se all­ge­mei­ne, ich möch­te fast sa­gen kos­mi­sche Trau­rig­keit. Ich hat­te alle die­se Blü­ten, die da tot und welk über­ein­an­der la­gen, tot ge­macht. Wie­so aber konn­te ich das ge­tan ha­ben? War ich mir doch be­wusst, dass ich aus Lie­be zu ih­nen ge­han­delt hat­te und nicht in der Ab­sicht, ihr Le­ben zu zer­stö­ren oder auch nur ih­nen wehe zu tun. Ich woll­te mir eben doch nur ihre Schön­heit an­eig­nen.

*

Der Be­fehl ei­nes mensch­li­chen Got­tes war mei­nes Va­ters Ge­bot.

Eine Mut­ter wird ihre Klei­nen täg­lich vie­le Male ver­geb­lich mit den Wor­ten er­mah­nen: »Bett­le nicht!« Die ers­ten Wor­te der Kleins­ten sind: »Ha­ben, ha­ben!« Mein Va­ter aber woll­te un­be­dingt ver­mie­den se­hen, dass un­se­re Be­gehr­lich­keit etwa gar den Kur­gäs­ten zur Last fie­le. Ich, ein bes­se­rer klei­ner Adam, hielt mich mit be­ben­dem Ge­hor­sam an sein Bet­tel­ver­bot. Ei­nes Ta­ges kam je­doch ei­nem al­ten Kur­gast, Öko­no­mie­rat Huhn, der Ge­dan­ke, mich mit ei­nem Spiel­zeug zu be­schen­ken, das ich mir sel­ber beim Händ­ler aus­su­chen soll­te. Ich wähl­te einen herr­li­chen blau­en Roll­wa­gen mit Fäs­sern dar­auf und vier Pfer­den da­vor, drück­te das Rie­sen­ge­schenk mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men an mei­ne Brust und ver­moch­te es kaum fort­zu­schlep­pen. Un­ter­wegs nach Hau­se fiel mir des Va­ters Ver­bot aufs Herz. Zwar ge­bet­telt hat­te ich nicht, aber man konn­te es leicht vor­aus­set­zen, und schließ­lich soll­ten wir über­haupt von Frem­den nichts an­neh­men. Bei die­ser Erin­ne­rung schrie ich so­fort aus Lei­bes­kräf­ten, als ob mich das größ­te Un­glück be­trof­fen hät­te. Eine sol­che tra­gi­ko­mi­sche Mi­schung des Ge­fühls in der Brust ei­nes Kin­des ist viel­leicht eine Sel­ten­heit. Un­ge­heu­re Freu­de über den völ­lig mär­chen­haf­ten Neu­be­sitz ward von Ent­set­zen über den Bruch des Ge­hor­sams über­wo­gen. Un­un­ter­bro­chen schrei­end trat ich mit mei­nem Schatz ins Haus und vor mei­ne ver­blüff­ten El­tern hin, die den schein­ba­ren Wi­der­sinn mei­nes Be­tra­gens nicht durch­schau­en konn­ten.

*

Den gar­ten­mä­ßi­gen Aus­bau der Kur­pro­me­na­de nann­te man An­la­ge. In die­se An­la­gen führ­te mich täg­lich mei­ne Kin­der­frau, wo­bei uns ein klei­nes Hünd­chen be­glei­te­te. Ich lieb­te es, wie na­tür­lich, sehr. Noch eben hat­te ich mit ihm schön­ge­tan, als es in ein Bos­kett schlüpf­te. Völ­lig ver­än­dert kam es her­aus. Mit hel­ler Keh­le und lan­ger Zun­ge Laut ge­bend, um­kreis­te es ra­send in wei­tem Bo­gen mich und die Kin­der­frau, die mich auf die Arme nahm und das Haus zu er­rei­chen such­te. Das Hünd­chen aber in sei­ner krei­sen­den Ra­se­rei be­hielt uns als Mit­tel­punkt. Al­les wur­de auf den ge­fähr­li­chen Vor­gang auf­merk­sam, wer konn­te, floh, auch mein Va­ter wur­de be­nach­rich­tigt und zog uns schließ­lich durch eine Glas­tür ins in­ne­re Haus, wo wir vor dem wahr­schein­lich von Toll­wut be­fal­le­nen Tier si­cher wa­ren.

Es war uns bis auf den Haus­flur nach­ge­folgt, wo man es glück­li­cher­wei­se ab­schlie­ßen und also un­schäd­lich ma­chen konn­te. Ich sah durch die Schei­ben sei­nen fort­ge­setz­ten, wü­ten­den To­des­lauf, im­mer im Kreis, über Stüh­le, Ti­sche und Fens­ter­bret­ter hin­weg, ich weiß nicht wie lan­ge, eh man es durch den Tod er­lös­te.

Ich bin die­sen tie­fen und grau­si­gen Ein­druck bis heut nicht los­ge­wor­den. Und im­mer, wenn spä­ter ei­ner mei­ner Hun­de in ei­nem Bos­kett ver­schwun­den ist, wur­de ich un­ru­hig und habe die Zwangs­vor­stel­lung zu be­kämp­fen ge­habt, er wer­de schäu­mend und ra­send her­aus­stür­zen.

*

Ich weiß nicht, wann mir der im­mer­wäh­ren­de Wech­sel von Tag und Nacht, ihre Ge­gen­sätz­lich­keit im Be­reich der Sin­ne, des Emp­fin­dens und der Vor­stel­lung deut­lich ins Be­wusst­sein ge­drun­gen ist und wann sie mir zu be­wus­s­ter Ge­wohn­heit wur­de. Nicht der Tag, aber der Abend und die Nacht so­wie al­les Dun­kel wa­ren mit Furcht ver­knüpft. Ein sol­cher Aus­druck der Furcht war schon das Abend­ge­bet, das mei­ne Mut­ter mich täg­lich im Bett spre­chen ließ:

Müde bin ich, geh’ zur Ruh’, schlie­ße bei­de Äug­lein zu. Va­ter, lass die Au­gen dein über mei­nem Bet­te sein! Alle, die mir sind ver­wandt, Gott, lass ruhn in dei­ner Hand …

und so fort.

*

Die Furcht des Kin­des ist Ge­s­pens­ter­furcht. Sein Tag kennt sie nicht, aber nachts, wenn es wach oder halb­wach ist, um­ge­ben es über­all Dä­mo­nen. Da sie, wor­an das Kind nicht zwei­felt, bös­ar­tig sind, gibt man dem ge­ängs­tig­ten Kna­ben, dem furcht­sa­men Mäd­chen die Vor­stel­lung ei­nes Schutz­en­gels. Man sprach auch mir von mei­nem Schutz­en­gel, aber er wur­de mir nie über­zeu­gend ge­gen­wär­tig. Er gab mir nie ein Ge­fühl der Ge­bor­gen­heit etwa in dem Gra­de, wie mir die Geis­ter der Fins­ter­nis Furcht mach­ten.

Eine Zeit lang teil­te ich mit den El­tern das Schlaf­zim­mer. Wenn ich, was vor­kam, schlaf­los lag und beim Schei­ne des Nacht­licht­chens Va­ter und Mut­ter be­wusst­los schnar­chend in ih­ren Bet­ten sah, wa­ren sie mir wie at­men­de Leich­na­me. Dass sie vom Tode wie­der er­wa­chen wür­den, ja dass ich sie we­cken konn­te, wuss­te ich. Aber eben­so war mir be­kannt, dass man dies nicht darf, weil je­mand, der wei­ter­le­ben will, all­nächt­lich die­sen Tod er­lei­den muss. Und so muss­te ich denn das Ge­fühl ei­ner gren­zen­lo­sen Ver­las­sen­heit aus­kos­ten.

Wenn das Um und An der Nacht mir pein­lich war, so sah ich den Schlaf an sich als eine stö­ren­de Un­ter­bre­chung des Ta­ges an und schüt­tel­te ihn des Mor­gens mit dem Glücks­ge­fühl des Be­frei­ten wie eine ge­spreng­te Fes­sel ab. Nun konn­te ich wie­der in himm­li­scher Be­täu­bung rast­los in der Son­ne um­her­flat­tern und mich dem über­all Se­lig-Neu­en, den Genüs­sen des Ge­sichts, des Ge­hörs, des Ge­ruchs, des Ge­tasts und des Ge­schmacks hin­ge­ben. Ich konn­te über­all um­her­fah­ren, su­chend und fin­dend, al­les um und um wen­dend, von der fro­hen Be­zau­be­rung mei­nes Stau­nens er­füllt.

Vom Mor­gen ge­lang­te ich so im Rausch des Spiels bis zum Abend hin­auf, von dem man mich, und das war die gute Sei­te der Nacht, be­wusst­los wie in ei­nem laut­lo­sen Lift zum Mor­gen her­un­ter­ließ, wo das Spiel von Neu­em be­gin­nen konn­te.

*

An mei­nem Ge­burts­ta­ge brann­ten vier Lich­ter um den Ku­chen, in der Mit­te das län­ge­re Le­bens­licht. Die Fei­er wur­de all­jähr­lich mit Ge­schen­ken, Ku­chen, Lich­tern und Blu­men ge­wis­sen­haft ein­ge­hal­ten. Der Ge­burts­tag fiel glück­li­cher­wei­se in den Mo­nat No­vem­ber, in die stil­le, dem Fa­mi­li­en­le­ben ge­hö­ren­de Win­ter­zeit. Im tur­bu­len­ten Gäs­te­be­trieb des Som­mers wür­de man sei­ner kaum oder nur ne­ben­her ge­dacht ha­ben. So war es ein Tag der Freu­de, aber auch der Ein­kehr für mich, da die Mut­ter mit erns­ten Re­den des mensch­li­chen Wach­sens und Wer­dens und des mensch­li­chen Schick­sals im gan­zen ge­dach­te.

Über Spiel und Spiel­zeug ist viel ge­sagt und ge­schrie­ben wor­den. Wer den Spiel­trieb kennt, weiß, wel­cher Zau­ber ihm in­ne­wohnt. Ech­tes Spiel­zeug kann so­gar im Er­wach­se­nen, be­son­ders in Ge­gen­wart von Kin­dern, das Kind er­we­cken. Aus dem Spiel­trieb er­wächst die Kunst. Der Kna­be vom vier­ten, wenn er das Schau­kel­pferd hin­ter sich ge­las­sen hat, bis zum ach­ten, neun­ten Jahr ist ein Uni­ver­sal­künst­ler. Er hat mit Bau­klöt­zen Dome auf­ge­führt, er hat sich ge­übt mit sei­nem Tusch­kas­ten, er hat al­ler­lei Tier­ge­bil­de aus Wachs mo­del­liert, er hat sich zeich­ne­risch an den Men­schen ge­wagt. Vor al­lem aber ist er ein Schau­spie­ler ohne Ei­tel­keit, ei­ner, der kei­nen Zuschau­er braucht, wenn er sich als kom­man­die­ren­der Ge­ne­ral, als mu­ti­ges Pferd oder gar als Lo­ko­mo­ti­ve ge­bär­det.

