Das Alte Testament als Klangraum des evangelischen Gottesdienstes - Jürgen Ebach - E-Book

Das Alte Testament als Klangraum des evangelischen Gottesdienstes E-Book

Jürgen Ebach

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Beschreibung

Alttestamentliche Theologie – Kern christlicher Verkündigung

Wo – das ist die leitende Frage dieses Buches – kommt im Gottesdienst die hebräische Bibel, das Alte Testament, zur Sprache, und wie kommt es zur Sprache? Was wird da hörbar, und was sollte deutlicher zu Gehör – und zu Herzen – kommen? Jürgen Ebach bringt die Präsenz des Alten Testaments im Beten, Singen und Feiern der christlichen Gemeinde neu zu Bewusstsein. Er zeigt: Das Alte Testament ist nicht ein bloß »vorchristliches Glaubenszeugnis«, seine Theologie steht vielmehr im Kern der christlichen Verkündigung. Ein Christentum ohne das Alte Testament ist darum ein entwurzeltes Christentum.

  • Das Alte Testament als Quellgrund christlichen Gottesdienstes entdecken
  • Auch eine Einführung in die Grundlinien alttestamentlicher Theologie

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Seitenzahl: 536

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Jürgen Ebach

Das Alte Testamentals Klangraum desevangelischen Gottesdienstes

Gütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2016 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Umschlaggestaltung: Gütersloher Verlagshaus

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-19553-3V004

www.gtvh.de

für Ulrike

Inhalt

Zur Einführung

Der Ort des Gottesdienstes oder: Wo wohnt Gott?

Der Tempel als Ort Gottes

Kirchenbauten

Im Himmel

Ganz oben und ganz unten

Von außen

Auf den Lobgesängen Israels

Gott als »Ort«

Glockenläuten

Schofar

Das Wächteramt

Lieder

Tochter Zion

Ros, Ross, Reis und Jesse?

»… auch«

Presbyterinnen und Presbyter

Im Namen Gottes

Ein Namensraum

Gottes Name

Wie wurde der Gottesname gesprochen?

Eigennamen übersetzen? Götternamen übersetzen? Gottes Namen übersetzen?

Warum nicht immer »Gott«?

Gottesname und Gottesbezeichnung

Gott als Mann?

Eine ungelöste und womöglich unlösbare Aufgabe

»des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«

Bildworte – Wortbilder

Amen

aman – glauben

Gott des Amen

Sicher wie das Amen in der Kirche?

»Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn« – »der Himmel und Erde gemacht hat.«

Ein Nominalsatz

Weltschöpfung und Welterhaltung

Psalm

Israels Gebete mitsprechen

Was soll im Gottesdienst nicht gebetet werden?

Wer »fremdelt« gegenüber den ganzen Psalmen?

Die Psalmen in der hebräischen Bibel

Die Psalmen als poetische Antwort Israels

Der Parallelismus: mehr als eine Sicht

Zuschreibungen

Ein Mose-Psalm und seine Verstehensräume

Wie kommen »wir«, wie komme »ich« in einem Psalm vor?

Mehrere Stimmen im Psalmengebet

Sterbliche Götter

Stimmen in Psalm 82

Abschließende Erwägungen zum Psalmen-Beten im evangelischen Gottesdienst

»›Ehr' sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war am Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.«

Auch hier Alttestamentliches wahrnehmen!

Wie war »es« »im Anfang«?

»jetzt und immerdar«

»und von Ewigkeit zu Ewigkeit«

Sündenbekenntnis

Kein allgemeines Wort für »Sünde« in der hebräischen Bibel

Unterscheidungen, nicht Gewichtungen

Sünder allzumal?

»Kyrie eleison«

Gottes Leiblichkeit

Seele?

rachamim – leibhaftiges Erbarmen

Erbarmen im Mutterschoß

Gott als Person?

»Herre Gott, erbarme dich! Christe, erbarme dich! Herre Gott, erbarme dich!«

Gnadenzuspruch und Gloria

Nicht in der Passionszeit?

»Der Herr sei mit euch« – »und mit deinem Geist«

»Kurz: Adonaj ist mit ihm.«

Erfahren, nicht Haben

»und mit deinem Geist!«

ruach/ pneuma/ spiritus?

Schriftlesung

Präfamina

»Wie liest du?«

Es gibt nicht nur die Lutherbibel

Die »Schrift« lesen – in der »Schrift« lesen

Nicht an uns gerichtet und doch für uns richtig

Schriftlesungen in der hebräischen Bibel

Das Alte Testament in den Lesungstexten – zwischen Fehlanzeige und Stärkung

Halleluja

Fremdworte im Gottesdienst

Glaubensbekenntnis

Zwei »Glaubensbekenntnisse« Israels

Der Erste Artikel

Der allmächtige Gott

Der »Allmächtige« in der Bibel?

Allmacht als Macht noch gegen die Macht

Wenn Allmacht die Möglichkeit der Reue einschließt?

»geboren von der Jungfrau Maria«

»Wir glauben: Gott ist in der Welt«

Kollekte

Iustitia oder z´daka?

Biblische Gerechtigkeit: Option für die Armen

Gerechtigkeit statt mildtätiger Herablassung

Strafende oder rettende Gerechtigkeit?

Gerechtigkeit und …

Und wenn man den Text in Ps 85,11 nicht ändert?

Nochmals: Iustitia und z´daka

Biblische Kollekten

Gerechtigkeit oder Almosen? Almosen und Gerechtigkeit!

Die Kollekte als Opfer?

Opfer im Alten Testament

Kanzelgruß

Gnade

Liebe

Freundlichkeit

Der liebe Gott

Gemeinschaft

Predigt

Heraus-Sager, nicht Voraus-Sager

Je gegenwärtige Bedeutung

Eine etwas hinterhältige »Parallele«

Wie kommt das Alte Testament in Predigten zu Wort?

Israelsonntag

Gehört das Neue Testament in eine alttestamentliche Predigt?

Eine Frage an das Verhältnis von Theologie-studium und kirchlicher Praxis

Kanzelsegen

Abendmahl

Einsetzungsworte und -gesten

Abendmahl und Pessach

»dankte«

Einverleibung

Manna

Satt werden

»Der neue Bund in meinem Blut«

»Zu meinem Gedächtnis«

»Heilig, heilig, heilig« und »Lamm Gottes«

Abkündigungen

Sprachformen

Keine Gleichschaltung

Prophetie als Gegenöffentlichkeit

Fürbittengebet

Fürbitte im Alten Testament

Samuel, Mose und Hiob als Fürbitter

Auch ein Fürbitten

Vaterunser

Alttestamentliche Grundierungen

Gott als Versucher?

Das Böse oder der Böse?

Gibt es den Teufel wirklich?

Kann Gott Böses tun?

Segen

Ein magisches Wort?

Wirkendes Wort

Muss es der aaronitische Segen sein?

Kommunikation und Kommunion

Gott segnet Menschen, Menschen segnen Menschen, Menschen segnen Gott

Literatur

Zitierte Bibelausgaben und Übersetzungen

Zitierte Literatur

Register

Hebräische Wörter

Bibelstellen

Zur Einführung

In seinem 2011 im Gütersloher Verlagshaus erschienenen Buch »Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen« hat Frank Crüsemann die neue Sicht der christlichen Bibel vorgestellt, in der das Alte Testament, die hebräische Bibel, als ein Raum ins Bild kommt, dessen Wahrheit das Neue Testament entfaltet und erneuernd bestätigt. Meine hier vorgelegten Beobachtungen und Erwägungen verbinden sich, bereits im Buchtitel erkennbar, zustimmend mit dieser Verstehenslinie. Der gegenwärtige evangelische Gottesdienst bringt in seinen liturgischen Elementen, seinen Wörtern, Worten, Motiven und Texten, aber auch seinen Liedern das Alte Testament zum Klingen und er gestaltet und entfaltet sich weithin in eben diesem Klangraum. Das in Erinnerung oder auch neu zum Leuchten zu bringen ist ein vorrangiges Ziel des Buches.

Dass Gott Israels Gott ist, ist nicht nur eine Grundvoraussetzung biblischer Theologie; es wird an vielen Stellen des Gottesdienstes auch ganz konkret, wenn von und zu Gott in Worten des Alten Testaments gesprochen wird oder in Worten, die eine alttestamentliche Grundierung haben. Dabei zeigt sich, in wie hohem Maße die hebräische Bibel Elemente und Worte des Gottesdienstes prägt, und es zeigt sich auch, wie in der Verbindung damit zentrale Themen alttestamentlicher Theologie aufleuchten. In dieser Linie geht es im Folgenden in aller Bescheidenheit und Fragmentalität auch um eine »Theologie des Alten Testaments«.

Die Anfänge des Unternehmens liegen etliche Jahre zurück. Bei der Planung der klassischen Hauptvorlesung »Theologie des Alten Testaments« in meiner Bochumer Fakultät suchte ich nach einem plausiblen Darstellungsrahmen und einer inneren Kohärenz. Es gab und gibt in den zahlreichen Werken zur »Theologie des Alten Testaments« eine ganze Reihe von Grundmodellen in einer großen Bandbreite zwischen historisch-kritischen Bearbeitungen, enzyklopädischen Darstellungen, systematisch-theologisch orientierten Gesamtentwürfen sowie überlieferungsgeschichtlichen oder auch dezidiert kanonisch angelegten Konzepten.

