Das Albgeräusch - Sven Koether - E-Book

Das Albgeräusch E-Book

Sven Koether

4,8

Beschreibung

Ein junger Mann will sich mit einem Laib Brot das Leben nehmen. Der ehemalige Offizier beweint in den unwirtlichen Weiten Ecuadors das Töten. Ein magisch-schönes Bild, das ein Junge im Haus des Großvaters findet, ist ein Grabstein. Eine Marienstatue erwacht unter den Berührungen eines Mönchs zum Leben - "Das Albgeräusch" versammelt meisterhafte Erzählungen, die mal absurd, mal düster, mal abgründig jene Dunkelheit heraufbeschwören, die selbst am helllichten Tag in den Winkeln unseres Daseins lauert. In ihrer klaren, schnörkellosen Sprache saugen die Geschichten den Leser förmlich in sich hinein, lassen ihn eintauchen in fremde und vertraute Welten - und erschrecken ihn zutiefst. Denn das Grauen ist wahr. Oder könnte es sein.

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Das Buch

Ein junger Mann will sich mit einem Laib Brot das Leben nehmen. Der ehemalige Offizier beweint in den unwirtlichen Weiten Ecuadors das Töten. Ein magisch-schönes Bild, das ein Junge im Haus des Großvaters findet, ist ein Grabstein. Eine Marienstatue erwacht unter den Berührungen eines Mönchs zum Leben – ›Das Albgeräusch‹ versammelt meisterhafte Erzählungen, die mal absurd, mal düster, mal abgründig jene Dunkelheit heraufbeschwören, die selbst am helllichten Tag in den Winkeln unseres Daseins lauert. In ihrer klaren, schnörkellosen Sprache saugen die Geschichten den Leser förmlich in sich hinein, lassen ihn eintauchen in fremde und vertraute Welten – und erschrecken ihn zutiefst. Denn das Grauen ist wahr. Oder könnte es sein.

Der Autor

Sven Koether, geboren 1967 in Bad Schwalbach und im Taunus aufgewachsen. Von 1997 bis 2002 Aufenthalt in Südamerika und Spanien. Danach erste Veröffentlichungen in Literaturforen, später in verschiedenen Anthologien. Gewinner des Literaturpreises ›Der Duft des Doppelpunktes‹ 2011. Schreibt auf seinem Blog ›Der Tlönfahrer‹.

www.wababbel.de/tloenfahrer

Für Nicole

INHALT

Das Albgeräusch

I KLINGELTÖNE

Brot

Die Madonna von Coìn

Die Mauer

Das Bild

Der Brunnen

II KLOPFZEICHEN

Das Lied – Der Hund – Der Berg

Der Offizier weint

Geziefer

Der Hahn

Das Frauenhaus von Sushufindi

Aufwachen

III GLOCKENSCHLÄGE

Die Strafe

Kinderlieder

Die Geschichte ohne ein Ende

DAS ALBGERÄUSCH

ALS Kind hatte ich neben den üblichen Albträumen auch ein Albgeräusch. Es war ein scharfkantiges Pfeifen, das stetig lauter wurde, während die Dunkelheit hinter meinen geschlossenen Lidern zu einem schwarzen Teig aufquoll, der mir die Augen langsam in den Kopf drückte.

Das Albgeräusch kam immer kurz vor dem Einschlafen, genau in dem Moment, wenn die Gedanken sich im Strudel der schwindenden Sinne verlieren wollten. Sobald es einsetzte, war ich wieder hellwach, traute mich aber nicht, die Augen zu öffnen. Wie gelähmt lag ich in meinem Bett. Mir war, als würde ich in diesem Geräusch ertrinken, und nur mit letzter Kraft konnte ich mich schließlich aufsetzen und nach Luft und Stille schnappen.

Wie Albträume, haben auch Albgeräusche wenig Interesse an Erwachsenen. Nur manchmal kehren sie wieder, um nachzusehen, ob sie uns damals wohl genug geschadet haben. So kommt es bisweilen vor, dass ich, wenn ich mich schlafen lege, ein leises Surren vernehme, so dünn, als träufele mir jemand Spinnfäden in die Ohren. Dann sickern alte Schrecken ins Herz und treffen auf Narben, die ihre Kindheit als frische Wunden nicht vergessen können. Unter ihrer blassen Haut schlummert der gefürchtete Ton und gibt sich damit zufrieden, Erinnerung zu sein.