Es ist Nei­gung, nie­mals Ge­bot, nie­mals Pf­licht, was zum Spie­le treibt. Das Kind ist sein ei­ge­ner Leh­rer und Schü­ler. Ein Ver­hält­nis von sol­cher Har­mo­nie und Frucht­bar­keit wird ihm spä­ter schwer­lich wie­der zu­teil wer­den. Es fühlt kein Ziel, es fühlt kei­nen Zweck. Al­les ist, sei es ver­son­nen oder wild, im­mer­wäh­ren­de Hei­ter­keit.

Wohl scheint die Na­tur da­bei einen Zweck zu ver­fol­gen: aber selbst die Er­wach­se­nen se­hen ihr Wal­ten im Kin­de meis­tens nicht. Des­halb hal­ten sie sich für ver­pflich­tet, schon früh und bei ge­ge­be­ner Ge­le­gen­heit, wie mei­ne Mut­ter an mei­nen Ge­burts­ta­gen tat, auf den kom­men­den Ernst des Le­bens in Ge­stalt des Schul­be­suchs hin­zu­wei­sen. Ich woll­te lan­ge nichts wis­sen da­von, end­lich aber wur­de ich nach­denk­lich und sah die Un­schuld mei­nes Da­hin­le­bens durch den Ge­dan­ken der Mut­ter ge­stört, dass die­ses so glück­li­che Le­ben ein nutz­lo­ses wäre und ab­ge­löst wer­den müs­se von ei­nem nütz­li­chen. Sei­ne Be­rech­ti­gung habe es gleich­sam nur als Gna­den­frist. Über­schrei­te es die­se Frist, so sei der Mensch, der es wei­ter­füh­re, ein Tau­ge­nichts.

Nun, ein Foh­len, das einen Was­ser­guss er­hält, schüt­telt sich und ga­lop­piert dann dop­pelt schnell und ver­gnügt in die Kop­pel.

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Wenn ich, etwa als Vier­jäh­ri­ger, mit auf­ge­stütz­ten Ell­bo­gen in ei­nem der Front­fens­ter mei­nes El­tern­hau­ses lag, wur­de mein Blick bei kla­rem Wet­ter durch einen schön­ge­form­ten Berg, den Hoch­wald, an­ge­zo­gen. Er war dann nicht nur die Gren­ze mei­ner Welt, son­dern der gan­zen Welt. Und ich setz­te mit stil­ler, zwei­fels­frei­er Ge­wiss­heit vor­aus, man kön­ne, auf sei­ne Spit­ze ge­langt, in den Him­mel stei­gen. Oft und oft, wenn wie­der und wie­der die träu­me­ri­sche Stim­mung im An­ge­sicht des hei­li­gen Ber­ges über mich kam, habe ich die­sen Fall er­wo­gen und alle mög­li­chen Ar­ten, in de­nen der Plan aus­zu­füh­ren sei. Den Herr­gott sel­ber hat­te ich auf ei­nem dunklen Trep­pen­ab­satz un­se­res Hau­ses in­zwi­schen ken­nen­ge­lernt, wo ein Ehr­furcht ge­bie­ten­des gold­ge­rahm­tes Bild des weiß­ge­lock­ten, bär­ti­gen Grei­ses die Wand zier­te. Ich hat­te ihn zum Er­stau­nen der Mei­nen so­gleich er­kannt.

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Wa­ren die Lich­ter mei­nes Ge­burts­ta­ges er­lo­schen, so tauch­te gleich eine an­de­re Bal­lung von Licht, eine zu­nächst nur in­ner­li­che Son­ne auf. Die­se Son­ne war Weih­nach­ten. Un­ter der Licht­flut die­ses Fes­tes hat sich wohl der Fa­mi­li­en­kreis mir am frü­he­s­ten und deut­lichs­ten ein­ge­prägt: mein Va­ter, der einen mar­tia­li­schen Schnurr­bart und Bril­len trug, mei­ne Mut­ter mit ih­rem Wel­len­schei­tel, mein Bru­der Carl, Jo­han­na, die Schwes­ter. An mei­nen äl­tes­ten Bru­der Ge­org habe ich aus die­ser Früh­zeit kei­ne Erin­ne­rung.

Uns Deut­schen kann der vol­le Be­griff ei­nes Fes­tes nur noch an die­sem Fes­te klar­wer­den. Es er­hebt sich aus un­ab­seh­ba­ren Tie­fen der Ver­gan­gen­heit, und sei­ne le­ben­di­ge, ober­ir­di­sche Tra­di­ti­on wird von Ge­ne­ra­ti­on auf Ge­ne­ra­ti­on in der glei­chen Emp­fäng­nis ent­ge­gen­ge­nom­men.

Die Freu­de die­ses Fes­tes war nicht die un­mit­tel­ba­re ge­sun­de, ir­di­sche, son­dern sie war eine mys­ti­sche. Sie er­hob sich in über­ir­di­scher Stei­ge­rung. Über ihr stand eine im­mer­grü­ne Tan­ne, ein Na­del­baum, aus des­sen Zwei­gen Ker­zen em­por­wuch­sen und ihn zu ei­ner Py­ra­mi­de von Flämm­chen mach­ten. Der Baum war ge­sun­de Wald­na­tur, die Ker­zen auf ihm und er als ihr Trä­ger Mys­te­ri­um.

O Tan­nen­baum, o Tan­nen­baum, wie grün sind dei­ne Blät­ter! Du grünst nicht nur zur Som­mer­zeit, nein, auch im Win­ter, wenn es schneit. O Tan­nen­baum, o Tan­nen­baum, wie grün sind dei­ne Blät­ter!

Wel­che wi­der­sin­ni­ge Ein­falt be­seelt die­ses klei­ne Lied, und wel­che Tie­fen des Ent­zückens wer­den durch es im Ge­müt des Kin­des aus­ge­löst.

Ge­schen­ke, Ga­ben brach­te wohl das gan­ze Jahr hie und da, aber sie wa­ren nicht von dem Zau­ber be­rührt und er­füllt wie die Be­sche­rung un­term Weih­nachts­baum. »Vom Him­mel hoch, da kom­m’ ich her.« Nicht die El­tern hat­ten uns mit Ge­schen­ken be­glückt, son­dern sie wa­ren dies­mal wirk­lich vom Him­mel ge­kom­men. Der Va­ter, die Mut­ter wa­ren Treu­hän­der, die sie uns über­mit­telt hat­ten.

Da­rum war die Freu­de, die Span­nung zu Weih­nach­ten über­groß, mit­un­ter so groß, dass mein Or­ga­nis­mus sich in der Fol­ge durch eine kur­ze Krank­heit wie­der­her­stel­len muss­te.

Trotz­dem stell­te man so­gleich Be­rech­nun­gen über das kom­men­de Weih­nach­ten an, über die Mo­na­te, Wo­chen, Tage, die man bis da­hin noch zu be­ste­hen hat­te.

Wie­sen­schaum­kraut  <<<

Zweites Kapitel

Mein El­tern­haus hat­te zwei Da­seins­for­men, die so von­ein­an­der ver­schie­den wa­ren wie voll und leer, Wär­me und Käl­te, Lärm und Stil­le, Le­ben und Tod. Da­mit ist nur das Ge­bäu­de, der Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne ge­meint, der dem Ver­kehr nur im Som­mer ge­öff­net war und im Win­ter ge­schlos­sen blieb.

Ende April be­zog ihn zu­nächst ein recht zahl­rei­ches Per­so­nal: Kö­che, Kü­chen­mäd­chen, Haus­mam­sell, so­ge­nann­te Schleu­ße­rin­nen, Ober­kell­ner, Kell­ner und ei­ni­ge Haus­die­ner. Dann füll­ten sich bald alle Zim­mer mit Kur­gäs­ten.

Für den Gast­hof also war das die le­ben­di­ge, der Win­ter die tote Zeit, für die Fa­mi­lie da­ge­gen war der Som­mer die tote, der Win­ter die le­ben­di­ge. Va­ter und Mut­ter ge­hör­ten som­mers der Öf­fent­lich­keit, sie wa­ren den Win­ter über Pri­vat­leu­te.

Die zwei­te Da­seins­form mei­nes Ge­burts­hau­ses ver­band sich am tiefs­ten mit mei­nem We­sen und präg­te es in frü­hen, ent­schei­den­den Zei­ten aus. In die­ser stil­len, lee­ren Ver­fas­sung ge­hör­te das Haus uns, im Som­mer war es uns gänz­lich ent­zo­gen und uns Kin­dern auch Va­ter und Mut­ter. Sie ge­hör­ten mit al­lem, in al­lem der Öf­fent­lich­keit.

Die Quel­le, der Brun­nen war ei­nes der ewi­gen The­men am win­ter­li­chen Fa­mi­li­en­tisch. In ei­nem Um­kreis, des­sen Ra­di­us un­ge­fähr hun­dert Me­ter be­tra­gen moch­te, tra­ten die Heil­quel­len Ober-Salz­brunns, also die Salz­brun­nen Salz­brunns, ans Ta­ges­licht. Als der ers­te der Ober­brun­nen. Ge­gen­über der Fassa­de uns­res Gast­hofs lag der präch­ti­ge Saal, den man über sei­ner Mün­dung er­rich­tet hat­te. An der Salz­bach ver­bor­gen, zu er­rei­chen auf ei­nem na­hen, schwan­ken­den Bret­ter­steg, lag der Mühl­brun­nen. Er wur­de zu Kur­zwe­cken nicht be­nutzt und war der Be­völ­ke­rung frei­ge­ge­ben. Und, o Wun­der! die drit­te der Quel­len ge­hör­te uns. Ihr um­mau­er­ter Spie­gel lag in­ner­halb der Fun­da­men­te uns­res Gast­hofs. An Heil­kraft dem welt­be­kann­ten Ober­brun­nen gleich, war doch ihr Da­sein da­mals un­be­ach­tet und ruhm­los. Ihr Was­ser wur­de durch eine Pum­pe aus Guß­ei­sen von den gleich­gül­ti­gen Fäus­ten der Kut­scher und Knech­te für den Be­darf der Pfer­de­stäl­le her­auf­ge­holt. Auch wur­de der Ab­wasch da­von be­strit­ten. Noch im Be­reich mei­ner Kna­ben­jah­re ist dann eine vier­te Quel­le auf un­serm Nach­bar­grund­stück ent­deckt wor­den.

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Ich dan­ke es mei­nem Va­ter, dass er mir, dem Flüg­ge­ge­wor­de­nen, we­der einen Fa­den ans Bein ge­bun­den, noch mich ei­nem Auf­pas­ser, ei­nem Prä­zep­tor, über­ant­wor­tet hat. Un­be­hin­dert durf­te ich aus­schwär­men. Das Ers­te und Nächs­te, etwa im spä­ten Herbst, war ein aus­ge­stor­be­ner tem­pel­ar­ti­ger Bau, der som­mers als Wan­del­hal­le diente. Dort freu­te ich mich an dem Hal­len mei­ner Trit­te, wenn ich aus Freu­de an der Wie­der­ge­burt nach dem Schlaf auf und ab rann­te. Die­se of­fe­ne do­ri­sche Archi­tek­tur, schlecht­hin die Ko­lon­na­de ge­nannt, ge­währ­te mir auch bei schlech­tem Wet­ter freie Be­we­gungs­mög­lich­keit, wie som­mers bei plötz­li­chen Re­gen­güs­sen den Kur­gäs­ten. Ei­nen bes­se­ren, schö­ne­ren und auch ge­sün­de­ren Spiel­platz als die­sen, der mir zu­dem ganz al­lein ge­hör­te, gab es nicht.