Nach einer langen Zeit von »Theologien des Alten Testaments«, die Israels Glauben anhand klassischer theologischer Begriffe darstellten, entwarf Gerhard von Rad seine »Theologie des Alten Testaments« als Geschichte der Glaubensüberlieferungen Israels selbst. In Claus Westermanns »Theologie des Alten Testaments« haben die neben den dramatischen Ereignissen der Geschichte Israels tragenden Überlieferungen ein großes Gewicht, die mit dem Fluss des Lebens und seinen wiederkehrenden Fragen zu tun haben. In Weiterführung des Ansatzes von Gerhard von Rad legte Rolf Rendtorff eine konsequent am Kanon der »Schrift«, d.h. an deren Endgestalt ausgerichtete »Theologie des Alten Testaments« vor. Für ihn ist die letztlich angemessene »Theologie« ein reflektiertes Nacherzählen der biblischen Überlieferungen selbst. Die »Theologie des Alten Testaments« von Horst-Dietrich Preuß hat dagegen einen nahezu enzyklopädischen Charakter, während die Schwerpunktsetzung in Friedrich Mildenbergers »Biblische(r) Dogmatik« vor allem im Untertitel »Eine biblische Theologie in dogmatischer Perspektive« deutlich wird. Auch die z.Zt. neuesten Entwürfe haben ihr je eigenes Profil. In dem von Reinhard Feldmeier und Hermann Spieckermann gemeinsam verfassten Werk »Der Gott der Lebendigen« zeigt der Untertitel »Eine biblische Gotteslehre« das Ziel einer Altes und Neues Testament umgreifenden Theologie als Lehre von Gott. In Georg Fischers Buchtitel »Theologien des Alten Testaments« ist der Plural kennzeichnend; es geht dem Verfasser dezidiert um die Mehrstimmigkeit der alttestamentlichen Glaubenszeugnisse. Die »Theologie des Alten Testaments« von Jörg Jeremias schließlich verbindet eine geschichtliche mit einer systematisierenden Perspektive, indem sie die alttestamentlichen Zeugnisse in der Abfolge großer historischer und literaturgeschichtlicher Blöcke darstellt.

Diese wenigen Stichworte können die jeweiligen Werke allenfalls ansatzweise charakterisieren. Unabhängig von ihrer je spezifischen Anlage enthalten sie allesamt meist umfangreiche Ausführungen zu den alttestamentlichen bzw. biblischen Themen, die auch im Klangraum des Gottesdienstes zu Wort und so in diesem Buch in den Blick kommen. Ich belasse es jetzt bei diesen knappen und als Einladung zur Lektüre des einen oder anderen genannten Buchs gemeinten Hinweisen und werde im Folgenden nur an wenigen Stellen auf die entsprechenden Passagen in diesen Werken verweisen.

Es geht in all diesen ›Theologien des Alten Testaments‹ jeweils um eine für die Darstellung des Glaubens Israels angemessene Relation historischer, exegetischer und systematisch-theologischer Perspektiven. Strittig ist dabei weniger, welche Motive, Themen und Fragestellungen in einer ›Theologie des Alten Testaments‹ zur Sprache kommen müssen, als vielmehr, in welchem Darstellungsmodell und in welcher hermeneutischen Perspektive sie zur Sprache kommen sollen. Im Nachdenken darüber stieß ich auf eine fast beiläufige Fußnote von Rainer Albertz. In seiner abschließenden Stellungnahme bei einer Tagung zu der von ihm angestoßenen Debatte über die Frage »Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments?« kommt er unter der Überschrift »Hat die Theologie des Alten Testaments doch noch eine Chance?« unter anderem auf die »Endgestalt« des Alten Testaments zu sprechen. In der Entgegnung auf Rolf Rendtorffs Konzeption einer kanonischen Theologie des Alten Testaments bemerkt Albertz:

»Da der Kanon eine Festlegung der Kirche ist (vgl. Luthers Entscheidung, auf den hebräischen Kanon zurückzugehen), hielte ich es für konsequent, wenn eine ›Kanonische Theologie des Alten Testaments‹ auch die (gegenwärtige) Kirche zu ihrem Interpretationskontext machen würde.«1

Im Kern folgen meine Beobachtungen und Überlegungen zur Präsenz des Alten Testaments im evangelischen Gottesdienst dem, was Albertz hier für eine kanonische Theologie des Alten Testaments als »konsequent« benennt. In diesem Kontext wurde mir der gegenwärtige Gottesdienst zu einem ebenso reizvollen wie tragfähigen Klangraum des Alten Testaments im heute gelebten Christentum. Alttestamentliche Zitate, Motive, Texte und Themen im liturgischen Ablauf des evangelischen Sonntagsgottesdienstes zeigen, wie viele grundlegende Wörter, Worte und Themen der hebräischen Bibel da ihren Ort haben. Wieweit der Gemeinde, den Presbyteriumsmitgliedern und womöglich auch den Pfarrerinnen und Pfarrern diese Präsenz des Alten Testaments ihrerseits präsent ist, ist freilich eine andere Frage. Daher geht es in den hier vorgelegten Beobachtungen und Reflexionen vor allem darum, jene alttestamentliche Präsenz (wieder) präsent werden zu lassen.

Die Erinnerung wird dabei nicht selten zur kritischen Erinnerung – etwa angesichts der Amputation der Psalmen im gegenwärtigen gottesdienstlichen Gebrauch oder im Blick auf den seltsamen Widerspruch zwischen der betonten Rede vom »Namen Gottes« und der gleichzeitigen Unkenntlichmachung dieses Namens durch dessen Wiedergabe mit »Herr«. Gleichwohl sind Ablauf und Wortlaut im Gottesdienst geeignet, die grundlegende Bedeutung der hebräischen Bibel, des Alten Testaments für den christlichen Glauben vor Augen und Ohren zu führen. Es geht dabei sowohl um Wörter, Worte und Motive, die unmittelbar aus dem Alten Testament stammen, als auch um solche, die in ihren Verbindungen mit dem Neuen Testament und mit Bekenntnissen der Alten Kirche nicht ohne ihre biblisch-hebräische Grundierung und ohne ihren alttestamentlichen Klang- und Bedeutungsraum zu verstehen sind. Dabei handelt es sich um einzelne hebräische Wörter oder Wortverbindungen wie dem Amen oder dem Halleluja, um die hebräische Füllung großer theologischer Worte wie Christus (Messias), Ehre, Gnade, Liebe, Barmherzigkeit, Friede, Ewigkeit oder Geist, aber auch um grundlegende Themen wie Schöpfung, Schuld, Sünde, Vergebung und Gerechtigkeit. Und immer wieder soll deutlich werden, dass Gott im christlichen Gottes-Dienst Israels Gott ist.

Während sich bei manchen Stationen des Gottesdienstes die alttestamentlichen Grundierungen auf den ersten oder zweiten Blick zeigen, ist es bei anderen darum zu tun, sie zu erschließen oder sie womöglich erst zu entdecken. So ist es, wenn bei den »Abkündigungen« das Thema »Öffentlichkeit« ins Blickfeld rückt und dabei eine Dimension der alttestamentlichen Prophetie, oder wenn an die biblischen und nicht zuletzt alttestamentlichen Vor-Bilder der Kollekte zu erinnern ist und dabei an die Gerechtigkeit als ein, wenn nicht das Zentralthema der hebräischen Bibel.

Etwas Weiteres ist mir ebenso wichtig und im Kontext aktueller Debatten noch wichtiger geworden: Immer wieder gab es und auch gegenwärtig gibt es Tendenzen, die Bedeutung des Alten Testaments für Gottesdienst und Glauben von Christinnen und Christen zu mindern. Dafür stehen Namen wie Markion, Schleiermacher und Harnack sowie die neuerliche Reprise ihrer Thesen durch Notger Slenczka.2 Gerade auch darum ist es notwendig, nicht nur die Bedeutung des Alten Testaments für die gegenwärtige Kirche einzuklagen, sondern zunächst einmal positiv daran zu erinnern, eine wie große Rolle es faktisch in jedem Gottesdienst spielt.

Es gibt immerhin nicht nur die genannten Tendenzen zu einer Abwertung des Alten Testaments, sondern auch kräftige Gegenbewegungen. Zu nennen ist etwa die gegenwärtig in der Erprobungsphase stehende »Neue Perikopenordnung«3, in der die Präsenz des Alten Testaments bei den Predigt- und den Lesetexten deutlich gestärkt ist und in der nun auch Psalmen als Predigttexte vorgeschlagen sind, nämlich die Psalmen 24; 46; 51; 85; 90; 113 und 126. Hervorzuheben ist aber auch und vor allem das an vielen Stellen in Theologie und Kirche gewachsene Bewusstsein dafür, dass das Verhältnis von Kirche und Israel zu den Grundfragen christlicher Theologie gehört und darum auch in den Kirchenordnungen einen Ort bekommen soll.4 Wenn in einem christlichen Gottesdienst von Gott die Rede ist, wenn Gott im Gebet angerufen und wenn Gottes Segen erbeten wird, dann war, ist und bleibt es Israels Gott, von dem und zu der wir sprechen. (Der womöglich verwirrende Sprachwechsel, in dem hier und im Folgenden oft von Gott als »er« und als »sie« die Rede ist, nimmt wahr, dass Gott in der Bibel kein Mann ist. Davon wird noch zu reden sein.)

Mir geht es nicht um die Darstellung einer Geschichte der Liturgie des Gottesdienstes und seiner alttestamentlichen Bezüge und auch nicht um einen Vergleich von Gottesdienstformen der verschiedenen christlichen Konfessionen oder auch der jeweiligen Gemeinden, sondern um einen repräsentativen Blick auf seine gegenwärtige evangelische Form. Darum nehme ich ganz pragmatisch einen bestimmten Gottesdienstablauf zum Darstellungsrahmen, nämlich den meiner evangelisch-unierten Gemeinde in Bochum-Dahlhausen – nur gelegentlich erweitert durch einen Blick auf andere Formen und Worte. Ich beziehe mich zudem auf den Sonntagsgottesdienst. Kasualien wie Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung bleiben ausgeblendet. Einen eigenen Ort hat jedoch das Abendmahl, auch wenn es nicht in jedem Gottesdienst gefeiert wird. Ich folge darum der Abfolge des Gottesdienstes ohne Abendmahl, füge jedoch an geeigneter Stelle einen Abschnitt über die alttestamentlichen Grundierungen der Mahlfeier ein.