I

KLINGELTÖNE

Spangenbachs kürzlich erschienener Aufsatz über die in manchen evangelikalen Sekten praktizierte Brotbuße wurde nur am Rande zur Kenntnis genommen, was sehr bedauerlich ist. Aber verständlich, da er niemandem wirklich Angst gemacht hat.

WENN WIR STERBEN …

… werden wir zu Radiosendungen, denen niemand zuhört, weil nur alte Musik gespielt wird, der Moderator kein Wort über das Wetter verliert und das Ganze überhaupt nur dann auf Sendung geht, wenn die Menschen entweder schlafen oder sich vor lauter Zukunft gegenseitig die Ohren auffressen.

BROT

SPANGENBACHS kürzlich erschienener Aufsatz über die in manchen evangelikalen Sekten praktizierte Brotbuße wurde nur am Rande zur Kenntnis genommen, was sehr bedauerlich ist. Aber verständlich, da er niemandem wirklich Angst gemacht hat.

Ein junger Mann betritt einen Supermarkt, geht zielstrebig in Richtung der Backwaren und nimmt sich ein Brot aus dem Regal. Er trägt Jeans und einen Kapuzenpulli, sauber, ordentlich, nicht zu groß. Sein Gesicht ist von der Pubertät ein wenig hergenommen, die Augen glanzlos, der Mund schmal. Auffällig sind seine gepflegten Hände, die langen Finger, die fast kreisrunden Nägel. Man kann sie deutlich sehen, als er das Brot umfasst, ein großes Stück aus dem Laib herausreißt und sich in den Mund schiebt. Doch statt zu kauen, schluckt er. Er bricht ein weiteres Stück und stopft nach. Schluckt erneut. Beim dritten Brocken beginnt er zu würgen, schiebt aber noch einen vierten hinterher. Jetzt gerät sein ganzer Körper in Bewegung, verkrampft sich im Bemühen, den Brechreiz zu unterdrücken. Noch ein letztes Stück, er presst es auf den Mund, als wollte er ihn damit endgültig verstopfen. Einen eigenartigen Tanz vollführt er, einen Brottanz, einen Erstickungstanz, sein Körper wehrt sich, will kein Brot mehr, will nur Luft.

»Unterernährt? Nein, nicht unterernährt, so was wäre bestimmt schon längst aufgefallen. Wobei manche der Jugendlichen in diesem Alter so aussehen, als hätte man sie gerade aus dem KZ – Sie verstehen … Sicher, er war sehr leicht und dünn für sein Alter, aber keiner der Tests zeigte irgendwelche Mangelerscheinungen. Im Grunde war er sogar über dem Durchschnitt. Also wenn man diejenigen in Betracht zieht, die jeden Tag Fastfood essen oder daheim nur Raviolidosen aufgeschraubt bekommen, da war er richtig gut drauf – zumindest blutwerttechnisch.«

Eine Angestellte des Supermarktes, schon etwas älter und recht korpulent – Sie wissen schon, die morgens meist das Gemüse und den Salat aufstapelt, immer in einem etwas fleckigen Kittel, die Haare fettig oder unordentlich; wenn die einen Salatkopf ganz oben auf die Kiste legt, nehmen Sie den, der darunter liegt – läuft zu dem jungen Mann und versucht, ihm die Hände vom Mund wegzudrücken. Der wehrt sich. Erst als ihn die Kräfte verlassen, gibt er nach. Der Körper erschlafft und kann den Hals nicht mehr freiwürgen.