Vom Spiel lief ich in den an­sto­ßen­den Brun­nen­saal hin­ab, der im­mer of­fen war, und ließ mir an ei­ner lan­gen Stan­ge von ei­nem der Brun­nen­schöp­fer ein Glas in die kreis­rund um­mau­er­te Tie­fe tau­chen, den pri­ckeln­den Brun­nen schöp­fen und her­auf­ho­len. Sie ta­ten es im­mer mit Freund­lich­keit und Be­reit­wil­lig­keit.

Mit der Zeit erst be­griff ich, dass ich ei­ni­ger­ma­ßen be­vor­zugt war.

Der Va­ter mei­ner Mut­ter war obers­ter Lei­ter des Ba­de­orts. Er führ­te den Ti­tel Brun­nen­in­spek­tor, so­dass auch von die­ser Sei­te der Be­griff des Brun­nens sei­ne schick­sal­haf­te Be­deu­tung in un­serm Hau­se be­haup­te­te. Üb­ri­gens hieß ein herr­schaft­li­ches Ge­bäu­de in den Pro­me­na­den der Brun­nen­hof, ein Haus, das mein Va­ter ge­pach­tet hat­te.

Der Platz zwi­schen dem Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne und der Ko­lon­na­de, ge­nannt Eli­sen­hal­le, war Zen­trum des Orts. Er wur­de au­ßer­dem noch be­grenzt vom Ba­de­ver­wal­tungs­ge­bäu­de, in dem mein Groß­va­ter Fer­di­nand Straeh­ler, eben der Brun­nen­in­spek­tor, am­tier­te. Auf die­sem Plat­ze hat­ten sich einst mei­ne mi­li­tä­ri­schen Ein­drücke we­sent­lich zu­sam­men­ge­drängt: der Ös­ter­rei­cher mit dem blu­ti­gen Tuch um den Hals, Ge­fan­ge­ne, ras­ten­de Trup­pen und ihre zu­sam­men­ge­stell­ten Ge­weh­re. Hier han­del­ten mei­ne Brü­der ge­gen al­ler­lei Tau­sch­ob­jek­te Kom­miss­brot ein, von hier aus führ­te der gra­de Weg bis zu ei­nem Aus­flugs­ort, der Schwei­ze­rei, den mei­ne Brü­der im Jah­re 66 un­zäh­li­ge Male zu­rück­leg­ten, um, wie schon ge­sagt, jene Ge­fan­ge­nen und Ver­wun­de­ten zu be­treu­en, die man dort­hin ge­legt hat­te. Hier, ne­ben der brei­ten Freitrep­pe, vor dem Gie­bel der Eli­sen­hal­le, vor und un­ter den Ba­sen der do­ri­schen Säu­len, saß auch im Win­ter eine alte knus­per­he­xen­ar­ti­ge Ku­chen­frau, die aus vie­len Grün­den, auch dem der un­um­gäng­li­chen kind­li­chen Nä­sche­rei, nicht aus mei­ner Kind­heit hin­weg­zu­den­ken ist. Von die­sem Platz trat man in die Kur­pro­me­na­den und in den Brun­nen­saal, hier mün­de­te der so­ge­nann­te Pap­pel­berg, eine stei­gen­de Pap­pel­al­lee, die nach Wil­helms­höh führ­te, ei­nem ro­man­ti­schen Burg­bau, dem haupt­säch­lichs­ten Aus­flugs­ort.

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Der durch Jah­re vor­aus­ge­wor­fe­ne Schat­ten des ers­ten Schul­tags ver­dich­te­te sich. Ei­nes Ta­ges nach Weih­nach­ten sag­te mei­ne Mut­ter zu mir: »Wenn das Früh­jahr kommt, musst du in die Schu­le. Ein erns­ter Schritt, der ge­tan wer­den muss. Du musst ein­mal still­sit­zen ler­nen. Und über­haupt musst du ler­nen und ler­nen, weil auf an­de­re Wei­se nur ein Tau­ge­nichts aus dir wer­den kann.«

Also du musst! du musst! du musst!

Ich war sehr be­stürzt, als mir die­se Er­öff­nung ge­macht wur­de. Dass ich erst et­was wer­den sol­le, da ich doch et­was war, be­griff ich nicht. War ich doch völ­lig eins mit mir! Nur im­mer so wei­ter zu sein und zu le­ben war der ein­zi­ge, noch fast un­be­wuss­te Wunsch, in dem ich be­ruh­te. Frei­heit, Stil­le, Freu­de, Selbst­herr­lich­keit: warum soll­te man et­was an­de­res wol­len? Die klei­nen Gän­ge­lun­gen der El­tern stör­ten die­sen Zu­stand nicht. Woll­te man mir die­ses Le­ben weg­neh­men und da­für ein Sol­len und Müs­sen set­zen? Woll­te man mich ver­sto­ßen aus ei­ner so voll­kom­men schö­nen, mir so voll­kom­men an­ge­mes­se­nen Da­seins­form?

Ich be­griff die­se Sa­che im Grun­de nicht.

Et­was auf an­de­re Wei­se zu ler­nen als die, wel­che mir halb be­wusst ge­läu­fig war, hat­te ich we­der Lust, noch fand ich es zweck­mä­ßig. War ich doch durch und durch Ener­gie und Hei­ter­keit. Ich be­herrsch­te den Dia­lekt der Stra­ße, so wie ich das Hoch­deutsch der El­tern be­herrsch­te. Erst heu­te weiß ich, welch eine gi­gan­ti­sche Geis­tes­leis­tung hier­in be­schlos­sen ist und dass sie, ge­schwei­ge von ei­nem Kin­de, nicht zu er­mes­sen ist. Spie­lend und ohne be­wusst ge­lernt zu ha­ben, han­tier­te ich mit al­len Wor­ten und Be­grif­fen ei­nes um­fas­sen­den Le­xi­kons und der da­zu­ge­hö­ri­gen Vor­stel­lungs­welt.

Ob ich mich nicht wirk­lich viel­leicht ohne Schu­le schnel­ler, bes­ser und rei­cher ent­wi­ckelt hät­te?

Vi­el­leicht aber war das Schlimms­te ein See­len­schmerz, den ich emp­fand. Mei­ne El­tern muss­ten doch wis­sen, was sie mir an­ta­ten. Ich hat­te an ihre un­end­li­che, ufer­lo­se Lie­be ge­glaubt, und nun lie­fer­ten sie mich an et­was aus, ein Frem­des, das mir Grau­en er­zeug­te. Glich das nicht ei­nem wirk­li­chen Auss­to­ßen? Sie ga­ben zu, sie be­für­wor­te­ten es, dass man mich in ein Zim­mer sperr­te, mich, der nur in frei­er Luft und frei­er Be­we­gung zu le­ben fä­hig war, – dass man mich ei­nem bö­sen al­ten Mann aus­lie­fer­te, von dem man mir er­zählt hat­te, was ich spä­ter ge­nug­sam er­leb­te: dass er die Kin­der mit der Hand ins Ge­sicht, mit dem Stock auf die Hand­tel­ler oder, so­dass rote Schwie­len zu­rück­b­lie­ben, auf den ent­blö­ßten Hin­tern schlug!

*

Der ers­te Schul­tag kam her­an. Der ers­te Gang zur Schu­le, den ich, an wes­sen Hand weiß ich nicht mehr, un­ter Furcht und Za­gen zu­rück­leg­te. Es schi­en mir da­mals ein un­end­lich lan­ger Weg, und so war ich denn recht er­staunt, als ich ein hal­b­es Jahr­hun­dert spä­ter das alte Schul­haus such­te und nur des­halb nicht fand, weil es aus dem Fens­ter der al­ten Preu­ßi­schen Kro­ne so­zu­sa­gen mit der Hand zu grei­fen war.

Un­ter­wegs gab es Verzweif­lungs­auf­trit­te, die nach vie­lem gu­tem Zu­re­den mei­ner Beglei­te­rin, und nach­dem sie mich an der Schul­tür un­ter den dort ver­sam­mel­ten Kin­dern al­lein ge­las­sen hat­te, dump­fe Er­ge­bung ab­lös­te.

Es gab eine kur­ze War­te­zeit, in der sich die klei­nen Lei­dens­ge­nos­sen tas­tend mit­ein­an­der be­kannt mach­ten. Im Haus­flur der Schu­le zu­sam­men­ge­pfercht, pirsch­te sich ein klei­ner Pix an mich her­an und konn­te sich gar nicht ge­nug tun in Ver­su­chen, die Angst zu stei­gern, die er bei mir mit Recht vor­aus­setz­te. Die­se klei­ne schmut­zi­ge Mil­be und Rotz­na­se hat­te mich zum Op­fer ih­res sa­dis­ti­schen In­stink­tes aus­ge­wählt. Sie schil­der­te mir das Schul­ver­fah­ren, das sie eben­so­we­nig kann­te wie ich, in­dem sie den Leh­rer als einen Fol­ter­knecht dar­stell­te und sich an dem gläu­bi­gen Aus­druck mei­nes angst­voll ver­wein­ten Ge­sichts wei­de­te. »Er haut, wenn du sprichst«, sag­te der klei­ne Lau­se­kerl. »Er haut, wenn du schweigst, wenn du nie­sen musst. Er haut dich, wenn du die Nase wischst. Wenn er dich ruft, so haut er schon. Pass auf, er haut, wenn du in die Stu­be trittst.«

So ging es, ich weiß nicht wie lan­ge, fort, mit den Wor­ten und Wen­dun­gen des Volks­dia­lekts, in dem man sich auf der Stra­ße aus­drückt.

Eine Stun­de da­nach war ich wie­der zu Haus, aß mit den El­tern ver­gnügt und re­nom­mis­tisch das Mit­tag­brot und stürz­te mich mit ver­dop­pel­ter Lust ins Freie, in die noch lan­ge nicht ver­lo­re­ne Welt mei­ner kind­li­chen Un­ge­bun­den­heit.

Nein, die Dorf­schu­le mit dem al­ten, im­mer miss­ge­laun­ten Leh­rer Bren­del zer­brach mich nicht. Kaum wur­de mir et­was von mei­nem Le­bens­raum und mei­ner Frei­heit weg­ge­nom­men und gar nichts von mei­ner Le­bens­lust.