Wo – das ist die leitende Frage – kommt im Gottesdienst die hebräische Bibel, das Alte Testament, zur Sprache und wie kommt es zur Sprache? Was wird da hörbar und was sollte deutlicher zu Gehör – und zu Herzen – kommen? Und was heißt das für das Alte Testament als die buchstäblich Grund legende »Schrift«, zu der Christinnen und Christen im Gottesdienst mehrfach ihr »Amen« sagen?

Es versteht sich, dass im evangelischen Gottesdienst nicht nur das Alte Testament zu Wort kommt, sondern die ganze Bibel und zudem Bekenntnisse der Alten Kirche. In all diesen Worten, die den Gottesdienst prägen, bleibt freilich auch Raum für die je individuelle religiöse Prägung, die je persönlichen Hör-, Sprach- und Suchformen. Auch da, wo ich im Folgenden gelegentlich auf Missverständnisse geprägter Worte zu sprechen komme, liegt mir eine Denunzierung weniger biblisch oder theologisch gebildeter Gottesdienstbesucherinnen und Gottesdienstbesucher fern. Vollends fern liegt es mir zu dekretieren, was der wahre Glaube sei. Die hier mitgeteilten Beobachtungen und Reflexionen machen auf die Präsenz des Alten Testaments im evangelischen Gottesdienst aufmerksam. Dass deshalb spezifische Perspektiven des Neuen Testaments und der kirchlichen Bekenntnisschriften oft unterbelichtet bleiben, ist der Schwerpunktsetzung dieses Buches geschuldet. Eine Abwertung der Bedeutung des Neuen Testaments und der altkirchlichen Bekenntnisse für den evangelischen Gottesdienst liegt mir nicht nur fern, sondern ginge auch ganz fehl.

Die Kapitel der folgenden Darstellung lehnen sich in ihren Überschriften und in ihrer Abfolge an den Ablauf des Gottesdienstes an. Die alttestamentlichen Worte, Motive und Themen kommen also dann ins Bild, wenn sie im Gottesdienst aufleuchten. Dabei zeigt sich, wie kräftig die hebräische Bibel besonders in den Formeln der Eröffnung des Gottesdienstes und am Ende im Segen zu Wort kommt. So ist das »Alte Testament« nicht nur – mit Frank Crüsemanns immer wieder zu nennendem und zu beherzigendem Buchtitel – »der Wahrheitsraum des Neuen«, sondern es bildet auch einen Rahmen, in dem sich der Gottesdienst entfaltet.

Die Sprache des Gottesdiensts lebt von Wiederholungen. Viele Wörter, Worte und Motive erklingen in ihm mehrfach. Für die Anlage dieses Buches stellte sich darum immer wieder die Frage, welche der alttestamentlichen Spuren und Präsentationen an welcher Stelle behandelt werden sollen. Für die Lesenden bedeutet das, dass sie öfter hin und her blättern müssen, um das Gesuchte an seinem Ort zu finden. Dabei soll das gezielt kleinschrittige Inhaltsverzeichnis ebenso eine Hilfe sein wie das Register zentraler und öfter an mehreren Stellen betrachteter hebräischer Wörter sowie das der angeführten Bibelstellen. Es entspricht jedoch den Wiederholungen im Gottesdienst, dass es auch in den Beobachtungen und Reflexionen mancher Wiederholungen bedarf.

Das Buch richtet sich an all diejenigen, die etwas über die Präsenz des Alten Testaments im evangelischen Gottesdienst erfahren wollen, seien es Gemeindeglieder, die diesem Thema für sich oder für Gespräche in Gemeindegruppen nachgehen wollen, oder diejenigen, die in ihren Rollen als Pfarrerinnen und Prediger, als Lektoren und Presbyterinnen mehr über das wissen möchten, was sie im Gottesdienst sagen und tun.

Das Buch soll wissenschaftlich verantwortet und doch auch für Nichtfachleute lesbar sein. Darum z.B. sind hebräische und griechische Wörter in einer stark vereinfachten Umschrift wiedergegeben. Die präsentierten biblischen Texte erscheinen, wenn nicht anders vermerkt, in der Regel in einer eigenen Übersetzung. Die Anmerkungen und die Literaturhinweise sind sehr knapp gehalten. Zu nahezu allen Themen und Stichworten gäbe es sehr viel mehr sachdienliche Verweise. Dass es dabei dennoch ungebührlich viele Erwähnungen eigener Veröffentlichungen gibt, bitte ich nicht als Überschätzung meiner Kompetenz zu verstehen. Es geht mir vielmehr um Hinweise auf solche Texte und Themen, in denen ich das, was in diesem Buch nur kurz zur Sprache kommt, ausführlicher behandelt habe. Aber auch das zu sagen ist mir wichtig: Wie viel ich von anderen gelernt habe, übersteigt bei weitem das, was in Anmerkungen zum Ausdruck kommen kann.

Noch ein technischer Hinweis: In den Anmerkungen genannte Werke sind mit den Namen der Verfasserinnen oder Verfasser und meist nur mit Titelstichworten aufgeführt. Die vollständigen Angaben enthält das Literaturverzeichnis. Dort finden sich auch Werke, die im Text ohne eine eigene Anmerkung genannt sind.

Für ein wissenschaftlich verantwortetes Buch eher häufig kommt in dieser Einleitung und in den folgenden Kapiteln ein »ich« zu Wort. So sehr es mir bei den jeweiligen Text- und Themenfeldern um Informationen geht, so deutlich soll doch bleiben, dass es gerade bei dieser Thematik nicht bei gleichsam objektiven Feststellungen von Sachverhalten bleiben kann. Da gibt es stets auch subjektive Gewichtungen, die damit zu tun bekommen, wie ich selbst das, was im evangelischen Gottesdienst an alttestamentlichen Wörtern, Worten und Motiven anklingt, höre, verstehe und an den entsprechenden Stellen auch mitspreche.

Dass dieses »ich« im Kapitel über das Glaubensbekenntnis und in ihm über das Bekenntnis zum »Allmächtigen« überdeutlich wird, ist kein Zufall. Ich spreche das Glaubensbekenntnis – das ist mir das Entscheidende – zusammen mit den Christinnen und Christen vieler Zeiten, Orte und Konfessionen. Aber wie kann ich es so mitsprechen, dass mir das biblische Zeugnis und die eigene Überzeugung nicht zum Widerspruch werden? In dieser Spannung könnten meine Ausführungen und Impressionen mit den womöglich immer wieder auch gemischten und nicht selten widersprüchlichen Gedanken und Gefühlen der Lesenden und Mitdenkenden ins Gespräch kommen. Vor allem darum möchte ich gerade an solchen Stellen meine stets auch subjektive Sicht nicht hinter einer (pseudo-)objektiven, wissenschaftlichen Sprache verbergen.

Mein herzlicher Dank gilt Menschen, die mich beharrlich gemahnt und mehr noch ermutigt haben, dieses Buch zu schreiben. Dafür danke ich vor allem Kerstin Schiffner, Magdalene L. Frettlöh, Jan-Dirk Döhling, Klaus Wengst und ganz besonders meiner Frau Ulrike Ebach, deren langjährige und vielfältige Erfahrungen als Presbyterin und als Mitglied der Kreis- und Landessynode nebst manchen weiteren ehrenamtlichen Tätigkeiten in Gemeinde und Kirche mir in vielen Gesprächen auch über Themen und Formulierungen dieses Buches immer wieder zur hilfreichen Erdung meiner Schreibtischexistenz verhalfen und verhelfen. Ihr ist das Buch darum gewidmet.

Meiner Tochter Ruth Ebach danke ich für ihr ebenso sympathetisches wie kritisches Mitdenken und für manche Hinweise im Kontext gegenwärtiger Debatten der alttestamentlichen Wissenschaft. Kerstin Schiffner hat mir zu Teilen des Buches sehr hilfreiche Anmerkungen und Anregungen übermittelt.

Sehr herzlich danke ich last, but not least Diedrich Steen und all den weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gütersloher Verlagshauses, die mit je ihrer Kompetenz und ihrer Arbeit das Erscheinen dieses Buches ermöglicht haben.

Bochum, im Januar 2016

Jürgen Ebach

1Albertz, Theologie, 180 in Anm. 5. Entgegen einem gelegentlichen Missverständnis will Albertz mit seinem Plädoyer für eine »Religionsgeschichte Israels« statt einer »Theologie des Alten Testaments« gerade nicht die Relevanz der hebräischen Bibel für die gegenwärtige Theologie und Kirche mindern, sondern das Alte Testament in der Vielfalt seiner Zeugnisse und der Wahrnehmung ihrer historisch gewachsenen unterschiedlichen Profilierungen in gegenwärtige theologische Urteilsbildungen einbringen.

2V.a. Slenczka, Kirche, dazu seine weiteren Einlassungen zum Thema, die auf der Internetseite seines systematisch-theologischen Lehrstuhls in der Humboldt-Universität Berlin gesammelt sind. Von den zahlreichen kritischen Entgegnungen seien genannt: Leonhard, Lärm; Hartenstein, Bedeutung; Deeg, Bibel; verwiesen sei zudem auf die zahlreichen Beiträge in: BLICKPUNKT.E. Materialien zu Christentum, Judentum, Israel und Nahost, in der Sonderausgabe Mai 2015. Eine umfangreiche kritische Darstellung und Beurteilung der von Slenczka herangezogenen und erneuerten Positionen findet sich bereits 2001 bei Schöttler, Predigt.

3Neuordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte. Entwurf zur Erprobung (2014).