»Ich glaub, der wäre gerne cool gewesen. Aber irgendwie hatte er immer so einen Stock im Arsch. So Typen gibt’s halt. Stehen meist alleine rum, und wenn man dann mal auf sie zugeht, weichen sie gleich zwei Schritte zurück. Kommen sie aber von selber, dann sind sie furchtbar ungeschickt und verkrampft. Das funktioniert einfach nicht. Nein, ich glaub, der wäre irgendwie gerne cool gewesen und hätte es vielleicht auch sein können, wenn da nicht dieses religiöse Dingens gewesen wäre. Ob er das toll fand, weiß ich ja nicht, aber seine Eltern werden es halt gewollt haben. Zum Rebellen hat ihm offenbar der Mumm gefehlt. Zumindest war da nicht viel drin mit locker sein, Disco, Tanzen, Spaß haben. Aber vielleicht wollte er ja so ein Freak sein. Ist mir eigentlich auch egal. Und was hat der nun gestohlen? Ein Brot? Und deswegen der ganze Aufriss?«

»Ganz normaler Junge. Absolut unauffällig. Höchstens ein wenig nachdenklich, aber auch nicht wirklich. Sporadisch apathisch, aber wer von den Jugendlichen ist das nicht? Ich arbeite nun wirklich schon lange genug mit den Kids, um zu wissen, dass die ab und an mal ausschalten. Verarbeitungsphase nenne ich das. Der Eine verprügelt dann seinen Tischnachbarn. Und der Andere, der starrt einfach Löcher in die Luft.«

Spangenbach konzentriert sich zunächst auf die symbolische Bedeutung des Brotes in den religiösen Schriften des Christentums, vornehmlich der Bibel. Er führt aus, dass die erste Erwähnung von Brot nach dem Sündenfall erfolgte, im Zuge der Strafverlesung: »Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen.« Danach aber stellte es vor allem eine göttliche Segensbekundung dar. Manna zum Beispiel, das Brot vom Himmel, welches die Israeliten in der Wüste am Leben erhielt und auf das Christus sich bezog, wenn er sagte, man müsse sich von ihm ernähren, um ins Himmelreich zu gelangen. Spangenberg holt weit aus, im gewohnt süffisanten Ton, der stets den aufgeklärten Atheisten durchscheinen lässt.

Der Vater erfährt von dem Vorfall, als sein Sohn schon im Krankenhaus ist. Durch eine Mail seiner Sekretärin, weil er sich für den ganzen Tag sämtliche Störungen verbeten hat. »Die«, sagte er gleich am Morgen und zeigte auf die dicke Tür, welche sein Büro vom Vorzimmer trennt, »wird heute nur noch von innen geöffnet.«

Die Sekretärin verschwand mit einem Knurren und er ging hinter seinen Schreibtisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Die Lehne eines sündhaft teuren Bürostuhls im Rücken zu fühlen, das hat ihm schon immer gefallen.

Jetzt aber spürt er nichts. Nur ein Ziehen aus unbestimmter Richtung. Er hat in seinem Leben schon so oft über Prüfungen geredet, dass sie ihm völlig fremd geworden sind. Ihnen direkt gegenüberzustehen, ist etwas ganz anderes. Er ist ein Theoretiker des Glaubens, das Praktische aber hat viele Tücken. Es gibt zweierlei Schmerzen, das weiß er. Den Schmerz der Versuchung und den Schmerz der Konsequenz. Die Konsequenz – vor allem bei seinem Sohn. Das war notwendig gewesen. Weil es in sich richtig ist, einen Weg konsequent zu gehen, sei er nun wahr oder falsch. In der Konsequenz erkennt Gott die Stärke.

In der Versuchung jedoch war er stets allein, ihr Schmerz war nur sein Schmerz. Und wem soll er sagen, dass er schon lange nicht mehr betet?

Die Mail lautet: Anruf Ihrer Frau. Ihr Sohn ist im Krankenhaus. Bitte zurückrufen.

Er ruft zurück, und zwei Stunden später kommt er in die Klinik.

»Wir waren zwei Monate zusammen, aber nicht wirklich. Wir haben uns ein paar Mal nach der Schule getroffen. Sind mal ins Kino oder in die Stadt gefahren. Er mochte Bücher, davon hat er viel geredet. Im Park haben wir heimlich geraucht, obwohl er ziemliche Angst hatte, dass seine Eltern das herausbekommen. Einmal haben wir sogar geknutscht, aber da war er so was von wild, dass ich dachte, er vergewaltigt mich gleich. Dann hab ich Schluss gemacht.