Drittes Kapitel

Der Ge­bäu­de­kom­plex des Gast­hofs zur Preu­ßi­schen Kro­ne war im Lau­fe der Zei­ten durch An­bau­ten ent­stan­den. Schwer zu sa­gen, wel­cher sei­ner Tei­le mir zu­erst zu Be­wusst­sein ge­kom­men ist. Ich hat­te wohl erst ein all­ge­mei­nes Ge­fühl sei­ner Uner­gründ­lich­keit. In­so­weit blieb er mir lan­ge un­heim­lich. Ich den­ke auch hier an die Win­ter­zeit. Da war zu­nächst un­ser Win­ter­quar­tier im ers­ten Stock. Es wa­ren die Säle: der so­ge­nann­te Gro­ße Saal und der so­ge­nann­te Klei­ne Saal und end­lich der so­ge­nann­te Blaue Saal, der in Wahr­heit der kleins­te war. Da war fer­ner das Erd­ge­schoss: ein Schnitt­wa­ren­la­den lag dar­in, eine ver­pach­te­te, dem Stra­ßen­be­trieb of­fe­ne Bier­stu­be, die Woh­nung des Fuhr­werks­be­sit­zers Krau­se und die Kro­nen­quel­le, von der schon ge­spro­chen wur­de. Das Haupt­haus, der Klei­ne Saal, die Stal­lun­gen bil­de­ten und um­fass­ten drei­sei­tig einen Hof, des­sen vier­te Sei­te nach der Stra­ße of­fen war. Der Klei­ne Saal aber wur­de von gra­ni­te­nen Pfei­lern, so­ge­nann­ten »Säu­len«, ge­tra­gen. Den un­ter ihm ver­füg­ba­ren Wirt­schafts­raum be­zeich­ne­te man schlecht­hin als Un­term Saal. Über un­serm Win­ter­quar­tier lag ein zwei­ter Stock, wo wir Kin­der, som­mers vom Frem­den­be­trieb zu­rück­ge­drängt, in klei­nen Schlafräu­men un­ser ver­ges­se­nes Da­sein fris­te­ten. Schließ­lich war das Bo­den­ge­schoss mit den Dach­kam­mern ein be­son­de­res Mys­te­ri­um.

Un­ter die­sen war eine, die so­ge­nann­te Sie­ben­kam­mer, die für uns Kin­der einen un­heim­lich-heim­li­chen Reiz be­saß, ob­gleich sie in Wahr­heit nichts an­de­res als die satt­sam be­kann­te Rum­pel­kam­mer sein woll­te. Wir hät­ten uns schwer­lich im Dun­keln hin­ein­ge­traut. Sonst aber über­traf ihre An­zie­hungs­kraft bei Wei­tem die Furcht, die uns im Ge­dan­ken an sie an­wan­del­te. Auch war die­se Furcht sel­ber an­zie­hend, gleich je­nem Gru­seln, das der Hand­werks­bur­sche im Mär­chen durch­aus ler­nen woll­te.

Al­tes zer­bro­che­nes oder weg­ge­wor­fe­nes Spiel­zeug von Ge­ne­ra­tio­nen war dar­in in un­ent­wirr­ba­rer, ver­staub­ter Men­ge auf­ge­häuft: Gum­mi­bäl­le, Pup­pen, Haus­rat von Pup­pen­stu­ben, Ham­pel­män­ner, Pfer­de und Fracht­wa­gen, Tei­le von Schä­fe­rei­en und Me­na­ge­ri­en, Schau­kel­pfer­de, und so fort und so fort.

Al­le­dem hauch­te der kind­li­che Geist be­son­ders im lan­gen Dun­kel der Win­ter­ta­ge fan­tas­ti­sches Le­ben ein. So war denn die Sie­ben­kam­mer – und ist es mir in ge­wis­sem Sin­ne noch heu­te – der Ort, wo auf ge­heim­nis­vol­le Wei­se Ko­bol­de, Feen, Knus­per­he­xen und Zau­be­rer, Hel­den und Men­schen­fres­ser sich Ren­dez­vous ga­ben und durch die Dach­lu­ke nachts beim Mond­schein aus und ein flo­gen. Ich brauch­te nur an sie zu den­ken, um ih­rem Mär­chen­zau­ber, ih­rer gren­zen­lo­sen Ma­gie mit der un­end­li­chen, bun­ten Viel­falt ih­rer Ge­stal­ten an­heim­zu­fal­len. Gehe ich fehl, wenn ich in ihr eine der wich­tigs­ten Rät­sel­quel­len mei­ner spä­te­ren Fa­bu­lier­lust sehe?

Das Win­ter­quar­tier im ers­ten Stock be­stand aus fünf zu­sam­men­hän­gen­den Stu­ben, wel­che die Num­mern drei bis sie­ben als Tür­schil­der hat­ten. So spra­chen wir Kin­der von der Drei, der Vier, der Fünf, der Sechs und der Sie­ben. Und mit je­der die­ser Zah­len ver­bin­det sich noch heut für mich die Vor­stel­lung ei­nes be­son­ders be­seel­ten Raums. Von al­len strahl­te die Vier viel­leicht die meis­te herz­li­che Wär­me aus, die Fünf und die Sechs wa­ren nicht so trau­lich. Der Cha­rak­ter der klei­nen Sie­ben hat­te sei­ne Be­son­der­heit. Es wa­ren dar­in Rou­le­aus, auf de­nen bun­te Spa­nie­rin­nen mit Frucht­kör­ben auf den Köp­fen zu se­hen wa­ren.

Die See­len die­ser fünf Räu­me tau­chen noch heut ge­le­gent­lich in mei­nen Träu­men auf, mit man­cher­lei an­de­ren Ele­men­ten ver­bun­den.

Die Tür der Sie­ben war der Ab­schluss ei­nes län­ge­ren Gangs, dem Fens­ter nach dem Hofe Licht ga­ben. Da­ge­gen hat­te ein klei­ner Al­ko­ven, in dem win­ters Va­ter, Mut­ter und ich schlie­fen, nur ein Fens­ter nach die­sem Flur hin­aus.

Ein oder zwei Win­ter aus­ge­nom­men, hat sich das Le­ben der Fa­mi­lie haupt­säch­lich in die­sem Teil des Hau­ses ab­ge­spielt.

Ich sag­te schon, dass mein sonst stren­ger Va­ter mir eine au­ßer­ge­wöhn­li­che Be­we­gungs­frei­heit zu­bil­lig­te, was von Ver­wand­ten und Freun­den viel­fach ge­rügt wur­de. Un­ge­bun­den und über­all neu­gie­rig ging ich dem­nach auf Ent­de­ckungs­fahr­ten aus und wuss­te bald über je­den Win­kel des Hau­ses Be­scheid. Fast täg­lich durch­streif­te ich alle Stock­wer­ke, war da­heim in Gar­ten und Hof, kann­te die ent­le­gens­ten Räu­me, von de­nen ei­ni­ge selt­sam ge­nug und hin­rei­chend un­heim­lich wa­ren.

Das lei­den­schaft­li­che Le­ben, dem ich da­mals un­ter­lag und das mei­nen zar­ten Or­ga­nis­mus wie ein über­star­ker elek­tri­scher Strom be­wegt ha­ben muss, er­klärt sich nur durch eine un­ge­dul­di­ge Le­bens­gier, die über­all et­was zu ver­säu­men fürch­te­te. »Ger­hart, ren­ne doch nicht so!« sag­te mei­ne Mut­ter. – »Rase doch nicht im­mer so!« sag­te mein Va­ter. – »Du rennst dir die Schwind­sucht an den Hals!« mahn­te mein On­kel Straeh­ler, der schö­ne, von den Da­men ver­göt­ter­te Ba­de­arzt, wo er im Frei­en mei­ner an­sich­tig wur­de. Frau Krau­se, Frau des Fuhr­werks­be­sit­zers im Erd­ge­schoss, die ro­bus­te Bau­ers­frau, hielt sich wie­der und wie­der die Ohren zu und sag­te da­bei: »Hör auf, hör auf, dein Schrei­en macht mich ver­rückt, Jun­ge!«

Der Wahr­heit ge­mäß wäre viel­leicht zu sa­gen, dass ich um jene Zeit im­mer­hin ein wohl­ge­ar­te­ter, aber kein wohl­er­zo­ge­ner Jun­ge ge­we­sen bin, dazu war ich zu wild und zu frei auf­ge­wach­sen. Wie man­chem mag ich durch lär­mi­ges Ge­ba­ren, Ren­nen, Schrei­en und An­sprü­che al­ler Art läs­tig ge­wor­den sein! Ich bin auch nicht all­zu sau­ber ge­we­sen. Die künst­li­chen Sit­ten der el­ter­li­chen Bür­ger­zim­mer konn­ten den na­tür­li­chen Un­sit­ten der Stra­ße und des so­ge­nann­ten nie­de­ren Vol­kes nicht stand­hal­ten. Ein nor­di­sches Kind ohne Schnup­fen im Win­ter gibt es nicht, und der Stra­ßen­jun­ge, der mein be­wun­der­tes Mus­ter war, wird sich die Nase nur mit dem Är­mel put­zen, wenn er es nicht tech­nisch voll­kom­men mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger nie­send tut. Da­her hat­te ich mei­nen blan­ken Är­mel, zu­nächst den rech­ten, den an­de­ren erst, wenn die­ser nicht aus­reich­te.

Frau Greu­lich hieß eine alte Weiß­näh­te­rin, die win­ters über bei uns ar­bei­te­te. Die gute Frau war ent­setzt und herrsch­te mich manch­mal heim­lich ent­rüs­tet an, wenn ich ohne Är­mel und Ta­schen­tuch den Fluss der Nase durch un­un­ter­bro­che­nes Luf­tein­zie­hen er­folg­los zu hem­men such­te.

Erkner, ein Vo­r­ort von Ber­lin, wo ihr ver­stor­be­ner Mann Bahn­be­am­ter ge­we­sen war, hat­te üb­ri­gens die bes­te Zeit im Le­ben die­ser Frau ge­se­hen. Im­mer, fast täg­lich, sprach sie da­von. Sie ahn­te nicht, und ich ahn­te nicht, wel­che Be­deu­tung die­ser Ort etwa fünf­zehn Jah­re da­nach auch für mein Le­ben er­hal­ten soll­te.

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Wenn Som­mer und Win­ter zwei ganz ver­schie­de­ne Le­bens­for­men des Gast­hofs zur Preu­ßi­schen Kro­ne be­deu­te­ten, frei­lich nicht ohne Zu­sam­men­hang, so kann ich noch heu­te wie als Kind völ­lig ge­trenn­te Wel­ten un­ter­schei­den, in­ner­halb sei­ner Mau­ern so­wohl als auf dem da­zu­ge­hö­ri­gen Grund.

Die Bür­ger­zim­mer ers­tens um­schlos­sen win­ters das Fa­mi­li­en­le­ben und da­mit die Wohl­er­zo­gen­heit. Die Säle im glei­chen Stock­werk wie­sen ge­wis­ser­ma­ßen fei­er­lich in eine frem­de Welt hö­he­rer Le­bens­form. Im Blau­en Saal stand das Kla­vier. Gel­be Ma­ha­go­ni­pols­ter­mö­bel schmück­ten die­sen Raum und die le­bens­großen, gold­ge­rahm­ten Öl­bild­nis­se Kö­nig Wil­helms und sei­ner Ge­mah­lin Au­gus­ta in gan­zer Fi­gur. Hier hat­ten die mon­ar­chi­schen Ge­füh­le mei­nes Va­ters ih­ren Aus­druck ge­fun­den. Eine Ko­pie der Six­ti­ni­schen Ma­don­na in Ori­gi­nal­grö­ße be­herrsch­te den an­de­ren, den Gro­ßen Saal, des­sen noch ver­füg­ba­re zwei­te Wand eine Ko­pie der Kreuz­ab­nah­me Rem­brandts trug, den mein Va­ter, nach der Fül­le der Rem­brandt­ko­pi­en im Klei­nen Saal zu schlie­ßen, be­son­ders ge­schätzt ha­ben muss.