4In der Evangelischen Kirche von Westfalen – um nur dieses Beispiel zu nennen – wurde 2005 im »Erste(n) Teil Kirchengemeinde, Kirchenkreis, Landeskirche« in den »Einleitende(n) Bestimmungen« in Art. 1 dem Satz »Die Evangelische Kirche von Westfalen urteilt über ihre Lehre und gibt sich ihre Ordnung im Gehorsam gegen das Evangelium von Jesus Christus, dem Herrn der Kirche« als neuer zweiter Satz hinzugefügt: »Sie tut dies im Vertrauen auf den dreieinigen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, der Israel zu seinem Volk erwählt hat und ihm die Treue hält, der in dem Juden Jesus, dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, Menschen zu sich ruft und durch den Heiligen Geist Kirche und Israel gemeinsam zu seinen Zeugen und zu Erben seiner Verheißung macht.«

Der Ort des Gottesdienstes oder:Wo wohnt Gott?

»… das des herrn haus heisse, wo er wonet,

Und das er wonet, wo sein wort ist,

Es sey auff dem felde,

jnn der kirchen, odder auffdem meer«

(Martin Luther1)

Der evangelische Sonntagsgottesdienst findet in der Regel in einem dafür bestimmten Gebäude statt; der Kirchenraum dient seit jeher primär der Verkündigung des Wortes Gottes und der Abendmahlsfeier.2 Mit dem bestimmten Ort verbindet sich jedoch eine im engsten Sinn theo-logische Frage: Gibt es Räume, in denen Gott näher ist, und andere, in denen ER oder SIE ferner ist? Wer sich für eine Suche nach einer Antwort in den Text-Raum des Alten Testaments begibt, findet da eine Fülle von Antworten. Sie verweisen einerseits auf religionsgeschichtliche und theologische Entwicklungen, bleiben aber andererseits auch nebeneinander, einander ergänzend und auch gegeneinander stehen. Versuchen wir, einige der unterschiedlichen Aussagen ein wenig zu ordnen, ohne ihre Vielschichtigkeit einzuebnen. Es geht hier – und nicht nur hier – um die Wahrnehmung der in der Bibel selbst aufgehobenen Diskurse, in denen es allermeist mehr als nur eine Stimme gibt. »Schriftgemäß« ist eine Lektüre und Auslegung der Bibel, die der »Schrift« selbst gemäß ist, indem sie wahr nimmt, dass es in der Bibel oft mehr als nur eine Antwort auf die Fragen von Leben und Glauben gibt und dass die nicht selten bis zu Widersprüchen reichende Vielfalt dieser Antworten im Kanon der »Schrift« nebeneinander, gegeneinander und so miteinander zu stehen kommen.3

Der Tempel als Ort Gottes

Nicht von Anfang an, wohl aber in langen Phasen der Geschichte Israels war der Jerusalemer Tempel ein zentraler Ort, an dem Israels Gott kultisch verehrt wurde. David hatte den Plan zum Bau des Tempels noch nicht verwirklichen sollen oder können; es obliegt seinem Sohn Salomo, »dem Namen Adonajs« oder »dem Namen ›Adonaj‹«4(l´schem jhwh) ein Haus zu bauen (1Kön 5,17-19). Doch mit dem Bau des Salomonischen Tempels5 verbindet sich eine fundamental-theologische Frage. Im Zusammenhang des Berichts über die Bauvorbereitungen und dann die Errichtung, Ausstattung und Einweihung des Tempels in 1. Könige 5-8 heißt es in 8,12f. als Wort des Königs Salomo:

»Adonaj hat gesagt, im Dunkel wohnen zu wollen.

Doch tatsächlich habe ich ein fürstliches Haus für dich gebaut,

einen Ort, wo du wohnen sollst für Weltzeiten.«

Vorausgeht als Begründung, die Priester hätten im Dunklen ihren Dienst nicht ausüben können. Das Motiv des Wolkendunkels schließt an die Erzählungen von der Wüstenwanderung an, in der Gott dem Volk stetig voranging, »am Tag in einer Säule von Gewölk, um ihnen den Weg zu zeigen, bei Nacht in einer Säule von Feuer, um ihnen Licht zu geben, auf dass sie Tag und Nacht gehen konnten« (Ex 13,20f.). Die Formulierungen in 1Kön 8,10f. nehmen z.T. wörtlich Ex 40,34 auf, wonach die Wolke das Zelt der Begegnung bedeckt und der Glanz, das Gewicht (der kavod6) Adonajs die Wohnung erfüllt habe. Obwohl die Schilderung in 1. Könige 8 das Konzept eines mitgehenden, mitwandernden Gottes mit dem eines festen Hauses, eines Tempels zu verbinden sucht, bleibt eine Spannung beider Grundlinien spürbar. Sie verstärkt sich noch, wenn dann im »Tempelweihgebet Salomos« ein drittes Konzept aufscheint, nämlich das der himmlischen Wohnung Gottes, und wenn auch das als unzulänglich im Blick ist. In 1Kön 8,27 heißt es, die Himmel könnten Gott nicht fassen Das Wissen darum, dass selbst die Himmel Gott nicht fassen können, wird zur bangen Frage, ob denn ein Haus wie der Tempel Salomos es könne. Es kann es nur, wenn und weil Gott es so will, so die Fortsetzung in 1. Könige 8 implizit und in 9,3 deutlich. Hier zeigt sich in ein und demselben Textzusammenhang das Zugleich von Gottes Universalität und Gottes partikularer Bindung als Selbstbindung. In Jesaja 6 kommt das ins Bild, wenn der Prophet Gottes Präsenz im Tempel begegnet, wobei jedoch allein der Saum des göttlichen Gewandes den Tempel füllt. Gottes Präsenz hat im Tempel einen Haftpunkt, aber sie geht im Raum des Heiligtums nicht auf. Dieses Motiv kann mit anklingen, wenn in der Abendmahlsliturgie das »Heilig, heilig, heilig« der Serafen (Jes 6,3) gesungen wird.

Die Frage, ob Gott im Heiligtum wohnen will oder nicht, verbindet sich in Ex 25,8 mit zwei Übersetzungs- und Verstehensmöglichkeiten eines kleinen Wortes, im hebräischen Text nur eines Buchstabens. Bei den Anweisungen zum Bau des Begegnungszeltes folgt auf Gottes Aufforderung: »Und sie sollen mir ein Heiligtum machen« (w´asu li mikdasch) die Bekundung: w´schachanti b´tocham. Das »w« kann hier sowohl ein Und als auch ein Aber anzeigen. »Und sie sollen mir ein Heiligtum machen und ich will in ihrer Mitte wohnen!« Das ist eine Wiedergabemöglichkeit des Verses. Das Heiligtum – im Erzählzusammenhang das Zelt der Begegnung (ohel mo´ed), in Luthers Wiedergabe die »Stiftshütte« – wäre danach die von Gott gewollte Wohnung.

Doch man kann auch lesen: »Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, aber wohnen will ich in ihrer Mitte.« Geht es bereits in Exodus 25 selbst darum, dass Gott nicht in jenem Heiligtum, eben nicht, mit einem Singular, in seiner Mitte, wohnen wolle, sondern, mit einem Plural (b´tocham), »in ihrer Mitte«, d.h. inmitten des Volkes Israel oder auch mitten in jedem einzelnen Menschen Israels? »Gott will eben nicht im Heiligtum wohnen, sondern in der Mitte des Volkes«, kommentiert Christoph Dohmen und setzt fort: »Dafür aber ist das Heiligtum die Voraussetzung.«7So kommen das Aber und das Und zusammen. Es bedarf des festen Ortes – des Begegnungszeltes in der erzählten Zeit von Exodus 25, dann des Tempels – und schließlich für Christinnen und Christen des Kirchengebäudes –, aber es bleibt stets zu beherzigen, dass Gott sich nicht auf jene Orte festlegen, sich nicht in sie einschließen lässt.

Kirchenbauten

Die Geschichte der Bauformen christlicher Kirche ist nicht das Thema der hier präsentierten Beobachtungen und Reflexionen zur Präsenz der hebräischen Bibel und des Glaubens Israels in kirchlicher Gegenwart. Dennoch soll ein kleiner Seitenblick darauf aufmerksam machen, dass sich in den verschiedenen Kirchenbauformen je bestimmte biblisch-theologische Konzeptionen dokumentieren. Nur wenige Beispiele: Da sind die Kirchen, die nach dem Vorbild des »himmlischen Jerusalem« in Aufnahme von Offenbarung 21 erbaut sind; da gibt es die Nachahmung eines Zeltes, welches für die »Kirche unterwegs« steht, und da verweist die Rede vom Kirchen-»Schiff« auf das älteste biblische Bauwerk, nämlich Noahs Arche. Katholische und lutherische Kirchen sind auf den Altar hin ausgerichtet, reformierte Kirchen auf den Tisch, auf dem die Bibel als Grundlage des Gottesdienstes liegt. Manche, z.B. die Lutherkirche in Bochum-Dahlhausen, deren Liturgie ich in der Anlage dieses Buches folge, sind auf das Predigtgeschehen fokussiert, indem – nach dem »Wiesbadener Programm« – Orgel, Kanzel und Altar in einer senkrechten Linie untereinander platziert sind und die Kanzel deren Mitte bildet. Es gibt Kirchen, deren Decke einen sternenübersäten Himmel darstellen, und es gibt – vor allem in der Form von Gemeindezentren – Kirchengebäude, die in erster Linie als Versammlungsräume der Gemeinde konzipiert sind. Zunehmend gibt es in Krankenhäusern, Schulen, Universitäten, Flughäfen, Konzernzentralen und Fußballarenen, d.h. sehr weltlichen Bauten, sakrale »Räume der Stille«, die keiner bestimmten Konfession oder Religion zugehören, sondern Menschen einen Ort geben, je für ihre Weise, eine Beziehung zu Gott zu suchen. All diese Formen nehmen biblische Motive und Linien auf; gerade ihr Nebeneinander korrespondiert auf ihre Weise der Vielfalt biblischer Gottesdienstformen.

Wo wohnt Gott? Unterwegs im Zelt der Begegnung, im Himmel, im Tempel, inmitten Israels. Jede dieser Antworten kann sich auf die »Schrift« beziehen, aber vor allem gründet auf der »Schrift« das Neben-, Gegen- und Miteinander dieser Antworten. Das gilt auch für eine Mehrzahl weiterer Antwortmöglichkeiten, die hier ins Spiel zu bringen und auf die Frage nach der Präsenz Gottes im evangelischen Gottesdienst zu beziehen sind. Nehmen wir einige von ihnen etwas genauer in den Blick und setzen noch einmal beim Himmel ein.