Über Religion? Nee, über Religion haben wir nicht gesprochen, wieso?«

»Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, aber wenn man etwas Besonderes ist, dann haben viele Dinge, die als normal gelten, eine andere Wertigkeit. Und mit etwas Besonderem meine ich einen wirklich gläubigen Menschen. Gläubig in einer Form, wie man sie heute eigentlich nur noch unter diesen Moslems findet, zu unserer Schande. Glücklicherweise gibt es Ausnahmen. Wie dieser Junge und seine Familie. Echte Christen. Bemüht, in jedem Aspekt des Lebens dem Glauben Ausdruck zu verleihen. Nicht nur da, wo es leicht ist, sondern auch da, wo es weh tut. Aber notwendig ist. Wenn es weh tut, dann ist es immer notwendig, sonst ließe sich das ganze Konzept ja nicht mit der allumfassenden Liebe vereinbaren, die mit dem Gottesbegriff verbunden ist.«

Die Mutter sitzt auf der Couch und liest, als das Telefon klingelt. Peer Gynt. Sie hasst diesen Klingelton, weil er etwas Schönes entstellt. Aber sie hat sich daran gewöhnt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt angespannt. Schon nach den ersten Worten weiß die Mutter, dass etwas passiert ist. Zu umfassend ist ihre Kenntnis von Spannungszuständen. Und wenn sie Schlimmes erwartet, dann immer das Schlimmste: Irgendeinen Tod. Durch die Leitung hört sie »Ihr Sohn …« und sieht nur noch Schreckensbilder und Blut. Sie rutscht vom Sofa, kniet auf dem Teppich, beugt den Rücken. Mehr Demut geht nicht. Der Herr hat’s gegeben … Dabei sitzt der Junge so fest in ihrer Brust, wird zum Schmerz, sobald sie sich ihn wegdenkt. Oder unglücklich. Oder unter Strafe.

Wenn es dein Wille ist, dann lass diesen Kelch … Die Stimme im Telefon hat zu Ende geredet und eine eigentümliche Erleichterung macht sich in der Mutter breit. Eine Erleichterung, die man verspürt, wenn dem Schmerz seine Vollkommenheit verloren geht.

Das Telefon noch immer in der Hand, setzt sie sich wieder auf die Couch und versucht, ihren Mann zu erreichen.

»Richtige Freunde waren wir nicht. Wir haben in der Schule nebeneinander gesessen. Ab und zu trafen wir uns am Nachmittag. Manchmal zum Lernen, manchmal einfach, um ein bisschen abzuhängen. Aber nur bis um sechs, dann musste er nach Hause. Abends durfte er so gut wie nie weg. Auch am Wochenende nicht. Er wollte Tierarzt werden oder Dichter. Von zu Hause hat er selten geredet, aber wenn, dann hatte ich das Gefühl, dass er Angst vor irgendetwas hatte. Ja, von Strafen erzählte er auch, aber immer so komische Sachen, wo ich mir dachte, das sind doch keine wirklichen Strafen. Bestimmte Bücher lesen, einen Tag nichts sagen und so was. Ums Essen ging es da aber nie.«

Spangenbach schreibt:

»Die Brotbuße ist eine symbolische Strafe. Brot als Zeichen der Gunst. Unser täglich Brot gib uns heute. Wem man das Brot entzieht, dem entzieht man den Segen Gottes. Die psychologische Wirkung ist tiefgreifend. Es handelt sich um eine Vorstufe der Exkommunikation. Der Sünder bekommt für eine gewisse Zeit kein Brot und darf auch nicht in Gemeinschaft essen. Eigentlich eine zeitgemäße Strafe, denn sie kommt ohne Prügel aus. Niemand stirbt, wenn er mal für eine Weile kein Brot isst.«