Ich be­grei­fe noch heu­te schwer, wie man in der sa­kra­len At­mo­sphä­re des Gro­ßen Saa­l­es spei­sen und harm­los plau­dern konn­te.

Dicht an die Säle stie­ßen dann Kü­che, Wasch­kü­che und Hin­ter­hof, die eine ganz an­de­re Welt dar­stell­ten und die im we­sent­li­chen den un­ab­weis­ba­ren Be­dürf­nis­sen des Ma­gens und des Bau­ches zu die­nen hat­ten. Es kam her­nach die Welt Un­term Saal, die zwar als ein Teil des Ho­fes an­zu­se­hen ist, aber ei­ge­ne Funk­tio­nen hat­te. So lag die Kut­scher­stu­be dort und die Putz­stu­be der Haus­knech­te, be­son­ders aber wirk­te sich hier der Be­trieb des Wein­kel­lers mit Fla­schen­wa­schen, Fäs­ser­rei­ni­gen und der­glei­chen re­gen­si­cher aus.

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Von den Sä­len zur Kut­scher­stu­be war ein großer Schritt. In ei­nem fens­ter­lo­sen Raum blak­te all­zeit eine Öl­fun­zel, es herrsch­te kei­ne Sau­ber­keit, es roch nach Bier, Fu­sel und Spei­se­res­ten. Die­se Kut­scher­stu­be war eine Dreck­bu­de, wo aber doch viel Be­ha­gen, Ge­läch­ter, der­bes Flu­chen und Kar­ten-auf-den-Tisch-Hau­en in je­nem nie­der­län­di­schen Stil laut wur­de, der sich auf man­chem Osta­de des Klei­nen Saals er­schloss. Im Gie­bel des Hau­ses ebener­dig nach der Stra­ße hin­aus lag noch die Bier­stu­be, die Schwem­me, wie man in Ös­ter­reich sagt, de­ren Tür auf die Gas­se ging und die zeit­wei­lig Schau­spie­ler Erm­ler ge­pach­tet hat­te. Sie war ein ma­nier­lich volks­tüm­li­cher Auf­ent­halt, der ge­le­gent­lich auch wohl von den Ho­no­ra­tio­ren des Orts be­sucht wur­de.

Der Hin­ter­gar­ten war das Ge­biet, wo man sich in der un­ge­bun­dens­ten Wild­heit aus­tob­te. Der große Dün­ger­hau­fen der Pfer­de­stäl­le be­fand sich dort, der Eis­kel­ler, um den her­um es sehr übel nach Schlacht­haus roch, aber auch ein Warm­haus, des­sen Pal­men, Lor­beer- und Fei­gen­bäu­me und sel­te­ne Blu­men mir die ers­te Bot­schaft ei­ner schö­nen süd­li­chen Welt brach­ten.

Der Schnitt­wa­ren­la­den aber von Sand­berg, in der Front des Ho­tels, at­me­te eine vor­neh­me Stil­le. Der grau­be­haar­te Schei­tel des al­ten In­ha­bers, auf dem al­le­zeit ein ge­stick­tes Käpp­chen saß, sein mil­der Ernst, sei­ne selt­sa­me Spra­che und man­ches, was man mir von ihm er­zählt hat­te, da er Vor­ste­her der Salz­brun­ner jü­di­schen Ge­mein­de war, er­füll­ten mich mit ei­nem Re­spekt, in dem sich Be­frem­den und Neu­gier misch­ten.

Viertes Kapitel

So un­ge­fähr bo­ten sich zu­nächst die Schau­plät­ze dar, auf wel­chen ich mich im Voll­ge­nuss mei­nes Le­ben­strie­bes – im ge­sun­den Kin­de ist Freu­de und Le­ben ein und das­sel­be – in dau­ern­dem Wech­sel täg­lich be­weg­te. Sie la­gen auf zwei ver­schie­de­nen Haup­tebe­nen, von de­nen die eine die bür­ger­li­che, die an­de­re zwar nicht die durch­um pro­le­ta­ri­sche, aber je­den­falls die der brei­ten Mas­se des Vol­kes war. Ich kann nicht be­strei­ten, dass ich mich im Bür­ger­be­reich und in der Hut mei­ner El­tern ge­bor­gen fühl­te. Aber nichts­de­sto­we­ni­ger tauch­te ich Tag für Tag, mei­ner Nei­gung über­las­sen, in den Be­reich des Ho­fes, der Stra­ße, des Volks­le­bens. Nach un­ten zu wächst nun ein­mal die Na­tür­lich­keit, nach oben die Künst­lich­keit. Nach un­ten wächst die Ge­mein­sam­keit, von un­ten nach oben die Ein­sam­keit. Die Frei­heit nimmt zu von oben nach un­ten, von un­ten nach oben die Ge­bun­den­heit. Ein ge­sun­des Kind, das von un­ten nach oben wächst, ist zu­nächst we­sen­haft volks­tüm­lich, vor­aus­ge­setzt, dass es nicht durch Ge­ne­ra­tio­nen ver­küns­tel­ten Bür­ger­tums ver­dor­ben ist. Das Kind steht dem bäu­er­li­chen Kin­der­mäd­chen nä­her als sei­ner Mut­ter, wenn die­se eine Sa­lon­da­me ist: und die Mut­ter, wenn sie es ist, weiß mit dem Kin­de, das sie ge­bar, nichts an­zu­fan­gen. Fuhr­hal­ter Krau­se, der im Hofe die Herr­schaft führ­te, sprach mit sei­nem Soh­ne Gu­stav und mit mir, wie man mit sei­nes­glei­chen spricht. Nie wur­de ihm oder mir von Krau­se klar­ge­macht, dass wir dum­me Jun­gens sei­en und uns als min­der­wer­ti­ge We­sen an­zu­se­hen hät­ten. Auch von Va­ter und Mut­ter er­lit­ten wir kei­ne mo­ra­li­sche Er­nied­ri­gung, au­ßer wo wir mit Recht oder Un­recht ge­schol­ten wur­den. Aber es lag nun ein­mal im Geis­te des obe­ren Be­reichs, dass man sich nicht na­tür­lich be­tra­gen konn­te. Der Un­ter­schied zwi­schen un­ten und oben war so groß, wie der zwi­schen dem sinn­lich-see­len­vol­len Dia­lekt und dem sinn­lich-ar­men, na­he­zu ent­seel­ten Schrift­deutsch ist, das als Hoch­deutsch ge­spro­chen wird. Un­ten im Hof er­zog die Na­tur, oben wur­de man, wie man fühl­te, nach ei­nem be­wuss­ten mensch­li­chen Plan für ir­gend­ei­ne kom­men­de Auf­ga­be zu­ge­rich­tet. Ko­chen, Es­sen, Schla­fen, das al­les ging vor sich in ei­nem ein­zi­gen Zim­mer des Krau­se­be­reichs.

Jeg­li­ches Ding dar­in hat­te sei­ne Auf­ga­be. Oben war eine Zim­mer­flucht, die zum großen Teil nur von Glas­schrän­ken mit Bü­chern und Nip­pes, von Spie­geln, un­be­nutz­ten Kom­mo­den, Ti­schen und Ses­seln und von ei­ni­gen schweig­sa­men Flie­gen be­wohnt wur­de. Die stum­me Spra­che die­ser Din­ge, Uhren, Por­zel­la­ne, Zier­glä­ser, Tep­pi­che, Tisch­de­cken und der­glei­chen, wie­der­hol­te im­mer­zu: Ma­che hier kei­nen Riss, dort kei­nen Fleck, stoß mich nicht an, stoß mich nicht um, und so fort. Un­ten gab es der­glei­chen Rück­sich­ten nicht.

Und oben, nicht un­ten, wohnt auch die Ei­tel­keit. Da sind ihre großen und klei­nen Spie­gel, die über das Un­ten kei­ne Macht ha­ben. Dort prüft der ge­küns­tel­te Mensch und schon das Kind tag­täg­lich sein Aus­se­hen. Bei sol­cher Ge­le­gen­heit hat mich das mei­ne nie be­frie­digt. Auch dem Ge­cken mag üb­ri­gens et­was an­haf­ten von der­glei­chen Un­zu­frie­den­heit, er wür­de sonst im Aus­putz sei­ner Per­son nicht so ru­he­los wech­seln. Der wohl­ge­klei­de­te Mensch wird ge­se­hen. Er ver­gisst nicht, darf nicht ver­ges­sen, dass es so ist. Wenn er aus­geht, ist er sein ei­ge­ner Spie­gel. Der ein­fa­che Mensch sieht nur um sich her.

Wenn der ein­fa­che Mann müde ist, macht er Fei­er­abend, oder er macht eine Ar­beit­s­pau­se, die er sich, wie er kann, ver­süßt. Der ge­sun­de Mann aus dem Vol­ke ist durch und durch we­sent­lich: lee­res Ge­re­de kennt er nicht. Wenn er spricht, wird es Hand und Fuß ha­ben. Das macht zu­nächst der im­mer na­he­lie­gen­de Ge­gen­stand, der sei­ne täg­li­che Ar­beit und de­ren Fehl­schla­gen oder Ge­lin­gen ist. Je­des Wort die­ser Rede ist kraft­voll und voll­gül­tig. Sie ge­stal­tet die Spra­che neu und in je­dem Au­gen­blick, wes­halb schon Mar­tin Luther sagt: »Man muss dem ge­mei­nen Mann aufs Maul schau­en, wenn man wis­sen will, was Spra­che ist.« So­kra­tes sagt un­ge­fähr das­sel­be.

*

Das Spei­sen am wohl­ge­deck­ten Ti­sche mei­ner El­tern in Num­mer Drei ver­lor für län­ge­re Zeit sei­nen Reiz, als ich ein­mal bei Krau­ses ge­ges­sen hat­te. Ich saß mit Krau­se, sei­ner Frau, Gu­stav und Ida so­wie ei­nem al­ten Knecht um den ge­scheu­er­ten Tisch. In der Mit­te stand eine große, brau­ne, tie­fe Schüs­sel aus Bunz­lau­er Ton, in die wir, je­der mit sei­ner Ga­bel, hin­ein­lang­ten. Wir grif­fen zu den Zinn­löf­feln, als nur noch Brü­he dar­in vor­han­den war. Mes­ser und Tel­ler gab es nicht.