Im Himmel

Gott wohnt im Himmel8, in den Himmeln (ha-schamajim). Diese Aussage findet sich häufig im Alten Testament, vor allem in den Psalmen – so in Ps 2,4 (»aber der im Himmel wohnt, lacht ihrer«) oder Ps 11,4 (»Adonajs Thron ist im Himmel«). Die Vorstellung von einem himmlischen Wohnort Gottes bzw. der Götter ist in der Religionsgeschichte geläufig. Was die Antike angeht, scheint sie daher kaum der Erläuterung zu bedürfen. Die neuzeitliche Entzauberung der Welt brachte jedoch nicht zuletzt eine Entzauberung und Entgöttlichung des Himmels mit sich, indem sie zuerst mit der Vorstellung aufräumte, dass sich der Himmel oben befinde. Aber die Aussage, Gott wohne im Himmel, ist bereits in der hebräischen Bibel selbst nicht nur nicht die einzige, sondern zudem eine, die mit anderen biblischen Texten nicht leicht in Einklang zu bringen ist.

Nach Gen 1,6-8 nämlich ist der Himmel eine Art Platte (rakia, lateinisch firmamentum), deren Funktion es ist, zwischen den oberen und den unteren Wassern zu scheiden. In diesem »Himmel«, dieser Platte wohnt Gott schwerlich, wir haben es also mit unterschiedlichen Bedeutungsfeldern des Wortes »Himmel« zu tun. Nach anderen Texten befindet sich Gottes Palast über den Himmeln (z.B. Ps 104,3; Am 9,6).

Öfter werden Gottes himmlische und irdische Wohnstatt zusammen zum Ausdruck gebracht, so etwa in Dtn 4,39: »So mach es dir heute bewusst und nimm es dir zu Herzen: Adonaj – sie ist die Gottheit (ha-elohim) im Himmel oben und auf der Erde unten – niemand sonst.« Dass eine irdische Wohnstatt Gott nicht fassen kann, wird besonders eindrücklich in Jes 6,1: Der (künftige) Prophet Jesaja sieht Gott im Tempel, wobei allein die Säume des göttlichen Mantels das ganze Haus ausfüllen. Dabei singen die Serafen ihr »heilig, heilig, heilig ist Adonaj Z´va´ot« (6,3). Das dreimalige »heilig« (kadosch), das Trishagion, das im Zitat von Jes 6,3 in der Abendmahlsliturgie erklingt, ist eine Steigerung der Heiligkeitsbekundung, aber in Anbetracht der Grundbedeutung von kadosch als »anders« lässt es sich auch wahrnehmen als Bezeugung der Andersheit Gottes. Gott ist aber nicht nur »der und die Andere«, SIE/ ER ist dreimal anders, d.h. anders als anders als anders; ER/ SIE entzieht sich jeder Definition, selbst einer, wie sie noch in der Rede vom »ganz Anderen« stecken könnte.

Ganz oben und ganz unten

Dass Gott ganz oben und ganz unten ist, kommt eindrücklich in Jes 57,15 zum Ausdruck:

Ja, so hat gesprochen der Hohe und Erhabene,

wohnend auf Dauer und ›heilig‹ ist sein Name:

»Hoch und heilig wohne ich

und bei den Zerschlagenen und denen, denen die Luft zum Atmen genommen ist,

auf dass ich aufleben lasse das Gemüt der Erniedrigten

und aufleben lasse das Herz der Zerschlagenen.«

Gott wohnt ganz oben und ganz unten, im Hochheiligen und bei den Erniedrigten.9 In diesem Und steckt etwas Entscheidendes. Wer Gott nur ganz oben sieht, könnte ihn oder sie von der Realität des Lebens abheben. Wer sie oder ihn nur ganz unten sieht, könnte die Hoffnung verlieren, dass Gott nicht nur in der Solidarität mit denen ganz unten aufgeht, sondern auch »hoch und erhaben« und damit denen zuverlässig überlegen ist, die auf Erden ganz oben stehen. Es geht darum, Gottes Erbarmen und Gottes Macht zugleich wahrzunehmen und im Vertrauen auf beides darauf zu setzen, dass die gegebenen Verhältnisse nicht die gottgegebenen Verhältnisse sind und dass nichts bleiben muss und nichts bleiben wird, wie es ist. Dieses Spannungsverhältnis von Macht und Erbarmen in Gott selbst wird noch öfter in den Blick kommen.

Von außen

Eine noch einmal ganz andere Perspektive auf Gottes Wohnort zeigt sich in einer Reihe von Texten, die Gott von einem Raum außerhalb des Israellandes her kommen lassen:

»Hört, ihr Könige, vernehmt es, ihr Fürsten:

Ich für Adonaj, ich will singen,

ich will spielen für Adonaj, Israels Gott!

Adonaj, als du auszogst von Seïr,

kamst von den Bergen Edoms,

es bebte die Erde, ja, es troffen die Himmel,

ja, die Wolken troffen von Wasser,

die Berge flossen vor Adonajs Antlitz,

dem vom Sinaj,

vor dem Antlitz Adonajs, Israels Gott.«

So steht es in Ri 5,3-5, im »Debora-Lied«. Es dürfte sich um ein sehr altes Lied handeln, das die in Richter 4 vorausgehende erzählende Schilderung der Schlacht Deboras und Baraks gegen den Kanaanäerkönig Sisera hymnisch besingt, ähnlich wie das Mose- und Mirjam-Lied in Exodus 15 die Erzählung vom Schilfmeerwunder in Exodus 14 hymnisch ergänzt, wobei in beiden Fällen die poetischen Stücke älter sein dürften als die erzählenden. Es soll unter den vielen spannenden Aspekten in Richter 5, zu denen nicht zuletzt die Rolle der Prophetin Debora gehört10, jetzt abermals nur um die »Lokalisierung« Gottes gehen.

Gott kommt hier von Seïr, aus dem Bergland Edoms und wird dabei im vorliegenden Text mit dem Sinaj verbunden. Die Begleiterscheinungen der in Richter 5 hymnisch besungenen Schlacht sprechen dafür, dass Jhwh11 als Berg- und Wettergott erscheint, vergleichbar dem kanaanäischen Ba´al, dem syrischen Hadad oder dem hethitischen Teschup. Die Theophanie des Gottes Israels wird verbunden mit vulkanischen Erscheinungen einerseits, mit Gewitterphänomenen andererseits. Die ursprüngliche Lokalisierung des Gottes Israels im Gebiet edomitischer oder midianitisch-kenitischer Nomaden12 findet Anhalt auch in ägyptischen Texten, die von den schasu jhw reden, wobei noch offen bleibt, ob es sich bei dem Bestandteil »jhw«, der sprachlich dem Namen von Israels Gott nahe ist, ursprünglich um einen Gottes- oder um einen Orts- oder Gebirgsnamen handelt. Bemerkenswert ist jedoch, dass Israels Gott nicht nur in vergleichsweise alten Zeugnissen wie in Richter 5 mit einer bestimmten Gegend als »Heimat« verbunden wird, sondern auch weiter verbunden bleibt.13 Wir haben es nicht allein mit archaischen Resten und einer für das spätere Israel und seine »Theologie« nur noch »archäologisch« interessanten Überlieferung zu tun. Gerade gegenüber der fortschreitenden Universalisierung in der Rede von Gott und Gottes Orten bleibt die Erinnerung an eine Lokalisierung wichtig und sie wird nicht etwa durch jene Universalisierung ersetzt.

Etwas ebenso Wichtiges kommt bei der Erinnerung an die in solchen Überlieferungen literarisch ins Bild gesetzte Herkunft des Gottes Israels aus dem edomitischen Wüstenland hinzu. Ebenso wie Israel in zentralen literarischen Konzeptionen erinnert und reflektiert, dass es nicht »immer schon« im Lande Israel/ Kanaan war, sondern in das Land kam, kommt, kommen wird, bleibt die Erinnerung daran bewahrt, dass Israels Gott von draußen kommt. Historisch und religionsgeschichtlich steht dahinter eine Erinnerung daran, dass es bereits vor den Stämmen Israels Verehrerinnen und Verehrer dieser Gottheit gab. Pointiert gesagt: Gott war nicht immer schon im Besitz Israels, und so kann Gott auch nie zu Israels Besitz werden.

Dieser Aspekt verdient Aufmerksamkeit gerade in christlicher Lektüre des Alten Testaments. Denn in christlichem Kontext wäre heute ja wiederum beides zusammenzubringen. Einerseits könnten wir uns auf Israels Gott nicht beziehen, Israels Gott nicht auch »unseren« Gott nennen dürfen, wenn ER, wenn SIE nur Israels Gott wäre. Andererseits ist es ebenso entscheidend, dass Gott als Gott der Welt Israels Gott war, ist und bleibt. In dieser Hinsicht kommt Gott für uns noch immer von außen und es liegt alles daran, nicht an Israels Stelle, sondern mit Israel Gott zu dienen, unser Lob, unseren Dank und unsere Klage vor Gott zu bringen.

Auf den Lobgesängen Israels

Unter dieser Überschrift bekommt ein weiterer und wiederum ganz anderer »Wohnort« Gottes seine Bedeutung. Gott »wohnt auf den Lobgesängen Israels« (joschev b´t´hillot jisra´el [Ps 22,4]). Ohne diese Lobgesänge müsste Gott abstürzen. Gott gibt es nicht an und für sich. »Einen Gott, den ›es gibt‹, gibt es nicht«, notiert Dietrich Bonhoeffer.14 Gott ist kein Gegenstand oder Sachverhalt, den es gibt oder nicht gibt. Wahrheit, von welcher der Glaube sprechen kann, ist keine festzustellende, sondern immer nur eine zu bezeugende.