»Sehen Sie, wir haben genug Fälle, in denen wir tatsächlich einschreiten müssen, weil den Jugendlichen Gefahr droht. Das sind dann aber konkrete Dinge. Körperverletzung, Missbrauch, grobe Vernachlässigung und solche Sachen. Und oft genug kommen wir nicht rechtzeitig. Was dann passiert, wissen Sie. Wenn wir da noch jedem hinterherlaufen würden, der seine Kinder mit steinzeitlichen Glaubensvorstellungen großzieht, dann hätten wir viel zu tun. Allein bei den vielen Ausländern. Wie? Gut, in diesem Fall waren es keine Ausländer. Von mir aus auch was Christliches, ist doch egal. Es gab nie irgendwelche Hinweise darauf, dass der Junge gefährdet sei. Und bei dem Elternhaus, ich meine, der Vater ist Verkaufsleiter bei einer nicht unbekannten Firma, verdient nicht schlecht, die Mutter ist nur Hausfrau, also ständig zu Hause, um das Kind zu versorgen. Das sind Traumvoraussetzungen. Ich würde mir wünschen, alle Eltern wären so. Da könnten die religiös gerne ein wenig überzogen sein. Aber ansonsten ist das doch optimal.«

Kann es sein, fragt am nächsten Morgen eine Tageszeitung, dass sich ein junger Mensch umbringen möchte, indem er sich so lange den Hals mit Brot vollstopft, bis er erstickt?

Einer seiner Klassenkameraden bemerkt:

»Wer weiß, vielleicht hatte er einfach nur Hunger.«

DIE MADONNA VON COÌN

ZWISCHEN Coìn und Alhaurin, auf einem kargen, von alten Olivenbäumen bewachsenen Hügel, liegt das Kloster San Angel. Eine unscheinbare Ansammlung sandgelber Gebäude, die sich um eine mäßig imposante Kirche verteilen.

Im rechten Seitenschiff des Gotteshauses, barfüßig auf einem Sockel aus Marmor stehend, befindet sich eine reizende Marienstatue. Sie ist etwa zwei Meter groß, hält die Arme leicht ausgebreitet und den Oberkörper etwas nach vorn geneigt. Ihr Gesicht gleicht dem unzähliger anderer Marienbildnisse. Mitleidend, barmherzig, ein wenig entrückt und von jener fatalistischen Einfalt, mit der auch ihr erstgeborener Sohn gerne dargestellt wird. Ein bis in die kleinsten Falten des langen Gewandes hinein kunstvoll gestaltetes Schnitzwerk aus Zedernholz. Es gibt Personen, die behaupten, sie sei die schönste Marienfigur zwischen Sevilla und Alicante.

Im Vatikan interessiert diese Statue niemanden. Wohl aber der Umstand, dass aus dem Kloster San Angel in den letzten siebzig Jahren mehr als ein Dutzend Mönche spurlos verschwunden ist. Um diese Vorkommnisse zu untersuchen, wird Pater Ezequiel nach Andalusien entsandt. Als Spezialist für Übersinnliches und Unerklärliches, aber auch für Grobes und Irdisches, ist er immer zur Stelle, wenn sich irgendwo ein vermeintliches Wunder ereignet. Oder wenn unter den Gottesdienern ein Verbrechen geschah oder geschehen muss.

Pater Ezequiel verbringt über einen Monat in San Angel, führt Gespräche, untersucht und forscht. Das Verschwinden der Mönche jedoch bleibt ein Rätsel. Jeden Abend nach der Vesper betet er in der Kirche. Meist wirft er sich vor der Marienstatue nieder.

So auch in der letzten Nacht seiner Anwesenheit in San Angel. Als er nach seiner Gewohnheit die Fußspitzen der Statue küssen will, entdeckt er eine Lache zwischen ihren Füßen. Er taucht einen Finger in die Flüssigkeit und leckt ihn ab. Blut, ohne Zweifel. Der ihm vertraute Geschmack von Eisen und Rosshaar. Aber auch etwas Fremdes darin, wie eine Melodie, die aus der Ferne versucht, das Schlagen einer Axt zu übertönen.

Pater Ezequiel schiebt seine Hand langsam unter das Gewand der Statue. Er spürt die Feuchtigkeit des Blutes und Wärme. Behutsam tastet er sich vor, dem Rinnsaal nach, das Bein hinauf bis zum Knie. Ein eigenartiger Geruch strömt ihm in die Nase. Nur vordergründig der von Blut und Ausfluss. Dahinter etwas, das ihn an Erde erinnert und an die Haut seiner Mutter und seiner Schwestern.