Es ging bei die­ser schlich­ten Bau­ern­mahl­zeit schweig­sam und ma­nier­lich zu. Dass man mit vol­lem Mun­de nicht spricht, soll­te sich ja von selbst ver­ste­hen. Es kom­men da­bei, selbst in ho­hen und höchs­ten Krei­sen, Spru­de­lei­en und an­de­re un­ap­pe­tit­li­che Din­ge vor. Trotz­dem wir mit aus­ge­streck­tem Arm zu­lan­gen und den Bis­sen durch die Luft füh­ren muss­ten, ehe wir ihn in den Mund steck­ten, wies die Tisch­plat­te am Schluss kei­ne Fle­cken auf. Was Frau Krau­se ge­kocht hat­te, war ein Ge­misch von Klö­ßen und Sau­er­kraut in ei­ner Brü­he aus Schwei­ne­fleisch. Die­ses Ge­richt war de­li­kat. Nie­mals spä­ter ge­noss ich wie­der­um sol­ches Sau­er­kraut. Es wur­de von dem al­ten Knecht und von Krau­se, nach­dem sie be­dacht­sam die Ga­bel dar­in ge­dreht und so die lan­gen, dün­nen Fä­den wie auf einen Wo­cken ge­wi­ckelt hat­ten, aus der Tun­ke her­aus­ge­holt. Dass sie die­sel­be Ga­bel, die sie in den Mund ge­steckt hat­ten, wie­der in die ge­mein­sa­me Schüs­sel tauch­ten, fiel mir nicht auf. Die lang­sa­me Sorg­falt des Vor­gangs ließ den Ge­dan­ken an et­was Unap­pe­tit­li­ches gar nicht auf­kom­men.

Tisch­ge­be­te sprach man bei den Mahl­zei­ten des Fuhr­herrn nicht. Aber die gan­ze Pro­ze­dur die­ser ge­las­se­nen Nah­rungs­auf­nah­me, bei der nie­mand, auch nicht die Kin­der, im Ge­rings­ten Un­ge­duld, Hast oder Gier zeig­te, war fei­er­lich. Sie war bei­na­he selbst ein Ge­bet. Hier wuss­te man, was das täg­li­che Brot be­deu­te­te, und der In­stinkt ent­schied, wel­che Wür­de ihm zu­zu­spre­chen war.

Üb­ri­gens war durch die schwe­re, som­mer­spros­si­ge Hand und den he­ra­kli­schen Arm des Fuhr­herrn der Rhyth­mus die­ses Fa­mi­li­en­mah­les an­ge­zeigt. Nie­mand hat­te sich un­ter­fan­gen und sei­ne Ga­bel oder den Löf­fel, wäh­rend er es ein­mal tat, zwei­mal in die Schüs­sel ge­taucht.

Fuhr­mann Krau­se war eine Art Spe­di­teur. Der Trans­port des Brun­nen­ver­san­des zur Bahn­sta­ti­on lag in sei­ner Hand. Eben­so hol­te er re­gel­mä­ßig mit sei­nem Om­ni­bus von eben­der Bahn­sta­ti­on Frei­burg die an­kom­men­den Frem­den ab und brach­te dort­hin die Abrei­sen­den. Der Om­ni­bus, wenn er nicht un­ter­wegs war, stand in un­serm Hof, wo sei­ne Pols­ter ge­klopft, sei­ne Ach­sen ge­schmiert und das gan­ze Mon­strum mehr­mals die Wo­che von oben bis un­ten ge­putzt und ge­wa­schen wur­de. Das Klir­ren der höl­zer­nen Ei­mer mit den ei­ser­nen Trag­bo­gen, das Lär­men der Pfer­de­knech­te mach­te die Mu­sik dazu.

Ich den­ke da­bei an die Som­mer­zeit, wo ich über­all und nir­gend zu Hau­se war. Die kur­ze Schul­zeit aus­ge­nom­men, trieb ich mich in den Stäl­len zwi­schen den Pfer­den, in der Kut­scher­stu­be, im Hin­ter­gar­ten, viel­fach auch auf den fla­chen, be­moos­ten Dä­chern der Saal­bau­ten her­um.

Fast nie er­füll­te ich das Ge­bot mei­nes Va­ters: ohne Kopf­be­de­ckung nicht aus­zu­ge­hen. Da ich also, un­ge­hor­sam, im­mer mit bloßem Kop­fe her­um­rann­te, ver­mied ich nach Mög­lich­keit, von mei­nem Va­ter ge­se­hen zu wer­den. Auch setz­te er ge­wiss nicht vor­aus, bis zu wel­chem Gra­de ich mich in die Ge­pflo­gen­hei­ten der Stra­ßen­jun­gen ein­le­ben wür­de. Ich fing zum Bei­spiel, mit ih­nen in ei­nem Ru­del ver­eint, den Om­ni­bus, wenn er von der Bahn kam, vor dem Zie­le ab und ver­folg­te ihn, eben­falls mit­ten im Ru­del, gehüllt in eine dich­te Staub­wol­ke. Der Zweck war, den an­lan­gen­den Kur­gäs­ten Hand­ge­päck zu ent­rei­ßen, um es ge­gen Ent­gelt hin­ter ih­nen drein in das Lo­gis zu schlep­pen. Ich habe das nur ein­mal ge­tan, denn die Be­hand­lung, die ich da­bei er­fuhr, die Last, die ich zu tra­gen hat­te, und die Ent­loh­nung durch einen Kup­fer­drei­er, den ich emp­fing, all das war an­ge­tan, mich von die­ser Art Brot­er­werb ab­zu­brin­gen.

Fünftes Kapitel

Der Gast­hof hat­te im Win­ter et­was Ver­geis­ter­tes. Das Le­ben sei­ner som­mer­li­chen Da­seins­form durch­s­pens­ter­te sei­ne win­ter­li­che. Die Kor­ri­do­re, die ein­zel­nen Lo­gier­zim­mer, die Säle, die Kü­che, die Wasch­kü­che wa­ren von den Schat­ten der Ge­stal­ten be­lebt, die im Som­mer dar­in ge­haust hat­ten. Manch­mal, etwa wenn nächt­li­cher No­vem­ber­sturm das Haus um­braus­te, stand ich plötz­lich wie an­ge­wur­zelt in ei­nem der aus­ge­stor­be­nen, fins­te­ren Flu­re still, weil, wie in ei­nem hel­len Blitz, das Som­mer­le­ben des Hau­ses auf­lärm­te: Wa­gen­ge­rum­pel, Ei­mer­ge­klirr, Kin­der- und Kut­scher­ge­schrei im Hof, in den Sä­len Teller­ge­klap­per und dump­fes Ge­summ, Men­schen­ge­wim­mel auf der Stra­ße, pol­ni­sche Ju­den mit Pa­jes,1 und Ro­ckelor2 Lärm, Lärm und wie­der Lärm! Al­les nur einen Au­gen­blick: dann heul­te Fins­ter­nis um die Mau­ern.

Wie furcht­sa­me Scha­fe dräng­ten wir Kin­der uns zu­sam­men: wir hat­ten etwa in Nu­me­ro Neun ein fürch­ter­li­ches Hus­ten ge­hört. Es war das Lo­gier­zim­mer, in dem ein Lun­gen­kran­ker vor Jah­ren ge­stor­ben war. Oder von ir­gend­ei­ner lee­ren Stu­be aus wur­de nachts die Schel­le ge­zo­gen: Furcht und Grau­sen schüt­tel­te uns. Sol­che Vor­fäl­le wur­den meist nicht auf­ge­klärt.

Mein Va­ter lieb­te Nacht­lich­te. Ein sol­ches klei­nes, knis­tern­des Licht­we­sen, das auf ei­ner Öl­schicht in ei­nem Glas Was­ser schwamm, hat­te die trost­lo­se Auf­ga­be, den Weg durch den ei­si­gen Klei­nen Saal zur Pri­vat­kü­che sicht­bar zu ma­chen. »Ger­hart, geh doch mal! Ger­hart, hole doch mal!« hieß es in den be­hag­lich durch­heiz­ten Wohn­zim­mern. Dann muss­te ich wohl oder übel in den Be­reich des Nacht­lichts hin­aus, der ho­hen Fens­ter, er­blin­det durch Eis­blu­men, des Saals mit den frie­ren­den Rem­brandt­bil­dern an der Wand, muss­te mir Mut ma­chen, muss­te hin­durch­ja­gen, muss­te durch die lee­re Ho­tel­kü­che, die nach ros­ti­gem Ei­sen roch und wo der Wind Häuf­chen Schnee auf den kal­ten Herd­plat­ten jag­te, dreh­te und wir­bel­te.

Aber wir wä­ren nicht Kin­der ge­we­sen, wenn nicht der Ko­bold in uns auch die­ser Drang­sal eine lus­ti­ge Sei­te ab­ge­won­nen hät­te. Mei­ne Schwes­ter Jo­han­na ging uns hier­in vor­an. Es han­del­te sich um das von Kin­dern so gern ge­üb­te Er­schre­cken. Ei­ner von uns über­wand sei­ne Furcht und ver­steck­te sich in der Fins­ter­nis. Kam der Be­auf­trag­te dann in Sicht, etwa lang­sam oder furcht­sam vor­schrei­tend, so schlug der Ver­steck­te wohl mit ei­nem Stock auf ein Mö­bel­stück, was der Furcht­sa­me mit ei­nem Schrei und Flucht be­ant­wor­te­te. Oder der Be­auf­trag­te flog wie ge­hetzt von Ein­gangs­tür zu Aus­gangs­tür, und die­se wur­de von au­ßen zu­ge­hal­ten. Er rann­te zu­rück, fand, dass auch die Ein­gangs­tür ver­rie­gelt war, und sah sich den grin­sen­den Bild­dä­mo­nen an der Wand und al­len mög­li­chen Ängs­ten preis­ge­ge­ben.

Fast möch­te ich es als Glück mei­ner Ju­gend be­zeich­nen, dass sich un­ser Da­sein nur im Win­ter zu ei­nem ech­ten Fa­mi­li­en­le­ben eineng­te: im Som­mer trat an sei­ne Stel­le für mich eine über­aus glän­zen­de Viel­falt im­mer­wäh­ren­der Fest­lich­keit.

In der zwei­ten Hälf­te des Mo­nats April zo­gen Haus­die­ner und Zim­mer­mäd­chen auf. Das große Rei­ne­ma­chen be­gann. Die ho­hen Gla­stü­ren des Gro­ßen Saals, durch die man eine Ter­ras­se be­trat, wur­den weit auf­ge­sperrt, des­glei­chen die Fens­ter des Klei­nen Saals und al­ler Lo­gier­zim­mer. Man trug die Ma­trat­zen an re­gen­frei­en Ta­gen vor das Haus, wo als­bald Schleu­ße­rin­nen und Haus­knech­te un­ter lau­ten Spä­ßen und Ge­läch­ter die Aus­klop­fer schwan­gen. Der gan­ze Ort wi­der­hall­te da­von. Es wur­den da­bei man­che Na­men ge­ru­fen von Leu­ten, die nicht durch­aus be­liebt wa­ren, wo­durch die Schlä­ge schnel­ler und kräf­ti­ger nie­der­knall­ten.

Des Un­ge­zie­fers we­gen wur­den in­zwi­schen die Fu­gen der Bett­stel­len mit Pe­tro­le­um ab­ge­pin­selt. In den Fens­tern stan­den die Mäd­chen hals­bre­che­risch, wu­schen die Schei­ben und rie­ben sie tro­cken. Oder der Schrub­ber herrsch­te, und die Die­len schwam­men in schmut­zi­gem Was­ser. Über­all roch es nach Sei­fe und nas­sen Ha­dern, und die mil­den Lüf­te des Früh­lings dran­gen ins in­ners­te In­ne­re des Hau­ses ein.