»... und ihr seid meine Zeugen, Spruch Adonajs, und ich bin Gott«, heißt es in Jes 43,12 (w´attem edaj n´um jhwh wa´ani-el). Ein rabbinischer Predigtmidrasch zitiert diese Stelle und bringt dann ihre mit »und« verbundenen Nominalsätze in einen Beziehungs- und Bedingungszusammenhang:

»Wenn ihr meine Zeugen seid, bin ich Gott,

wenn ihr nicht meine Zeugen seid, bin ich nicht Gott.«15

Die Vielfalt alttestamentlicher Aussagen über Gottes Wohnen und Gottes »Heimat« wurde auch in der Zeiten des Tempels – des Salomonischen, dann nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil des Zweiten und schließlich des Herodianischen Tempels – zu einem Unterpfand, Gott nicht auf die Präsenz im Tempel zu reduzieren. Für die Geschichte und Glaubensgeschichte Israels wurde das zum Grund, warum die Zerstörungen des Tempels im Jahr 587 v.u.Z. und dann im Jahr 70 u.Z. nicht die Religion Israels selbst mit untergehen ließen. Die in Ezechiel 1 und 10 bildreich in Szene gesetzten Erscheinungen Gottes vor dem Propheten Ezechiel im babylonischen Exilland16 zeigen an, dass Gott auch außerhalb des Tempels und außerhalb Jerusalems präsent sein kann. Gottes Gegenwart begleitet das Volk im Exil und in den vielen Exilen Israels danach. Die jüdische Tradition kann diese Präsenz Gott mit dem Wort sch´china – wörtlich so etwas wie »Einwohnung« – benennen. Und Gott ist schließlich präsent in der »Schrift«, die den Jüdinnen und Juden – mit dem schönen Wort Heinrich Heines17 – »wie ein portatives Vaterland« wurde, zu einer mitnehmbaren Heimat – in gewisser Weise wie einst das tragbare Zeltheiligtum in der Wüstenwanderung.

Gott als »Ort«

Von einem weiteren Ort Gottes soll zum Abschluss dieser kleinen Spurensuche die Rede sein, nämlich vom Wort »Ort« (makom) selbst als einem Namen Gottes. Dass makom zu einem Gottesnamen werden konnte, hängt mit dem Esterbuch zusammen. In diesem Buch kommt der Eigenname Gottes, das Tetragramm Jhwh, nicht vor. In Est 4,14 heißt es jedoch, für den Fall, dass Ester nicht für ihr bedrohtes Volk eintreten werde, werde Hilfe von »einem anderen Ort« (makom acher) kommen. Ob an dieser Stelle mit jenem anderen Ort Gott selbst gemeint ist, bleibt unbestimmt. Doch die rabbinische Überlieferung konnte das so lesen, und von dort aus wurde makom zu einem ebenso entdeckten wie verdeckten Gottesnamen besonderer Art. Gerade im Zusammenhang dieses Namens steht ein Grund-Satz rabbinischer Verhältnisbestimmung von Gott und Welt, den auch Christinnen und Christen beherzigen sollten. Er lautet: »Die Welt ist nicht der Ort Gottes, Gott ist der Ort der Welt.«18

(Fast) zum Abschluss dieser Überlegungen noch einmal die Frage: Sind wir in der Kirche, im gottesdienstlichen Kirchenraum Gott näher als an anderen Orten? Gewiss nicht, weil Gott in der Kirche »wohnt«, eher schon, weil die Gemeinschaft der Gemeinde die Nähe Gottes spüren lässt. Ob Gott im Heiligtum wohnt oder nicht, hängt in Ex 25,8, wie oben erwähnt, an der Entscheidung für eine der beiden Übersetzungs- und Verstehensmöglichkeiten des hebräischen »w´« als »und« oder als »aber«. Noch einmal mit Christoph Dohmens Bemerkung zu jener Exodus-Stelle: »Gott will eben nicht im Heiligtum wohnen, sondern in der Mitte des Volkes, dafür aber ist das Heiligtum die Voraussetzung.«

Vielleicht darf man das auch auf einen evangelischen Sonntagsgottesdienst beziehen: Gott will nicht in der Kirche wohnen, sondern in der Mitte der Gemeinde. Aber dafür ist die Kirche als Raum die Voraussetzung – nicht als Raum Gottes, sondern als Raum der Gemeinde. In diesem Raum aber ist immer wieder und immer neu in Erinnerung zu bringen, dass Gott an vielen Orten präsent sein kann, ja, zuletzt selbst »der Ort« ist. Darum sind die vielen alttestamentlichen und weiteren biblischen Antworten auf die Frage, wo Gott wohnt, immer wieder und immer neu neben-, gegen- und zuletzt miteinander zu vergegenwärtigen.

Kommen wir am Ende dieses Kapitels noch einmal auf die zu Beginn als Motto zitierte Bemerkung Luthers über die Frage, wo Gott wohnt. Gott wohnt danach überall da, wo Gottes Wort ist. Ich möchte das mit einer alttestamentlichen Aussage verbinden, die zugleich eine besondere Fokussierung enthält. Sie soll die Beobachtungen und Reflexionen über Gottes Ort(e) abschließen und leitet zugleich über zu den ersten liturgischen Worten eines evangelischen Gottesdienstes – und sie verweist bereits auch auf seine letzten. In Ex 20,24 findet sich eine Bestimmung über heilige Orte, den Altar und die Opfer und dann heißt es in Gottes Rede (V. 24b):

An jedem Ort, an dem ich meines Namens werde gedenken lassen, werde ich zu dir kommen und dich segnen.

Gott wird präsent, wo Gottes Name präsent wird.19 Mit den Worten »Im Namen …« beginnt die Liturgie eines evangelischen Gottesdienstes und mit dem Segen endet sie. Damit ist der Klangraum des Gottesdienstes in eine alttestamentlich grundierte Form gefasst, die von den ersten und den letzten Worten umschlossen ist. Den Raum selbst bildet Gottes Name. In diesem Namensraum wird der Gottesdienst gefeiert.

Was aber ist der Name Gottes? Dass Gott in der »Schrift« einen Namen, einen Eigennamen hat, ist vielen Christinnen und Christen gar nicht bekannt. Aber wie verstehen sie die Vaterunser-Bitte »Geheiligt werde dein Name«, wenn sie nicht wissen, dass Gott einen Namen hat? Und was heißt es, von, ja in diesem Namen zu sprechen, wenn der Name Gottes in der Sprache des Gottesdienstes und der meisten Bibelübersetzungen unkenntlich geworden ist? Mit dieser Grundfrage bekommen mehrere Sequenzen der Gottesdienstliturgie zu tun und darum wird sie in den folgenden Kapiteln mehrfach zum Thema.

Aber bevor es um die ersten liturgischen Worten, eines evangelischen Gottesdienstes gehen soll, empfiehlt sich zunächst ein Blick auf zwei weitere seiner Elemente, nämlich auf das Glockenläuten, das zum Gottesdienst einlädt, und auf die im Gottesdienst gesungenen Lieder, deren erstes bereits vor den einleitenden liturgischen Worten erklingt.

1Aus Luthers Auslegung von Ps 118: Das schöne Confitemini (1529), WA 31/1, 179 (in neuerer Orthographie in: Luther, Confitemini, hier 149).

2Zu den Formen und historischen Entwicklungen Art. »Kirchenbau«, RGG4 4, 1059-1159, ferner Beyer, Räume, sowie die Buchvorstellungen in Mertin, Sakralität.

3Dazu Ebach, Fundamentalismus.

4Zur Wiedergabe des Gottesnamens mit Adonaj oder/ und mit anderen Ersatz- und Ehrfurchtswörtern s.u. im Kapitel »Im Namen Gottes«.

5Zu seiner Geschichte und Architektur Zwickel, Tempel.

6Dazu weiter u. im Kapitel »Ehr' sei dem Vater …«

7Dohmen, Exodus 19-34, 247; ausführlicher zu Ex 25,8 Ebach, Wege, 18-20.

8Dazu in religions- und kulturgeschichtlicher Perspektive Lang / McDannell, Himmel.

9Ausführlicher dazu Ebach, Hoch und heilig.

10Dazu Butting, Prophetinnen, 101-125.

11Zu dieser biblischen Schreibweise des Gottesnamens u. im Kapitel »Im Namen Gottes«.

12Zur Diskussion über die ursprüngliche Lokalisierung Leuenberger, Herkunft.

13So kommt Gott in einem vergleichsweise späten Text in Hab 3,3 aus »Teman«, d.h. aus dem außerhalb Israels liegenden Südland.

14Aus Bonhoeffers 1929 verfasster Habilitationsschrift »Akt und Sein«, 112.

15PesK 102b (Mandelbaum, Pesikta, 208), aber auch in Sifre D´varim § 346.

16Dazu Keel, Visionen, 125-273; Ders., Geschöpfe.

17Heine, Geständnisse [1854], in: Sämtliche Schriften, 6/1, 483.

18So im Midrasch Tehillim zu Ps 90,1 und im Midrasch B´reschit rabba zu Gen 28,11; zu diesem Gottesnamen und seiner Beziehung auf christlich-theologische Fragestellungen Frettlöh, Ort.

19Gottes Name hat damit die »Funktion«, die im altorientalischen und antiken Tempel das Götterbild hat, ganz deutlich etwa in 1Kön 5,19. Dort sagt Salomo: Siehe, so gedenke ich, ein Haus zu bauen dem Namen Adonajs, meines Gottes (livnot bet l´schem jhwh), so wie Adonaj zu meinem Vater David geredet hat, als er sprach: Dein Sohn, den ich an deiner Stelle auf deinen Thron setzen werde, der soll meinem Namen das Haus bauen (hu-jivnä ha-bajit lischmi).