Ich emp­fand dies al­les als et­was Be­glücken­des, wälz­te mich auf den Ma­trat­zen her­um oder be­rausch­te mich zwi­schen den al­ler­lei Pols­ter­mö­beln, die man eben­falls, um sie aus­zu­klop­fen, in den vor­de­ren Zier­gar­ten ge­bracht hat­te. Der Reiz des Un­ge­wöhn­li­chen, Ses­sel und So­fas zwi­schen Gar­ten­bee­ten zu fin­den, ver­setz­te mich in Be­geis­te­rung.

Ei­nes Ta­ges hat­te dann der Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne zu sei­ner ei­gent­li­chen Be­stim­mung zu­rück­ge­fun­den. Die Lun­gen sei­ner Fens­ter be­wirk­ten ge­sun­des Ein- und Au­sat­men. Durch sei­ne hel­len, wie­der­um se­hen­den Au­gen er­goss sich Licht und spül­te aus al­len Win­keln die Fins­ter­nis. Die Zim­mer glänz­ten vor Wohn­lich­keit. Die Ker­zen in den sil­ber­nen Leuch­tern tru­gen fri­sche Man­schet­ten. Von Kell­nern wur­den Glä­ser ge­putzt. Frau Riedl, ge­nannt die Mam­sell,3 war ein­ge­trof­fen. Sie hat­te hin­ter ei­nem Bü­fett vor der Kü­che ih­ren Stand, um, wenn es so weit war, die Spei­sen von dort den Kell­nern wei­ter­zu­rei­chen. Die Kü­che, in die nun der Koch ein­ge­zo­gen war, er­schi­en hei­ter, hell und gar nicht mehr fürch­ter­lich. Lor­beer, Pal­me, Zy­pres­se und Fei­gen­baum, al­les in Kü­beln, schmück­ten die Au­ßen­wand und so die Ter­ras­se vor dem Gro­ßen Saal. Die Vö­gel lärm­ten in den An­la­gen. Ei­ni­ge ge­deck­te Ti­sche wa­ren im Gar­ten auf­ge­stellt.

Krau­se wusch sei­nen Om­ni­bus, wäh­rend um ihn die Schwal­ben schrill­ten, die in den Stäl­len und Un­term Saal zu Nes­te tru­gen. Sand­berg stand vor der of­fe­nen La­den­tür und wei­de­te sich an sei­nem Schau­fens­ter, in dem er die Schnitt­wa­ren neu ge­ord­net hat­te. Im Ein­gangs­raum des Gast­ho­fes hat­te ein Bi­jou­te­rie­händ­ler sei­ne Aus­la­ge.

*

So war die Kro­ne aus ih­rem Win­ter­schlaf er­wacht, hat­te ihre Wie­der­ge­burt, ja ihre Au­fer­ste­hung ge­fei­ert, sich ge­wa­schen, ge­putzt und Fest­klei­der an­ge­legt. Und nun muss­ten die Kur­gäs­te kom­men, die den Vor­teil von al­le­dem ha­ben und brin­gen soll­ten. Denn die alte Kro­ne war nicht nur eine Glu­cke, die win­ters ihre Flü­gel über uns hielt, son­dern sie leg­te auch gol­de­ne Eier.

Eine Per­sön­lich­keit, die im­mer wie­der be­son­de­ren Ein­druck mach­te, war der je­wei­li­ge Koch. Man nann­te ihn all­ge­mein den Chef. Ein sol­cher Chef nahm mich, so­lan­ge ich klein ge­nug dazu war, so­oft er konn­te, auf den Arm, und ein Name, den er mir gab, Pflau­men­frit­ze, ist mir in Erin­ne­rung. Er trug mich näm­lich je­des Mal in die Spei­se­kam­mer und ließ mich in einen Sack ge­dörr­ter Pflau­men hin­ein­lan­gen.

Ein an­de­rer Koch, ein jun­ger Mensch, der mich eben­falls auf den Arm ge­nom­men hat­te, ist mir er­in­ner­lich und ein nied­li­cher Vor­gang, der die gan­ze Kü­che er­hei­ter­te: der lus­ti­ge Chef nahm mit den Fin­gern frisch ge­koch­te Spar­gel von ei­ner Plat­te, tauch­te die Spit­zen in But­ter und ließ sie mich ab­bei­ßen, der üb­rig­ge­blie­be­ne Sten­gel flog zum of­fe­nen Fens­ter hin­aus.

Frau Milo hieß eine Koch­kö­chin, die ne­ben dem Chef wirk­te. Auch sie nahm mich ei­nes Ta­ges – etwa drei­jäh­rig moch­te ich ge­we­sen sein – auf den Arm. Da fiel mir auf, dass ir­gen­det­was an ihr be­fremd­lich her­vor­rag­te. Ich hat­te den Be­griff ei­ner weib­li­chen Brust noch nicht, so klopf­te ich mit der Hand auf den un­be­greif­li­chen Ge­gen­stand und stell­te die Fra­ge, was das wäre, wor­auf die gan­ze Kü­che vor La­chen fast au­ßer sich ge­riet und Frau Milo dun­kel­rot im Ge­sicht wur­de.

Vom Arme ir­gend­je­man­des aus sah ich zum ers­ten Mal die wohl­ge­ord­ne­te Spei­se­kam­mer vom Dachrö­dens­hof. Das war ein be­nach­bar­tes Haus, das mein Groß­va­ter Straeh­ler, der Brun­nen­in­spek­tor, ge­baut hat­te und in dem er mit zwei un­ver­hei­ra­te­ten Töch­tern wohn­te.

Das In­ter­es­se der Kö­che und ähn­li­cher kin­der­lie­ber Men­schen setz­te aus, als ich äl­ter ge­wor­den war und zur Schu­le ging. Es wäre mir auch nur läs­tig ge­we­sen.

Ein Wild­ling wie ich fürch­te­te Zwang von al­len Er­wach­se­nen. Wo ich nur konn­te, mied ich sie. Die blo­ße Berüh­rung durch einen von ih­nen war mir un­leid­lich.

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Sechstes Kapitel

Den Zwang und Ker­ker der Schu­le konn­te man frei­lich nicht aus­schal­ten.

Im Win­ter war der Schul­weg bis auf Prü­ge­lei­en und Schnee­ball­schlach­ten ohne Be­lang. Im Som­mer wur­de er da­durch ge­würzt, dass wir am ge­öff­ne­ten Kur­thea­ter vor­bei muss­ten. Es war ein Holz­bau, äu­ßer­lich eine ver­wit­ter­te Bretter­ba­ra­cke, die mein Groß­va­ter, wie auch Brun­nen- und Eli­sen­hal­le, An­na­turm und an­de­res, durch sei­nen Freund und Ma­ler-Archi­tek­ten Jo­sef Fried­rich Raa­be, der zu Goe­the in en­gen Be­zie­hun­gen stand, hat­te er­rich­ten las­sen. Wenn wir zur Schu­le gin­gen, wa­ren meist Pro­ben, und vor den Ein­gän­gen stan­den die Schau­spie­ler. Was im Thea­ter selbst vor­ge­hen moch­te, blieb uns Kin­dern lan­ge ein Mys­te­ri­um; umso wil­der wu­cher­ten die Gerüch­te. Einst wur­de mir ein Jüng­ling ge­zeigt, der heu­te sein Be­ne­fiz hat­te. Was soll­te das sein: Be­ne­fiz? Et­was Furcht­ba­res si­cher­lich. Ohne es zu ah­nen, ka­men wir der alt­grie­chi­schen Ri­tu­al­büh­ne und den Ge­pflo­gen­hei­ten des rö­mi­schen Ko­los­se­ums in uns­ren Ge­dan­ken sehr nahe, denn uns war der Jüng­ling tod­ge­weiht. Es hieß, er müs­se am Abend zum Schluss des Stückes sich sel­ber er­ste­chen, oder er wer­de hin­ge­rich­tet.

Die­se Sa­che er­schi­en mir selbst­ver­ständ­lich. Von ei­nem flüch­ti­gen Gru­seln ab­ge­se­hen, nahm ich sie hin, als ob man ge­sagt hät­te, mor­gen wer­den uns in der Schu­le Bi­bel­sprü­che ab­ge­hört.

*

Der alte Leh­rer Bren­del, der sei­ne Fin­ger­knie­bel ge­wöhn­lich auf die ers­te Schul­bank stütz­te und dar­um eine di­cke Horn­haut auf ih­nen hat­te, war der fleisch­ge­wor­de­ne Zorn. Zorn war An­fang, Mit­te und Ende sei­nes Un­ter­richts. Er wür­de sich nichts ver­ge­ben ha­ben, wenn er un­ver­se­hens ein­mal ge­lacht hät­te. Als er ge­le­gent­lich mit sei­nem gel­ben Rohr­stock, um einen Schü­ler ab­zu­stra­fen, in die Bank lang­te, er­hielt ich, nicht der Ge­mein­te, den wuch­ti­gen Schlag, wor­auf er denn doch be­tre­te­ne Wor­te stam­mel­te.

Am Schluss der Stun­de sang man: »Nun dan­ket alle Gott mit Her­zen, Mund und Hän­den!« Wir setz­ten still­schwei­gend hin­zu: da­für, dass die Schu­le zu Ende ist. Nie jauchz­te ein tiefer ge­fühl­ter Dank zum Him­mel. Mit dem letz­ten Ton braus­ten wir auf die Stra­ße.

Dass wir in den Kur­gäs­ten und in ih­ren wohl­ge­klei­de­ten, wohl­ge­putz­ten Kin­dern hö­he­re We­sen se­hen muss­ten, war eine Un­ver­meid­lich­keit: ka­men sie doch aus Ham­burg, Bre­men, Ber­lin, Dan­zig, ja aus Sankt Pe­ters­burg oder War­schau, Städ­ten, von de­nen ich we­nig wuss­te, de­ren Na­men je­doch wie Son­nen glänz­ten. Es wa­ren durch­aus nicht nur Lun­gen­kran­ke, die Salz­brunn auf­such­ten, wenn auch der hus­ten­de, kräch­zen­de, Schleim aus­wer­fen­de Schwind­suchts­kan­di­dat zum Bil­de des Ba­des ge­hör­te. Er be­weg­te sich aber in den Wo­gen ei­ner ihn nicht be­ach­ten­den, hei­ter­bun­ten Le­be­welt, die sich auf der Brun­nen­pro­me­na­de und in der do­ri­schen Tem­pel­hal­le täg­lich mehr­mals zu­sam­men­fand. Man übte da­mals noch eine selbst­ver­ständ­li­che Duld­sam­keit. Der Ge­sun­de, der Leicht-, der Schwe­rer­krank­te wur­den über­all und so auch in der Preu­ßi­schen Kro­ne un­be­denk­lich und wahl­los auf­ge­nom­men.