Glockenläuten

Die Kirchenglocken rufen die Gemeinde zum Gottesdienst. Sie rufen sie heraus aus ihren Wohnungen, ihren Alltagsbezügen und sie rufen sie hinein in einen Raum der Versammlung. Biblisch belegt sind Glocken nicht, wohl aber gibt es altorientalische Vorbilder. Die ursprüngliche Funktion dürfte das Vertreiben böser Geister gewesen sein. Glocken, Gongs, Becken gibt es in vielen Religionen und Kulturen. Die christliche Tradition geht zurück auf den Orient und bildet sich zuerst in den Ostkirchen aus. Dabei wurden die Glocken zunächst angeschlagen, erst später geläutet. Im Westen gibt es Glocken seit dem 6. Jahrhundert; sie haben ihre Rolle bei der Einladung zum Gottesdienst und zu dessen Abschluss sowie im Gottesdienst selbst bei bestimmten besonderen Anlässen (Wandlung, Angelus, Vaterunser). Das Vaterunser-Läuten hat sich auch im evangelischen Gottesdienst erhalten; ursprünglich sollte es denen, die etwa wegen unaufschiebbarer Arbeiten im Feld oder im Stall nicht zum Gottesdienst in die Kirche kommen konnten, den Anstoß und die Möglichkeit geben, das Vaterunser an je ihrem Ort mitzubeten.

Wenn die Kirchenglocken zum Gottesdienst einladen, ist das etwas Schönes. Wenn sich damit der Zwang zum Gottesdienstbesuch verbindet, wird es etwas Bedrückendes. Ich erinnere an das – mit Verlaub, sowohl in der Sache als auch in der poetischen Form nicht gerade zu rühmende – Goethe-Gedicht »Die Wandelnde Glocke«.1 Da läutet die Kirchenglocke zum Sonntagsgottesdienst, aber das Kind will lieber ins Feld hinauslaufen, als in die Kirche gehen. Da sieht es die Glocke hinter ihm herwackeln und es verfolgen. Die Angst, sie würde es unter sich begraben, lässt das Kind im letzten Moment noch den Weg in die Kirche finden. Der Gedichtschluss lautet:

Und jeden Sonn- und Feiertag

Gedenkt es an den Schaden,

Läßt durch den ersten Glockenschlag

Nicht in Person sich laden.

Der Glocken-Schlag wird hier zur Fälschung bis zur Kenntlichkeit. Wenn Bedrohung und Schadensvermeidung zum Grund des Gottesdienstbesuchs werden, stimmt da nicht nur etwas nicht, sondern schier nichts.

Das Glockenläuten, das ja in gewisser Hinsicht auch als ruhestörender Lärm betrachtet werden kann, ist ein Privileg der Kirchen. Eben das wird heute zur neuen Frage, etwa angesichts des berechtigten Bestrebens muslimischer Gemeinden in Deutschland, ihre Gottesdienste ebenso öffentlich ankündigen zu können. Es geht dabei um den Ruf des Muezzins, ein Thema, das in manchen deutschen Städten zu heftigen Erregungen und Konflikten führte. Die Kirchen sind gut beraten, wenn sie aktiv für das Recht der muslimischen Minderheit eintreten. Dafür sprechen das Gebot der Toleranz und eine demokratische Grundhaltung, aber durchaus auch das eigene Interesse. Faktisch sind und bald auch statistisch werden die Kirchen in unserem Land zur Vertretung einer Minderheit. Dem Minderheitsschutz sollte auch darum ihr Einsatz gelten.

Schofar

Wenn wir nach alttestamentlichen Vorbildern des Glockenläutens fragen, so findet sich da – ungeachtet einer recht anderen Instrumentierung – durchaus etwas in der Funktion Vergleichbares. Zu denken ist nämlich an das Schofar-Horn. Vor allem die Lutherbibeln geben den schofar meist als »Posaune« wieder. Das mag zur großen Bedeutung von Posaunen im evangelischen Kirchenleben geführt haben – nebst bekannten Witzen von den offenbar in d-Moll gestimmten Posaunen, welche die Mauern von Jericho demolierten, bis zum imaginierten Plakat »Nieder mit den Posaunen. Bürgerinitiative Jericho«.

Der Schofar ist keine Posaune, sondern ein Widderhorn, das beim Blasen einen dumpfen und für unser Empfinden nicht gerade melodischen Ton erzeugt. In der hebräischen Bibel kommen dem Schofar vielfache Funktionen zu. Er gehört zu den Musikinstrumenten, deren Klang dem Lob Gottes dient (Ps 98,6; 150,3), aber er fungiert auch als Signalhorn für den Auszug oder die Heimkehr des Heeres (Ri 3,27; 6,34; 7,18; 1Sam 13,3; 2Sam 2,28; Jer 4,21 u.ö.). Der Ton des Schofars erschallt bei der Proklamierung eines Königs (2Sam 15,10; 1Kön 1,34; 2Kön 9,13) und bei der Proklamierung Gottes als König der Welt (Ps 47,6); sein Klang gehört zur Präsenz Gottes und zur Gabe der Gebote am Sinaj (Ex 19,16; 20,18). Der Ton des Schofars kann ein Fest ›einläuten‹ (Lev 25,9; Ps 81,4) und er begleitet Prozessionen (2Sam 6,15; 1Chr 15,28). In Josua 6 wird der Schofar immer wieder, nämlich 14-mal erwähnt. Auch auf diese Weise wird die Schilderung der legendarischen Eroberung Jerichos wie eine kultische Prozession ins Bild gesetzt. Dass die Mauern von Jericho nicht bei einer militärischen Eroberung der Stadt durch Israels Truppen unter Josua gefallen sind, was aus archäologischem und historisch-chronologischen Gründen ausscheidet, bringt mithin der biblische Text selbst zum Ausdruck, indem er eben keine militärische, sondern eine kultische Aktion in Szene setzt.

Das Wächteramt

Der Schofar gehört auch zur Ausstattung des Wächters. Er bläst ins Horn, wenn Gefahr naht (Am 3,6). So gehört er dann auch zur metaphorischen Ausstattung von Propheten für deren Aufgabe des Wachens, Warnens und Mahnens (Jer 6,17). Das zeigt sich in Ezechiel 33 und seiner in mehreren Varianten verhandelten Frage nach der Verantwortung. Hier heißt es zunächst in V. 1-6 in langen Satzfolgen:

»Und das Wort Adonajs erging an mich: ›Du, Mensch, rede mit den Angehörigen deines Volkes und sprich zu ihnen: Wenn ich das Schwert über ein Land kommen lasse und das Volk des Landes wählt sich aus ihrem Kreis einen aus und bestimmt ihn zum Wächter und der sieht das Schwert über das Land kommen und bläst in den Schofar und warnt das Volk. Wenn nun jemand das Signal des Schofars genau gehört hat, sich aber nicht warnen lässt, so kommt das Schwert und rafft ihn hin. So wird sein Blut auf sein eigenes Haupt kommen. Das Signal des Schofars hat er gehört, sich aber nicht warnen lassen; sein Blut wird auf ihm sein. Wer sich aber warnen lässt, wird mit dem Leben davonkommen. Und wenn der Wächter das Schwert kommen sieht und in den Schofar nicht bläst und das Volk wird nicht gewarnt und das Schwert kommt und nimmt ein Menschenleben von ihnen weg, dann wird das um der eigenen Schuld willen weggenommen, sein Blut aber fordere ich aus der Hand des Wächters.‹«

Und dann wird die Rede vom Wächter direkt auf den Propheten bezogen (V. 7-9):

»Du, Mensch, ich habe dich zum Wächter für das Haus Israel bestimmt. Wenn du ein Wort aus meinem Mund hörst, musst du sie vor mir warnen! Wenn ich zu dem ungerechten Menschen sage: ›Du ungerechter Mensch bist gewiss des Todes!‹ und du redest nicht, um den ungerechten Menschen von seinem Weg abzubringen – dieser ungerechte Mensch wird um seiner Schuld willen sterben, sein Blut aber fordere ich aus deiner Hand. Hast du aber dem ungerechten Menschen vor seinem Weg gewarnt, damit er sich von ihm abkehre, und er wendet sich nicht ab von seinem Weg, dann wird der um seiner Schuld willen sterben, du aber hast dein Leben gerettet.«

Eine weitere prophetische Stimme fordert dazu auf, laut wie der Schofar zu sein. In Jes 58,1-7 lesen wir als Wort Gottes die folgende Passage, die zugleich ein bemerkenswertes Kapitel einer Religionskritik ist:

»Ruf lauthals, halt dich nicht zurück!

Erheb deine Stimme wie ein Schofar!

Halte meinem Volk ihre Verbrechen vor

und dem Haus Jakob ihre Verfehlungen.

Tag für Tag forschen sie nach mir und wünschen, meine Wege zu erkennen,

wie ein Volk, das Gerechtigkeit übt

und das von seiner Gottheit gesprochene Recht nicht verlässt.

Sie fordern von mir gerechte Urteile und Gottes Nähe wünschen sie.

›Warum haben wir gefastet, aber du siehst es nicht an?

Wir haben uns gedemütigt, aber du erkennst es nicht an!‹

Seht: Am Tag eures Fastens geht ihr euren Geschäften nach,

und eure Arbeiter treibt ihr weiter an.

Seht: Zum Streiten und Auspressen fastet ihr

und um mit gewalttätiger Faust dreinzuschlagen.

Ihr sollt nicht so wie jetzt fasten,

wenn eure Stimme in der Höhe erhört werden soll.

Soll das etwa ein Fasten sein, wie ich es will:

Ein Tag, an dem sich die Menschen demütigen?

Sollen sie etwa wie Binsen den Kopf hängen lassen

und sich in Sack und Asche betten?

Soll man das ein Fasten nennen und einen Tag, der Adonaj gefällt?

Ist nicht dies ein Fasten, wie es mir gefällt:

Unrechtsfesseln öffnen, Jochstricke lösen,

Misshandelte als Freie entlassen und dass ihr jedes Joch zerbrecht?