Wie ge­sagt, die Frem­den wa­ren uns Kin­dern Halb­göt­ter. Um ih­ret­wil­len wur­den Ber­ge von Fleisch ver­ar­bei­tet, Fracht­kis­ten mit See­fisch ka­men, die bes­ten Ge­mü­se wur­den für sie ge­putzt, die aus­er­le­sens­ten Früch­te ver­ar­bei­tet. Im In­nern des Brun­nen­ho­fes, ei­nes Lo­gier­hau­ses, das zum Bade ge­hör­te und das mein Va­ter ge­pach­tet hat­te, war ein großes Stein­bas­sin, aus dem man je­der­zeit mit dem Netz le­ben­de Bach­fo­rel­len fi­schen konn­te. Dass des Abends Cham­pa­gner­pfrop­fen im Saa­le knall­ten, war kei­ne Sel­ten­heit.

Al­les dies ward von den Frem­den be­an­sprucht und, was mehr ist, von ih­nen be­zahlt. Sie ka­men und leb­ten aus vol­len Sä­ckeln. So habe ich wohl si­cher­lich den Be­griff von Geld und Gel­des­wert schon um jene Zeit ge­habt und ge­wusst, dass es dar­auf an­kam, mög­lichst viel da­von in den Kas­sen­be­häl­tern des Gast­hofs zu­rück­zu­be­hal­ten.

In Be­zie­hung auf die Kin­der von Kur­gäs­ten kommt mir ein sehr frü­hes Er­leb­nis mit Carl in Erin­ne­rung. Man hat­te im Vor­der­gar­ten einen Baum ge­fällt, der kah­le Stamm lag auf der Erde. Eng an­ein­an­der ge­quetscht wie Sper­lin­ge, hat­ten wir Klei­nen dar­auf Platz ge­nom­men. Vornan, al­ler­dings hin­ter ei­nem weiß­ge­klei­de­ten Mägd­lein mit bun­ten Bän­dern im of­fe­nen Haar, das er aus ir­gend­ei­nem Grun­de von rück­wärts um­armt hal­ten muss­te, saß Carl. Ich kam zu­letzt als der Kleins­te der Klei­nen. Mei­ne Ohn­macht brann­te vor Scham und Ei­fer­sucht, mein Elend aber war dar­um so groß, weil ich mei­ne Ge­füh­le ver­schwei­gen muss­te. Ich er­kann­te deut­lich die Lä­cher­lich­keit, der ich Knirps sonst ver­fal­len wäre.

*

Wir hat­ten an­fäng­lich nicht die glei­che Schul­zeit, Carl und ich, so mach­te je­der den Schul­weg al­lein. Spä­ter, als ich in sei­ne Klas­se auf­stieg, leg­ten wir ihn ge­mein­sam zu­rück. Ich er­klä­re es mir als naiv-sa­dis­ti­schen Zug, dass mein Bru­der mich manch­mal hin­ten beim Kra­gen pack­te, wenn wir die Schu­le ver­las­sen hat­ten, und mich, zu mei­ner Qual, wie einen Ar­re­tier­ten vor sich her nach Hau­se be­för­der­te. Ich ver­mehr­te da­bei mei­ne Lei­den durch nutz­lo­sen Wi­der­stand.

Ei­nes Ta­ges auf dem Nach­hau­se­we­ge wur­de mir Carls Be­tra­gen über­aus wun­der­lich. Aus der Schu­le ge­tre­ten, such­te er so­gleich einen Ru­he­platz, dann einen zwei­ten. Der Post­hof, ein Kas­ta­ni­en­hain, war mit hän­gen­den Ket­ten zwi­schen nied­ri­gen Gra­nit­pfei­lern ein­ge­fasst: Carl such­te auf ei­ner der Ket­ten Ruhe. Dann kam die Stra­ße mit meh­re­ren Prell­stei­nen: er schlepp­te sich von Prell­stein zu Prell­stein fort. So sind wir all­mäh­lich nach Hau­se ge­langt. Eine hal­be Stun­de spä­ter er­fuhr ich, dass mei­nen Bru­der eine schwe­re Krank­heit be­fal­len habe.

Die Mut­ter wein­te und stell­te sich den denk­bar schlimms­ten Aus­gang vor. Der Va­ter war ernst: man müs­se sich auf al­les ge­fasst ma­chen, nur Gott kön­ne wis­sen, ob wir Carl be­hal­ten wür­den oder nicht. Aber den­noch: er hof­fe zu Gott.

Ich er­leb­te nun eine Rei­he sor­gen­vol­ler Tage und auch Näch­te mit, da ich zu­wei­len von mei­ner Schwes­ter Jo­han­na, als gel­te es, von mei­nem Bru­der Ab­schied zu neh­men, ge­weckt wur­de oder auch von den Geräuschen er­wach­te, die, da ei­gent­lich nie­mand im Hau­se schlief, die gan­ze Nacht nicht auf­hör­ten. Mein Va­ter zog au­ßer mei­nem On­kel, Dok­tor Straeh­ler, noch einen äl­te­ren Arzt, Dok­tor Rich­ter, ein orts­be­kann­tes Ori­gi­nal, hin­zu. Wenn mein Bru­der die Krank­heit – es han­del­te sich um eine Lun­gen­ent­zün­dung – dann über­stand, so ret­te­ten ihn, wie mein Va­ter we­nigs­tens an­nahm, sei­ne Ratschlä­ge.

Ta­ge­lang ver­brach­te Carl im Zu­stand der Be­wusst­lo­sig­keit. Bar­bier Krau­se, ein zwei­ter Krau­se, zu­gleich Heil­ge­hil­fe, wie es da­mals üb­lich war, der sei­ne Stu­be in ei­nem klei­nen An­bau schräg­über von der Schenk­stu­be hat­te, setz­te Schröpf­köp­fe und ope­rier­te mit Blut­egeln. Die Kran­ken­stu­be be­trat ich nicht.

Mei­ne Schwes­ter und mei­ne Mut­ter müs­sen mich von dem, was dort ge­sch­ah, un­ter­rich­tet ha­ben. Der Kran­ke, von schreck­li­chen Fan­tasi­en ge­plagt, sah Rei­hen von Leich­na­men, die un­ter dem Gast­hof zur Kro­ne be­stat­tet wa­ren. Als der bra­ve Bar­bier ihm Schröpf­köp­fe setz­te, rang er sei­ne Hän­de zum Him­mel, und in­dem er sich be­klag­te, in was für Hän­de er ge­fal­len sei, gab er sich selbst die tra­gi­ko­mi­sche Ant­wort: in Bier­hän­de. Es kam die Kri­sis und da­mit der große und be­frei­en­de Au­gen­blick, als plötz­lich das Fie­ber ge­sun­ken war und Dok­tor Rich­ter er­klä­ren konn­te, die Ge­fahr sei nach Men­sche­ner­mes­sen vor­über.

Es ist na­tür­lich, dass mei­ne Mut­ter mich un­ter Freu­den­trä­nen in die Arme schloss. Aber auch mein Va­ter, von dem ich bis da­hin eben­so­we­nig glaub­te, dass er la­chen wie dass er wei­nen kön­ne, nahm sei­ne Bril­le ab und tupf­te sich mit dem Tu­che die Au­gen. Als man den Kran­ken, der mit selt­sa­mer Klar­heit sei­nen ei­ge­nen Zu­stand ver­folgt hat­te, von dem glück­li­chen Um­schwung ver­stän­dig­te, er­griff ihn eine glück­se­li­ge Er­schüt­te­rung. Wir muss­ten alle zu ihm hin­ein­kom­men: »Va­ter, Va­ter, ich bin ge­ret­tet! Ger­hart, denk doch, ich bin ge­ret­tet! Mut­ter, Mut­ter, ich bin ge­ret­tet! Hann­chen, hörst du, ich bin ge­ret­tet!« wie­der­hol­te er, uns die Hän­de, so gut es ge­hen woll­te, ent­ge­gen­stre­ckend, in ei­nem fort. Es hieß so viel: ich darf wie­der bei euch blei­ben.

Bei die­sem An­lass, der mich wohl zum ers­ten Mal in ein andres als mein eig­nes Schick­sal ver­wi­ckel­te, wur­de mir deut­lich, wel­che Fül­le ver­bor­ge­ner Lie­be un­ter dem so gleich­mä­ßig nüch­ter­nen We­sen ei­nes Va­ters, ei­ner Mut­ter be­schlos­sen lie­gen kann. Von die­sen un­sicht­ba­ren Kräf­ten und Ver­bun­den­hei­ten hat­te ich bis da­hin nichts ge­wusst. Fast be­frem­de­ten sie mich, als sie zu­ta­ge tra­ten, da sie schein­bar über mich hin­weg­gin­gen, mei­nem Bru­der und nicht mir gal­ten. Und so wur­de mir nicht ohne eine ge­lin­de Be­stür­zung klar, dass mein Bru­der nicht nur mein Bru­der, son­dern der Sohn mei­ner El­tern war und wie groß der An­teil wer­den konn­te, den ich ihm von ih­rer Lie­be ab­tre­ten muss­te.

Die­ses Er­eig­nis muss in die Zei­ten der Fa­mi­lie­nen­ge ge­fal­len sein, wo dann das lee­re und doch wohl ei­ni­ger­ma­ßen öde Haus den ver­düs­tern­den Rah­men bil­de­te. Fie­ber­fan­tasi­en des Kna­ben fan­den so auch in uns Ge­sun­den ge­eig­nets­ten Bo­den für ihr Fort­wu­chern, so die von den in lan­ger Rei­he un­ter den Fun­da­men­ten des Gast­hofs zur Preu­ßi­schen Kro­ne ein­ge­sarg­ten To­ten. Noch bis in die Tage der Re­kon­va­les­zenz hin­ein woll­te Carls Glau­be an die­ses Ge­sicht nicht nach­las­sen, so­dass man al­len Erns­tes er­wog, der Sa­che durch Gra­bun­gen nach­zu­ge­hen.

Siebentes Kapitel

Mein Groß­va­ter, wur­de ge­sagt, war Bade- oder Brun­nen­in­spek­tor. Er war also gleich­sam ein sou­ve­rä­ner Herr des Kur­be­trie­bes mit al­len sei­nen vor­han­de­nen An­stal­ten: vor­an dem Brun­nen, sei­ner Be­die­nung, sei­nem Aus­schank und sei­nem Ver­sand, der Pfle­ge der Eli­sen­hal­le und der Ver­mie­tung ih­rer Ver­kaufs­lä­den, dem Kur­saal, sei­ner Ver­pach­tung und sei­nem Be­trieb, den gärt­ne­ri­schen An­la­gen der Pro­me­na­den und der Pfle­ge des Parks, der Kur­ka­pel­le und dem Thea­ter. Wo er nicht ganz be­fahl, war den­noch sein Ein­fluss maß­ge­bend. Ich glau­be, er be­saß auf dem fürst­lich-ples­si­schen Kur­ge­biet so­gar Po­li­zei­ge­walt.

Alle die­se eben ge­nann­ten Be­triebs­zwei­ge cha­rak­te­ri­sie­ren den Ba­de­ort, und ich bin dank­bar, in sei­ner reiz­vol­len Ver­bin­dung von Kul­tur und Na­tur auf­ge­wach­sen zu sein.