Geht es nicht darum: Mit Hungrigen dein Brot teilen,

obdachlose Arme ins Haus führen?

Wenn du Leute nackt siehst, bekleidest du sie,

und deinen Angehörigen entziehst du dich nicht.«

Mit diesem alttestamentlichen »Wächteramt« hat sich die Lehre vom prophetischen Amt der Kirche verbunden. Nun ist die Rede vom »Amt« in diesem Zusammenhang durchaus fragwürdig. Es gibt zu denken, dass z.B. Amos es ablehnt, sich selbst als navi, als Prophet, zu bezeichnen (Am 7,14), sehr wohl aber für sich die Tätigkeit des hinnave, des Prophezeiens, beansprucht, dass er mithin prophetisches Reden und Handeln, nicht aber ein prophetisches Amt wahrnimmt. Vollends missverständlich wird die Rede vom prophetischen oder vom Wächter-Amt angesichts einer Kirche, deren hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu einem großen Teil einen beamtenähnlichen Status einnehmen.

Etwas anderes ist jedoch in der Erinnerung an den Schofar, das laut tönende Widderhorn, noch wichtiger: Wenn heute vom »Wächteramt« der Kirche die Rede ist, kommt das leicht in die Nähe von Worten wie »Sittenwächterin« oder »Moralapostel«. Das »Wächteramt« lässt dann an den erhobenen Zeigefinger denken. Wenn man dagegen den oben zitierten Auftakt von Jesaja 58 liest – »Ruf lauthals!«, »Erheb deine Stimme wie ein Schofar!« –, dann wird erkennbar, dass hier an die erhobene Stimme des Protests und nicht an den erhobenen Zeigefinger der Moral zu denken ist.

Laut zu rufen, wenn Gefahr droht – das ist die Aufgabe des Wächters, der auf der Mauer steht und Ausschau hält, ob Feinde kommen oder eine Feuersbrunst ausbricht. Wachheit wird von solchen Wächtern und womöglich auch Wächterinnen erwartet, nicht unbedingt eigene moralische Untadeligkeit. Unbestechlich sollen sie sein, aber nicht unbedingt ein sittlichen Höchstansprüchen genügendes Leben führen, geschweige denn eine höhere Moralität beanspruchen, als sie denen zugemutet und zugetraut wird, die sie zu bewachen haben. Öffentlich müssen Wächterinnen und Wächter wirken und vernehmbar, ja, unüberhörbar muss ihre Stimme sein.

Der Kirche gebührt es, folgt man der öffentlichen Meinung und weithin auch ihrer eigenen Selbsteinschätzung, mit leiser Stimme zu reden. Denkschriften und mahnende Worte scheinen ihre Domäne, keine lautstarken Signale. Aber sollte sich die Kirche nicht gerade heute an ihr ›prophetisches Amt‹ erinnern und – z.B. gegen die wachsende soziale Ungerechtigkeit in unserem Land und in der Welt – ihre Stimme erheben, wie es in Jesaja 58 und Ezechiel 33 dem Propheten obliegt: laut wie der Schofar, laut wie die Kirchenglocken?

Glockengeläut gibt es auch außerhalb der Gottesdienstzeit. Es erklingt zu bestimmten Tageszeiten und bei bestimmten Anlässen wie Trauungen und Bestattungen. In manchen ländlichen Gemeinden zeigt es auch den Tod eines Gemeindegliedes an. Eine ganz andere Frage ist die, ob die Glocken auch bei bestimmten öffentlichen Anlässen wie ein Schofar laut werden sollen. Manche Beispiele sind da fragwürdig. Da gab es ein vielfaches Glockengeläut zu Beginn des 1. Weltkriegs, da sollten die Kirchenglocken aus Anlass der »Wiedervereinigung« im Jahre 1990 läuten – der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl war tief erbittert, als die Kirchen dazu nicht aufrufen wollten. Es gibt aber auch eher belustigende Beispiele: Da läuten z.B. in Maranello die Kirchenglocken, wenn ein Ferrari einen Grand Prix gewonnen hat. In all diesen tiefernst oder auch augenzwinkernd institutionalisierten Fällen sollten und soll das Läuten der Glocken etwas als gut und richtig Empfundenes feierlich bekräftigen. Immerhin zeigte sich, dass das durchaus auch eine alttestamentliche Funktion des Schofarblasens ist.

Es gibt aber auch ein Glockenläuten, in dem die prophetische Aufgabe des Warnens und Mahnens wie ein Schofar erklingen kann. Am 19. Juni 2015 läuteten an 230 katholischen Kirchen des Erzbistums Köln die Totenglocken. Sie erinnerten mit ihren 23.000 Glockenschlägen an 23.000 im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge. Und noch ein Beispiel: In mehreren Städten wurden in den letzten Jahren Aufmärsche von Rechtsradikalen durch das Läuten der Kirchenglocken gestört. Gerade so kann der Ton der Glocken zum not-wendigen Gegenton werden.

Noch einmal mit Jes 58,1: »Ruf lauthals!«, »Erheb deine Stimme wie ein Schofar!« In ebenso realer wie übertragener Bedeutung kann da etwas, das immer auch zum Glockenschlag gehörte und gehört, ganz konkret werden: Es geht um eine Zeit-Ansage; es geht darum, welche Zeit ist und was an der Zeit ist.

1Goethe, Werke, HA 1, 289f. Erich Trunz nennt im Kommentar eine anekdotische Anregung für das Gedicht und bemerkt, bereits diese »war also psychologisch, nicht moralisch« (ebd. 670). Gerade das demonstriert das Angst-Machen umso mehr als Vehikel von Glaube, Moral und Gehorsam.

Lieder

Vor jedem Wort erkling im Gottesdienst Musik. Das Orgelvorspiel nimmt auf seine Weise den Ton der Glocken auf und bringt den Klang in den Gottesdienstraum. Die eminente Rolle von Musik und Gesang im evangelischen Gottesdienst bedarf nicht der Betonung. Bei der Frage nach einer alttestamentlichen Grundierung dieses zentralen Elements des Gottesdienstes kommt man jedoch für die musikalischen Aspekte über recht allgemeine Hinweise kaum hinaus. Das hängt auch damit zusammen, dass wir über die Melodien und die Aufführungspraxis der Psalmen und der zahlreichen weiteren in der hebräischen Bibel erwähnten Lieder nur wenig wissen. Dass Musik im Leben des alten Israel wie der meisten orientalischen und antiken Völker und Kulturen eine große Rolle spielte, zeigen viele und verschiedenartige Gesänge wie z.B. Freudenlieder (2Sam 6,15), Tanzlieder (Ex 15,21; 1Sam 18,7; 21,12), aber auch Spottlieder (Num 21,27-30), Liebeslieder (Hld 4,1-7), Klage- und Leichenlieder (2Sam 3,33f., vgl. auch Am 5,1f.) und bei der Arbeit gesungene Lieder (Num 21,17f.). Es soll jetzt bei den allgemeinen Hinweisen bleiben.1

Ein anderer im Blick auf das Alte Testament bedeutsamer Aspekt der im evangelischen Gottesdienst gesungenen Lieder verbindet sich mit deren Texten. Viele der im Evangelischen Gesangbuch (EG) versammelten Lieder leben als ganze oder in einzelnen ihrer Strophen von alttestamentlichen Bezügen. Die folgenden nur wenigen Beispiele sollen unter der Frage in den Blick kommen, wie sich die Gemeinde in diesen Liedern zu Israel verhält und ob ihr dabei das Thema »Kirche und Israel« überhaupt bewusst wird.

Tochter Zion

Da ist z.B. das bekannte Adventslied »Tochter Zion, freue dich« (EG 13). Es geht auf Choralsätze in Georg Friedrich Händels Oratorien »Judas Maccabaeus« und »Joshua« zurück; sein Text basiert auf Sach 9,9 und lautet:

»Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem!

Sieh, dein König kommt zu dir, ja, er kommt, der Friedefürst.

Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem!

Hosianna, Davids Sohn, sei gesegnet deinem Volk!

Gründe nun dein ewges Reich, Hosianna in der Höh!

Hosianna, Davids Sohn, sei gesegnet deinem Volk!

(Sieh! er kömmt demüthiglich

Reitet auf dem Eselein,

Tochter Zion, freue dich! Hol ihn jubelnd zu dir ein.)2

Hosianna, Davids Sohn, sei gegrüßet, König mild!

Ewig steht dein Friedensthron, du des ewgen Vaters Kind.

Hosianna, Davids Sohn, sei gegrüßet, König mild!«

Wie singt die Gemeinde in einem evangelischen Adventsgottesdienst diesen Choral? Wer ist für sie die »Tochter Zion«, die sich freuen soll? Vermutlich werden viele, die dieses Kirchenlied singen, unter der »Tochter Zion« die christliche Kirche oder die eigene Gemeinde verstehen. Es erklingt dann wie eine Beerbung Israels bzw. eine christliche Aneignung der hier ins Lied gesetzten alttestamentlichen Worte. So wird besonders in der letzten Strophe eine Beziehung des in Sach 9,9 prophezeiten kommenden Königs auf den Messias Jesus erkennbar.

Gleichwohl verbleibt der Text ganz in seinem alttestamentlichen Wort- und Motivfeld. Selbst die Wendung »du des ewgen Vaters Kind« lässt sich mit Ps 2,7 (»Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt/ geboren«) auf den davidischen Herrscher beziehen. Und auch wenn man bei all den Worten des Liedes an den Messias Jesus denkt und wenn im mehrfachen »Hosianna« die Szene des Einzugs Jesu in Jerusalem (Mk 11,9f; Mt 21,9.15; Joh 12,13) mitklingt, bleibt zu vergegenwärtigen, dass dieser Einzug in Jerusalem, der »Tochter Zion«, stattfand. Dieses Lied muss darum nicht als eine Enteignung Israels gesungen und gehört werden, sondern es kann erklingen als ein Aufruf zur Freude eben der »Tochter Zion« und dann auch unserer Mit-Freude.